Kinder der Ewigkeit - Pierre Grimbert - E-Book

Kinder der Ewigkeit E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Der Höhepunkt und Abschluss der großen „Magier“-Saga

Eine Insel, in deren Tiefen ein Portal in eine fremde Welt führt. Ein magisches Geheimnis, das um jeden Preis gehütet werden muss. Sechs Gefährten, die auf der Flucht vor grausamen Mördern einen schicksalhaften Pakt schließen …

Im letzten Band von Pierre Grimberts faszinierender „Magier“-Saga lüftet der Fantasy-Star aus Frankreich endlich das große Geheimnis einer magischen Welt: Dies ist die Stunde der Magier!

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Seitenzahl: 562

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Inhaltsverzeichnis
 
ERSTES BUCH – JAL’DARA JAL’K ARU
ZWEITES BUCH – DAS ENDE DER ERBEN
 
Vorschau
Copyright
Meinem Klan. Ihr kommt zwar nicht in der Geschichte vor, aber ihr wart immer in ihr …
In meinem zweihundertjährigen Leben habe ich so viele Namen getragen, dass ich mich nicht mehr an alle erinnern kann. Wie viele mögen es erst in zwanzig Jahrhunderten sein? Oder in dreißig? In tausend?
Im Grunde ist mir das so egal wie der pelzige Hintern eines Margolins. Wichtig ist nur, dass ich so lange leben werde. Alles andere ist belangloses Geschwätz.
Als Kind riefen mich meine Eltern je nach Laune Maajo oder Maako. Mein Hauslehrer und die Diener nannten mich »gnädiger Herr von Kermond«. Mein erster Magiemeister wiederum gab mir den Beinamen »der Ökonom«. Hätte ich damals gewusst, dass mich dieser alberne Name mein ganzes sterbliches Dasein lang begleiten würde, hätte ich mir diesen bärtigen Dummkopf mit seinen lächerlichen Moralvorstellungen viel früher vom Hals geschafft.
Mein zweiter Meister sprach kaum mit mir, herrschte mich dafür aber umso häufiger an und warf mir allerlei Schimpfwörter und Beleidigungen an den Kopf. Die Meister des Feuers pflegen ihre Schüler Unterwürfigkeit zu lehren. Ich ertrug seine Demütigungen, bis er mir nichts mehr beibringen konnte. Rache ist süß …
An der Kaiserlichen Akademie wurde ich dann nur noch »Kermond« genannt. Manchmal musste ich dumme Spitznamen wie »Kehrbesen«, »Kehrblech« oder Ähnliches über mich ergehen lassen. Es war mir ein Rätsel, wie sich die anderen Schüler, die doch Gorans klügste Köpfe sein sollten, an derartigem Unsinn ergötzen konnten. Ich hatte nichts als Verachtung für sie übrig und konzentrierte mich ganz auf den Unterricht. Nach sechs Jahren an der Akademie hatte ich mein Ziel erreicht und trat direkt in den Dienst von Kaiser Mazrel ein.
Fortan wurde ich bis zu meinem siebenundsechzigsten Jahr »Exzellenz« genannt – jedoch nur offiziell. Hinter meinem Rücken fanden die Höflinge, Wachen und Diener weniger schmeichelhafte Bezeichnungen: Am beliebtesten waren »Hexer«, »falscher Hund« und »Heuchler«.
Geschwätz habe ich immer verabscheut. Es ist so belanglos. Zum Glück können einige Auserwählte dank der Magie nicht nur über gewöhnliche Sterbliche triumphieren, sondern zugleich jene bestrafen, die sich der Geschwätzigkeit schuldig machen.
Die Goroner haben schwache Herzen. So mancher wähnte sich im Kaiserlichen Palast in Sicherheit und starb im Kreise seiner Freunde einen elenden Tod, nachdem ich ihm aus der Ferne einen kurzen Blick zugeworfen hatte. Die Ehrerbietung, die mir die Überlebenden entgegenbrachten, war dafür umso aufrichtiger. Sie ergingen sich in Respektsbekundungen wie »Exzellenz« und »Hoheit«, und aus ihren Stimmen sprach die Furcht.
Wenn ich es mir recht überlege, wurde ich während meines gesamten sterblichen Daseins niemals Saat genannt.
Und so wie mein Dasein als Unsterblicher begonnen hat, wird sich daran in absehbarer Zeit wohl nichts ändern.
 
 
 
Unermüdlich suchte der Lorelier den Horizont ab, doch er sah nichts als das endlose Meer. Bei dem Gedanken, dass seine Reise gerade erst begonnen hatte, seufzte er laut auf. Wie lang würde es dauern, bis er die lorelische Küste erreichte? Sechs Tage? Acht? Und dabei zählte jeder Dekant. Jede noch so kleine Verzögerung konnte den Untergang der Oberen Königreiche bedeuten.
Unfassbar. Den Untergang der Oberen Königreiche, wiederholte er in Gedanken.
Der Mann gehörte der Grauen Legion an, einer Spezialeinheit der lorelischen Armee. Wie die Jelenis und die Königlichen Wachen unterstanden die Grauen Legionäre unmittelbar König Bondrians Befehl. Aber sie kämpften nicht mit Waffen, jedenfalls nicht nur. Die Legionäre arbeiteten stets allein, und ihre Missionen führten sie häufig in fremde Länder, in Friedens- wie in Kriegszeiten. Während die Königlichen Wachen Bondrians Leben beschützten und die Jelenis seinen Palast, war die Graue Legion dafür zuständig, seine Interessen zu wahren. Dazu mussten sie ihre Augen und Ohren überall haben. Böse Zungen hätte sie als Spione bezeichnet.
Im Grunde war die Mission in La Hacque ein Erfolg gewesen.
Seit Monden waren aus den Unteren Königreichen keine besonderen Vorkommnisse gemeldet worden. Wie schon seit zwanzig Jahren überfielen die Yussa unter Aleb dem Ramgrith die Nachbarländer im Süden und Westen. Doch nach zwei Jahrzehnten schienen selbst die gefürchteten Plünderer die Eroberungen leid zu sein. Alle Herrscher der bekannten Welt rechneten damit, dass die Yussa eines Tages die Fürstentümer angreifen würden, doch die Angriffslust des Königs von Griteh hatte offenbar mit der Zeit nachgelassen.
Daher hatte der Legionär eigentlich nur nach dem Rechten sehen sollen. Doch plötzlich hatten seine Feinde ihn von Yiteh bis Mythr gehetzt, durch die öde Steppe von Quesraba, die engen Gassen Gritehs und die breiten, glutheißen Straßen La Hacques. Er war seinen Häschern, pledischen Söldnern und Seeleuten aus Yérim, nur knapp entronnen.
Der einäugige ramgrithische König hatte sich als Meister der Geheimhaltung entpuppt. Der Legionär war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, als er immer mehr Hinweise darauf entdeckte, dass Aleb einen Angriff auf die Oberen Königreiche plante – und dass er genug Männer hatte, um den Sieg davonzutragen, falls Lorelien und Goran ihn nicht rechtzeitig aufhielten.
Erneut ließ der Mann seinen Blick über das Mittenmeer schweifen. Der Zweimaster war schnell, aber war er schnell genug? Er musste sein Ziel so rasch wie möglich erreichen und konnte nur hoffen, dass seine Verfolger ihn nicht einholten. Denn er wusste, dass der Ramgrith ihm noch immer auf den Fersen war.
Die Untätigkeit und Schweigsamkeit der Besatzung zerrten an seinen Nerven. Die Matrosen gehörten allesamt der Grauen Legion an, in unterschiedlichen Dienstgraden. Doch sie waren schon so lange fort aus Lorelien, dass ihnen das Königreich fremd geworden war. Untereinander sprachen sie Ramyth, und mehrere Männer beteten Alioss an. Mindestens einen hatte er im Verdacht, vom Gift der Daï-Schlange abhängig zu sein. Und zu allem Überfluss hingen die Matrosen einem törichten Aberglauben an. Zum Beispiel fürchteten sie sich vor einem schwarzen Ungeheuer, das angeblich die Gewässer heimsuchte, die sie soeben durchquerten. Sie machten sich vor Angst geradezu in die Hosen.
Der Legionär zuckte mit den Schultern und begab sich in seine Kajüte, um aus seinen verschlüsselten Aufzeichnungen einen anständigen Bericht zu schreiben. Doch er kam einfach nicht voran. Er vermochte nicht zu sagen, wie viele Galeeren, Großsegler, Kutter, Schoner, Fregatten und andere Kriegsschiffe im Hafen von Mythr vor Anker lagen. Er fand keine Worte für den überwältigenden Anblick, den die Flotte bot. Die Schiffe waren mit schwer bewaffneten Yussa und Horden von Rekruten von der Gefängnisinsel Yérim bemannt, und sein Bericht blieb zwangsläufig hinter der Wirklichkeit zurück. Für das Söldnerheer, das an der Mündung des Aòns lagerte, kamen ihm nur Vokabeln wie »gewaltig«, »ungeheuerlich« und »unfassbar« in den Sinn. Im Grunde hatte er das Bedürfnis, mit lauter Stimme davon zu erzählen und dabei mit den Händen zu fuchteln.
Nur ein Rätsel blieb ungelöst. Warum hatten sie Alebs Absichten nicht früher durchschaut? Die Kriegsvorbereitungen mussten seit mindestens sechs Monden im Gange sein.
Selbst bei allergrößter Vorsicht musste etwas von einem Plan derartigen Ausmaßes durchsickern. Auf die eine oder andere Art hätte Lorelien davon erfahren müssen.
Plötzlich ertönte von der Brücke ein Schrei, gefolgt von eiligen Schritten und einem lauten Platschen. Der Legionär stürzte zu einer Luke und sah gerade noch, wie der Körper eines Menschen in den Fluten versank.
Ein Mensch, dem der Unterleib fehlte.
Der Mann packte sein Rapier und streifte hastig das Kettenhemd über, ohne die offene Tür und die Treppe zum Deck aus den Augen zu lassen. Waren sie von einem anderen Schiff gekapert worden? Er hatte nichts gehört, und das Meer ringsum war spiegelglatt. War unter den Besatzungsmitgliedern eine Prügelei ausgebrochen? So brutal waren seine Männer nicht. War es ein Unfall? Ein zu straff gespanntes Seil?
Nein – an Deck wurde gekämpft. Matrosen jammerten, brüllten und flehten vergeblich um Hilfe. Der Legionär stellte einen Fuß auf die unterste Treppenstufe und blieb wie angewurzelt stehen. Der Angreifer brüllte vor Wut, dass es ihm in den Ohren dröhnte.
Es klang wie ein tiefes, durchdringendes und feindseliges Knurren, zehnmal so laut wie das eines ausgewachsenen Bären. Der Schrei verhallte über dem Meer.
Während der Angreifer dem letzten Matrosen den Garaus machte, stürzte der Legionär zurück in die Kabine und begann mit heftig zitternden Händen, seine Aufzeichnungen einzusammeln. Dann erkannte er, wie nutzlos sein Tun war.
Was nützte es, die Papiere zu verstecken, wo er doch ohnehin sterben würde und es niemanden mehr gab, der sie nach Lorelia bringen könnte?
Plötzlich war das sagenumwobene schwarze Ungeheuer da. Es kam nicht durch die Tür, sondern nahm mitten in der Kabine Gestalt an, wie ein Unwetter, das sich aus dem Nichts zusammenbraut. In diesem Augenblick wusste der Legionär, dass Lorelien niemals rechtzeitig gewarnt werden würde.
Sein letzter Gedanke galt Bondrian. Selbst wenn er dem König eine Nachricht hätte zukommen lassen können, wäre das vergebliche Mühe. Gegen einen Feind, der mit Dämonen im Bunde stand, waren die Oberen Königreiche machtlos.
 
 
 
Meinen wahren Namen bekam ich in der Unterwelt des Karu.
Ich bin der hohe Dyarch. Ich habe die sechs größten Heere des Ostens unter einem Banner vereint. Ich werde die Oberen Königreiche besiegen. Die Soldaten munkeln, ich könne nicht sterben.
Sie wissen nicht, dass es bereits geschehen ist. Ich bin längst tot.
Ich ließ mein Leben in den Höhlen des Karu unter eben jenen Bergen, vor denen meine Armee nun lagert. Doch das gigantische Labyrinth der schwarzen Götter befindet sich nicht nur unter diesem Gebirge. Der Großteil des Jal liegt in einer anderen Welt. Die Höhlen und Gänge unter dem Rideau sind nur der Zugang zum Karu. So wie sich irgendwo zwischen seinen Gipfeln der Übergang in die Gärten des Dara befindet.
Den genauen Zeitpunkt meines Todes kann ich nicht benennen. Wenn man so will, starb ich in dem Moment, als ich Prinz Vanamel und Fer’t den Solener tötete, denn diese Tat versperrte mir die Rückkehr ins Dara. Leider begriff ich das erst später, als ich viel Zeit zum Nachdenken hatte.
Doch im Grunde zog sich mein Todeskampf über ein ganzes Jahrhundert hin. Ein Jahrhundert der Finsternis und des Schweigens, tief unter einem Berg, in Begleitung eines Gottes in Gestalt eines Knaben. Sombre. Der andere Dyarch. Er schlief fast die ganze Zeit.
Ich schöpfte aus seiner Kraft, um mich am Leben zu erhalten. Zum Glück bin ich Magier. Ich löschte das Feuer, das mich von innen verzehrte, indem ich aus seiner göttlichen Quelle trank.
Trotzdem schied ich aus dem Leben. Auch ich schlief viel – was kann man im Gefängnis schon anderes tun? Irgendwann erwachte ich mit der Gewissheit, tot zu sein.
Der Gedanke schreckte mich nicht. Er machte mich eher neugierig. Selbst als einer der mächtigsten Magier der bekannten Welt war ich nicht so vermessen zu glauben, ich könnte dem Tod ein Schnippchen schlagen. Und doch hatte ich genau das getan. Verdankte ich das Sombre und seiner göttlichen Kraft? Oder dem Gwel, das uns umgab?
Wie dem auch sei – mein Fortleben eröffnete mir unzählige Möglichkeiten. Die Zeit hatte plötzlich an Bedeutung verloren. Ganz gleich, wie viele Jahre wir in diesem düsteren Gefängnis verbringen mussten, eines Tages würden wir ihm entkommen. Ich musste nur Geduld haben.
Während der ersten Dekaden im Labyrinth bemühte ich mich, eine Karte des Karu zu erstellen. Nachdem ich anfangs versucht hatte, aus der Unterwelt zu fliehen, den dort hausenden Bestien zu entkommen und auf Umwegen zurück ins Jal’dara zu gelangen, gewann mit der Zeit die Vernunft die Oberhand, und ich begann, mir die Gänge und Höhlen genauer anzusehen und sie mir einzuprägen. Leider ging das nur in den seltenen Momenten, in denen Sombre wach war. Ich hatte nicht genug Kraft, um ihn über längere Strecken zu tragen, und ich wollte mich auf keinen Fall von ihm trennen. Schließlich sicherte er mein Überleben.
Geschlagene zwei Dekaden lief ich mehr oder weniger geradeaus und markierte den Weg mit erfundenen arkischen Zeichen. Bald musste ich mir eingestehen, dass das Labyrinth magisch und somit unendlich war: Hinter jeder Biegung befand sich ein neuer Gang oder eine weitere Höhle, ein schmaler Stollen oder ein riesiger Saal, der es mit dem Mishra-Palast hätte aufnehmen können.
Nach einer Weile begegneten wir keiner der finsteren Kreaturen mehr, welche die Unterwelt bevölkerten, nicht einmal den kleinsten. Allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, dass dieser Weg nicht aus dem Labyrinth herausführte. Deshalb beschloss ich umzukehren und erlebte die größte Enttäuschung, die je ein Mensch erlebt hatte.
Meine Wegzeichen waren verschwunden. Nicht alle: Jene, die ich zuletzt angebracht hatte, waren noch da. Doch die anderen blieben unauffindbar.
Das Labyrinth schien sich ständig zu verändern. Das Gwel, das über einen großen Absorbiumanteil verfügt, löschte innerhalb weniger Dekanten alle fremden Spuren aus, so wie die Flut Fußabdrücke im Sand fortspült. Die Gänge und Höhlen sahen auf dem Rückweg ganz anders aus als in meiner Erinnerung.
Ich erlebte also eine bittere Enttäuschung. Doch ich versank nicht in Verzweiflung, wie es andere an meiner Stelle getan hätten. Es musste möglich sein, das Labyrinth zu verlassen, denn schließlich gelangten auch die Dämonen irgendwann in die Welt hinaus. Ich musste mich nur an Sombre halten und ihn erziehen.
Wie einfach es war, seinen völlig unberührten Geist zu beeinflussen! Ich redete ständig mit ihm, auch wenn er schlief. Manchmal folgte ich ihm sogar in seine Träume und sprach dort zu ihm. Ich hinderte ihn daran, sich vor Heimweh nach dem Dara zu verzehren und schürte seinen Groll, wenn er wütend wurde.
Zunächst begann ich mit einfachen Worten. Ich wusste, dass mein Überleben von seiner Stärke abhing. Deshalb musste er furchterregend sein. Ich gab ihm auch einen Namen: Sombre. Der Bezwinger. Diesen Namen sagte ich ihm immer wieder vor.
Ich lehrte ihn den Hass auf die Menschen. Er musste unbesiegbar und grausam sein. Ich lehrte ihn, Nol, die Götter und das Jal’dara zu verachten. Ich lehrte ihn, Macht und Herrschaft zu genießen. Ich lehrte ihn, sich am Sieg zu berauschen. Zuletzt brachte ich ihm bei, all diese Gefühle mit mir zu verbinden – und zwar allein mit mir.
Er selbst sprach nur wenig. Bisweilen forderte er Trost oder eine Liebkosung, wenn er aus einem Albtraum erwachte. Voller Abscheu kam ich seinem Wunsch nach. Schließlich war das Kind trotz seines Aussehens ein Dämon. Das war es schon lange vor unserer Begegnung gewesen. Ich hatte ihm nur sein Wesen offenbart. Wie hätte ich Gefallen daran finden können, einen Dämon im Arm zu wiegen?
Die Jahre vergingen, und Sombre wuchs zu einem jungen Mann heran. Er schlief nun weniger. Manchmal war er mehrere Dekanten lang wach. Ich verfolgte seine Fortschritte und korrigierte seine Schwächen. Allmählich trat seine Persönlichkeit deutlicher hervor.
Woher seine Grausamkeit kommt, weiß ich nicht. Ich habe sie ihm nicht eingeflößt. Hat er sie von mir geerbt, ohne dass ich es weiß? Oder stammt sie von den anderen Stimmen, den Stimmen jener Sterblichen, die nach neuen Gottheiten suchten und sich in Sombres Gedanken mit meiner Stimme vermischten? Oder hat er sie vielleicht von Anfang an in sich getragen?
Ehrlich gesagt zerbreche ich mir darüber nicht den Kopf. Es ist belanglos.
Je weniger Sombre schlief, desto verlässlicher wurde das Labyrinth. Während ich bis dahin vorweg marschiert war, kam es nun vor, dass mein Dämon eine bestimmte Richtung einschlug, als gehorchte er einer inneren Stimme. Ich folgte ihm jedes Mal voller Hoffnung, und so wanderten wir durch endlose feuchte Gänge und Höhlen, in denen es wie überall im Labyrinth nach Moder und Verwesung stank. Irgendwann blieb Sombre ebenso unvermittelt stehen, wie er losgelaufen war, und verfiel wieder in seinen Dämmerzustand.
Später übernahm Sombre immer häufiger und für immer längere Zeit die Führung. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es bergauf ging, doch ich wagte nicht, mich zu freuen, aus Angst, wieder enttäuscht zu werden. Ein Anstieg hätte die Orientierung erleichtert, aber leider war das Labyrinth ziemlich eben.
Erneut markierte ich die Strecke mit Wegzeichen, und nach ungefähr einer Dekade machten wir kehrt.
Viele Zeichen waren verschwunden. Andere hatten überdauert, und für diese interessierte ich mich nun. Die Steinhaufen oder in die Wand geritzten Markierungen, die noch da waren, mussten zur Welt der Sterblichen gehören und nicht zum Jal’karu.
Ich brachte immer mehr Zeichen an, an jeder Abzweigung, in jedem Gang und jeder Höhle. So konnte ich bald einen sorgfältig markierten, immer gleich bleibenden Weg entlanggehen, und das mehrere Dekanten lang. So etwas hatte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr erlebt.
Als ich Sombre auf seinen Wanderungen folgte und mich zugleich an meinen Wegzeichen orientierte, hatte ich irgendwann das Gefühl, mich dem Ausgang zu nähern. Eines Tages gelangte ich zu der Gewissheit, das Labyrinth hinter mir gelassen zu haben, nicht anders als ich zu der Gewissheit gelangt war, tot zu sein.
Wir befanden uns immer noch unter der Erde, aber ich spürte das Gwel nicht länger. Ich machte kehrt und lief eine gute Meile zurück, doch wir hatten eine unsichtbare, magische Grenze überschritten. Sämtliche Wegzeichen waren verschwunden. Wir konnten nicht mehr ins Karu zurück.
Wir brauchten nicht mehr als zwei Tage, um an die Oberfläche zu gelangen. Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete ich frische Luft. An meiner Seite befand sich ein Dämon in Gestalt eines jungen Mannes, der mir blind ergeben war. Ich war unsterblich. Und ich sehnte mich nach Macht.
 
 
 
»Mir?«
Der Löwe war nirgends zu sehen. Ispen lief noch einmal einige Dutzend Schritte und brüllte, so laut sie konnte: »Mir? Prad?«
Nur der eisige Wind antwortete ihr. Bowbaqs Frau suchte die verschneiten Hügel und den Horizont ab, vor dem sich einige Bäume abzeichneten, die ihre kahlen Äste in den grauen Himmel reckten. Vor zwei Dekanten waren ihr Sohn und der Schneelöwe in dieser Richtung verschwunden, und bislang waren sie nicht zurückgekehrt.
Eigentlich wusste Prad, wie gefährlich es war, sich allein in die arkische Eiswüste hinauszuwagen – vor allem zur Jahreszeit der Erde -, und er blieb nur selten so lange fort. Deshalb machte sich Ispen Sorgen. Sonst beruhigte es sie, Mir an seiner Seite zu wissen, denn der Löwe kam immer gleich angelaufen, sobald man ihn rief. Nur heute eben nicht.
»PRA-AD!«, brüllte sie in die kalte Landschaft, die Hände zu einem Trichter geformt.
Keine Antwort. Die furchtbarsten Möglichkeiten kamen ihr in den Sinn, ja selbst der unwahrscheinliche Gedanke, Mir könnte ihren Sohn angegriffen haben. Sie versuchte sich zusammenzureißen, indem sie sich vor Augen hielt, dass der Löwe anhänglicher war als ein Hund. Aber warum kam er dann nicht, wenn sie ihn rief?
Vielleicht war dem Löwen etwas zugestoßen. War das Raubtier, das sich allzu sehr an Menschen gewöhnt hatte, seit es beim Schneeigelklan lebte, etwa von fremden Jägern erschossen worden? Und was war dann aus dem achtjährigen Jungen geworden, allein und verloren in der Eiswüste? Weinte er über der Leiche seines besten Freundes? Hatte er versucht, den Löwen zu beschützen?
Die Zweifel wuchsen sich rasch zur Gewissheit aus. Mir kam immer sofort, wenn sie ihn rief. Nur jetzt nicht. Also musste er tot sein!
Vielleicht gehörten die Täter ja auch zu Ispens Klan. Mehrere Jäger hatten sich über den Löwen in der Umgebung des Dorfs beschwert, weil er angeblich das Wild in die Flucht schlug. Nur unter Murren hatten sie sich dem Urteil ihres Anführers gebeugt. Der Klanchef hatte sie daran erinnert, dass das Wild schon seit einer ganzen Weile aus der Gegend verschwunden war und Mir das Dorf vor größeren Raubtieren beschützen würde. Doch trotz dieser Argumente hatten die Männer des Schneeigelklans, die sich für die streitbarsten Kämpfer der Welt hielten, nur eins gesehen: Osarok, der Anführer des Klans, war Ispens Bruder. Sein Urteil konnte also nicht richtig sein.
Ispen ärgerte sich, dass es in ihrem Dorf keinen Erjak gab, der den Jägern hätte erklären können, wie nützlich Mir dem Klan war. Außerdem bekümmerte sie, dass sie auch in diesem Jahr Bowbaq und den Vogelklan verlassen hatte und nun meilenweit entfernt von ihrem Geliebten war. Vor allem aber bekümmerte sie, dass sie nicht besser auf Prad achtgegeben hatte.
»MIR! PRA-AD!«, rief sie noch einmal, nachdem sie einen Hügel erklommen hatte.
Ein heftiger Stoß von hinten warf sie um, und sie landete mit den Händen im Schnee, während ihr ein wohlbekannter Geruch in die Nase stieg und ein schwerer Körper sie zu Boden drückte. Ispen drehte sich auf den Rücken und stützte sich auf die Ellbogen, konnte aber nicht mehr verhindern, dass eine gewaltige Zunge ihr das Gesicht abschleckte.
»Mir, du hat Maïok umgestoßen!«, sagte ein Junge vorwurfsvoll und schob den Löwen, der doppelt so groß war wie er selbst, unsanft beiseite. »Hast du dir wehgetan, Maïok?«
»Nein, Powchi«, antwortete Ispen und schloss ihren Sohn in die Arme. »Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht!«
»Wir haben Große Jagd gespielt. Du warst unsere Beute. Mir und ich können nächstes Jahr mit Païok auf die Jagd gehen. Sagst du ihm das, wenn er wiederkommt? Sagst du es ihm?«
»Und was ist mit Iulane?«, fragte die Mutter, die viel zu erleichtert war, um zu schimpfen.
Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, als ihr Sohn einwandte, seine kleine Schwester sei noch zu klein für die Jagd. Seit über zwei Monden war Ispen von Bowbaq getrennt, und die Zeit wurde ihr allmählich lang.
Zum Glück musste sie nur noch wenige Dekaden überstehen. Der Gletscher, der den Schneeigelklan vom Rest der Welt abschnitt, würde bald schmelzen. Dann wären die Wege wieder frei. Ispen freute sich unglaublich auf das Wiedersehen. Wie jedes Jahr würde ihr sanftmütiger Riese den Hügel hinabsteigen und ihr sein Herz zu Füßen legen. Bestimmt machte er sich schon zum Aufbruch bereit.
 
 
 
Ich hatte lange darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn wir einen Ausweg aus dem Labyrinth gefunden hätten. Zu diesem Zeitpunkt schätzte ich, dass wir etwa zwanzig Jahre unter der Erde verbracht hatten. Mehr als genug Zeit jedenfalls, um meinen Plan zu vervollkommnen.
Mithilfe meines unsterblichen Verbündeten und meiner magischen Fähigkeiten, die sich durch die Wirkung des Gwels vervielfacht hatten, wollte ich mir die gesamte bekannte Welt unterwerfen. Täte das nicht jeder Mensch, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme? Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Dummkopf oder ein Lügner.
Ich hatte lange nachgedacht. Nur drei Hindernisse standen meiner ewigen Herrschaft im Weg. Die Götter waren das kleinste.
Ob sie nun Mishra, Eurydis oder Hamsa heißen, gegen Sombre können sie nichts ausrichten, das hatte ich im Dara gelernt. Und warum sollten sie ihren Zorn gegen mich richten? Die alten Gottheiten sind schwach. Ihre Macht ist zwar unermesslich, aber um sie auszuüben, brauchen sie die Sterblichen. Und von den Sterblichen hatte ich nichts zu befürchten.
Außer von einem. Einer der Nachkommen der Gesandten würde der Erzfeind sein. Derjenige, der eine einzige Chance hätte, Sombre zu besiegen. Den Bezwinger zu besiegen. Eine einzige Chance, für alle Zeiten. Aber ich würde dafür sorgen, dass es nicht dazu kam.
Allerdings musste ich das Problem meiner schwindenden Lebenskraft lösen. Ich konnte nicht darauf vertrauen, dass Sombre immer an meiner Seite bleiben würde, nachdem er mittlerweile eine wesentlich kompliziertere Persönlichkeit entwickelt hatte als zunächst angenommen. Was im Übrigen leicht zu erklären war: Er hörte nicht nur meine, sondern Tausende von Stimmen, die ebenfalls Spuren in seinem Geist hinterließen. Meine größte Furcht war, dass er mir nach seiner Vollendung die Kraft verweigerte, die mich am Leben hielt. Doch auch in diesem Fall würde ich dafür sorgen, dass es nicht dazu kam.
All das ging mir durch den Kopf, als wir den letzten Berghang hinabgingen. Unsere wiedererlangte Freiheit erfüllte mich mit Hoffnung, aber zunächst wollte ich mich dringenderen Aufgaben zuwenden.
Als Erstes musste ich herausfinden, wo wir uns befanden. Ich hatte da so eine leise Ahnung. Wir irrten einen weiteren Tag umher, bevor wir einem Menschen begegneten, einem halb wilden Jäger, der die Flucht ergriff, sobald sich unsere Blicke trafen. Aber ich brauchte ihn nicht. Der kurze Augenkontakt hatte genügt. Seine Gedanken verrieten mir, dass er Wallatte war. Wir befanden uns auf der anderen Seite des Rideau.
Das Glück war mir hold.
Wie ich vermutet hatte, lag zumindest ein Teil des Jal’dara in einem abgelegenen Tal dieses Gebirges, zu Pferd kaum eine Dekade von Goran entfernt. Das Jal’karu wiederum lag unter eben jenen Bergen, an deren Fuß die Heilige Stadt erbaut war. Welche Ironie des Schicksals! Seit Äonen priesen die Itharer die Schönheit des Blumenbergs, ohne zu ahnen, dass Phrias, Soltan, Yoos und all die anderen Dämonen aus ihm hervorgegangen waren!
So bot sich mir eine unverhoffte Gelegenheit. Ich änderte meinen Plan geringfügig. Die Errichtung meines Reichs würde leichter sein, als ich gedacht hatte. Mein Weg war vorgezeichnet. Ich brauchte nur noch eine Armee.
Schon viel früher hatte ich beschlossen, die Oberen Königreiche mithilfe der Barbaren des Ostens zu erobern, denn in diesen Ländern gab es unzählige Kämpfer, denen nur ein Anführer fehlte. Die Männer waren unzivilisiert und damit leicht zu manipulieren, außerdem reizte mich die Herausforderung. Zu den Oberen Königreichen gehörten die mächtigsten Länder der bekannten Welt, deshalb hatte ich sie zu meinem Ziel erkoren. Ich wollte meine Überlegenheit unter Beweis stellen, indem ich den Feind von außen angriff und besiegte. Ich war fest entschlossen, etwas zu unternehmen, das noch nie zuvor jemand gewagt hatte.
In den Gedanken des wallattischen Jägers hatte ich auch Abscheu vor meinem Äußeren gelesen. Mir dämmerte, dass mein Körper weiterhin alterte, auch wenn mir der Tod nichts anhaben konnte. Damit meine Suche nach Verbündeten nicht daran scheiterte, dass niemand meinen Anblick ertrug, beschloss ich, mein Gesicht zu verbergen. Ich nahm einen der Steine, mit denen ich im Labyrinth den Weg markiert hatte, und formte daraus ein Gwelom: Ich verwandelte ihn in eine Sturmhaube, wie sie goronische Ritter trugen. Außerdem band ich mir ein schwarzes Tuch um den Helm, das die Feinde des Kaisers kennzeichnete. Denn nichts anderes war ich nun.
Während ich die Sturmhaube mit magischen Kräften versah, die sie zu einem ganz besonderen Gegenstand machten, ärgerte ich mich, nicht mehr Gwel aus dem Karu mitgenommen zu haben. Aus dem zweiten Stein, der mir blieb, würde ich später das Heft meines Schwerts formen. Nachdem ich so lange von dem kostbaren Material umgeben gewesen war, sollten mir aus dem Karu nichts als eine unvollendete Waffe und eine Sturmhaube bleiben, die zu tragen mir jeden Tag schwerer fallen würde.
Mit Sombre an meiner Seite ging ich weiter und stieß bald auf ein ärmliches Dorf, in dem vier oder fünf wallattische Familien lebten. Dort begann ich meinen Eroberungsfeldzug.
Im Handumdrehen wurde ich zum Anführer dieser Barbaren, indem ich ein paar Feuersteine in Goldklumpen verwandelte. Ein Kinderspiel, denn dieses Kunststück lernen Meister des Feuers als Erstes. Schließlich steht das Feuer für den Hang jedes Gegenstandes und Lebewesens, sich zu verändern. Allerdings hängt es von den Fähigkeiten des jeweiligen Magiers ab, wie lange die Verwandlung anhält: Selbst die mächtigsten Magier vermögen es nicht, einen Gegenstand so zu verändern, dass er länger als einen halben Dekant verwandelt bleibt.
Doch ich stand unter dem Einfluss der magischen Kraft des Jal’karu. Nach drei Dekaden waren die Feuersteine immer noch Goldklumpen. Vielleicht sind sie es sogar immer noch, wer weiß? Jedenfalls half mir dieses kleine Kunststück dabei, Kämpfer für meine Armee zu rekrutieren. Später machten mich unsere Raubzüge so reich, dass ich es nicht mehr brauchte. Doch ich greife vor.
Ich verbrachte drei Dekaden in dem Dorf, lernte Wallattisch und beobachtete, wie Sombre sich Menschen gegenüber verhielt. Wie erhofft hatte mein Dämon nur Gleichgültigkeit und Verachtung für sie übrig und suchte trotzdem meine Freundschaft. Alles lief nach Plan. Ich war sehr zufrieden mit ihm.
Meine Rückkehr unter die Lebenden barg eigentlich nur eine böse Überraschung: Ich entdeckte, dass ich nicht zwei Jahrzehnte, sondern über ein Jahrhundert in dem unterirdischen Labyrinth festgesessen hatte. Genauer gesagt, hundertachtzehn Jahre. Wenn ich die Dorfleute nicht nach dem wallattischen König Pal’b’ree gefragt hätte, einem der Gesandten, wäre ich bis zu meiner Begegnung mit Che’b’ree ahnungslos geblieben. Doch ich greife schon wieder vor.
Nach drei Dekaden schlug ich den Männern im Dorf vor, sich meinem Eroberungsfeldzug anzuschließen. Ich, ein Fremder, der sein Gesicht vor ihnen verbarg und noch dazu aus einem fernen Land stammte, forderte sie auf, ihre Hütten, Felder und Familien zu verlassen. Im Gegenzug versprach ich ihnen schnellen Reichtum.
Es war erstaunlich, wie begeistert die Männer meinem Ruf zu den Waffen folgten. Obwohl die Kämpfer des Ostens berüchtigt für ihre Angriffslust waren – im Grunde nicht anders als die Goroner -, hatte ich nicht damit gerechnet, nach nur einem Mond bereits über elf Krieger zu verfügen.
Meine erste Kompanie wurde bald durch siebzehn weitere Krieger verstärkt, ein paar Vagabunden, die von ihren Klans verstoßen worden waren und nun von Überfällen entlang der thalittischen Grenze lebten. Ich musste zwar mit etwas Magie nachhelfen, aber nachdem das Herz ihres Anführers plötzlich aufgehört hatte zu schlagen, liefen die Männer rasch zu mir über.
Eine Weile lang überließ ich es den Barbaren, die Ziele unserer Plünderungen auszusuchen, obgleich ich natürlich den Oberbefehl behielt. Bald sprach man in der gesamten Umgebung von meiner Macht – und meiner Großzügigkeit, bei der Aufteilung der Beute. Tag für Tag schlossen sich uns weitere Männer an, weshalb ich rasch den Überblick verlor. Vagabunden, Strauchdiebe, Abenteurer, Wegelagerer, Räuber, Bauern, Söldner und schließlich auch einige Klanchefs mit ihren Kriegern.
Die meisten Männer waren Wallatten, aber es gab auch einige Solener, Thalitten und Sadraken. Allerdings war diese Horde noch keine Armee. Häufig brachen Prügeleien aus, und ich verschwendete viel Zeit damit, die Männer mit so rauen Methoden wie der Folter auf dem Dornenrad zu disziplinieren. Es war an der Zeit, die nächste Stufe meines Plans umzusetzen. Ich brauchte Hauptmänner, und ich musste mich mit Königen verbünden, und sei es nur, um die Organisation meines Feldzugs zu erleichtern.
Eines Tages begegnete ich Königin Che’b’ree, der Urenkelin des Gesandten Pal’b’ree. Wieder einmal war mir Dona gnädig, wie die Lorelier sagen würden. Selbst in meinen hoffnungsvollsten Momenten hatte ich nicht damit gerechnet, eine Verbündete zu finden, die so gut zu meinen Plänen passte.
Von nun an lief alles wie von selbst. Ich war weiterhin für die strategische Planung des Feldzugs zuständig, doch die Barbarenkönigin übernahm den Oberbefehl. Wenige Dekaden später übertrug ich diese Aufgabe Gors dem Zimperlichen, der sich uns in der Zwischenzeit angeschlossen hatte, und machte Chebree zu Sombres Hohepriesterin, um die Vollendung meines Dämons zu beschleunigen.
So konnte ich mich einem ganz anderen Problem widmen: dem Erzfeind. Ein Jahrhundert war vergangen, und mittlerweile mussten die Gesandten Nachkommen in der dritten oder vierten Generation haben. So unwahrscheinlich es auch war, ich konnte nicht zulassen, dass einer von ihnen Sombre besiegte und mir die Unsterblichkeit raubte. Ich musste sie alle töten.
Sombre hatte die Reife noch längst nicht erlangt und konnte diese Aufgabe deshalb nicht übernehmen. Es hatte ihn bereits große Mühe gekostet, die Erben aufzuspüren. Einen Mond später war er immer noch zutiefst erschöpft.
Doch die Liste, die wir verfasst hatten, reichte mir völlig. Ich schickte einen Boten nach Goran: Er sollte den Züu vorschlagen, bei hundertacht Menschen Zuïas Urteil zu vollstrecken. Mein Bote kehrte in Begleitung eines Judikators zurück, der neugierig und misstrauisch zugleich war. Zamerine sollte später mein treuer Gefolgsmann werden.
Die Verhandlungen dauerten nur einen Dekant. Ich zahlte die Summe, die der Mörder forderte, und erklärte mich sogar bereit, das Gold per Schiff zur Insel Zuïa bringen zu lassen. Der Judikator nahm die Liste an sich, und die Hinrichtungen begannen.
Ich habe diese Entscheidung nie bereut. Im Durchschnitt töteten die Mörder im roten Gewand neun von zehn Erben: viel mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.
Leider kann ich den wenigen, die den Züu entwischt sind, Sombre nicht auf den Hals hetzen. Sie haben sich zusammengeschlossen und sind auf der Hut. Wenn einer von ihnen der Erzfeind ist, wäre es zu gefährlich, wenn Sombre ihn in Gestalt eines Avatars angreift. Sollte dieser Kampf jemals stattfinden, muss Sombre ihn persönlich austragen.
Doch diese Wahrscheinlichkeit ist so gering, dass ich mir eigentlich keine Sorgen zu machen brauche. Wenn erst einmal bewiesen ist, dass keiner der Erben der Erzfeind ist oder die Flüchtigen endgültig vernichtet sind, habe ich nur noch eins zu befürchten: Dass Sombre mir eines Tages die Kraft verwehrt, die mich am Leben hält.
Bisher war mir das Glück hold, aber ich bin kein Spieler.
Ich trage den Beinamen »der Ökonom«. Ich überlasse nichts dem Zufall.
Alles kann passieren.
ERSTES BUCH
JAL’DARA JAL’K ARU
Yan hob eine zitternde Hand vor das Gesicht und betrachtete die andere Welt durch seine Finger. Sie schien so nah … Hätte er nicht das seltsame Gefühl gehabt, sie durch eine Wasseroberfläche zu betrachten, wäre die Illusion perfekt gewesen.
Er streckte die Hand aus und spürte nichts. Doch in der Finsternis konnte er den Abstand nicht richtig einschätzen. Er fragte sich, ob er vielleicht noch zu weit von der Pforte entfernt war. Langsam trat er einen Schritt vor.
Und war im Jal’dara.
Er spürte das saftige Gras unter den Füßen, und es roch nach blühenden Blumen. Die Luft, die ihm über das Gesicht strich, war feuchter und wärmer als die, die er noch einen Moment zuvor geatmet hatte. Er war im Jal’dara.
Vergeblich versuchte er, seiner Gefühle Herr zu werden. Alles war so berauschend, und er fühlte sich unfassbar lebendig. Seine Sinne spielten verrückt. Nur die Götter kannten das Geheimnis dieses Zaubers. Er war im Jal’dara.
Die Euphorie wurde so stark, dass er sogar seinen eigenen Namen vergaß. Das Glück, das die Erben seit einem Jahrhundert beim Anblick der Landschaft hinter der Pforte empfunden hatten, überwältigte Yan nun ganz und gar. Vor lauter Ergriffenheit und aus Angst, den Bann zu brechen, wagte er nicht, sich zu rühren. Er war im Jal’dara.
Nur mit Mühe konnte er sich seinen Namen ins Gedächtnis rufen, und auch den Grund, aus dem er hier war. Bruchstücke von Erinnerungen stiegen in ihm auf, und er hielt sie fest, bevor sie sich wieder verflüchtigen konnten. Das Gesicht einer jungen Frau. Eine mit Wasser gefüllte Höhle. Ein schwarz gekleideter Krieger. Bedrohliche rote Schatten. Menschen, Namen. Corenn. Norine. Grigán. Babuk? Nein, Bowbaq. Rey. Maz Lena? Nein, Lana.
Léti.
Plötzlich war alles wieder da. Die Erben. Die Insel Ji. Die Pforten. Die Züu. Saat. Usul. Die Oberen Königreiche. Das Tal der Krieger. Seine Freunde, die im Wald der Riesen im Land Oo in Lebensgefahr schwebten. Der Lindwurm. Er musste sich beeilen. Sie warteten auf seine Hilfe. Schnell!
Doch nur einem Teil seines Verstandes gelang es, klare Gedanken zu fassen. Der andere schwelgte in Glückseligkeit, und Yan musste seinen ganzen Willen aufbieten, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Mit einem Mal war er todmüde. Er hatte das Gefühl, der Schlaf würde ihm helfen, wieder zu Sinnen zu kommen. Aber er durfte jetzt nicht schlafen. Warum noch mal nicht? Léti war in Gefahr. Er musste etwas tun. Aber was?
Mit jedem Schritt wurde er müder. Der Rausch machte ihn ganz benommen, und seine Erinnerungen versanken abermals im Nebel. Er musste schlafen. Dann würde es ihm besser gehen. All seine Gedanken kreisten um diese Müdigkeit. Trotzdem weigerte er sich, sich dem Gefühl hinzugeben, obwohl er immer weniger wusste, warum. Schlafen, einfach nur schlafen …
Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter, und Yan drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Nol der Seltsame. Er sah genauso aus wie auf dem Gemälde, das er gesehen hatte. Wo war das noch gewesen? Er konnte sich nicht erinnern.
Abermals einem Gott gegenüberzustehen, konnte ihn nicht mehr erschüttern. Er war müde. Er wusste, dass er eine Nachricht für Nol hatte. Er musste ihn um etwas Wichtiges bitten. Stattdessen konnte er nur noch lächeln und ließ sich mit jedem Atemzug mehr in den Rausch hineinfallen.
»Ich bin der Wächter der Pforte im Dara«, sagte Nol freundlich. »Wer schickt dich zu mir?«
Die Frage breitete sich in Yans Kopf aus und vertrieb den Nebel. Nol zu antworten, war nun ein dringenderes Bedürfnis, als zu schlafen. War das eine der Fähigkeiten des Gottes? Yan hatte keine Ahnung, woher er die Antwort nahm. Es kam ihm vor, als hole Nol sie aus den Tiefen seines Geistes.
»Der Wissende«, antwortete er mit matter Stimme.
»Usul«, bemerkte Nol. »Eigentlich ein netter Junge. Vielleicht etwas zu mächtig. Die Zukunft zu kennen, ist eine schwere Bürde. Aber niemand kann sich seine Bürde aussuchen.«
Yan nickte, ohne ein Wort zu verstehen. Nols Freundlichkeit entzückte ihn. Sein Rausch hatte ein solches Ausmaß erreicht, dass sein Verstand und seine Wahrnehmung auseinanderklafften. Selbst wenn seine Knie nachgegeben hätten und er ins Gras gesunken wäre, hätte er vermutlich geglaubt, immer noch zu stehen. Die Müdigkeit übermannte ihn, und sein Körper gab sich dem Schlaf hin. Seine Gedanken lösten sich von ihm, irrten durch die Nacht, schwebten über die Hügel und glitten durch das Tal, das sich hinter Nol erstreckte.
»Die Pforte!«, entfuhr es ihm plötzlich. Die Worte kamen nur als leises Flüstern heraus, obwohl er hatte schreien wollen. »Meine Freunde!«, fügte er hinzu und wies auf den Torbogen.
Nol folgte seinem Blick, und das wohlwollende Lächeln wich für einen Moment einer besorgten Miene. Eine zwanzig Schritte hohe Erscheinung störte die Harmonie im Tal von Dara. Sie sahen den Wald der Riesen im Land Oo, wo einige Sterbliche verzweifelt gegen einen Lindwurm kämpften.
Nol erklomm den Hügel, der zur Pforte führte. Yan setzte sich ebenfalls in Bewegung und überholte ihn nach wenigen Schritten. Der Anblick hatte ihn so weit ernüchtert, dass er erkannte, in welcher Gefahr seine Freunde schwebten. Der Hügel versperrte ihm für kurze Zeit die Sicht auf die Pforte. Als er seine Freunde wieder sehen konnte, war der Lindwurm verschwunden.
Im nächsten Moment trat Nol neben ihn. Sie standen vor der Pforte und sahen zu seinen Gefährten hinüber. Der Gott hatte sein Lächeln wiedergefunden. »Willkommen«, sagte er und streckte ihnen durch die Pforte die Hand entgegen. »Willkommen zu Hause.«
 
 
 
Usul zieht Kreise in seiner Höhle auf der Heiligen Insel der Guori. Es wird drei Jahre dauern, bis der nächste Besucher kommt, aber der Gott wartet schon jetzt auf ihn. Um sich die Zeit zu vertreiben, denkt er darüber nach, in welcher Gestalt er ihn empfangen wird. Kann er sich zur Abwechslung nicht einmal in seiner wahren Gestalt zeigen?
Natürlich weiß er, dass das nicht geht. Bei seinem Anblick sterben die meisten Menschen einen grausamen Tod. Und Usul ist daran gelegen, die meisten seiner Besucher am Leben zu lassen.
Menschen zu beobachten, ist sein einziger Zeitvertreib. Vor allem jene Menschen, denen er etwas von seinem Wissen enthüllt hat. Sie sind die Einzigen, die die Zukunft verändern können.
Sein letzter Besucher war sehr interessant. Seit ihrer Begegnung verfolgt Usul jeden seiner Schritte. Er denkt nach, stellt Vermutungen an, schätzt die Folgen für die Nachwelt ab und erwägt die unendlich vielen Möglichkeiten. Doch je mehr Zeit verstreicht, desto klarer zeichnet sich der Weg in die Zukunft ab. Und so weiß Usul nun wieder, was geschehen wird. Er sieht alles genau vor sich.
Die Schlacht am Blumenberg wird stattfinden. Sie wird Unglück und große Veränderungen mit sich bringen und viele Sterbliche in Verzweiflung stürzen. Doch diese Aussicht mindert Usuls Langeweile nicht. Diesen Ausbruch menschlicher Zerstörungswut hat er schon vor langer Zeit vorhergesehen.
Er richtet seine Aufmerksamkeit lieber auf den Ausgang des Kriegs. Sein letzter Besucher hat eine geringfügige Chance, den Oberen Königreichen zum Sieg zu verhelfen. So unwahrscheinlich das auch ist. Dieser Teil der Zukunft liegt im Ungewissen. Usul wird ihn im Auge behalten.
Leider kann er die Handlungen des Sterblichen nicht mehr verfolgen, seit dieser die Pforte ins Jal’dara durchschritten hat. Das Tal ist der einzige Ort, an dem die Götter keine Macht haben. Was auch immer der Mensch dort tut, Usul wird es erst nach seiner Rückkehr erfahren.
Falls er jemals zurückkehrt …
Der Gott nimmt abermals eine andere Gestalt an. Er wird warten. Darauf versteht er sich.
 
 
 
Léti erwachte als Erste. Sie stand auf und lief ein paar Schritte durch das weiche Gras. Kurz darauf trat Grigán zu ihr.
Die Gefährten hatten auf der Wiese geschlafen. Noch am Abend zuvor hatten sie im Land Oo gestanden und sich in der bitteren Kälte dicht aneinandergeschmiegt. Sie hatten gegen den Lindwurm gekämpft, den Ewigen Wächter der Pforte, die in den Rindenbaum geschnitzt war. Dann waren sie dem Ruf eines anderen Ewigen Wächters gefolgt und hatten die Pforte durchschritten. Dieser Wächter war ein Gott: Nol der Seltsame, wie die Erben ihn nannten. Maz Achem hatte ihm in seinem Tagebuch den Beinamen »der Lehrende« gegeben.
Léti betrachtete die verwunschene Landschaft des Tals. Seit über einem Jahrhundert hatten die Erben dieses Paradies aus der Ferne bewundert und hinterher eine unerklärliche Traurigkeit empfunden. Doch nun spürte sie nur noch pures Glück.
Eigentlich hatte das Tal nichts Besonderes an sich, wenn man davon absah, dass die Zeit hier langsamer verstrich als in ihrer Welt und immer die Jahreszeit des Wassers zu herrschen schien. Nein, ihr Entzücken kam von etwas anderem, es kam von überall zugleich. So eine Art Magie, ein Zauber. Es war, als wären ihre Sinne um ein Vielfaches schärfer und würden von unzähligen angenehmen Empfindungen überrollt. Ein Rausch, auf den kein Kopfschmerz folgte.
Léti rieb sich die Augen, um den Schwindel zu vertreiben. Sie war immer noch glücklich, doch der Rausch schien etwas nachgelassen zu haben. Vielleicht hatte sie sich auch schon an das Gefühl gewöhnt.
Nachdem die Erben durch die Pforte getreten waren, hatte Nol ihnen nicht viel Zeit gelassen, sich über das Gelingen ihres Plans zu freuen. Der Seltsame schlug ihnen vor, sich hinzulegen und zu schlafen. Zu diesem Zeitpunkt hatte niemand große Lust dazu gehabt. Léti konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, sich ins Gras gesetzt zu haben. Und doch waren die Erben am Morgen, als sie die ersten Sonnenstrahlen kitzelten, auf einem weichen grünen Teppich erwacht. Waren sie dem Zauber des Tals verfallen? Nols magischen Kräften? Auch auf diese Frage wussten sie keine Antwort.
Grigán stand einige Schritte hinter ihr, kniff die Augen zusammen und starrte zum anderen Ende des Tals hinüber. Obwohl man eigentlich nicht von einem Ende sprechen konnte: Das Jal’dara bestand aus einer weiten Ebene, die von hohen Bergen begrenzt wurde. Es lag jedoch nicht in einem geschlossenen Talkessel, sondern schien sich über viele, viele Meilen zu erstrecken.
»Seht Ihr irgendetwas?«, fragte Léti ihren Kampflehrer.
»Vögel. Margoline. Stehschläfer. Wühler. Dort drüben bei den Lubilien steht ein Waagenhirsch. Und ganz in der Ferne sehe ich ein paar Kinder.«
»Wo?«, rief sie. Léti sah in die Richtung, in die Grigán zeigte. Zunächst erkannte sie nichts. Nach weiteren Erklärungen erspähte sie schließlich einige dunkle Flecken in der Landschaft. Wie konnte er sicher sein, dass es Kinder waren? Léti fiel es schon schwer genug, in den Umrissen überhaupt menschliche Gestalten zu erkennen.
»Bei allen Göttern, was muss ich gesoffen haben«, stöhnte Rey hinter ihnen. »Mir brummt der Schädel. Ich fühle mich, als hätte Bowbaq die ganze Nacht auf mich eingeschlagen!«
»Das habe ich nicht. Ich schwöre es«, sagte eine zweite, lautere Stimme. »Ich würde dich nie schlagen, Freund Rey!«
»Das weiß ich doch, großer Bär. Das war ein Scherz. Ich werde mich nie an seine Naivität gewöhnen!«, sagte Rey und verdrehte die Augen.
Léti wandte sich um und betrachtete ihre Freunde: Der Riese Bowbaq, der sie alle an Kraft und Gutmütigkeit übertraf, beugte sich gerade über sein Äffchen Miff, das noch immer tief und fest schlief. Neben ihm im Gras saßen Rey, ein Schauspieler aus Lorelien, der vor Charme sprühen und im nächsten Augenblick allen auf die Nerven gehen konnte, und Maz Lana, eine treue Priesterin der Eurydis, die insgeheim in Rey verliebt war.
Grigán, der ramgrithische Krieger, hatte ihnen allen mehrmals das Leben gerettet. Von ihm hatte Léti kämpfen gelernt. Doch er litt unter einer rätselhaften Krankheit, die immer wieder zum Ausbruch kam. Jeder Anfall verlief schlimmer als der vorherige, und keiner von ihnen kannte ein Heilmittel.
Corenn, ihre Tante zweiten Grades, war Mitglied des Ständigen Rats im Matriarchat von Kaul. Dank ihres scharfen Verstands waren die Erben zahlreichen Geheimnissen ihrer Vorfahren auf die Spur gekommen. Ohne Corenn hätten sie es niemals bis ins Jal’dara geschafft. Aber im Grunde galt das für sie alle.
Und dann war da noch Yan. Der junge Mann richtete sich als Letzter auf, sah sich benommen um und blinzelte. Er sah zu ihr her und lächelte.
Yan, der Corenn zufolge außergewöhnliche magische Fähigkeiten hatte. Yan, ihr ältester Freund. Yan, den sie schon so lange liebte, dass sie es nicht für nötig hielt, dem jungen Mann ihre Gefühle zu gestehen. Wenn er nichts sagte … Dann liebte er sie eben nicht. Wie sollte es anders sein?
Seltsamerweise versetzte ihr dieser Gedanke nicht wie sonst einen Stich. Lag das an den Kräften des Jal’dara? Der Rausch, dem sie verfallen war, schien den Schmerz zu lindern. »Tante Corenn, dieser Ort ist gefährlich«, hörte sie sich sagen.
»Das Gefühl habe ich auch«, sagte die Ratsfrau mit ernster Miene. »Aber ich weiß nicht, woran das liegt.«
»Das Jal lässt unsere Erinnerungen verblassen«, warf Lana ein. »Ich habe das Gefühl, dass die Vergangenheit in weite Ferne gerückt ist. Selbst der gestrige Tag. Wie kann das sein?«
»Dieser Ort wirkt wie eine Droge«, sagte Rey. »Deshalb brummt mir auch der Schädel. Gewisse Kräuter habe ich noch nie vertragen.«
»Es ist noch schlimmer«, fuhr die Priesterin fort. »Vielleicht vergessen wir sogar unseren eigenen Namen, wenn wir längere Zeit hierbleiben. Ich habe da so eine böse Vorahnung: Ich glaube, wir würden ganz einfach verschwinden.«
Die Männer warfen sich erstaunte Blicke zu.
»Mir kommt es vor, als wäre die Wirkung auf Frauen stärker«, sagte Grigán, ohne zu wissen, was er davon halten sollte.
»Vielleicht ist das eine Frage der Empfindsamkeit?«, erwiderte Léti hitzig. »Männer sind einfach zu abgestumpft.«
»Sicher ist das keine große Sache«, erwiderte Grigán, um sie zu besänftigen. »Unsere Vorfahren haben mehr als zwei Monde an diesem Ort verbracht und trotzdem keinen Schaden genommen. So lange werden wir nicht bleiben. Machen wir uns also keine unnötigen Sorgen.«
Corenn nickte und hoffte, dass es so einfach war. Schließlich wussten die Freunde nicht, ob sie im Jal’dara Hilfe finden würden – und welchen Preis sie dafür zahlen mussten.
 
 
 
Die Erben hatten erwartet, dass Nol ihnen einen weiteren Besuch abstatten würde, doch der Seltsame ließ sich nicht mehr blicken, und ohne ihn wagten sie sich nicht weiter ins Jal’dara vor. Zum einem, weil sie die Gefahren fürchteten, die hier lauern mochten, zum anderen, weil sie sich scheuten, ohne Erlaubnis des Wächters in der Kinderstube der Götter herumzuspazieren.
Rey schlug vor, in der Zwischenzeit etwas zu essen, und so setzten sie sich im Kreis ins Gras. Lana breitete ihre Vorräte auf einer Decke aus, doch als sie das Brot, die Trockenfrüchte, den Räucherspeck und die Eier betrachteten, stellten sie fest, dass sie keinen Hunger verspürten.
Grigán empfahl allen, trotzdem etwas zu essen. Widerwillig würgten sie einige Bissen hinunter. Corenns Idee, einen Coze-Tee aufzubrühen, wurde hingegen mit Begeisterung aufgenommen. Nachdem sie eine Dezime lang vergeblich versucht hatte, ein Feuer zu entzünden, mussten die Erben einsehen, dass das im Jal’dara unmöglich war.
»Aber Arkane aus Junin hat doch Verbrennungen davongetragen«, sagte Bowbaq verwundert, während er seinerseits zwei Feuersteine aneinanderschlug.
»Das war im Jal’karu«, sagte Yan. »Irgendwo unter unseren Füßen. Dort ist vermutlich alles anders.«
Alle starrten auf den Boden, als könnten sie die von Dämonen bevölkerte Unterwelt sehen, die Achem in seinem Tagebuch beschrieben hatte. Dann ließen sie den Blick über die sonnenbeschienenen Berghänge schweifen und suchten nach einer Felsspalte oder Höhle, die der Beginn eines unterirdischen Gangs sein könnte. Doch so etwas gab es hier ebenso wenig wie fliegende Margoline. Nachdem schon Corenn, Rey, Yan und Grigán daran gescheitert waren, ein Feuer zu entzünden, gab Bowbaq nun ebenfalls auf. So mussten sie sich mit lauwarmem, abgestandenem Wasser aus ihren Schläuchen begnügen. Nachdem sie lustlos davon getrunken hatten, goss Corenn unter den neugierigen Blicken ihrer Gefährten etwas Wasser auf den Boden. Dann tastete sie im Gras herum und grub schließlich ein kleines Loch.
»Die Erde ist trocken«, sagte sie ruhig.
Grigán wollte sich selbst davon überzeugen, und auch Léti und Rey bestätigten es.
»Ich weiß nicht, warum, aber das gefällt mir nicht«, sagte Grigán. »Wie ist das möglich? So heiß ist es doch gar nicht.«
»Wir haben schon viele seltsame Dinge erlebt«, antwortete Corenn. »Die Gärten des Jal’dara scheinen sich ständig zu regenerieren. Mit anderen Worten: Sie nehmen nach jeder Veränderung wieder ihre ursprüngliche Form an. So etwas hatte ich bereits vermutet, als ich sah, dass an unserem Schlafplatz keine Abdrücke im Gras zurückgeblieben waren.«
»Nicht schlecht«, sagte Rey mit einem schiefen Grinsen. »So bleibt es immer sauber. Blitzblank. Der Traum meiner Großmutter.«
»Ich bezweifle, dass es um Sauberkeit geht«, befand Corenn. »Jedenfalls erklärt das, warum wir weder Hunger noch Durst verspüren. Die Kraft des Tals scheint bereits auf uns übergegangen zu sein.«
»Mir brummt trotzdem der Schädel«, sagte Rey mit einer Grimasse. »Besonders gut scheint diese Kraft nicht zu wirken.«
»Vielleicht noch nicht. Aber was wäre, wenn wir zwei Monde blieben? Oder drei? Wie sehr würden wir uns verändern?«
»Wir würden Gwelome werden«, sagte Lana. »Wie unsere Vorfahren. Mit verlängerter Lebensdauer und verminderter Fruchtbarkeit.«
»Wir sind doch längst Gwelome«, erinnerte sie Léti. »Die weisen Gesandten hatten nur wenige Nachkommen, und diese haben ihrerseits nicht viele Kinder.«
»Außer Bowbaq, der klammheimlich eine ganze Schar in die Welt gesetzt hat«, sagte Rey mit einem anzüglichen Augenzwinkern. »Nicht wahr, mein Freund?«
»Ich tue überhaupt nichts klammheimlich«, murmelte Bowbaq und errötete unter seinem blonden Bart.
»Und was die Lebenserwartung der Erben angeht, habe ich eher den Eindruck, dass sie in letzter Zeit dramatisch gesunken ist«, setzte Rey hinzu.
Niemand lachte. Nicht einmal Rey fand seinen Scherz lustig.
Titel der französischen Originalausgabe Le Secret de Ji: Le Doyen éternel
 
Deutsche Übersetzung von Sonja Finck und Nadine Püschel
Verlagsgruppe Random House
 
 
 
Deutsche Erstausgabe 01/09 Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 1999 by Pierre Grimbert Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: Paolo Barbieri Karte: Andreas Hancock
 
eISBN : 978-3-641-02453-6V002
 
www.heyne-magische-bestseller.de www.heyne.de

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