Das Erbe der Magier - Pierre Grimbert - E-Book

Das Erbe der Magier E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Nach dem Erfolg von „Die Magier“ – dies ist die Stunde der Krieger!

Seine „Magier“ haben in Deutschland Tausende von Lesern verzaubert – jetzt kehrt Pierre Grimbert mit den Kindern der beliebten Helden zurück! Der preisgekrönte Fantasy-Autor verknüpft meisterhaft alle Elemente, die seine deutschen Fans an seinen Geschichten lieben: die Faszination einer magischen Welt – und ein kriegerisches Abenteuer …

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Inhaltsverzeichnis

WidmungERSTES BUCH - DIE NÄCHSTE GENERATIONZWEITES BUCH - DIE GWELOMEKLEINES LEXIKON DER BEKANNTEN WELTCopyright

Meinem Klan.Noch einmal, für immer.

Mein Name lautet Corenn. Die Zeit lastet noch nicht so schwer auf meinen Schultern, dass ich mich als alte Frau bezeichnen würde, doch die Wahrheitsliebe gebietet mir, meine zweiundsechzig Lenze einzugestehen.

Seit fast zwei Jahrzehnten bin ich im Ständigen Rat des Matriarchats von Kaul mit der Außenpolitik betraut. Mein Amt stellt mich häufig vor schwierige Entscheidungen. Obwohl die bekannte Welt einigermaßen in Frieden lebt, verfolgt jedes Königreich andere Interessen. Die Kunst der Diplomatie ist der einzige Weg, die guten Beziehungen zwischen den Ländern aufrechtzuerhalten. Doch wer nehmen will, der muss auch geben, und so ist Kaul manchmal zu Opfern gezwungen, um seine Unabhängigkeit zu wahren.

Diese Opfer können auch Menschenleben sein. Immer wieder sterben Agentinnen, die jenseits unserer Grenzen tätig sind – zumeist als Botschafterinnen, bisweilen aber auch als Spioninnen. Obwohl sie wissen, welche Gefahren sie auf sich nehmen, ist der Tod dieser Freiwilligen stets eine Tragödie, für die allein ich verantwortlich bin. Meine Entscheidungen führten dazu, dass unsere Diplomatinnen von jezebischen Stammesanführern enthauptet oder von jerusnischen Rebellen an einen Baum geknüpft wurden. Auf meine Bitte hin versuchte eine Gesandtschaft, beim neuen König der Thalitten vorzusprechen, und kehrte von dieser Mission nie wieder zurück. Solcherart sind die Beschlüsse, die ich Dekade um Dekade treffen muss.

Doch diese Bürde ist nichts im Vergleich zu dem grausamen Streich, den das Schicksal einer Handvoll Männern und Frauen gespielt hat. Einer Gemeinschaft, zu der auch ich gehöre.

Alles begann vor einhunderteinundvierzig Jahren, als ein Fremder namens Nol einige Gesandte aus verschiedenen Ländern der bekannten Welt auf einem Fleckchen Land nahe der lorelischen Küste versammelte: der Insel Ji. Zu den Weisen, die dort zusammenkamen, zählten auch meine Vorfahren. Sie alle verschwanden auf rätselhafte Weise und kehrten erst zwei Monde später zurück, schwer gezeichnet von einem Abenteuer, dessen Geheimnis sie mit ins Grab nehmen würden. Nol wurde nie wieder gesehen, und die Geschichte geriet bald in Vergessenheit.

Vier Generationen später begannen die fanatischen Priester Zuïas, die Nachkommen der Gesandten zu ermorden. Nur acht von uns entkamen der tödlichen Hetzjagd der Züu: ich selbst, meine Nichte Léti, Bowbaq vom Vogelklan und seine beiden Kinder, Reyan von Kercyan, Maz Lana und nicht zu vergessen der Mann, mit dem ich später den Bund schloss, der tapfere Grigán aus Griteh. Auch ein Außenstehender stieß zu uns: Yan, ein treuer Freund Létis, der ihr bis ans Ende der Welt folgte.

Nachdem bald nicht nur die Mörder im roten Gewand hinter uns her waren, sondern auch die Banditen der Großen Gilde, flohen wir von Land zu Land, um dem Tod zu entrinnen und dem Geheimnis unserer Vorfahren auf die Spur zu kommen. Wie sich herausstellte, war das die schwierigste Aufgabe, die ich je zu meistern hatte. Doch wir fanden die Antworten, die wir suchten, mag es nun Glück, eine Laune des Schicksals oder höherer Wille gewesen sein.

Nol ist ein Unsterblicher: Hüter des Jal’dara, eines wundersamen Tals, in dem die künftigen Götter der Menschheit heranwachsen. An diesen Ort hatte er unsere Ahnen geführt, indem er ihnen die verborgene magische Pforte von Ji öffnete  – so wie er es immer dann tut, wenn zehn Menschengenerationen verstrichen sind.

Das Jal’dara ist die Kinderstube der Götter. Der Glaube der Menschen lässt die Unsterblichen dort langsam heranreifen, bis sie genug gelernt haben und den Gärten des Jal für immer den Rücken kehren. Dann lassen sie sich in ihrem neuen Reich nieder, um dort für alle Ewigkeit zu herrschen.

Die Gesandten der Sterblichen müssen nach jeder Reise entscheiden, wie sie mit dem Geheimnis umgehen, in das sie Nol eingeweiht hat. Sollen sie die Menschen warnen? Sich in Schweigen hüllen? Die Folgen einer solchen Offenbarung sind unabsehbar. Bislang entschieden alle Weisen, dass die Welt noch nicht bereit für dieses Wissen war. Aber ihr Leben war von Grund auf verändert. Manche wandten sich der Religion zu, andere zogen sich in die Einsamkeit zurück – und einige wenige verloren den Verstand.

Dazu gehörte auch Saat, ein Mann, der vor zwei Jahrhunderten geboren wurde und sich als größter Widersacher der Erben und ärgster Feind der Menschen erweisen sollte.

Usul erbebt in seiner Höhle. Nie zuvor hat er solche Verwirrung empfunden. Es ist wie ein Fieber. Trotz seines unergründlich tiefen Geistes vermag der Gott kaum noch zu erkennen, was die Zukunft birgt, und zum ersten Mal hat er das Gefühl, dass ihm der Lauf der Welt entgleitet. Doch ihm bleibt nichts anderes übrig, als alle denkbaren Entwicklungen zu beobachten. Das ist seine einzige Fähigkeit, seine einzige Zerstreuung. Er ist der Wissende.

Kraft des menschlichen Willens ist er Usul, der Gott, der die Gestalt von Wassertieren annimmt. Seit Jahrtausenden fristet er sein Dasein als Gefangener einer unterirdischen Höhle auf einer kleinen Insel. Nur äußerst selten verirrt sich jemand dorthin. Den meisten Besuchern ist nichts Bedeutendes vorherbestimmt. Usul verachtet sie und setzt ihrem unwürdigen Dasein ein Ende. Einige hingegen haben einen gewissen Einfluss auf den Lauf der Welt. Ihnen gewährt der Unsterbliche einen Einblick in sein Wissen. Sein übermenschliches Wissen.

Seit Urzeiten weiß er, was Dingen und Menschen vorherbestimmt ist. Er kann nur über das nachsinnen, was ohnehin geschehen wird. Deshalb langweilt sich der Gott. Zumindest langweilte er sich bis zu dem Augenblick, in dem ein Sterblicher namens Yan zu ihm kam – vor dreiundzwanzig Jahren.

Diese Begegnung hat die Zukunft entscheidend verändert. Indem er einem Jungen einige künftige Ereignisse offenbarte, hat der Gott alles ausgelöscht, was für die kommenden Jahrhunderte geschrieben stand. Denn die Zukunft kann nur verändert werden, wenn sie jemandem enthüllt wird, der darin eine Rolle spielt. Usul platzt fast vor Stolz, dass er die Welt derart beeinflusst hat. Er hat es seinen Brüdern und Schwestern, die viel mächtiger sind als er, endlich einmal so richtig zeigen können.

Und doch fürchtet sich der Gott vor dem, was er selbst herbeigeführt hat. Der Weg, den die Geschichte einschlagen wird, mag noch unendlich viele Windungen nehmen, aber letzten Endes gibt es nur zwei Möglichkeiten, wie alles ausgehen wird.

Eine davon schließt seinen eigenen Tod mit ein.

Also lauscht der Gott den Menschen, grübelt über die Welt nach und versucht, die Zukunft zu enträtseln. Jeden Augenblick geschieht etwas Unerwartetes, das seine Überlegungen zunichtemacht. Und seit jenem grauenvollen Tag, an dem die Karten völlig neu gemischt wurden, überstürzen sich die Ereignisse.

Das Schicksal der Welt wird nicht in vierzig oder sechzig Jahren besiegelt werden, wie er ursprünglich gedacht hat. Schon in wenigen Monden entscheidet sich alles.

Und Usul wird dabei noch einmal die Hände im Spiel haben.

Saat gehörte zu der Gesandtschaft, zu der auch meine Ahnen zählten, lange vor unserer Geburt. Er war der Begleiter des goronischen Prinzen Vanamel, der die Reise nicht überleben sollte. Außerdem war er Magier, und durch die übernatürlichen Kräfte, die im Jal’dara wirken, stieg ihm seine Macht zu Kopf.

Obwohl ihn Nol und die anderen Gesandten warnten, manipulierte der Hexer die Gedanken eines der Götterkinder, das unbekümmert durch das Tal streifte. Die Gärten des Jal selbst sind unveränderlich, aber die Persönlichkeit des Gottes war für immer verdorben. Durch diesen ungeheuerlichen Eingriff, den er mehrmals wiederholte, lockte Saat das Kind in die Welt der Dämonen.

Das Jal’dara ist nicht der einzige Ort, an dem die Unsterblichen heranwachsen. Finster und modrig ist das andere Reich, ein wucherndes, sich ständig veränderndes Labyrinth unmittelbar unter den blühenden, friedlichen Gärten des Jal: Karu, die Unterwelt.

Durch einen dummen Fehler Vanamels sahen sich unsere Vorfahren gezwungen, in die dunklen Höhlen hinabzusteigen. Saat und der kleine Junge, dessen Wesen sich bereits zu verändern begann, sollten nie wieder in das Tal zurückkehren. Ihren schwarzen Seelen war der Zugang zur Welt des Dara für immer verschlossen.

Dem Hexer gelang es, seinem jungen Dämon Lebenskraft zu entziehen und dadurch mehr als ein Jahrhundert in dem gespenstischen Labyrinth zu überleben. Während dieser Zeit formte er den Unsterblichen nach seinem Ebenbild und gab ihm schließlich auch einen Namen: Sombre. Der Bezwinger.

Ich weiß nicht, wie Saat es schaffte, aus dem Jal’karu zu fliehen. Jedenfalls kannte er, nachdem er in die Welt der Menschen zurückgekehrt war, nur noch ein Ziel: die Oberen Königreiche zu erobern. Mit seinen magischen Fähigkeiten, seiner göttlichen Lebensquelle und dem grausamsten aller Dämonen an seiner Seite schien seinem Ehrgeiz nichts mehr im Wege zu stehen. Er hatte sich einen Verbündeten herangezogen, ihm Mordlust und Blutgier eingeflößt und einen Unsterblichen in der Gestalt eines jungen Mannes erschaffen, der mit dem arglosen Kind aus dem Jal’dara nichts mehr gemein hatte.

Mit seiner Hilfe konnte Saat in den Ländern des Ostens mühelos Anhänger um sich scharen und ein gewaltiges, vierzigtausend Mann starkes Heer aufstellen. Während er sich auf seinen Eroberungsfeldzug vorbereitete, setzte er die grausamen Züu-Mörder auf die Nachkommen seiner einstigen Reisegefährten an. Damit zwang er meine Freunde und mich zu einer verzweifelten Flucht, auf der wir tagtäglich dem Tod ins Auge blickten.

Um zu verstehen, warum er uns nach dem Leben trachtete, mussten wir selbst in die Unterwelt hinabsteigen. Wir drangen bis zum Flüstersee vor und stellten uns den Undinen, den Hüterinnen der unumstößlichen Wahrheiten, die uns eine Prophezeiung machten.

Aus der Nachkommenschaft der Gesandten würde der Erzfeind hervorgehen. Derjenige, der für alle Zeiten eine Chance, eine einzige Chance haben würde, Sombre zu besiegen.

Im Herzen der Finsternis des Karu erfuhren wir außerdem, dass keiner von uns der Erzfeind war. Doch er würde in eine unserer Familien hineingeboren werden.

Nach acht langen Tagen auf See kam endlich die lorelische Küste in Sicht. Die Mörderin konnte die Erleichterung der Matrosen aus Yérim förmlich spüren. Die Söldner hätten wohl um kein Gold der Welt auf dem Schiff angeheuert, wenn sie geahnt hätten, dass acht Todespriester Zuïas mit an Bord gehen würden.

Ganz zu schweigen von einer weiteren Passagierin: der Göttin höchstpersönlich.

Wie gewohnt vergewisserte sich die Mörderin, dass es ihrer Gebieterin an nichts fehlte. Die Unsterbliche stand würdevoll am Bug, dort, wo sie sich am liebsten aufhielt. Ihr von leichten Falten überzogenes Gesicht war Lorelien zugewandt, dem reichsten Land der Oberen Königreiche. Schweigend musterte sie die noch fernen Gestade. Jeder an Bord hätte viel darum gegeben, ihre Gedanken lesen zu können, doch wer ihrem Blick auch nur flüchtig begegnete, hatte zumeist das Gefühl, selbst bloßgestellt zu werden. Kein Fremder konnte das unheimliche Starren der Göttin lange ertragen.

Davon abgesehen hätte ihre Leibgarde ohnehin niemandem erlaubt, auch nur in ihre Nähe zu kommen. An diesem Abend waren drei Bewacher bei ihr, Priester in roten Gewändern, die sich wie vermeintlich schläfrige Raubkatzen in der Nähe ihrer Gebieterin an Deck niedergelassen hatten. Unter Hunderten Anwärtern wurden nur die Besten für diese ehrenvolle Aufgabe ausgewählt. Auch der Mörderin waren zwei Leibwächter zugewiesen, obwohl sie jeden beliebigen Gegner mit Leichtigkeit bezwingen konnte. Ihr Hati, der heilige Dolch mit der vergifteten Klinge, war bereits mit elf Kerben versehen: die Zahl der Todesurteile, die sie im Auftrag Zuïas der Strafenden vollstreckt hatte.

Die drei übrigen Züu aus dem Gefolge der Göttin hatten die Aufgabe, die Besatzung zu bewachen. Gleich am ersten Tag hatten sie einen Yérimer erdolcht, dessen neugieriger Blick sich ein wenig zu oft in Richtung der Göttin verirrt hatte. Seither hielten die anderen gebührenden Abstand zu den Mördern im roten Gewand. So hatten, während der gesamten Fahrt über das Mittelmeer, Furcht und Misstrauen an Bord geherrscht. Selbst die Mörderin, die sich sonst so gleichmütig gab, konnte ihre Ungeduld kaum noch verbergen und war froh, dass sich die nervenaufreibende Reise dem Ende zuneigte.

Sie alle waren Zeugen eines unglaublichen Geschehnisses. Bis zur vergangenen Dekade hatte Zuïa ihre Insel noch nie verlassen. Nur äußerst selten war sie überhaupt außerhalb des Lus’an anzutreffen, jener sagenumwobenen Provinz, in der die ranghöchsten ihrer Priester lebten. Zuïas Ankündigung, eine Reise unternehmen zu wollen, hatte die Judikatoren zwar in helle Aufregung versetzt, aber niemand wagte es, ihre Entscheidung infrage zu stellen, selbst dann nicht, als sie ein schäbiges Schiff wählte und sich nur von der Kahati und einer achtköpfigen Leibgarde begleiten ließ.

Nachdem der Mörderin das Warten beinahe unerträglich geworden war und die Sonne schon ihre letzten Strahlen über das spiegelglatte Meer schickte, wurde sie endlich erlöst. Auf einen Wink der Göttin hin trat sie näher und verneigte sich ehrerbietig.

»Es ist so weit, Zejabel«, verkündete die Unsterbliche mit schroffer Stimme. »Hol unsere Sachen. Wir verlassen das Schiff.«

Die Mörderin nickte knapp und eilte unter Deck, um den Befehl auszuführen. Als Erstes griff sie nach dem Bogen, ihrer Lieblingswaffe, die während der Überfahrt nutzlos gewesen war. Da sie ihre Bündel schon am Mit-Tag geschnürt hatte, brauchte sie sich nur noch die Riemen über die Schulter zu werfen. Zuletzt nahm sie mit gebotener Achtung die Zaya’nat an sich, die heilige Lanze der Göttin.

Zurück an Deck stellte sie fest, dass die Unsterbliche bereits in das Beiboot gestiegen war, das noch über dem Wasser in der Aufhängung schwankte. Alle Priester hatten sich vor ihr versammelt, während sich die Yérimer so weit wie möglich zurückzogen und einige Laternen in der Takelage entzündeten. Die Mörderin warf das Gepäck rasch ins Boot und wandte sich dann den Männern zu. Nun war es so weit.

Die Hinrichtungen konnten beginnen.

Auf ihr Zeichen hin blitzten neun vergiftete Dolche auf und bohrten sich in die Leiber der vor Überraschung und Entsetzen aufschreienden Seeleute. Einige versuchten sich zu wehren oder über Bord zu springen, doch dazu ließen es die Mörder nicht kommen. Nach kaum einer Dezille war keiner der vierzehn Yérimer mehr am Leben. Die Kahati selbst rammte dem letzten von ihnen kaltblütig den Dolch ins Auge. Der Todeskampf des Mannes dauerte nur wenige Momente, dann setzte die Wirkung des Gifts ein. Die Züu hatten das Schiff für sich.

Ohne ein Wort oder auch nur ein zufriedenes Grinsen begannen die Priester, die Leichen über Bord zu werfen. Zu dieser unwürdigen Aufgabe ließ sich die Mörderin nicht herab. Sie trat vor die Göttin und verbeugte sich.

»Komm zu mir«, verlangte Zuïa mit gesenkter Stimme.

Überrascht gehorchte die Kahati und kletterte in das Beiboot. Eigentlich hatten sie nicht vorgehabt, es zu benutzen, bevor die Göttin und ihr Gefolge einen unbewohnten Küstenstrich erreichten, wo sie an Land rudern konnten. Zuïa hatte sich doch nur in das Boot zurückgezogen, um abzuwarten, bis ihre Leibwache alle Zeugen ihrer Reise in die Oberen Königreiche beseitigt hatte – oder etwa nicht?

»Wir machen uns jetzt gleich auf den Weg«, flüsterte die Unsterbliche. »Lass das Boot zu Wasser.«

»Aber die Männer haben noch nicht alle …«

»Ich bin nicht blind!«, fuhr sie die Göttin an. »Für sie ist die Reise hier zu Ende. Niemand darf wissen, was ich vorhabe. Außer dir brauche ich keine Helfer.«

Die Mörderin nickte gehorsam, konnte ihre Verwirrung aber nicht verbergen. Offenbar hatte Zuïa diese Entscheidung längst getroffen und lediglich bis zum letzten Augenblick gewartet, um sie ihr mitzuteilen. Das war umso rätselhafter, da sie ihre Dienerin für gewöhnlich in all ihre Geheimnisse einweihte.

Nun ja, fast alle. Nicht einmal die Kahati wusste, warum die Göttin ihre Insel verlassen hatte.

»Verlier nicht so viel Zeit, Zejabel!«, mahnte ihre Gebieterin.

Seit ihrer frühesten Kindheit war die Mörderin daran gewöhnt, dieser Stimme zu dienen, und so verscheuchte sie ihre Zweifel sofort. Sie löste das Seil, das durch einen Flaschenzug lief, und ließ das Boot zu Wasser. Über ihnen versammelten sich die Priester an der Reling und starrten verblüfft zu ihnen herunter. Erst nachdem sie alle Taue aufgeknüpft hatte und das Boot auf dem Wasser schaukelte, kamen die ersten Fragen.

»Sie dürfen uns auf keinen Fall folgen«, sagte Zuïa streng. »Und wir müssen sie daran hindern, darüber zu berichten. Niemand darf wissen, wohin wir gehen.«

Sie deutete mit dem Kopf auf eine der beiden Laternen, die den Kahn beleuchteten. Mehr musste sie der Mörderin nicht sagen. Mit unbewegtem Gesicht nahm Zejabel die Öllampe und schleuderte sie in hohem Bogen an Deck des Schiffs, wo sie in einem gewaltigen Feuerball aufging.

Augenblicklich schlugen die neugierigen Rufe der Priester in Flüche und Angstschreie um. In ihrer Verzweiflung sprangen einige ins Wasser, um zum Boot zu schwimmen, und gaben so eine leichte Zielscheibe für die Pfeile der Mörderin ab. An Bord versuchten die Übrigen vergeblich, das Feuer zu löschen, das rasend schnell um sich griff. Segel, Planken und Taue boten den gierigen Flammen viel Nahrung, und bald brannte das ganze Schiff lichterloh.

Mit kräftigen Ruderschlägen brachte die Mörderin das Boot in sichere Entfernung. Die Göttin wandte sich nicht um, als das brennende Schiff im nachtschwarzen Wasser versank. Die Kahati war noch nie länger mit der Unsterblichen allein gewesen, und sie fragte sich, was die kommenden Tage bringen mochten.

In dieser Nacht hatte sie jedenfalls genug Zeit, darüber nachzudenken. Die Küste war noch fern, und sie wusste nicht, wo sie an Land gehen würden und welcher Auftrag sie dort erwartete.

Die unheilvolle Prophezeiung der Undinen brachte den Zerfall unserer Gemeinschaft mit sich. Wir konnten weder Saat noch seinen Dämon bezwingen. Die Zukunft erschien uns so düster, dass wir getrennte Wege einschlugen, um uns in einen aussichtslosen Kampf zu stürzen.

Grigán und Yan brachen in die Unteren Königreiche auf, wo einer der Vasallen des Hexers, König Aleb der Einäugige, eine Kriegsflotte aufstellte, um Lorelia vom Meer aus zu überfallen. Nach einer erbitterten Schlacht im Hafen von Mythr, in der ramgrithische Rebellen unter Grigáns Führung gegen Alebs Söldner kämpften, wurde die Rote Armada vernichtet.

Doch damit war die Gefahr längst nicht gebannt. Saats Pläne zur Eroberung der Oberen Königreiche waren so maßlos wie sein Ehrgeiz.

Er setzte Zehntausende Sklaven ein, um einen gewaltigen Tunnel quer durch den Rideau zu graben, eine Gebirgskette, deren Gipfel so hoch in den Himmel ragen, dass viele von ihnen noch nie erklommen wurden. Das Netz aus neu geschaffenen Stollen und natürlichen Gängen führte das Barbarenheer aus dem Osten geradewegs unter die Heilige Stadt Ith mit ihren friedliebenden und völlig wehrlosen Bewohnern. Von dort aus wollte Saat Goran und Lorelien angreifen.

Wir allein wussten von diesem Vorhaben. Zu unserem Leidwesen konnten wir die Heerführer der bedrohten Königreiche nicht warnen, denn Sombre las in ihren Gedanken. Mit dem Mut der Verzweiflung begab sich Reyan mitten ins Reich unseres Feindes und schaffte es, bis in Saats Palast vorzudringen. Aber er scheiterte bei dem Versuch, ihn zu ermorden.

Maz Lana und ich baten zunächst die Arkarier um Hilfe, doch als es uns nicht gelang, sie zu den Waffen zu rufen, brachen wir ebenfalls zu Saats Palast auf. Uns blieb keine andere Wahl, als das Gespräch mit ihm zu suchen, um ihn davon zu überzeugen, seine Pläne aufzugeben. Aber die dunkle Macht des Jal’karu hatte jedes Mitgefühl und jede Reue in dem zweihundertjährigen Greis ausgelöscht. Wie Reyan sollte ich in der Arena des Tyrannen hingerichtet werden, während Lana in seinen Harem geworfen wurde.

Noch in derselben Nacht krochen die Barbaren aus den Katakomben der Heiligen Stadt und rückten in die Straßen vor. Dort überrumpelten sie Yan, Grigán und einige Krieger, die das Meer überquert hatten, um den fliehenden Aleb einzufangen. Die tapferen Ramgrith versuchten, den Angriff abzuwehren, doch sie waren zu wenige und zu erschöpft, um den unzähligen Barbaren lange standzuhalten.

Die Heilige Stadt und die Oberen Königreiche schienen verloren, als plötzlich ein Heer arkischer Kämpfer in die Stadt strömte. Die Männer aus dem Norden, die sich Bowbaq und Léti doch noch angeschlossen hatten, waren in höchster Eile über den halben Kontinent marschiert, um die Invasion der Barbaren zu verhindern. Dank dieser unverhofften Verstärkung konnten die Angreifer in den Tunnel und sogar bis auf die andere Seite des Gebirges zurückgedrängt werden.

Unterdessen hatten Reyan und ich unsere Freiheit wiedererlangt und schafften es, die überlebenden Sklaven aus der Gefangenschaft zu befreien. Die Arkarier nutzten die Panik ihrer Gegner und das Gemetzel, das die einstigen Sklaven unter ihren Unterdrückern anrichteten. Vor ihren Verteidigungsposten fanden wir endlich wieder zueinander: Yan, Grigán, Léti, Bowbaq, Reyan und ich. Nur Lana fehlte. Um sie zu retten, wagten wir uns in Saats Palast vor, wohl ahnend, dass uns ein letzter Kampf bevorstand.

Die Priesterin hatte ebenfalls einige Abenteuer erlebt. Es war ihr gelungen zu fliehen, als Königin Che’b’ree, die Lieblingskonkubine des Hexers, Hohepriesterin Sombres und direkte Nachfahrin des wallattischen Gesandten Pal’b’ree, sie in rasender Eifersucht töten wollte. Die wallattische Königin konnte ihren Mordplan glücklicherweise nicht ausführen, lieferte Lana jedoch eine wertvolle Auskunft: Saat wollte der Vater des Erzfeinds werden! Insgeheim trachtete er danach, Sombres Widersacher zu zeugen, ihm seinen Körper zu stehlen und den Dämon zu besiegen, um endgültig unsterblich zu werden.

Daraufhin fiel Lana dem Hexer ein zweites Mal in die Hände und wurde von ihm als Geisel benutzt, um uns zur Herausgabe der Steine zu zwingen, die wir aus dem Jal’dara mitgenommen hatten. Dank ihnen waren wir vor seiner Magie und damit vor dem sicheren Tod geschützt. Natürlich trotzten wir ihm, so lange wir konnten, und versuchten ihn immer wieder in Zweikämpfe zu verwickeln, doch Saat verfügte über eine unerschöpfl iche Kraftreserve: die Macht seines Dämons.

Während wir uns, verwundet und zu Tode erschöpft, nur noch mit Mühe und Not wehren konnten, brachte Yan den Mut auf, dem schwarzen Gott gegenüberzutreten. Als sein Leben schon verloren schien, gelang es ihm im letzten Augenblick, dem Dämon Saats heimliche Pläne zu verraten. Mit einem Wutschrei, der lange von den Hängen des Rideau widerhallte, entzog Sombre dem Hexer seine Lebenskraft.

Damit war der einstige Gesandte wieder sterblich und erlag dem Todesstoß, den Léti ihm versetzt hatte. Endlich waren wir erlöst von jenem Mann, der einen Dämon geschaffen und ein Geheimnis mit uns geteilt hatte, das schwerer auf uns lastet als jede Bürde, die je ein Mensch getragen hat: das Wissen um die Herkunft der Götter.

In den offiziellen Chroniken, die in den Archiven der Paläste ruhen, wird die Geschichte sehr viel einfacher dargestellt. Die Herrscherhäuser Gorans und Loreliens sind begreifl icherweise nicht gerade stolz auf diese Zeit. So haben die Geschichtsschreiber aus Saat einen gewöhnlichen Barbarenfürsten gemacht, dessen Ehrgeiz etwas größer war als der seiner Vorgänger. Das Eingreifen der ramgrithischen Krieger wird nur beiläufig erwähnt. Den Beistand der Arkarier wiederum verdanken die Oberen Königreiche den Chronisten zufolge einzig und allein Herzog Reyan von Kercyan, einem heldenhaften Spion im Auftrag des lorelischen Königshauses, dessen Verlobte den Anführern der Klans des Weißen Landes die entscheidende Nachricht zukommen ließ. Rey hatte natürlich nichts dagegen, derart mit Ruhm und Ehre überschüttet zu werden! Sein Vorfahr hatte nach der Rückkehr von der Insel Ji besonders gelitten, und so erschien ihm dieser späte Ausgleich nur gerecht.

Unser aller Leben war mit diesem Abenteuer von Grund auf verändert. Wer könnte dies besser bezeugen als ich? In der Nacht, in der Saat starb, liebten Grigán und ich uns mit der ganzen Leidenschaft, derer zwei Menschen fähig sind. Einige Wochen später stellte ich fest, dass ich trotz meines fortgeschrittenen Alters ein Kind erwartete. Unseren Sohn, Amanón.

In derselben Nacht offenbarte Lana Reyan, dass er Vater werden würde. Weitere Geburten sollten folgen … Der gute Bowbaq ist mittlerweile sogar mehrfacher Großvater! Ich hoffe, dass auch mir dieses Glück beschieden sein wird. Doch trotz der unermesslichen Freude, mit der wir jedes neue Kind begrüßen, lastet die Schuld schwer auf uns. Mit dem Leben, das wir schenken, geben wir auch unsere Verantwortung und unseren Fluch an die nächsten Generationen weiter.

Unsere Kinder wissen nicht, was wirklich geschehen ist. Wir haben es nie über uns gebracht, ihnen diese Bürde aufzuladen. Doch eines Tages werden wir sie einweihen müssen.

Einer von ihnen wird der Erzfeind sein.

Wir haben nie erfahren, was aus Sombre geworden ist. Niemand weiß, wann er sich wieder zeigen wird.

ERSTES BUCH

DIE NÄCHSTE GENERATION

Die Abendgesellschaft des Grafen von Kolimine war einfach traumhaft gewesen. Ein so rauschendes Fest hatte Eryne schon lange nicht mehr erlebt. Wie immer hatte sich der Graf nicht lumpen lassen und seinen Gästen die erlesensten Speisen, köstlichsten Weine, virtuosesten Musiker und besten Gaukler geboten. Die Edelleute der oberen Kreise von Lorelia konnten sich glücklich schätzen, der Einladung des Cousins des Königs gefolgt zu sein. Um nichts in der Welt hätte Eryne diesen Abend versäumen wollen!

Es blieb nur ein einziger Wermutstropfen: Niemand hatte dieses Erlebnis mit ihr geteilt. Gewiss konnte sie sich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen, zumal sie stets von jungen Männern umringt war. Barone, in den Adelsstand erhobene Hauptmänner, Künstler im Dienste des Königs, sie alle warfen ihr glühende Blicke zu, auch wenn nur wenige jemals in den Genuss eines Kusses kamen. Für jeden Verehrer, den sie verschmähte, versuchten zehn neue ihr Glück.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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