Die Götter - Die Macht der Dunkelheit - Pierre Grimbert - E-Book

Die Götter - Die Macht der Dunkelheit E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Das Abenteuer um die Insel Ji geht weiter

Viele Gefahren erwarten die jungen Kämpfer, die das Rätsel der Götter lösen müssen, um ihrer Aufgabe als Hüter des Geheimnisses von Ji gerecht zu werden. Nur wenn sie all ihre Fähigkeiten und Raffinesse einsetzen und zusammenhalten, können sie die schweren Prüfungen bestehen, die das Schicksal ihnen auferlegt… Mit "Die Götter – Die Macht der Dunkelheit" schreibt Bestsellerautor Pierre Grimbert das Epos um die Insel Ji grandios fort.

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Seitenzahl: 392

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PIERRE GRIMBERT

im Wilhelm Heyne Verlag:

Einst reisten Vertreter aller Nationen auf die geheimnisvolle Insel Ji. In den Tiefen der Insel, so erzählt man sich, gerieten sie in ein Felslabyrinth – und verschwanden spurlos. Jahr für Jahr treffen sich nun ihre Nachkommen am Eingang des Labyrinths, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Denn was hat es mit der Insel Ji wirklich auf sich? Als schließlich ein Nachkomme nach dem anderen grausamen Mördern zum Opfer fällt, machen sich die letzten Erben auf, um das Geheimnis von Ji zu lüften.

DIE MAGIER

Erster Roman: Gefährten des Lichts

Zweiter Roman: Krieger der Dämmerung

Dritter Roman: Götter der Nacht

Vierter Roman: Kinder der Ewigkeit

DIE KRIEGER

Erster Roman: Das Erbe der Magier

Zweiter Roman: Der Verrat der Königin

Dritter Roman: Die Stimme der Ahnen

Vierter Roman: Das Geheimnis der Pforte

Fünfter Roman: Das Labyrinth der Götter

DIE GÖTTER

Erster Roman: Der Ruf der Krieger

Zweiter Roman: Das magische Zeichen

Dritter Roman: Die Macht der Dunkelheit

Vierter Roman: Das Schicksal von Ji

Mehr über Autor und Werk unter:

www.heyne-magische-bestseller.de

PIERRE GRIMBERT

DIE Götter

Die macht der Dunkelheit

ROMAN

Aus dem Französischen von Sonja Finck und Bettina Arlt

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der französischen Originalausgabe

LES GARDIENS DE JI: LE SOUFFLE DES AÏEUX

Deutsche Erstausgabe 01/2012

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2010 by Pierre Grimbert

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Umschlagillustration: Paolo Barbieri

Karte: Andreas Hancock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-06724-3

www.heyne-magische-bestseller.de

Ich bin Maara’b’ree lu Wallos, König Ke’b’rees älteste Tochter. Am Tage des Zygon in der letzten Dekade des Jägers brach mein vierundzwanzigstes Lebensjahr an. Deshalb betrachte ich mich als jungen Menschen, der sein Leben noch vor sich hat. Doch womöglich bin ich schon jetzt die Herrscherin des wallattischen Reichs. Genauer gesagt: die achtundfünfzigste Thronerbin der B’ree-Dynastie.

Ich wurde auf diese Aufgabe vorbereitet– zumindest ein wenig. Einst die Krone Guran’b’rees zu tragen, des Vorfahren und Begründers unserer Dynastie, stand mir ebenso bevor, wie unter den verdienstvollsten wallattischen Kriegern einen Gemahl zu wählen und unser Geschlecht durch die Geburt einiger strammer Söhne und hübscher Töchter fortzuführen. Als ich ein Kind war, lag all das noch in weiter Ferne. »An dem Tag, an dem ich zu alt sein werde, um zu regieren«, sagte mein Vater, »wirst du meinen Platz einnehmen, und dein Ehemann wird dir zur Seite stehen, so wie deine Mutter mir zur Seite stand.« Wie einfach mir das Leben damals erschien… Ich habe schon immer die einfachen Dinge bevorzugt.

Doch jetzt sind die Geister der Vergangenheit zurückgekehrt und haben mein Leben auf den Kopf gestellt. Und alles, was mir bisher klar und sicher erschien, muss ich nun in Zweifel ziehen.

Ich kann nicht glauben, dass mein Vater tot ist. Doch solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, ist es meine Pflicht, als Königin der Wallatten aufzutreten. Ich hätte nie gedacht, wie schwierig das sein würde. Schon sehe ich mich außerstande, meine erste wichtige Entscheidung zu treffen. Soll ich in mein Land zurückkehren und den Thron besteigen, oder soll ich die Suche nach meinem Vater– oder seiner Leiche– fortsetzen? Soll ich den Fortbestand der wallattischen Dynastie über alles andere stellen und mich in Sicherheit bringen, oder soll ich mich der Gefahr mutig entgegenstellen, um Ke’b’ree zu finden, der zugleich mein König und geliebter Vater ist?

Ich wurde darauf vorbereitet, ihm auf den Thron zu folgen, das ist wahr. Ich weiß alles über die Wirtschaft unseres Reichs, über den Verlauf seiner Grenzen und die Spannungen, die sich daraus ergeben. Ich habe mir Achtung bei unserem Volk und unseren Soldaten verschafft, indem ich eigenhändig eine Handvoll Thalitten vertrieb, die glaubten, ungestraft unsere Bauernhöfe plündern zu können. Einige Male habe ich mich sogar auf Wunsch meines Vaters, der mich ans Regieren heranführen wollte, mit wichtigen Angelegenheiten befasst. Aber niemand hat mir beigebracht, gegen Dämonen und Hexer zu kämpfen. Jede Faser meines Körpers schreit nach Rache, aber wenn selbst König Ke’b’ree unseren Feinden nicht entkommen konnte, wie soll es dann mir gelingen?

Oft muss ich an meine Großmutter Che’b’ree denken. Auch sie war noch sehr jung, als sie den Thron bestieg. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Alles, was mir von ihr geblieben ist, sind ein paar Erinnerungen an kostbare gemeinsame Augenblicke. Sie war immer sehr ernst, aber jedes Mal, wenn ihr Blick auf mich fiel, lächelte sie. Sie beeindruckte und faszinierte mich sehr. Aus Sicht der vierjährigen Maara war sie uralt, dabei hatte sie gerade einmal ihr fünfzigstes Lebensjahr vollendet. Aber sie war eine würdige Vertreterin des Geschlechts der B’ree: Stolz und unbeugsam, eine Kriegerin mit Leib und Seele, vor allem, wenn es darum ging, die Ihren zu beschützen. Ein paar Monde vor meiner Geburt dankte sie zugunsten meines Vaters ab, nachdem sie ungünstige Bündnisse mit unseren Feinden geschlossen und dadurch den Unwillen der Bevölkerung erregt hatte. Ganz genau habe ich die Zusammenhänge nie begriffen. Jedenfalls gestattete Ke’b’ree ihr, im Palast von Wallos wohnen zu bleiben und an unserem Leben teilzuhaben. So war sie es, die mir meinen ersten Reitunterricht gab.

Umso tragischer war es, dass ihre Leidenschaft für Pferde sie das Leben kostete, als sie gerade einmal fünfundfünfzig Jahre alt war. Die Frau, die Heere mit Zehntausenden von Soldaten befehligt und das wallattische Königreich in den Wohlstand geführt hatte, brach sich bei einem Sturz vom Pferd das Genick. Ich weiß noch, wie sehr mich bei der Totenwache ihr heiterer Gesichtsausdruck verwunderte. Und selbst mein Vater flüsterte meiner Mutter zu: »Jetzt ruht sie endlich in Frieden.«

Damals verstand ich die tiefe Bedeutung dieser Worte nicht. Und immer wenn ich danach an einer Totenwache teilnahm und jemand diese Worte aussprach, kamen sie mir unglaublich banal vor. Doch jetzt, wo ich das Geheimnis von Ji kenne und weiß, was es mit dem Jal, Sombre und Saat auf sich hat, jetzt, wo es an mir ist, diese Bürde zu tragen– denn nichts anderes sind die Bande zwischen meiner Familie und dem verfluchten Hexer–, jetzt verstehe ich, warum für meine Großmutter Che’b’ree der Tod eine Befreiung war.

Und ich frage mich mit Zorn und Trauer im Herzen, ob mein Vater jetzt auch »in Frieden ruht«.

Erritts wichtigste Aufgabe war es, neue Schüler zu rekrutieren. Er selbst war einer der ersten Gefolgsmänner des Admirals gewesen, worauf er sehr stolz war. Mittlerweile gehörte der junge Mann zu den ältesten Hexern, die der Meister ausgebildet hatte– von denen wohlgemerkt, die noch am Leben waren. Erritt vergaß lieber, wie viele seiner Kameraden durch die Hand des Meisters gestorben waren. Stattdessen brüstete er sich mit seiner Tüchtigkeit, die ihn bisher vor Fehlern und deren verhängnisvollen Folgen bewahrt hatte. In Wahrheit verdankte er es nur der Entfernung, dass er noch am Leben war. Da er ständig auf Reisen war, hatte Erritt wenig Gelegenheit, den Zorn des Admirals auf sich zu ziehen.

An diesem Morgen war Erritt im ländlichen Kaul unterwegs. Er schätzte dieses Land nicht sonderlich. Dass ein Gebiet ausschließlich von Frauen verwaltet wurde, fand er absurd, wenn nicht gar idiotisch. Die Landschaft mit ihren Windmühlen, blühenden Feldern und Dörfern aus massiven Steinhäusern zeugte von einer florierenden Wirtschaft, was sein Unbehagen noch verstärkte. Doch er hatte keine Wahl: Er musste den Mann finden, von dem man ihm erzählt hatte.

Nach etwa anderthalb Dekanten fragte er einen Hirten, der ebenso jung wie schwatzhaft war, nach dem Weg und erblickte das Haus, in dem der Mann wohnte, schließlich von Weitem. Es sah genauso aus, wie der junge Hirte es beschrieben hatte. Das Gebäude war völlig heruntergekommen, statt Türen und Fenstern klafften dunkle Öffnungen, und eine klare Trennung zwischen Haupthaus und Stallungen gab es nicht. Der faule Bauer lag mit einer leeren Flasche in der Hand vornübergebeugt auf einem Tisch vor dem Haus und schnarchte. Als Erritt näher kam, schüttelte er sich und setzte sich ruckartig auf, als wollte er sich einen letzten Rest Würde bewahren. Er schien mit Schwindelgefühl und Übelkeit zu kämpfen.

Erritt zeigte seine Verachtung nicht, sondern begrüßte den Trunkenbold mit ausgesuchter Höflichkeit. Inzwischen hatte er Erfahrung im Umgang mit solchen Individuen. Die meisten Leute, die er für den Admiral rekrutierte, befanden sich in einem verwahrlosten Zustand. Er selbst hatte sich als kleiner Drogenhändler mit dem Verkauf von Daï-Schlangengift über Wasser gehalten, bis sich der Admiral seiner angenommen hatte. Um ihre verbrecherischen Neigungen zu erklären, wies der Meister seine Anhänger zuweilen darauf hin, dass sie in einem früheren Leben vermutlich niedere Dämonen gewesen waren, zum Beispiel Lemuren, eine Art bösartige Riesenaffen. So richtig verstand Erritt das alles nicht, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter. Wichtig war nur, dass ihm ein außergewöhnliches Schicksal beschieden war. Deshalb gab es auch keinen Grund, sich für sein früheres Leben zu schämen. Es war lediglich eine Übergangszeit gewesen. Die wahre Existenz der Schüler des Admirals begann erst, nachdem ihre Fähigkeiten offenbart worden waren. Und nichts anderes würde er jetzt bei dem Säufer tun, falls sich seine Vermutung bestätigte.

»Ich habe nichts, was ich Euch anbieten könnte«, sagte der Kaulaner mit schwerer Zunge. »Auch wenn die kaulanische Tradition es verlangt…«

»Ich bin nicht hier, um Eure Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen«, beruhigte Erritt ihn. »Ich möchte nur meine Neugier befriedigen. Ich habe gehört, dass Ihr vom Blitz getroffen wurdet. Ist das wahr?«

Der Mann bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. Er schien zu sagen: »Wollt Ihr mich auch verspotten? Anfangs habe ich die Geschichte gern erzählt. Aber dann haben sich alle über mich lustig gemacht.«

»Mir ist das Gleiche passiert«, behauptete Erritt, »und auch ich bin noch am Leben. Genau wie Ihr.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er selbst war durch eine Berührung des Meisters ›offenbart‹ worden. Das kam gelegentlich vor. Magische Kraft konnte sich bei Menschen auf verschiedene Weise äußern. Manche wurden vom Blitz getroffen, andere hatten plötzlich übernatürliche Heilkräfte oder hellseherische Fähigkeiten. Im Augenblick aber kam es nur darauf an, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen.

»Es ist schon mehr als vier Monde her«, brummte der Säufer schließlich. »Seitdem will mir gar nichts mehr gelingen. Ich habe alles verloren… Sogar meine Frau hat mich verlassen.«

Erritt nickte mitfühlend. Doch in Wahrheit war ihm das nur recht: Frei von jeglichen Verpflichtungen und familiären Banden würde sich der Mann leichter überzeugen lassen.

»Sie hat es nicht verstanden, oder?«, flüsterte er. »Sie hat Euch nicht geglaubt. Sie konnte nicht sehen, was Ihr jetzt seht.«

Der Trunkenbold riss die Augen auf. Einen Augenblick lang wirkte er fast nüchtern.

»Die Lichter…«, stotterte er. »Die Geister… und die… diese seltsamen Ströme… Könnt Ihr die etwa auch sehen? Wirklich?«

Erritt lächelte triumphierend. Der Mann war also tatsächlich vom Blitz getroffen worden. Und der Meister hatte einen neuen Schüler. In ein paar Tagen würde sich das Leben des Säufers von Grund auf verändert haben. Er würde ein Zeichen auf der Stirn tragen und zusammen mit den anderen auf den Anbruch eines neuen Zeitalters hinarbeiten.

»Achtet auf die Gans da drüben«, forderte Erritt den Mann auf und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

Der Wirkung halber richtete er seine offene Handfläche auf das Federvieh. Dann blitzten die Augen des Hexers auf, und das Tier wurde von einem gleißend hellen Strahl getroffen. Alles ging sehr schnell. Im nächsten Moment lag die Gans leblos am Boden, dünner Rauch stieg von ihrem Gefieder auf. Erritt sah den staunenden Kaulaner durchdringend an.

»Was würdet Ihr sagen, wenn Ihr so etwas auch lernen könntet?«, fragte er ernst.

Er wusste genau, wie die Antwort lauten würde.

Als ich klein war, kamen viele Fremde zu Besuch in den Palast der B’ree. Und da ich noch ein Kind war, dachte ich, es handele sich um Prinzen oder Herrscher, von gleichem Stande wie mein Vater, die mit ihm zusammentrafen, um über Regierungsgeschäfte zu sprechen. Als ich größer wurde, revidierte ich meine Annahme und verwies die Besucher auf den Rang von Gesandten oder Botschaftern, deren Aufgabe es war, die guten Beziehungen zwischen Wallos und den Oberen Königreichen aufrechtzuerhalten. Erst heute weiß ich, dass es sich bei den Gästen um die Erben von Ji handelte.

Mit Amanón, Eryne und den anderen Angehörigen der vorigen Generation hatte Ke’b’ree offenbar eine enge Freundschaft verbunden. Selbst nach dem Verschwinden des Jal war die Verbindung lange Zeit nicht abgebrochen. Einige der Besucher unseres Palasts hatten Kinder, und bestimmt habe ich damals mit Damián, Josion oder sogar Guederic gespielt, auch wenn ich mich kaum noch daran erinnere. Wer hätte ahnen können, unter welchen Umständen und auf welche Weise wir uns einst wiedertreffen würden?

Die ausweglose Lage, in der ich mich heute befinde, war für das kleine Mädchen von damals nicht einmal vorstellbar. Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit, und es mangelte mir an nichts. Nur eines stimmte mich bisweilen traurig: die Tatsache, dass meine Mutter blind war. Sie selbst beklagte sich nie und hatte stets ein Lächeln auf den Lippen, vor allem, wenn mein Vater sie in die Arme schloss. Aber ich litt sehr darunter, dass sie das Gesicht ihrer eigenen Tochter nicht sehen konnte. Und meine Zeichnungen im Sand? Meine Werke aus goldenen Bauklötzen? »Wunderbar, mein Schatz«, sagte sie jedes Mal. Und sie meinte es ernst. Doch ich wusste nur zu gut, dass meine Worte nicht ausreichten, um ihr all die Dinge zu beschreiben, die sie nicht sehen konnte. Denn als ich schließlich zum ersten Mal auf ein Pferd stieg oder mit der Schleuder ein Ziel traf, konnte meine Mutter auch an diesen Heldentaten nicht teilhaben.

Regelmäßig versuchte ich, mich in sie hineinzuversetzen. Ich schloss die Augen, manchmal nur für ein paar Dezillen, manchmal auch mehr als zwei Dekanten lang, und durchstreifte tastend jeden Winkel des Palasts, in dem Glauben, ich könne auf diese Weise verstehen, wie sich meine Mutter fühlte. Die Wachen und Diener kannten das Spiel schon und gingen mir aus dem Weg oder entfernten Hindernisse, an denen ich mich hätte stoßen können. Geschummelt habe ich nie. Ich öffnete erst wieder die Augen, wenn ich genug hatte oder wenn ich ein Geräusch hörte, das mich neugierig machte. Oder wenn mein Vater mich auf frischer Tat ertappte.

Er missbilligte mein Spiel, weil er es für gefährlich hielt. Mit ähnlichem Unwillen nahm er ein paar Jahre später mein wachsendes Interesse für Schlachten und Waffen zur Kenntnis. Davon abbringen konnte er mich allerdings nicht. Schließlich floss in unseren Adern das gleiche Blut, und er war als Junge genauso waffenbegeistert gewesen wie ich. Außerdem hatte es Wallos noch nie geschadet, wenn ein Herrscher auf dem Thron saß, der sich auf das Kriegshandwerk verstand.

Vor nicht allzu langer Zeit sah er seinen Irrtum ein– zumindest legte ich sein Verhalten so aus. Denn eines Tages schlug er plötzlich ganz neue Töne an. Anstatt meinen Ehrgeiz als Kriegerin zu bremsen, fing er an, mich im Kampf zu unterrichten. Keine Lektion, keine Übung war ihm zu schwierig für mich. Ich hätte es mir nicht besser wünschen können: Ich brannte darauf, meine Fähigkeiten im Kampf zu verbessern, und mir schien alles zu gelingen. Außerdem genoss ich die Dekanten, die ich mit meinem Vater allein verbrachte.

Zu jener Zeit ahnte ich nicht, was diesen Sinneswandel bei meinem Vater bewirkt hatte, noch bestand für mich irgendeine Verbindung zu der Tatsache, dass die Besuche der Fremden ausblieben. Erst jetzt, in dieser misslichen Lage, fällt es mir wie Schuppen von den Augen, jetzt, wo ich genug weiß, um alles besser zu verstehen.

Lange bevor unsere Eltern verschwanden und nur ein paar Jahre nach der Vernichtung des Jal ereignete sich etwas, an dem die Freundschaft zwischen meinem Vater und den anderen Erben von Ji zerbrach. Ein Ereignis, das so furchtbar war, dass mein Vater begann, seine Tochter zur Kämpferin auszubilden und sie darauf vorzubereiten, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.

Mehr als fünfzehn Jahre, bevor unsere Feinde die Hetzjagd auf uns eröffneten und Usul die Rückkehr unseres schlimmsten Widersachers verkündete, fürchtete mein Vater bereits um mein Leben.

Ich will wissen, warum.

Bevor er das Manöver zur Einfahrt in den Hafen einleitete, stieg Kapitän Mourd in seine Kajüte hinunter und stellte sich vor den Spiegel. Und er tat gut daran: Das Symbol auf seiner Stirn war am unteren Rand kaum noch sichtbar, dort, wo er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß abgewischt hatte. Hastig zog er das Zeichen mit einem kleinen schwarzen Stift nach, den er immer bei sich trug. Schwierig war das nicht. Er brauchte bloß die feinen Umrisse nachzumalen, die in seine Haut gebrannt worden waren.

Der Anblick der fast unsichtbaren Narben jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Anfangs hatte er noch geglaubt, er werde sich daran gewöhnen, aber die Zeremonie, bei der man ihm das Zeichen auf die Stirn gebrannt hatte, war ein Erlebnis, das er nicht so leicht vergaß. Mourd war zu dem Schluss gelangt, dass das Mal tiefer ging, als es den Anschein hatte. Er hatte das Gefühl, es sei ihm regelrecht in den Schädelknochen gebrannt worden.

Zwar hatte er seine Vermutung noch nicht überprüfen können, aber er nahm sich vor, dies bei der erstbesten Gelegenheit zu tun. Dazu brauchte er bloß eine Leiche– einen seiner Matrosen oder irgendeinen anderen Mann im Dienst des Admirals. Und sollte ihm das Schicksal nicht entgegenkommen, würde er notfalls ein wenig nachhelfen. Er würde seinem Opfer einfach, so wie es in Jezeba Brauch war, die Kopfhaut abschälen, und schon hätte er seine Antwort.

Natürlich würde das Ergebnis weder etwas an seiner Lage noch an seinem Ehrgeiz ändern. Zwar kannte er die Pläne des Meisters nicht, aber die Reichtümer, die er seinen Männern in Aussicht stellte, hätten kaum jemanden kaltgelassen. Und der Admiral setzte alles daran, sein Ziel zu erreichen. Das kleine Heer an Kriegern, das er um sich geschart hatte, war schon eindrucksvoll genug, aber zusammen mit den Hexern bildete es eine unschlagbare Macht, mit der er alles erreichen konnte, was er wollte. Mourd war niemand, der sich eine solche Gelegenheit entgehen ließ, auch wenn er dafür die schmerzhafte Markierungszeremonie hatte über sich ergehen lassen müssen.

Niemand wusste genau, wozu das Mal auf der Stirn eigentlich diente oder was es bedeutete. Die meisten waren der Meinung, es handele sich um ein bloßes Erkennungszeichen. Andere glaubten, es solle ihren Gegnern Angst einjagen. Doch der Kapitän vermutete, dass es damit eine tiefere Bewandtnis hatte. Schließlich war der Admiral ein mächtiger Hexer, zweifellos der mächtigste, den die Welt je gesehen hatte. Daher war es nicht unwahrscheinlich, dass das Symbol irgendeine magische Kraft besaß. Vielleicht war es auch eine Rune, die ihren Träger schützte und ihm Kraft verlieh oder etwas anderes Gutes bewirkte. Aber wenn dem so war, warum sagte der Meister es dann nicht frei heraus?

Ruckartig wandte Mourd den Blick vom Spiegel ab, wie um seinen Gedankenfluss zu unterbrechen. Immer wenn er sich solchen Überlegungen hingab, wuchs sein Unbehagen wie Schatten in der Dämmerung. In diesen Momenten hatte er jedes Mal das Gefühl, als schliche sich eine Gestalt von hinten an ihn heran, um ihn für seine Zweifel zu bestrafen. Es war eine alberne, unbegründete Furcht, aber er konnte sie nur abschütteln, indem er mit großen Schritten auf die Brücke stieg und sich unter seine Matrosen mischte.

Sein Erster Offizier hatte bereits die Hälfte der Segel einholen lassen, um eine reibungslose Einfahrt in den Hafen zu ermöglichen. Für gewöhnlich war das Manövrieren in der Fahrrinne kein Problem, aber in letzter Zeit tummelten sich viel mehr Schiffe im Hafen als sonst. Das ließ wenig Raum für Steuermanöver und noch weniger Raum für Fehler. Mourd stellte sich an den Bug, um sich zu vergewissern, dass das Anlegemanöver problemlos vonstattenging. Er brauchte jedoch nicht einzugreifen, denn seine Mannschaft war perfekt eingespielt. Dies war schon ihre sechste gemeinsame Fahrt zwischen den Oberen Königreichen und der Insel mit dem engen Hafen. Bald lag die Fregatte nach allen Regeln der Kunst vertäut am Kai, zwischen einer Feluke und einem Wampenschiff mit bauchigem Rumpf. Jetzt brauchte bloß noch die Ladung gelöscht zu werden, und darum musste sich der Kapitän höchstpersönlich kümmern.

Plötzlich überkam ihn das Verlangen, die Arbeit schnell hinter sich zu bringen und seine Ängste im Alkohol zu ertränken. Mourd rief seinen Quartiermeister herbei und forderte ihn auf, ihn in den Laderaum zu begleiten. Zwei kräftig gebaute Matrosen, die er extra für diese Aufgabe ausgesucht hatte, folgten ihnen. Ihre Erscheinung war so eindrucksvoll, dass sie jeglichen Gedanken an Meuterei im Keim erstickten. Sie postierten sich vor der ersten Zelle.

Etwa dreißig Menschen drängten sich hinter dem Gitter. Sie waren nicht übermäßig rebellisch, aber sehr aufgeregt, und sie bombardierten den Kapitän mit Fragen, ohne dass dieser darauf reagierte. Als endlich Ruhe eingekehrt war, teilte Mourd ihnen mit, dass sie am Ziel angelangt seien. Die Nachricht wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen, und da er von der friedlichen Gesinnung seiner Gefangenen überzeugt war, beschloss Mourd, sie freizulassen. Er überließ es sogar dem Quartiermeister, sie an Deck zu bringen, wo sie einen ersten Blick auf ihre neue Heimat werfen durften.

Dies war der leichtere Teil seiner Aufgabe. Die Passagiere, die aus allen Teilen der Oberen Königreiche stammten, waren neue Rekruten für den Admiral. Die Überfahrt war für die Besatzung beinahe schon alltäglich. Diejenigen, die bereit waren, sich das Zeichen des Admirals auf die Stirn prägen zu lassen, würden in seine Armee aufgenommen und reich belohnt werden. Die anderen würde Mourd ermorden und den Haien zum Fraß vorwerfen lassen, die sich zur Freude des Admirals in den Gewässern um seine Insel herum fleißig vermehrten.

Seufzend schloss Mourd die Tür der anderen Zelle auf. Sie war wesentlich kleiner als die vorherige und beherbergte nur zwei Erwachsene, die an Hals und Füßen angekettet waren, ein verängstigtes Paar, das vollkommen der Gnade seiner Kerkermeister ausgeliefert war. Die Frau hielt einen Säugling im Arm, der an ihrer abgemagerten Brust saugte. Die kleine Familie war auf persönlichen Befehl des Admirals verschleppt worden. Solche Leute gab es auf jeder Reise, meistens waren sie jedoch allein. Der Kapitän hatte die Anweisung, diese Gefangenen mit besonderer Vorsicht zu behandeln, auch wenn sich bisher keiner von ihnen als besonders aufmüpfig oder gefährlich erwiesen hatte.

Zwei Dinge waren Mourd aufgefallen: Diese Menschen waren immer genau dreiundzwanzig Jahre alt, und sobald er die Unglücklichen dem Admiral übergab, waren sie nie mehr gesehen.

Das alles roch stark nach schwarzer Magie. Doch als er wieder den unheilvollen Schatten in seinem Rücken spürte und die Narbe auf seiner Stirn zu brennen begann, zwang sich der Kapitän, diesen Gedanken rasch zu verscheuchen.

Als meine Mutter mir mitteilte, dass sie ein Kind erwartete, ein Brüderchen oder eine kleine Schwester, reagierte ich völlig anders, als sie gehofft hatte. Ich war zehn Jahre alt und fühlte mich in meiner Rolle als einzige Tochter rundum wohl. Deshalb fing ich an zu schmollen und hörte mehrere Monde lang nicht mehr damit auf. Manchmal wäre ich schon gern fröhlicher gewesen, aber ich konnte nicht anders. Heuchelei habe ich schon immer verabscheut. Wer seinen wahren Gefühlen zum Trotz handelt, dem wird das früher oder später zum Verhängnis. So lief ich also mit griesgrämiger Miene herum, während meine Eltern vergeblich versuchten, mir die anstehende Geburt als frohes Ereignis anzupreisen.

Ich konnte daran nichts Erfreuliches finden. Vater und Mutter würden mir künftig nur noch halb so viel Aufmerksamkeit und Zeit widmen. Vielleicht sogar noch weniger, wenn man dem Gerede der Bediensteten Glauben schenkte, die über nichts anderes mehr sprachen als über das Ungeborene. Je mehr Dekaden verstrichen und je stärker sich der Bauch der Königin wölbte, desto mehr Raum nahm der künftige zweite Thronerbe der B’ree in meinem Leben ein. Dabei hatte er noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt.

Die meisten Gespräche, die ich belauschte, drehten sich um den neuen Prinzen beziehungsweise um die neue Prinzessin, je nachdem, welchem Lager die Abergläubischen angehörten. Jeder schien eine unfehlbare Methode zu kennen, um das Geschlecht des Kindes zu bestimmen. Die Themenvielfalt des Tratsches reichte von der Farbe der Vorhänge an der Wiege bis zum Namen des Ungeborenen. Doch wer die Unverschämtheit besaß, mich danach zu fragen, bekam meinen Zorn zu spüren, und den ganz Dreisten drohte ich, sie aus dem Palast jagen zu lassen. Mein Vater hätte sicherlich etwas dagegen gehabt, aber so erreichte ich wenigstens, dass man mich nicht weiter belästigte.

Ich sprach es zwar nie aus, aber am meisten fürchtete ich, das Baby würde ein Junge werden, denn ein Bruder würde mir Konkurrenz machen. Ich war stark, eine gute Reiterin und geschickt im Kampf, aber würde all dies nicht verblassen vor dem Stolz, den mein Vater bei der Geburt eines Sohnes empfände? Ich war und blieb die Thronfolgerin, so war es in den Gesetzen und der Tradition von Wallatt verankert. Doch das würde mir wenig nützen, wenn es Ke’b’ree einfiele, seinen Sohn als Befehlshaber unserer Heere einzusetzen.

Kein Lächeln und kein zärtliches Wort meiner Eltern konnten meine Befürchtungen zerstreuen. Als ich meine Verdrossenheit schließlich doch überwand, geschah dies aus bloßer Resignation: Ganz gleich, was geschah, ich konnte ohnehin nichts daran ändern. Außerdem konnte ich nicht darauf hoffen, den ersten Platz im Herzen meiner Eltern zu behaupten, wenn ich weiterhin so missmutig war. Also benahm ich mich wieder so wie vor der Verkündung der Schwangerschaft und begnügte mich damit, leicht das Gesicht zu verziehen, wann immer man von dem Ungeborenen sprach.

Die letzten Monde vor der Geburt waren sogar recht schön. Mama strahlte über das ganze Gesicht– ich hatte sie noch nie so glücklich gesehen–, und Vater schien seine Frau mehr zu lieben denn je. Er nahm jede Gelegenheit wahr, sie und mich in den Arm zu nehmen und zu küssen. Gegen meinen Willen musste ich eingestehen, dass ich diese kostbaren Augenblicke dem Ungeborenen zu verdanken hatte und dass seine Ankunft vielleicht doch nicht so schlimm werden würde wie befürchtet.

An einem Wintermorgen– der Palast und ganz Wallos lagen unter einer tiefen Schneedecke– setzten bei meiner Mutter die Wehen ein.

Am Abend war sie tot.

Der König weinte und drückte Najel an sein Herz.

Das folgende Jahr verging wie in einem Nebelschleier. Es war, als hätte sich der Schneesturm, der an jenem Tag über uns hereingebrochen war, auch nach vier Jahreszeiten noch nicht gelegt. Ich spürte nichts als Wut. Die Trauer, die ich hätte empfinden sollen, bekämpfte ich, indem ich mich in kräftezehrende Übungen stürzte, die meinem Körper jegliche Energie raubten. Nur so konnte ich nachts einschlafen. Doch selbst die körperliche Erschöpfung brachte nicht immer Erleichterung. Oft wälzte ich mich, von schlimmen Alpträumen geplagt, im Bett herum und verzweifelte an meinem grausamen Schicksal.

Mein Vater war nicht mehr derselbe wie zuvor. Sein Kummer war unermesslich– aber schon nach ein paar Tagen weinte er fast nicht mehr. Trotzdem hatten alle den Eindruck, dass die Bürde, die er trug, für einen Menschen allein zu schwer war. Dadurch gewann der Herrscher von Wallatt noch mehr Ansehen. Nur ein Mensch von außergewöhnlicher Stärke und Weisheit könne solch großen Schmerz ertragen, hieß es im Volk. So umgab ihn die Trauer um Lyn’a’min wie ein Glorienschein. Es war, als würden König und Königin zu einer Person verschmelzen. An dieses Bild klammerte ich mich zuweilen, nur um es einen Augenblick später voller Grauen wieder zu verscheuchen.

Der einzige B’ree, der in diesem Jahr ein wenig lächeln konnte, war Najel, der Säugling. Zumindest nahm ich das an, denn ich schenkte ihm keinerlei Beachtung. Im Gegenteil, ich tat mein Möglichstes, um mich von ihm fernzuhalten. Auch wenn man mir immer wieder vorhielt, dass der Kleine nichts für den tragischen Tod seiner Mutter könne und dass es einem Wunder gleichkomme, dass er überhaupt überlebt habe. Aber jedes Mal, wenn sein Jauchzen durch die Gänge des Palasts hallte, weil mein Vater oder eine Amme ihm den Bauch kitzelten, empfand ich dies als Beleidigung des Andenkens meiner verstorbenen Mutter.

Das schreckliche Trauerjahr endete schließlich mit dem Besuch eines weißbärtigen Arkariers, eines wahrhaftigen Riesen namens Bowbaq. Heute weiß ich, dass er der einzige Erbe von Ji war, der meinem Vater die Freundschaft gehalten hatte. Ob das an ihrer gemeinsamen Leidenschaft für das Angeln und Jagen lag? Oder daran, dass Bowbaq außerstande war, irgendjemandem böse zu sein? Das würde zumindest erklären, warum wir im vergangenen Mond zuerst ihn aufgesucht haben. Doch zum damaligen Zeitpunkt wusste ich noch nichts von ihrer gemeinsamen Geschichte. Ich hörte nur, wie Bowbaq meinem Vater sein tiefstes Beileid aussprach und ihm auch die Anteilnahme all ihrer einstigen Freunde übermittelte. Ke’b’ree dankte ihm, erklärte aber, dass sich sein Standpunkt nicht geändert habe, was den Arkarier traurig stimmte. Doch anstatt weiter zu bohren, wandte er sich dem kleinen Najel zu, den ihm mein Vater ohne Zögern in den Arm legte.

Dann durfte ich mir die üblichen Banalitäten anhören: wie hübsch er sei und wie sehr er seiner Mutter ähnele und all die abgedroschenen Phrasen, bei denen ich sonst sofort die Flucht ergriff. Doch diesmal hatte ich dazu keine Gelegenheit. Ehe ich mich’s versah, hatte Bowbaq das Balg schon an mich weitergereicht.

Gespannte Stille senkte sich über den Raum, und unwillkürlich duckten sich Ammen, Soldaten und Diener in Erwartung meines Wutausbruchs. Selbst der König hatte es bisher wohlweislich vermieden, mir etwas Derartiges zuzumuten. Und tatsächlich bedachte ich den Hünen sogleich mit einem hasserfüllten Blick. Doch mein Unmut hielt seinem freundlichen Lächeln nicht lange stand. Der alte Mann hatte keinen Funken Boshaftigkeit in sich und konnte sich gar nicht vorstellen, dass sich eine Schwester weigern könnte, ihren kleinen Bruder auf den Arm zu nehmen. Und als ich auf den Säugling herabblickte, wurde mir schlagartig klar: Dies war mein Bruder. Er hatte Mamas Augen, und ganz Wallos wusste es bereits, nur ich nicht.

In den folgenden Jahren kehrte ein wenig Freude in unser Leben zurück, auch wenn wir noch immer trauerten. Ich versuchte ein paarmal, Najel zu hüten, aber ich bin nicht sehr geduldig, und seine verzärtelte Art geht mir manchmal gehörig auf die Nerven. Vor seiner Geburt hatte ich Angst, dass er meinen Platz einnehmen würde, doch später wünschte ich mir, dass er zu einem starken und von allen gefürchteten Mann heranwachsen würde, zu einem Verbündeten, auf den ich zählen könnte.

Doch nachdem er letzte Nacht von einem wahnsinnigen Dämon entführt wurde, wünschte ich mir nur noch, ihn lebendig wiederzusehen.

So kann es nicht weitergehen. Wir alle haben zu viele Geheimnisse voreinander, und diese Geheimnisse bringen uns in Gefahr.

Ich werde auf eine alte Tradition der wallattischen Klane zurückgreifen. Sollte das zum Ende des Bunds der Erben führen, dann sei es so.

Zumindest weiß ich dann, gegen wen ich meine Lowa erheben muss.

ERSTES BUCH

SEGELSTOFF UND LEICHENTUCH

Souanne dachte schon, die Sonne würde niemals aufgehen. Nachdem die Erben die ganze Nacht zwischen den Inseln des Schönen Landes umhergeirrt waren und angestrengt in die Dunkelheit gestarrt hatten, wirkte das blasse Morgenlicht auf ihre blutunterlaufenen Augen wie lindernder Balsam. Leider hielt das Wohlgefühl nicht lange an. Die Sonne stieg allzu rasch, und ihr Licht, das vom Mittenmeer gespiegelt wurde, war grell und kaum zu ertragen für jemanden, der so lange nicht geschlafen hatte.

Trotzdem zwang sich die junge Frau, ein letztes Mal den Horizont abzusuchen. Dann gab sie Damián, der am Steuer stand, ein Zeichen und zog sich in das angenehme Halbdunkel unter Deck zurück. Dort saßen Josion und Zejabel nebeneinander auf der Bank. Ihre identische Körperhaltung verblüffte die Legionärin immer wieder. Beide lehnten mit dem Rücken an der Wand, hatten die Hände unter dem Tisch verschränkt und hielten die Augen geschlossen. Es war nicht zu erkennen, ob sie sich nur ausruhten oder fest schliefen. In dieser Haltung hatten sie fast die ganze Nacht ausgeharrt.

Souanne wagte nicht, sich zu bücken und unter den Tisch zu schauen, aber sie war sicher, dass sie ihre Waffen noch immer fest umschlossen hielten. Beim ersten Anzeichen von Gefahr würden sie hoch an Deck eilen, ohne dass der Schlafmangel ihren Fähigkeiten Abbruch täte.

Sonst war niemand in der Kombüse. Souanne nahm sich ein Herz und öffnete die Tür zur Mannschaftskabine, die sie mit Maara und Lorilis teilte. Die Wallattenprinzessin empfing sie mit einem finsteren Blick. Zwar schaute sie ein wenig freundlicher, als sie Souanne erkannte, aber ihr Lächeln wirkte eher gezwungen als natürlich. Souanne machte sich nichts daraus. Nach der schrecklichen Nacht, die sie durchlebt hatten, lagen bei allen die Nerven blank. Maara hatte gefürchtet, ihren kleinen Bruder zu verlieren, den einzigen Verwandten, den sie noch hatte. Seitdem wachte sie über ihn wie eine Wolfsmutter über ihr Junges, bereit, jeden anzugreifen, der sich ohne Aufforderung näherte.

Souanne betrachtete Najel, der bewusstlos neben seiner Schwester lag, einen dicken Verband um den Kopf. Als die Erben den Jungen fanden, hatte er eine böse Wunde an der Schläfe, und sobald er sich in Sicherheit wusste, hatte er die Besinnung verloren. Seine Gefährten hatten ihn zum Schiff getragen und sich so rasch wie möglich von Usuls alptraumhafter Insel entfernt. Seitdem war Najel noch nicht wieder erwacht– wenn man Maara Glauben schenkte, die ihn nicht aus den Augen ließ. Aber der einigermaßen gesunden Gesichtsfarbe des Jungen nach zu urteilen, war er außer Gefahr und würde sicher bald die Augen aufschlagen.

Auf der gegenüberliegenden Pritsche lag eine weitere Silhouette zusammengekauert unter einer Decke. Auch Lorilis war seit der Schlacht am Strand noch nicht wieder aufgewacht. Das junge Mädchen wirkte schwach und zerbrechlich, und im Schlaf sah sie aus wie ein kleines Kind. Trotzdem hatten die Erben es ihr zu verdanken, dass sie mit dem Leben davongekommen waren. Mithilfe ihrer magischen Kräfte, die Lorilis selbst eben erst entdeckte, hatte sie eine Feuersäule auflodern lassen, die die Guori in die Flucht geschlagen hatte. Danach war Lorilis jedoch so entkräftet gewesen, dass sie nicht einmal mehr laufen konnte, und Zejabel hatte sie aufs Schiff tragen müssen. Doch erst als Lorilis wusste, dass auch Najel gerettet war, hatte sie sich dem wohlverdienten Schlaf überlassen.

Den wenigen Worten, die sie aus ihr herausbekommen hatten, entnahmen die Erben, dass sich Najel zwischen sie und den Dämon gestellt hatte. Statt also Lorilis mitzunehmen, hatte sich Usul auf den jungen Wallatten gestürzt. Najel hatte unglaublichen Mut bewiesen, und Souanne fragte sich, ob sie selbst zu solcher Kühnheit fähig gewesen wäre. Die jüngsten Mitglieder ihrer Gruppe waren in jener Nacht also auch die tapfersten gewesen. Dabei hatten sich die Gefährten– seit alles begonnen hatte– um sie die größten Sorgen gemacht. Daraus konnten die Älteren durchaus eine Lehre ziehen. Bewundernd betrachtete Souanne die beiden schlafenden jungen Leute, denen alle an Bord ihr Leben verdankten.

Als sie die Müdigkeit übermannte, wollte sie sich schon auf der letzten freien Liege ausstrecken, als sie es sich plötzlich anders überlegte. Die Vorstellung, in einem Raum mit Maara einzuschlafen, widerstrebte ihr, ohne dass sie genau wusste, warum. Die Kriegerin schien zu angespannt und in düstere Gedanken versunken, als dass Souanne in ihrer Gegenwart unbesorgt hätte einschlafen können. Doch der Laderaum, in dem die Männer schliefen, musste bis auf einen von ihnen leer sein. Alle außer Guederic befanden sich anderswo an Bord.

Souanne verließ die Kajüte und durchquerte die Kombüse, vorbei an Zejabels und Josions reglosen Gestalten. Sie trat durch eine weitere Tür und stieg eine schmale Treppe hinab, die in den stockfinsteren Bauch des Schiffs führte.

Die junge Frau war schon einmal hier unten gewesen und wusste, wie ungemütlich der Laderaum war. Doch an den ekelerregenden Geruch, der jetzt herrschte, konnte sie sich nicht erinnern. Wie hielten Damián und die anderen das nur über längere Zeit aus? Vielleicht hatte der Gestank erst vor Kurzem eingesetzt.

Es war seltsam: Souanne hätte erwartet, dass es im Laderaum nach Brackwasser und totem Fisch roch. Stattdessen hing ein muffiger Geruch in der Luft, nach feuchtem Keller, Erde und Fäulnis. Er erinnerte sie an die Ausdünstungen in dem Geheimgang, der zur Burg der Familie von Kercyan führte. Aber wie war das möglich? Schließlich waren sie mitten auf dem Meer, mehr als fünfzig Seemeilen von der Küste entfernt.

Aber vielleicht war sie auch nur müde und bildete sich den merkwürdigen Geruch ein. Sie versuchte, nicht weiter darauf zu achten, und bewegte sich auf die einzige Lampe im Raum zu.

Der Laderaum erstreckte sich über die gesamte Länge des Schiffs, und Guederic hatte seinen Schlafplatz offenbar mit Absicht in der Ecke eingerichtet, die am weitesten von der Treppe entfernt lag, dort, wo der Abstand zwischen Boden und Decke nur noch ein paar Armlängen betrug. Die Kerze, die hinter geschwärztem Glas flackerte, spendete kaum Licht, und die Legionärin konnte nicht einmal erkennen, in welche Richtung sich der junge Mann unter seiner Decke zusammengerollt hatte. Plötzlich kam ihr der seltsame Gedanke, dass es vielleicht gar nicht Guederic war, der dort lag. Dieser Verdacht ließ sie nicht mehr los, auch wenn ihr Verstand das Gegenteil sagte. Die düstere Atmosphäre war dazu angetan, die unsinnigsten Ängste zu schüren. Souanne näherte sich dem Schlafenden, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, aber die Geräusche, die er von sich gab, beruhigten sie nicht.

Dabei schnarchte er noch nicht einmal besonders laut. Trotzdem spürte sie hinter dem leisen Röcheln und Knurren eine unkontrollierte, starke Macht. Das Geräusch erinnerte sie an ein Raubtier, dessen Kehle im Wachzustand ein ohrenbetäubendes Gebrüll auszustoßen imstande ist. Plötzlich wurde Souanne von echter Furcht gepackt. Schon bereute sie, heruntergekommen zu sein. Hier unten fühlte sie sich angreifbar: Sie bildete sich seltsame Gerüche ein und eine unbekannte Präsenz, die sie zu erdrücken drohte. Sie musste unbedingt zurück auf die Brücke, an die frische Luft und in den Sonnenschein…

Souanne war nur noch zwei Armlängen von dem Schlafenden entfernt, den sie für Guederic hielt. Wegen der niedriger werdenden Decke war sie auf die Knie gegangen und zu ihm hinübergekrochen. Ohne zu zögern, bewegte sie sich nun von ihm weg, hin zum Licht und zu den Lebenden.

Plötzlich verstummte das Röcheln und Knurren.

Die Stille flößte der jungen Frau mindestens ebenso viel Angst ein. Sie hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde und wie sie darauf reagieren sollte. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, zog sie ihr zweites Knie zurück…

»Bist du das?«

Guederics Frage erschreckte sie, und ihr entfuhr ein kurzer Schrei. Gleichzeitig errötete sie vor Scham und verfluchte ihre ausufernde Fantasie. Sie musste sehr müde sein, um solche düsteren Gedanken zugelassen zu haben…

»Bist du das? Antworte!«, knurrte die zornige Stimme unter der Decke.

Sofort war ihre Angst wieder da. Zwar hatte Souanne die Stimme erkannt, aber der bedrohliche Unterton war ungewöhnlich für jemanden, der gerade erst aufgewacht war.

»Ich bin’s… Souanne«, zwang sie sich zu antworten.

Sie hatte keine Ahnung, für wen er sie gehalten hatte. Vielleicht für seinen Bruder.

Wieder trat bleierne Stille ein, und Souannes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Da sagte Guederic, noch immer in unwirschem Ton: »Was willst du?«

»Nichts«, stotterte sie. »Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist oder ob du vielleicht jemanden zum Reden brauchst…«

»Jetzt nicht!«, kläffte er. »Lass mich in Ruhe!«

Das ließ sich die Legionärin nicht zweimal sagen. Verärgert und traurig zugleich begann sie, rückwärtszukriechen… Doch dann schrie sie erneut überrascht auf. Guederic hatte sie am Handgelenk gepackt und zog sie mit stahlhartem Griff zu sich heran.

Gierig suchte er nach ihren Lippen, und Souanne gab sich dem brutalen Kuss hin, der nicht ihre Idee gewesen war. Hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen sah sie, dass Guederic nackt war, aber statt des wilden Tiers, das sie zu sehen erwartet hatte, stand ein junger Gott vor ihr. Berauscht spürte sie, wie seine Hände sie hochhoben und sich unter ihre Kleider schoben. Ehe sie es sich versah, lag sie– halb nackt– auf dem Rücken und auf ihr ein Mann, der ungestüm ihren Hals küsste und sie dabei vollständig zu entkleiden suchte.

In diesem Moment durchfuhr sie ein Gedanke. Sie durfte sich den Gefühlen, die sie mitzureißen drohten, nicht hingeben. Zwar sehnte sie sich nach nichts mehr, als die Lust zu befriedigen, die in ihr erwacht war. Außerdem hatte Guederic einige Dekanten zuvor so mutig sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt, dass sie bereit war, es ihm auf jede erdenkliche Art zu vergelten. Aber ein unüberwindliches Hindernis machte ihre körperliche Vereinigung unmöglich. Sie war wider die Natur, und das spürte Souanne jetzt so deutlich, dass alle anderen Erwägungen davon hinweggefegt wurden. Und obwohl sie dieses Gefühl nicht erklären konnte, entschied sich Souanne, ihm voll und ganz zu vertrauen.

Sie hörte auf, Guederics Küsse zu erwidern, versuchte erst, ihn sanft zum Aufhören zu bewegen, und stieß ihn dann, als diese Versuche nicht fruchteten, heftig von sich.

Sie hatte ihre gesamte Kraft dafür aufbringen müssen, so sehr sprühte der junge Mann vor Energie. Jetzt lag er ein paar Schritte von ihr entfernt keuchend am Boden, die Decke halb über den Hüften. Sein Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Wut und Unverständnis, bestärkte Souanne in ihrer Überzeugung, dass sie nicht zusammen sein konnten. Sie durften es einfach nicht.

Einen Augenblick lang fürchtete die Legionärin allerdings, dass sie ihn nicht von seinem Plan würde abbringen können. Guederic wirkte so verärgert, dass sie sich fragte, ob er überhaupt Rücksicht auf ihre Wünsche nehmen würde. Doch schließlich wandte er den Kopf ab und lenkte ein. Sogleich war die Spannung verflogen. Verstört zupfte Souanne ihre Kleider zurecht und entfernte sich rasch von der aufgewühlten Schlafstätte. Als sie an Guederic vorbeiging, der mit finsterer Miene vor sich hinstarrte, legte sie ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

»Nimm es mir nicht übel«, bat sie ihn. »Wir beide haben schon etwas anderes gemeinsam, und bevor wir nicht genau wissen, was dahintersteckt, sollten wir vorsichtig sein. Lass uns lieber Freunde sein. Du könntest der engste Freund werden, den ich je haben werde.«

Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf den Nacken und verließ eilig den Laderaum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die triebhafte Seite in ihr brüllte, sie solle sich umdrehen und ihre Lust befriedigen. Die andere, deren Ursprung sie nicht kannte, flüsterte ihr zu, dass sie richtig gehandelt hatte.

Als sie oben an der schmalen Treppe angelangt war und gerade durch die Tür treten wollte, hörte sie von unten wieder ein Geräusch. Aber sie hätte nicht sagen können, ob Guederic wütend knurrte oder schluchzte.

Damián war überrascht, als Souanne wieder an Deck erschien. Sie war erst vor einer knappen Dezime hinuntergegangen und hatte so müde ausgesehen, dass er dachte, sie würde mindestens einen Dekant lang schlafen. Stattdessen wirkte sie regelrecht energiegeladen, wie ein Spaziergänger nach einem kräftigen Regenschauer. Die junge Frau machte ein paar nervöse Schritte an der Reling entlang, blieb einige Male stehen, um zum Horizont hinauszublicken, und kam dann geradewegs auf den Ritter zu, der gegen ein bisschen Gesellschaft nichts einzuwenden hatte.

Doch Souanne warf ihm nur ein schmales Lächeln zu, ließ sich am Heck des Schiffs nieder und starrte lange auf das aufgewühlte Kielwasser. Damián ertappte sich dabei, wie er ihr verstohlene Blicke zuwarf. Außer ihrem grauen Umhang trug sie keine Uniform mehr. Die zwanglose Kleidung betonte ihre Weiblichkeit, die der Ritter in Lorelien stets geflissentlich ignoriert hatte. Als sie sich umdrehte, wandte er rasch den Blick ab. Sie sollte seine Verlegenheit nicht sehen.

Was er für seine ehemalige Rivalin im Kampf um den Titel eines Ritters der Grauen Legion empfand, konnte er nicht in Worte fassen. War es Bewunderung? Mindestens. Die junge Frau hatte zahlreiche Eigenschaften, die ihm gefielen. Sie war in ein Drama verwickelt worden, das sie nicht persönlich betraf, hatte aber den Kampf angenommen und sich als zuverlässig, solidarisch und mutig erwiesen. War es ein Gefühl der Verbundenheit? Sicher auch das. Sie hatten denselben Unterricht besucht, die gleiche Uniform getragen und dieselben Amtsstuben aufgesucht. Und noch in dieser Nacht hatten sie gemeinsam unter dem Sternenhimmel gewacht und fast wortlos alle nötigen Handgriffe erledigt, so als hätten sie schon immer zusammengearbeitet. Aber war da noch mehr? Es war zu früh, das zu sagen. Jedes Mal, wenn Damián der Gedanke kam, wischte er ihn beiseite. Vor allem, wenn sich das Wort ›Liebe‹ in seine Überlegungen mischte.

Souannes Stimme brachte ihn wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.

»Wir müssen bald entscheiden, welche Richtung wir einschlagen«, erinnerte sie ihn. »Wir können schließlich nicht ewig nur geradeaus fahren…«

Der Ritter nickte mit finsterer Miene. Diese Überlegung gehörte zu den vier oder fünf wichtigen Fragen, mit denen er sich die ganze Nacht beschäftigt hatte. Bisher war er noch zu keinem vernünftigen Schluss gekommen. Wo sollten die Erben jetzt hin? Wo war die Spur, die ihnen Aufschluss über das Schicksal ihrer Eltern geben würde? Alles schien davon abzuhängen, welche Hinweise Najel von Usul erhalten hatte, falls es überhaupt zu einem Austausch gekommen war. Und vorausgesetzt, seine Hinweise entpuppten sich nicht bloß als ein Haufen Hirngespinste eines verirrten Geistes.

Zum Glück konnte die kleine Gruppe noch auf eine andere Informationsquelle hoffen, nämlich die Aufzeichnungen von Amanón, die sie unter Einsatz ihres Lebens aus seinem Arbeitszimmer in Lorelia mitgenommen hatten. Bisher war es ihnen noch nicht gelungen, die Schriften zu entschlüsseln. Aber mitten im Kampf auf Usuls Insel, als er am wenigsten damit rechnete, war Damián plötzlich eingefallen, was der Schlüssel sein könnte. Zwar konnte er es noch nicht mit Sicherheit sagen, aber seine Idee war ebenso plausibel wie logisch. Vielleicht würde es ihm also bald gelingen, die ersten Zeilen der Hefte seines Vaters zu dechiffrieren. Diese Aussicht löste widerstreitende Gefühle in ihm aus, einerseits Angst, andererseits freudige Erregung. Allerdings hatten die Ereignisse der letzten Dekanten ihn bisher davon abgehalten, seine Theorie zu überprüfen.

Natürlich hätte er das Steuer schon früher einem seiner Gefährten überlassen und sich mit der Entschlüsselung befassen können. Doch zwei Dinge hatten ihn daran gehindert. Zunächst war es ihm ein persönliches Anliegen, für die Sicherheit der Gruppe zu sorgen, so wie Grigán und Amanón die vorangegangenen Generationen beschützt hatten. Er wollte dem Weg folgen, den seine Ahnen ihm vorgezeichnet hatten.

Doch die Bürde dieses Erbes lastete auf dem Dreiundzwanzigjährigen, der ohnehin schon schwer an der Verantwortung für seine Gefährten zu tragen hatte. Damián hatte den Eindruck, schon viel zu viele Fehler gemacht zu haben, und es grenzte fast an ein Wunder, dass noch alle am Leben waren.

Und so war es auch die Angst vor einem neuerlichen Versagen, die ihn davon abhielt, seine Idee zu überprüfen.

Ewig konnte er den Versuch jedoch nicht aufschieben, denn das wäre ein weiteres Versäumnis gewesen. Allerdings wollte er wenigstens das Tageslicht abwarten, um für eine weitere Enttäuschung gewappnet zu sein. Und tatsächlich ging in diesem Moment langsam die Sonne am Himmel auf. Damián seufzte leise und wandte sich zu Souanne um, die zwei Schritte von ihm entfernt an der Reling saß und ihren Gedanken nachhing. Mit einer kleinen Geste machte er sie auf sich aufmerksam und zeigte auf das Steuerrad.

»Könntest du mich eine Weile ablösen?«, fragte er.

Erst schien sie ihn gar nicht zu hören, doch dann nickte sie knapp und übernahm wortlos das Steuer. Damián hatte das unangenehme Gefühl, er habe ihr einen Befehl erteilt, dabei lag ihm nichts ferner. Er hätte es lieber gehabt, sie würde ihn aus Freundschaft unterstützen, und nicht, weil er der ranghöhere Legionär war. Aber sie zu fragen, ob sie seine Worte so aufgefasst hatte, wäre vermutlich etwas übertrieben gewesen. Also bedankte er sich bloß und ging davon.