Die Götter - Das magische Zeichen - Pierre Grimbert - E-Book

Die Götter - Das magische Zeichen E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Die Erben der Magier und Krieger sind zurück! Das mysteriöse Verschwinden der Götter hat die Welt von Grund auf verändert, und die jungen Helden stehen vor ihrer größten Herausforderung, die ihrer Freundschaft und ihrem Mut alles abverlangt. Als sie entdecken, dass das Böse offenbar einen Weg zurück in ihre Welt gefunden hat, machen sie sich auf die Suche nach dem Geheimnis ihrer Vorfahren – dem Geheimnis der legendären Insel Ji…

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Seitenzahl: 433

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PIERRE GRIMBERT

im Wilhelm Heyne Verlag:

Einst reisten Vertreter aller Nationen auf die geheimnisvolle Insel Ji. In den Tiefen der Insel, so erzählt man sich, gerieten sie in ein Felslabyrinth – und verschwanden spurlos. Jahr für Jahr treffen sich nun ihre Nachkommen am Eingang des Labyrinths, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Denn was hat es mit der Insel Ji wirklich auf sich? Als schließlich ein Nachkomme nach dem anderen grausamen Mördern zum Opfer fällt, machen sich die letzten Erben auf, um das Geheimnis von Ji zu lüften.

DIE MAGIER

Erster Roman: Gefährten des Lichts

Zweiter Roman: Krieger der Dämmerung

Dritter Roman: Götter der Nacht

Vierter Roman: Kinder der Ewigkeit

DIE KRIEGER

Erster Roman: Das Erbe der Magier

Zweiter Roman: Der Verrat der Königin

Dritter Roman: Die Stimme der Ahnen

Vierter Roman: Das Geheimnis der Pforte

Fünfter Roman: Das Labyrinth der Götter

DIE GÖTTER

Erster Roman: Der Ruf der Krieger

Zweiter Roman: Das magische Zeichen

Dritter Roman: Die Macht der Dunkelheit

Mehr über Autor und Werk unter:

www.heyne-magische-bestseller.de

Titel der französischen Originalausgabe

LES GARDIENS DE JI: LE DEUIL ÉCARLATE

Deutsche Erstausgabe 08/2011

Redaktion: Catherine Beck

Copyright ©2009 by Pierre Grimbert

Copyright ©2011 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Printed in Germany 2011

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-05721-3

www.heyne-magische-bestseller.de

Ich heiße Zejabel von Kercyan. Früher wurde ich die »Kahati« genannt und trug sogar den Beinamen »die Mörderin«, aber das ist lange her und gehört zu einem anderen Leben. Meinen richtigen Namen, den, den mir meine Eltern gaben, habe ich vergessen. Ich werde mich wohl nie mehr daran erinnern.

Denn es war so: Alle Mädchen, die von Zuïas Boten im Namen der Dämonin entführt wurden, hatten ihre Herkunft zu vergessen. Unser einziger Daseinszweck bestand darin, uns auf den Tag vorzubereiten, an dem eine von uns das höchste Opfer bringen würde: Zuïa ihren Körper schenken. Die Dämonin war zwar unsterblich, brauchte aber einen Körper aus Fleisch und Blut, um Gestalt anzunehmen. Zu diesem Zweck entrissen ihre Priester mich und andere Mädchen unseren Familien. Sie drillten uns gnadenlos darauf, Schmerz und Entbehrungen zu ertragen, damit eine von uns eines fernen Tages die grausame Rachegöttin in sich aufnehmen konnte. Diejenige, die diese zweifelhafte Ehre hätte, wäre dann nur noch eine Gefangene im Geist der Dämonin, eine leise Stimme in ihrem Kopf.

Keine von uns hatte dieses Schicksal freiwillig gewählt, und wir ahnten damals noch nicht, welche Schrecken uns erwarteten. Dass die Rachegöttin Zuïa immer wieder menschliche Gestalt annahm, wurde streng geheim gehalten. Seit Jahrtausenden hüteten die Judikatoren in den Sümpfen des Lus’an ihre Traditionen. Eine ihrer Pflichten war es, gewöhnliche Sterbliche von ihrer Gebieterin fernzuhalten, eine zweite, jederzeit eine Schar Mädchen für Zuïa bereitzuhalten.

An meine frühe Kindheit kann ich mich kaum erinnern. Alles, was mir geblieben ist, sind ein paar verschwommene Bilder. Bruchstückhafte Eindrücke, flüchtige Augenblicke. Zum Beispiel erinnere ich mich, wie ich hinter dem Haus meiner Eltern auf der Treppe saß und fasziniert zwei Salamander beobachtete, die sich ein Wettrennen lieferten. Ich erinnere mich auch an ein blaues Kleid, das meine Mutter gern trug. Ihr Gesicht habe ich jedoch vergessen.

An den Tag, als SIE mich holen kamen, erinnere ich mich hingegen mit erschreckender Deutlichkeit. SIE, das waren Männer in roten Kutten, angeführt von einem Judikator. Sie sagten meinen Eltern, dass sie mich mitnehmen würden, denn ich sei gesund und somit eine »Auserwählte«. Mein Vater brach erst in Tränen aus und begann dann vor Wut zu toben. Ein paar Männer brachten mich nach draußen, während andere bei meinen Eltern im Haus blieben. Kurz darauf verstummten das Weinen und Schreien meines Vaters, und es war nur noch das Flehen meiner Mutter zu hören, das wenig später ebenfalls abbrach.

Die Männer hätten meine Eltern auch dann getötet, wenn sie keinen Widerstand geleistet hätten, davon bin ich überzeugt. Zuïas Gesetz erlaubte keinen Bruch mit der Tradition. Die Dämonin wollte verhindern, dass ihre Untertanen Rachegelüste entwickelten oder aufbegehrten, und so waren die Eltern aller entführten Mädchen zum Tode verdammt. Zuïas Boten vollstreckten das Urteil der Rachegöttin immer, sei es am selben Tag oder Monde später.

Nachdem ich meinen Eltern entrissen worden war, fand ich mich in einer Gruppe von etwa zwanzig weinenden Mädchen wieder. Die meisten von uns waren gerade einmal drei Jahre alt. Wir setzten uns in Bewegung, umringt von Männern, an deren Klingen noch das Blut unserer Eltern klebte. Zuïas Boten führten uns in die Sümpfe des Lus’an. Zu Fuß. Viele von uns trugen nicht einmal Schuhe– auch ich nicht.

Die Mörder fassten uns nicht gerade mit Samthandschuhen an. Für sie waren wir nur eine Schar plärrender Gören, die sich nicht von der der Vorjahre unterschied. Vermutlich hatten sie den Befehl, auf dem Marsch zu Zuïas Palast eine erste Aussonderung vorzunehmen. Die Selektion war grausam: In den vier Tagen starben zwei Mädchen an Hunger oder Erschöpfung, und zwei weitere wurden von den Boten in den Sümpfen zurückgelassen, wo sie der sichere Tod erwartete. Dieses Schicksal war allen Mädchen bestimmt, die den Boten nicht aufs Wort gehorchten oder nicht aufhören wollten zu weinen.

Ich gehörte weder zu der einen noch zu der anderen Sorte. Taub vor Müdigkeit und Hunger wurde ich nur von einem Gedanken beherrscht: Am Ende des Marschs würden uns die Männer vielleicht etwas zu essen geben und uns eine Weile schlafen lassen. Als wir an einem Strauch mit wilden Beeren vorbeikamen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und stopfte mir die süßen Früchte in den Mund. Ich war so ausgehungert, dass ich sogar ein paar schwächere Mädchen wegschubste, um möglichste viele Beeren abzubekommen. Ich war nur noch auf mein eigenes Überleben bedacht. Nach diesem Vorfall betrachteten mich die Wächter mit anderen Augen. Der Judikator schenkte mir sogar ein schmales Lächeln.

Dieses Verhalten hätte mich misstrauisch machen sollen– mir hätte dämmern müssen, welches Schicksal mir bevorstand. Anstatt den Marsch fortzusetzen, hätte ich mich besser auf der Stelle im Morast der Sümpfe ertränkt.

Der Wind war zwar nicht kalt, wehte aber so heftig, dass er Fanoun in einem fort Sand ins Gesicht blies. Vergeblich versuchte die Alte, ihren Schal so zu binden, dass Mund und Nase besser geschützt waren. Die salzigen Körner krochen in jede Falte ihres runzeligen Gesichts und trieben ihr Tränen in die Augen. Nach einer Weile beschloss sie, rückwärts gegen den Sturm anzulaufen, auch wenn sie auf diese Weise leichter stolperte. In ihrem Alter konnte jeder Sturz lebensgefährlich sein.

Zum Glück gab es am Strand nicht viele Hindernisse. Überdies kannte Fanoun diesen Teil der Küste wie ihre Westentasche und hätte den Weg sogar mit geschlossenen Augen gefunden. Sie und ihr Mann hatten sich vor über sechzig Jahren in der Nähe des lorelischen Dorfs Berce niedergelassen, nur wenige Meilen vom Mittenmeer entfernt. Beide waren diesen Strand unzählige Male entlanggelaufen, um nach Muscheln zu suchen oder spazieren zu gehen. Seit dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren hatte Fanoun diese Gewohnheit beibehalten. Manchmal, wenn weit und breit niemand in Sicht war, unterhielt sich die Witwe sogar leise mit dem Verstorbenen.

Zum Glück war sie nicht völlig allein. Ihr Hund Gari, dessen rötlich-blondes Fell im Wind flatterte, hatte ein so überschäumendes Temperament, dass es Fanoun manchmal schon ermüdete, ihm beim Herumtoben zuzuschauen. Sein Alter war unklar, Fanoun schätzte ihn auf acht oder neun Jahre. Vor einigen Wintern hatte sie das Tier an eben diesem Strand gefunden, und seitdem waren die beiden unzertrennlich. Garis unbändiger Spieltrieb stellte die Geduld der alten Frau manchmal auf eine harte Probe, auch wenn er dafür sorgte, dass sie gesund blieb. Wenn sie den Hund nicht täglich mehrere Dezimen lange ausführen müsste, hätte sie bei diesem Wetter gewiss keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Trotz des schneidenden Winds musste sie zugeben, dass ihr der Spaziergang guttat– zumindest weckte er angenehme Erinnerungen.

Mit zusammengekniffenen Augen wandte sie den Kopf zur Seite, um einen kurzen Blick auf den Hund zu werfen, der am Meeressaum herumtollte. Es war Flut, und die Wellen rollten in einem fort an den Strand. Garis Überschwang und Kraft zu beobachten, war eine wahre Freude. Er war ständig in Bewegung, rannte hierhin und dorthin, vollführte Luftsprünge, stürzte sich ins Wasser, schüttelte sich, nur um gleich wieder loszulaufen…

Wie üblich würde Fanoun später einen Teil des Abends darauf verwenden müssen, sein Fell zu bürsten. Manchmal hatte sie das Gefühl, der Hund wälzte sich absichtlich im Sand, nur um hinterher ausgiebig gestriegelt zu werden.

Wenig später gelangte Fanoun zu einer Dünenkette, die im Volksmund »Finger des Riesen« oder einfach nur »die Finger« genannt wurde. Es war die einzige Erhebung weit und breit. Endlich konnte sie wieder vorwärtslaufen, denn die Dünen boten ein wenig Schutz vor den Windböen. Der Name rührte von einer alten Legende her: Einst habe ein Seeungeheuer in den Untiefen des Meers gehaust, und vor langer Zeit sei es zum Häuten an diesen Strand gekommen. Mit den Jahren hätte der Sand dann den abgestoßenen Panzer und die Scheren des Tiers unter sich begraben, und so seien die Dünen entstanden. Obschon Fanoun solchen Geschichten für gewöhnlich keinen Glauben schenkte, ließ sie an dieser Stelle jedes Mal unwillkürlich den Blick über die ungewöhnlich hohen Sandhügel wandern. Was, wenn die Legende doch einen Funken Wahrheit enthielt? Schließlich hatten im Laufe der Jahrhunderte mehrere Augenzeugen das Seeungeheuer gesichtet! Die alte Frau erschauderte bei dem Gedanken, die Dünen könnten auseinanderbrechen und eine alptraumhafte Kreatur mit schuppigem Panzer und spitz gezackten Scheren zum Vorschein bringen. Die Alte malte sich die Szene so lebhaft aus, dass sie heftig zusammenzuckte, als Gari plötzlich zu bellen begann.

Zum Glück konnte sie ein rascher Blick den Strand entlang beruhigen. Der Hund schlug nur an, weil jemand auf sie zukam. Noch war der Fremde mehrere Hundert Schritte entfernt, und Fanouns Augen waren nicht mehr die besten, aber sie konnte immerhin erkennen, dass er ein Wägelchen hinter sich herzog. Also musste es Theodril sein, ein alter Mann aus dem Dorf, der regelmäßig zum Strand kam, um Treibholz zu sammeln. Fanoun fand den Greis nicht sonderlich sympathisch, wollte aber auch nicht kehrtmachen und ihren Spaziergang vorzeitig beenden, nur um ihm aus dem Weg zu gehen. Also fand sie sich mit dem Gedanken ab, bei ihrer Begegnung ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Während die beiden Alten einander mit der gebotenen Höflichkeit begrüßten, kläffte Gari den Treibholzsammler in einem fort an. Fanoun hätte dem Hund am liebsten als Vorwand benutzt, um rasch weiterzugehen, aber der Inhalt des Wägelchens weckte ihre Neugier. Anders als sonst transportierte Theodril nicht nur ein paar ausgebleichte, glatt geschliffene Äste, die die Flut zurückgelassen hatte. Heute hatte er einen ganzen Haufen Planken und zersplitterte Rundhölzer gesammelt, die das Wägelchen fast unter sich begruben. So hatte der Alte dann auch seine liebe Not, den Wagen im Sand überhaupt von der Stelle zu bekommen. Als Fanoun den Blick über den Strand schweifen ließ, entdeckte sie im Saum der zurückweichenden Flut ähnliche Trümmer, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Der Anblick weckte traurige Erinnerungen, die ihr die Kehle zuschnürten.

»Gab es einen Schiffbruch?«, fragte sie. »Wer ist nicht zurückgekehrt? Aus welchem Dorf sind die Männer?«

Theodril baute sich zwischen ihr und dem Wägelchen auf, als fürchte er, Fanoun würde ihm seine Beute streitig machen. Das Bild, wie der Alte vor zwölf Jahren die Überreste des Schiffs eingesammelt hatte, mit dem ihr Mann gesunken war, blitzte vor ihrem Auge auf. Fanoun bemühte sich, ihren Abscheu zu verbergen.

»Ich glaub, bei uns wird niemand vermisst«, nuschelte der Alte. »Außerdem muss man sich die Bretter nur mal ansehen. Das Boot is nich von hier.«

Fanoun besah sich die Wrackteile genauer. Tatsächlich sahen sie vollkommen anders aus als die schweren Planken der Fischerboote, die in der Umgebung von Berce hergestellt wurden. Sie erstarrte, als ihr auffiel, dass ein Großteil der Bretter vom Feuer geschwärzt war. Ein Brand auf hoher See! Das Schlimmste, was der Besatzung eines Schiffs passieren kann… Ein solches Unglück überlebte niemand. Mit einem knappen Nicken verabschiedete sie sich von Theodril, rief ihren Hund und entfernte sich mit schweren Schritten.

Gleich darauf blieb Fanoun abermals stehen. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr das Schicksal der unbekannten Opfer so sehr zu schaffen machte. Vermutlich, weil es seit dem Tod ihres Mannes der erste Schiffbruch war, dessen Spuren sie mit eigenen Augen sah. Traurig glitt ihr Blick über die angespülten Planken und wanderte dann weiter hinaus auf das offene Meer, hin zu dem einzigen Flecken Land, der das endlose Blau durchbrach. Die Insel Ji.

Vielleicht war das brennende Boot ja an ihren Klippen zerschellt. Es wäre nicht das erste Mal…

Abermals erschauderte die Witwe. Die kleine Insel hatte gewiss schon vielen Menschen das Leben gekostet.

Dieser Gedanke war sehr viel gruseliger als die Geschichten von einem Scheren-Ungeheuer, das auf dem Meeresgrund hauste.

Als ich Zuïas Palast zum ersten Mal sah, war ich zutiefst beeindruckt. Wer hätte gedacht, dass sich inmitten der tödlichen Sümpfe des Lus’an eine Festung aus Marmor, Gold und Seide befand? Obwohl ich noch ein Kind war, ahnte ich, dass eine solche Zurschaustellung von Luxus ungewöhnlich war. Außerdem wurde mir gleich klar, dass die Bewohner dieses Orts alles taten, um sein Geheimnis zu wahren, und in diesem Moment begriff ich, dass die Judikatoren nicht vorhatten, auch nur eines von uns einundzwanzig Mädchen jemals wieder nach Hause zu lassen. Wir standen vor unserem Gefängnis. Einem Gefängnis, das einer Schlangengrube ähnelte.

Man gönnte uns ein paar Dekanten Ruhe auf schimmeligen, flohverseuchten Strohsäcken. Obwohl der Hunger fast unerträglich war, sank ich erleichtert in einen tiefen Schlaf.

Andere Mädchen waren zu verstört von dem Unglück, das über sie hereingebrochen war, um schlafen zu können, und weinten die ganze Nacht. Das stellte sich als folgenschwerer Fehler heraus. Im Morgengrauen warf uns der Kerkermeister ein paar Brotlaibe in die Zelle. Sie reichten längst nicht für alle Mädchen, es sei denn, wir hätten geteilt. Dafür waren wir jedoch viel zu ausgehungert. Innerhalb kürzester Zeit entspann sich eine wilde Prügelei. Diejenigen von uns, die etwas geschlafen hatten und wieder zu Kräften gekommen waren, siegten. Mit Zähnen und Krallen verteidigten wir unsere Beute, um unseren quälenden Hunger zu stillen. Den Verliererinnen blieb nichts anderes übrig, als noch bitterlicher zu weinen– oder sich vorzunehmen, beim nächsten Mal zu den Siegerinnen zu gehören. So begann zu unserer Schande ein Kampf auf Leben und Tod, der mir während der nächsten fünfzehn Jahre in Fleisch und Blut übergehen sollte. Es war die einzige Chance zu überleben.

Nach diesem ersten Kampf wurden wir in die Bäder geführt und kamen endlich in die Obhut von ein paar Frauen. Es waren die ersten, die ich in dem Dorf rings um Zuïas Palast sah, Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren. Sie entkleideten und wuschen uns und schoren uns dann das Haar, nicht mit unnötiger Brutalität, aber auch ohne jedes Mitgefühl.

Ein Jahrzehnt später würde ich selbst eine dieser jungen Frauen sein. Die Sterblichen, die der Dämonin dienten, waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die jahrhundertealten Traditionen folgte und in der jeder bestimmte Aufgaben zu erfüllen hatte– streng getrennt nach Alter, Geschlecht und Rang. So waren alle Männer, vom einfachsten Boten bis zum obersten Judikator, für den Schutz des Palasts, die Kampfausbildung und den religiösen Unterricht zuständig. Vom Kochen, Putzen und anderen häuslichen Tätigkeiten waren sie befreit. Zudem war es ihnen verboten, sich Zuïas Schülerinnen auf ungebührliche Weise zu nähern. Alle Mädchen, die Zuïa dienten, mussten Jungfrauen bleiben, sonst konnte ihr Körper den Geist der Dämonin nicht aufnehmen. Die wenigen Mädchen, die dieses Gesetz missachteten, wurden aufs Grausamste bestraft.

Alle Anwärterinnen auf den Titel der Kahati, die im Kampf um Zuïas Gunst über sehr viel Jüngere herfielen, wurden ebenfalls hart bestraft. Es wäre den jungen Frauen, die uns das Haar schoren, ein Leichtes gewesen, uns mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden und so eine Rivalin aus dem Weg zu räumen, aber die Judikatoren wachten scharf darüber, dass der Wettstreit immer nur innerhalb einer Generation ausgetragen wurde. Sie mussten in jedem Jahr eine Kahati ernennen können und deshalb um jeden Preis verhindern, dass die Älteren die Jüngeren töteten. So lernte ich bald, mich vor allem vor Mädchen meines Alters in Acht zu nehmen. Die Jüngeren und Älteren ignorierten mich meistens und warteten schlimmstenfalls auf eine Gelegenheit, mir heimlich einen Stoß zu versetzen, damit ich verunglückte.

Nachdem man uns gewaschen und das Haar geschoren hatte, bekamen wir zu unserer Körpergröße passende purpurrote Gewänder. Jahrelang würden all meine Kleider diese Farbe haben. Anschließend führte man uns vor die Herrin des Hauses, unsere Gebieterin, der wir fortan bedingungslos gehorchen mussten– jedenfalls, wenn uns das Leben lieb war.

Ich muss gestehen, dass Zuïa mich über alle Maßen beeindruckte. Die Judikatoren stellten sie uns als Göttin vor, als unsere Göttin, und Zuïa lieferte uns auch gleich einen Beweis ihrer Macht. Einige Mädchen begannen hysterisch zu kreischen, als Zuïa in ihre Gedanken eindrang und dort zu ihnen sprach, aber die meisten empfanden nichts als Ehrfurcht und Bewunderung. Die Rachegöttin zeigte sich an jenem Tag von ihrer besten Seite. Auch wenn sie es nicht laut sagte, schien sie uns allen eine Mutter sein zu wollen. Wir sehnten uns so sehr nach ein wenig Zuwendung…

Dann gaben uns die Judikatoren der Tradition gemäß einen neuen Namen: Fortan hieß ich Zejabel. Sie gaben uns zu verstehen, dass wir unsere Herkunft schnellstmöglich vergessen mussten. Damals erschien mir das unmöglich, aber mittlerweile weiß ich, dass die Judikatoren ihr Ziel erreicht haben.

Tage, Dekaden, Monde, Jahre zogen ins Land. Niemand entkam Zuïas Gesetz. Im Lus’an mussten wir all unsere Individualität aufgeben– wir waren Dienerinnen der vermeintlichen Göttin, sonst nichts. Der Wettkampf stand im Mittelpunkt von allem, und wir wurden ständig dazu angehalten, über uns selbst hinauszuwachsen. Meine Kindheit und Jugend waren eine einzige Abfolge harter körperlicher und geistiger Prüfungen. Die Judikatoren unterwiesen uns in den Kampfkünsten, im Gebrauch verschiedener Gifte und in den rätselhaften Gesetzen, denen die Unsterblichen gehorchten.

Damals war ich überzeugt, einer echten Göttin zu dienen. Mein Leid und das, welches ich meinen Rivalinnen zufügte, schienen mir durch einen höheren Zweck gerechtfertigt, den ich als gewöhnliche Sterbliche nicht verstand. Unter Aufbietung all meines Ehrgeizes und all meiner Beharrlichkeit gelang es mir, meine Rivalinnen zu übertreffen und den begehrten Titel der »Kahati« zu erringen. Irgendwann stand fest, dass ich Zuïas nächste Verkörperung sein würde. Ich war bereit, der Göttin meinen Körper zu schenken und meinen eigenen Geist sterben zu lassen.

Erst als ich Zuïas wahre Natur erkannte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In Wahrheit war sie keine Göttin, sondern eine Dämonin, eine abscheuliche Kreatur. Sie war das genaue Gegenteil der strengen, aber gerechten Göttin, an die ich geglaubt hatte.

An jenem Tag begann meine Flucht vor Zuïa, und einige Zeit später besiegte ich die Dämonin. Letzten Endes nutzte ich die Fähigkeiten, die mir im Laufe entbehrungsreicher Jahre antrainiert worden waren, um meine einstige Gebieterin zu vernichten. Mein Leid war also doch noch zu etwas gut, daran muss ich einfach glauben. Trotzdem erinnere ich mich nur ungern an meine Lehrzeit. Mein Körper und mein Geist haben zu großen Schaden genommen.

Die Qualen meiner Kindheit und Jugend hätten mir eine Lehre sein müssen. Ich hätte nicht denselben Fehler wie die Judikatoren begehen dürfen.

Ich hätte meinen Sohn nicht denselben Torturen aussetzen dürfen.

Die Nacht war lang, lang und ermüdend. Der Kapitän würde seinen Männern erst dann eine Ruhepause gönnen, wenn sie ihm etwas Brauchbares brachten, und so suchte die gesamte Mannschaft Dekant um Dekant die dunklen Fluten des Mittenmeers ab. Niemand durfte sich auch nur eine Dezime schlafen legen. Und all das wegen einer völlig vergeblichen Suche.

Dabei hatten sie sich anfangs wirklich bemüht, vor allem wegen der Aussicht auf Belohnung: Der Kapitän schien über unerschöpfliche Reichtümer zu verfügen und stand in dem Ruf, all jene, deren Dienste ihn zufriedenstellten, reich zu belohnen. Doch nach einer Weile hatten die Matrosen die Nase voll gehabt und nur noch in der Hoffnung weitergemacht, irgendetwas zu finden, das ihnen erlaubte, endlich in ihre Hängematten zu steigen. Nachdem der Kapitän allerdings die Leichen von zwei Matrosen, die nicht weitersuchen wollten, über Bord werfen ließ, machten sich alle wieder emsig an die Arbeit.

Nun wurden sie vor allem von Angst angetrieben.

Der Kapitän schätzte die versuchte Meuterei der beiden Matrosen, die sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnten, nicht gerade und »tadelte« sie höchstpersönlich. Die Schreie der beiden waren laut durch die Nacht gehallt, und seitdem hatte keiner der Männer mehr aufzumucken gewagt. Die Hälfte der Mannschaft beugte sich über die Reling, während die andere Hälfte das Meer von Ruderbooten aus absuchte. Ihre Arbeit wurde dadurch erschwert, dass der Kapitän ihnen verboten hatte, Fackeln oder Laternen zu entzünden. So blieb ihnen nur das Mondlicht.

Unermüdlich fischten sie mit Stangen und Enterhaken Schiffstrümmer aus dem Wasser, betrachteten sie kurz und warfen sie anschließend zurück ins Meer. Die Sucherei war völlig sinnlos: Die Leichen, nach denen der Kapitän suchte, mussten längst auf den Meeresboden gesunken sein. Schon im ersten Dekant ihrer Suche war es unwahrscheinlich gewesen, noch Überlebende zu finden, aber mittlerweile käme es einem Wunder gleich.

Und jetzt musste Rauric vor den Kapitän treten und ihm von ihrem Scheitern berichten. Während der zwei letzten Dezimen hatte er krampfhaft nach einem Vorwand gesucht, sich vor dieser Aufgabe zu drücken oder sie zumindest aufzuschieben, aber mittlerweile fielen ihm keine Ausflüchte mehr ein. Im Übrigen konnte es sein, dass der Kapitän einen Wutanfall bekam, wenn er ihn noch länger warten ließ– und bei dieser Vorstellung lief Rauric ein Schauer über den Rücken. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ein Ruderboot zu stehlen und zu versuchen, das Festland zu erreichen, aber selbst das hätte ihn nicht gerettet. Wenn der Kapitän es auf jemanden abgesehen hatte, gab es kein Entkommen.

Denn der Kapitän bekam immer, was er wollte– außer vielleicht heute Nacht.

Rauric hatte einen dicken Kloß im Hals, als er all seinen Mut zusammennahm und an die Tür der Kapitänskajüte klopfte. Kaum hatte sein zitternder Finger das Holz berührt, befahl ihm eine heisere, mürrische Stimme einzutreten. Der Matrose war so klug, sofort zu gehorchen.

In der Kajüte herrschte eine düstere Atmosphäre. Draußen schien die Sonne, aber hier drinnen verdeckten Fensterläden und schwere Vorhänge die Bullaugen. Vereinzelte Kerzen flackerten in der Dunkelheit. Ein durchdringender Geruch hing in der Luft, eine Mischung aus Weihrauch, Schimmel und Moder. Krampfhaft versuchte Rauric, nicht zu den Pergamenten und aufgeschlagenen Büchern hinüberzusehen, die überall auf Tischen, Stühlen und Schreibpulten lagen. Der Kapitän hasste es, wenn man sich ohne Aufforderung für seine Studien interessierte. Außerdem fürchtete Rauric, die rätselhaften Symbole und Schriftzeichen könnten ihn mit einem Fluch belegen– sie sahen ihm ganz nach schwarzer Magie aus. So betrachtete er seine Schuhspitzen, als wären sie das Faszinierendste von der Welt. Direkt vor seinen Füßen prangte ein dunkler Fleck auf dem Boden, bei dessen Anblick ihn ein Schauer überlief. Das Blut der beiden Meuterer von letzter Nacht war offenbar nicht richtig weggewischt worden. Der Matrose, den der Kapitän mit dieser Aufgabe betraut hatte, musste es eilig gehabt haben, die Kajüte wieder zu verlassen.

»Also?«, fragte der Kapitän schneidend. »Ich warte!«

Plötzlich stand er direkt hinter Rauric, obwohl er vorher nirgends zu sehen gewesen war. Nur mit großer Mühe unterdrückte der Matrose einen Aufschrei. Zum Glück gewann er die Fassung schnell genug zurück, um seinen Gebieter nicht zu verärgern. Schließlich war er nicht lebensmüde…

»Herr, wir haben nichts gefunden«, stammelte er hastig. »Wir haben die Unglücksstelle sorgfältig abgesucht und sind auch der Strömung gefolgt, aber wir sind auf keine einzige Leiche gestoßen. Die Männer glauben, dass niemand überlebt hat.«

»Die Männer?«, schnappte der Kapitän. »Ach ja? Glauben diese Armleuchter etwa, sie wüssten besser als ich, ob sich die Suche lohnt? Gehörst du vielleicht auch zu diesen verkannten Genies? Willst du womöglich meinen Platz einnehmen?«

»Nein, Herr!«, beteuerte Rauric.

Er hätte Vater und Mutter verleugnet, um nur ein paar Dezillen weiterzuleben. Glücklicherweise schien der Kapitän das Interesse an dem Thema verloren zu haben. Mit nachdenklicher Miene lief er in der Kajüte auf und ab.

»Glaub mir, sie haben überlebt«, sagte er. »Vielleicht nicht alle und vielleicht nicht unverletzt, aber sie sind irgendwo da draußen. Ich muss sie nur finden. Ich muss sie finden, damit ich sie…«

Er beendete den Satz nicht, sondern blieb vor einem Bullauge stehen und zog den Vorhang mit einem Ruck zur Seite. Dann löste er einen Haken und stieß den Fensterladen weit auf. Grelles Morgenlicht durchflutete das Zimmer und blendete Rauric für einen Moment. Als sich seine Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, wie der Kapitän zum Horizont starrte– genauer gesagt, zu einer Insel. Einer kleinen Anhäufung von Felsen im Meer, der sie während ihrer Suche immer näher gekommen waren.

»Da ist sie ja«, murmelte der Kapitän.

Rauric gab keinen Mucks von sich. Seinen Gebieter in diesem Moment zu stören, erschien ihm nicht minder gewagt, als ihn wüst zu beschimpfen. Als sich der Mann zu ihm umwandte, brach dem Matrosen der kalte Schweiß aus.

»Worauf wartest du?«, herrschte ihn der Kapitän an. »Gib meinen Befehl an den Steuermann weiter. Wir nehmen Kurs auf die Insel!«

Rauric nickte eilfertig und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. Er war überglücklich, so glimpflich davongekommen zu sein.

Der Geruch des Todes, der sich in der Kajüte an seine Kleider geheftet hatte, ging ihm bis zum Abend nicht mehr aus der Nase.

Josion kam nur wenige Dekaden nach Damián zur Welt. Viele Frauen hatten mir von den Geburtsschmerzen berichtet, vor allem Eryne, die eine ganze Nacht lang in den Wehen gelegen hatte. Doch die Niederkunft meines Sohnes war für mich ein Moment reinen Glücks. War mein Körper so sehr an Leid gewöhnt, dass mir eine Geburt nichts ausmachte? Oder spürte ich den Schmerz vor lauter Glück nicht? Halfen mir vielleicht Nolans Berührungen und tröstenden Worte? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es von allem etwas. Oder es war noch etwas ganz anderes, etwas Übernatürliches.

Josion wurde im Jal gezeugt, wie Eryne eine Generation vor ihm oder Nol der Seltsame zur Zeit der Etheker. Das macht ihn zu etwas Besonderem. Außerdem ist er der Letzte, der an diesem wundersamen Ort gezeugt wurde, denn kurz danach hörte das Jal auf zu existieren. Und schließlich war ich noch Jungfrau, als ich mich seinem Vater hingab. Es ist allgemein bekannt, wie wichtig Reinheit für die Religionen ist. Bei allem, was wir über die Herkunft der Götter wissen, bin ich überzeugt, dass Josion einen göttlichen Funken in sich trägt. Vermutlich war es also seine unsterbliche Macht, die mir seine Ankunft in dieser Welt erleichterte.

Mein erster Blick auf meinen Sohn bestärkte diese Überzeugung noch. Er war von atemberaubender Schönheit– und ist es immer noch. Er vereinte in sich das Beste beider Eltern und noch viel mehr. In seinen Augen funkelte ein außergewöhnlicher Glanz. Während der langen Monde meiner Schwangerschaft hatte ich mir meinen Sohn als starken und anmutigen Jungen vorgestellt. Die Wirklichkeit übertraf all meine Erwartungen. Für mich gab es keinen Zweifel: Josion war viel mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher. Er war ein höheres Wesen, ein Wandler zwischen den Welten.

Wohlweislich behielt ich meine Überzeugung für mich. Selbst Nolan sagte ich nichts davon, dabei ist er der wunderbarste Ehemann, den man sich wünschen kann. Doch er und seine Freunde waren überzeugt, dass die Götter nicht mehr existierten. Soweit wir wussten, waren die Unsterblichen zusammen mit dem Jal untergegangen, und mit ihnen waren auch die Magie und alle anderen übernatürlichen Kräfte aus der Welt verschwunden. Seitdem sind die Menschen scheinbar nur noch den Gesetzen der Zeit und der Natur unterworfen. Mit der Behauptung, für meinen neugeborenen Sohn gelte all dies nicht, hätte ich mich lächerlich gemacht. Die anderen hätten meine Worte als die Eitelkeit einer jungen Mutter abgetan.

Es mag sein, dass Eitelkeit eine Rolle spielt, schließlich trug ich selbst zum Anbruch des neuen Zeitalters bei, indem ich das Jal verleugnete, so wie Eurydis es uns befohlen hatte. Trotzdem spürte ich, dass Josions Geist sehr viel stärker war als der Geist gewöhnlicher Sterblicher. In all den Jahren, die ich an Zuïas Seite verbracht hatte, lernte ich, die Aura der Unsterblichen zu erkennen. Und mein Sohn strahlt diese Aura seit dem Tag seiner Geburt aus– auch wenn das eigentlich unmöglich war.

Damals empfand ich eine Mischung aus Stolz und Furcht. O ja, Josion würde stark sein. Als Kind der alten wie der neuen Zeit war mein Sohn eine Verbindung zwischen beiden Welten. Er war der letzte Nachfahre des Dara, und der erste, der nicht nach den Gesetzen der Entsinnung heranwuchs. Josion würde niemals ein echter Gott werden, auch wenn er den Keim dazu in sich barg. Er trägt die Vergangenheit der Menschen in sich, aber auch ihre Zukunft. Meiner Meinung nach steht er für alles, wofür Generationen von Erben gekämpft haben.

So erschien es mir nur folgerichtig, ihm das Geheimnis der Erben anzuvertrauen. Josion würde sein Hüter sein, so wie Nol der Seltsame einst das Geheimnis des Jal bewahrt hatte. Zumindest hoffte ich das.

Die Vorbereitung meines Sohns auf die Aufgaben, die vor ihm lagen, wurde für mich zu einer heiligen Mission. Es war zudem eine willkommene Gelegenheit, meinen Freunden Dank zu zollen– jenen Menschen, die mich aus den Klauen der Dämonin befreit und mir die Freiheit geschenkt hatten. Ohne sie hätte ich nie erfahren, was Liebe und Glück sind und was es bedeutet, eine Familie zu haben. Ich wollte meinem Sohn dabei helfen, seine Persönlichkeit zu entfalten und seine Fähigkeiten zu vervollkommnen– als lebender Beweis dafür, dass die Ziele unseres Kampfs richtig und gerecht waren.

Es waren glückliche Jahre. Durch immer neue Spiele brachte ich meinen Sohn dazu, seinen Körper zu stählen. Gleichzeitig erzählte ich ihm unsere Geschichte, anfangs nur in groben Zügen, später in allen Einzelheiten. Ich ließ nichts aus, denn ich wollte auf keinen Fall, dass er wie ich mit einer Lüge aufwächst. Für mich war es ein Liebesbeweis, ihm die ungeschminkte Wahrheit zu sagen, so grausam sie auch war.

Mein Mann stand all dem skeptisch gegenüber: Er hielt es für keine gute Idee, unseren Sohn in alles einzuweihen. Doch da er keine triftigen Argumente hatte, um mich von meinem Vorhaben abzubringen, ließ er mich gewähren. Vermutlich empfand er es ebenfalls als Erleichterung, seinen Sohn nicht ständig belügen zu müssen. So nahm das Leben seinen Lauf. Tag um Tag verging, und wir lebten friedlich abseits der Welt in unserem Hort, der Burg der Familie de Kercyan.

Als Josion jedoch vom Kind zum Mann wurde, zogen düstere Wolken am Himmel auf. Unser Zusammenleben wurde von Mond zu Mond schwieriger. Leider bemerkte ich es erst zu spät, doch irgendwann musste ich den Tatsachen ins Auge sehen: Ich hatte aus meinem Sohn einen wortkargen Einzelgänger gemacht, der verstörend selten lächelte. Indem ich Josion wie ein außergewöhnliches Wesen behandelte, hatte ich ihm seine kindliche Unbeschwertheit genommen. Schlimmer noch: Ich raubte ihm jede Möglichkeit, eines Tages glücklich zu sein.

Es kam, wie es kommen musste. Nach einem letzten heftigen Streit verließ er die Burg ohne ein Abschiedswort, ohne einen Blick zurück. Das ist jetzt vier Jahre her. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Nur manchmal berichtet mir mein Mann etwas über sein Leben. Nolan besucht Josion regelmäßig in Lorelia. Ich selbst bin außerstande, meinem Sohn gegenüberzutreten. Meine Reue ist zu groß.

So war es bis vor ein paar Tagen.

Doch leider stellte sich heraus, dass ich Recht gehabt hatte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, meinen Sohn auf den Kampf gegen die Geister der Vergangenheit vorzubereiten. Ich bedaure nur, dass es auf Kosten seiner Liebe zu mir geschah. Vielleicht bin ich über das Ziel hinausgeschossen, aber man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Der seelische Schmerz, der Josions Kindheit bestimmt hat, hilft ihm vielleicht heute dabei zu überleben.

Das ist mein größter Wunsch. Mein eigenes Schicksal ist mir gleichgültig. Da mir das Glück offenbar versagt ist, beginnt für mich nun die Zeit der Trauer. Ich werde sie nach Art der Züu begehen: Ich werde mein blutrotes Gewand anlegen, und all jene, die sich mir in den Weg stellen, werden meine Wut zu spüren bekommen.

Ich werde meine Trauer im Blut meiner Feinde ertränken.

Erstes Buch

Die Steinpyramide

Guederic war schon eine ganze Weile wach, traute sich aber nicht, die Augen zu öffnen. Vielmehr wollte er es nicht. Wozu auch? Sein derzeitiges Leben und die Ereignisse der letzten Tage waren alles andere als erfreulich. Seit er die Geschichte seiner Vorfahren kannte, war er Hals über Kopf in eine Welt voller Dämonen, fanatischer Sekten und schwarzer Magie gestürzt. Eine Welt, in der die Sterblichen ein Spielball böser Mächte waren. Eine Welt, die seinen Eltern und ihm selbst nur Leid beschert hatte. Nein, er würde die Augen einfach weiter geschlossen halten und sich unter seiner Decke verkriechen. Je später er sich der Außenwelt stellen musste, umso besser. Und überhaupt, was waren schon ein paar Dezillen Schlaf gegen die Jahrtausende, die das Jal existiert hatte? Nichts! So viel wie ein einziger Atemzug in einem Menschenleben.

Doch selbst dieser kurze Aufschub war ihm nicht vergönnt.

»Guederic? Schläfst du noch?«

Hätte nicht Damián, sondern irgendjemand anders ihn angesprochen, hätte er den Störenfried mit ein paar scharfen Worten fortgeschickt. Doch er brachte es nicht übers Herz, seinen eigenen Bruder zu beschimpfen. Nicht nach den Geschehnissen der vorigen Nacht und den schrecklichen Dingen, die ihnen in den letzten Tagen widerfahren waren. Der jüngste Sohn der Familie von Kercyan fühlte sich ohnehin schon mutterseelenallein, da wollte er nicht auch noch seinen Bruder vor den Kopf stoßen.

»Schön wär’s«, knurrte er trotzdem recht unfreundlich. »Was ist denn?«

Damián ließ sich mit der Antwort Zeit. Seufzend beschloss Guederic, doch die Augen zu öffnen. Das sanfte Morgenlicht schien ihm unerträglich grell.

»Was ist denn?«, fragte er noch einmal.

Sein Bruder kniete neben ihm, das Gesicht von Müdigkeit gezeichnet. Vermutlich hatte er kein Auge zugetan, sondern die ganze Nacht über Wache gehalten. Das wäre jedenfalls typisch für den Ritter der Grauen Legion.

»Ich will draußen nach dem Rechten sehen«, murmelte Damián. »Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst.«

»Warum fragst du nicht Souanne?«

Guederic hatte nicht groß nachgedacht, die Worte waren ihm einfach so entschlüpft. Noch bevor er geendet hatte, bereute er seine Frage. Sicher, Souanne war Damiáns Untergebene und gehörte wie er der Grauen Legion an. Sicher, sie war im Umgang mit der Waffe geübt und besser als er selbst geeignet, auf eine Patrouille zu gehen, die sich als gefährlich erweisen konnte. Aber Guederic musste Damián nur kurz in die Augen sehen, um zu verstehen, dass dieser keinen Geleitschutz, sondern die Gesellschaft seines Bruders suchte.

Ganz davon abgesehen hätte niemand gewagt, Souanne zu wecken. Sie hatte fast die ganze Nacht hindurch bitterlich geweint, ohne ein Wort der Erklärung zu geben oder sich trösten zu lassen. Guederic meinte zwar zu wissen, warum sie so traurig war, aber er hatte geschwiegen. Wenn überhaupt, wollte er zuerst mit der Legionärin über die Sache reden. Aber würde er den Mut dazu aufbringen? Und welche Folgen würde ein solches Gespräch haben?

Guederic stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete Souannes schlafende Gestalt. Wie ihre Gefährten hatte sie eine Reisedecke auf dem Boden des Gemäldesaals ausgebreitet und sich darauf ausgestreckt. Nach dem nächtlichen Angriff hatten die Erben nicht das Risiko eingehen wollen, in getrennten Zimmern zu schlafen. Nur Josion hatte die Nacht in einem angrenzenden Gemach verbracht.

In dem Gemach, in das ihn seine Mutter nach dem Kampf gebracht hatte, bevor sie die Tür von innen verriegelt hatte.

»Sind sie immer noch nicht herausgekommen?«, fragte Guederic seinen Bruder.

Damián schüttelte den Kopf. Zejabels plötzliches Auftauchen auf der Burg war eine große Überraschung gewesen. Damián hatte sie sogleich mit Fragen bestürmt: Wo waren ihre Eltern? Wer waren ihre Feinde? Und warum verfolgten sie sie? Doch Zejabel hatte keine Antwort gegeben. Sichtlich erschöpft und zutiefst aufgewühlt hatte sie wortlos den Saal durchquert und dabei ihren halb bewusstlosen Sohn gestützt, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Zejabel verschwand in dem angrenzenden Zimmer, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Die Gefährten blieben verdattert zurück.

So wussten sie nicht einmal, ob Josion die Nacht überlebt hatte. Mehrmals hatten sie an die Tür geklopft und nach Zejabel und Josion gerufen, ohne eine Antwort zu erhalten. Irgendwann fragten sie sich, ob Mutter und Sohn die Burg nicht vielleicht durch einen Geheimgang verlassen hatten– eine Befürchtung, die vor allem die Barbarenprinzessin Maara ohne Scheu aussprach. Trotzdem wagte niemand, das Schloss aufzubrechen, denn schließlich war die Burg Zejabels Zuhause, auch wenn die Festung offiziell ihrem Schwiegervater Herzog Reyan de Kercyan gehörte.

Wenn Zejabel die Burg verlassen wollte, brauchte sie es jedenfalls nicht heimlich tun. So konnten die Gefährten nur abwarten, dass die Zü von allein wieder aus dem Zimmer kam.

»Na gut, ich komme mit«, sagte Guederic zu seinem Bruder. »Ein bisschen frische Luft tut mir bestimmt gut.«

Er schob seine Decke weg, richtete sich auf und verzog das Gesicht, als ihm der Schmerz in die Glieder fuhr. Sein Körper war steif von der Kälte, dem harten Boden und den Nachwirkungen des gestrigen Kampfs. Es war nur ein schwacher Trost, dass ihn der Schmerz für einen Moment seine Wunde am Oberschenkel vergessen ließen. Aber eben nur für einen Moment: Als Guederic sein verletztes Bein belastete, hätte er fast laut aufgeschrien.

Schlagartig war er hellwach, aber zum Glück ließ das Stechen im Bein gleich wieder nach. Guederic rückte seinen Verband zurecht und erklärte sich zum Abmarsch bereit. Ihm kam seine Mutter in den Sinn: Eryne hatte immer ein Händchen dafür gehabt, ihre Söhne in kürzester Zeit gesundzupflegen. Zudem hatte sie ihnen eine wundersame Neigung zur raschen Wundheilung vererbt. Mittlerweile zweifelte Guederic nicht mehr daran, dass diese Eigenschaften übernatürlich waren. Seit gestern Abend wusste er nämlich, dass Eryne de Kercyan einst auf gutem Weg gewesen war, eine Göttin zu werden. Und auch wenn sie mittlerweile nur noch eine gewöhnliche Sterbliche war, glaubte er fest daran, dass sie außergewöhnliche Fähigkeiten hatte. Wahrscheinlich empfand er unter anderem deshalb schier grenzenlose Bewunderung für seine Mutter.

Während er sich den Mantel umhängte, sah sich Guederic in dem Saal um, in dem sie sich verbarrikadiert hatten. Sein Blick schweifte über die Möbel, die sie vor den Türen aufgestapelt hatten, über die Kerzen, die die Dunkelheit vertreiben sollten, über die blutbefleckten Kleider, die sie in einer Ecke auf einen Haufen geworfen hatten, und über die Waffen, die jeder von ihnen griffbereit hatte.

Guederic zögerte kurz, bevor er sein Rapier aufhob. In der Nacht hatte er abermals den rätselhaften Drang zum Töten verspürt. Zwar hatte er ihn mit großer Mühe unterdrücken können, aber würde ihm das heute wieder gelingen? Würde er sich noch einmal beherrschen können? Wäre es nicht klüger, das Schwert nur dann zu tragen, wenn es nicht anders ging?

Sein Bruder seufzte ungeduldig, und Guederic musste rasch eine Entscheidung treffen. Wenn er unbewaffnet nach draußen ginge, würde Damián auf eine Erklärung drängen, und nach einem solchen Gespräch stand Guederic nun wirklich nicht der Sinn. Also schnallte er sich das Futteral um und folgte seinem Bruder zur nächstgelegenen Möbelbarrikade. So leise wie möglich begannen sie, die Tür freizuräumen.

»Was treibt ihr zwei da?«

Auch wenn es sich um eine Frauenstimme handelte, lag nichts Sanftes darin. Maara, die Tochter von König Ke’b’ree lu Wallos, richtete sich auf ihrem Schlaflager auf und warf ihnen einen ihrer berüchtigten finsteren Blicke zu. Gleichzeitig rüttelte sie ihren Bruder Najel wach, der neben ihr lag. Obwohl der Junge aus dem Tiefschlaf hochzuschrecken schien, fuhr seine Hand als Erstes zu dem Stock, der neben ihm lag. Als Zweites warf er einen raschen Blick auf Lorilis, die sich zum Schlafen in einem Sessel zusammengerollt hatte. Maara hingegen wandte den Blick nicht von den beiden Loreliern ab.

»Wir wollen draußen nach dem Rechten sehen«, erklärte Damián. »Eine Runde auf dem Wehrgang drehen und uns vergewissern, dass keine weiteren Feinde in Sicht sind.«

»Ich komme mit!«, rief die Kriegerin barsch.

Sie sprang auf und ergriff in derselben Bewegung ihren Schild und ihre Lowa. Guederic ertappte sich dabei, die Kraft und Anmut der jungen Frau zu bewundern. Maara war es auch, die im Kampf die meisten Gegner außer Gefecht gesetzt hatte. Ohne sie wäre alles ganz anders ausgegangen…

»Wenn du unbedingt willst«, antwortete Damián unwirsch. »Allerdings wäre es mir lieber, du bleibst hier, falls wir noch mal angegriffen werden.«

Mit einem Kopfnicken wies er auf Souannes schlafende Gestalt. Da die Legionärin die halbe Nacht durchgeweint hatte, wäre sie vielleicht nicht in der Lage, den Saal zu verteidigen. Wie Maaras genervtes Seufzen bewies, schien sie Damiáns Andeutung zu verstehen: Er übertrug ihr den Schutz der beiden Kinder, der Grauen Legionärin und die Bewachung der Tür, hinter der sich Zejabel mit Josion verschanzt hatte.

»Bleibt nicht zu lange fort«, rief Maara und reckte ihren Eisenschild in die Luft. »Wenn ihr in einer Dezime nicht zurück seid, komme ich euch holen! Und keine miesen Tricks!«

Die letzten Worte galten offenkundig Guederic, denn abgesehen von den beiden Wallatten war er der Einzige, der sie verstehen konnte. Er nickte knapp, um Maara zu beschwichtigen, räumte die letzten Möbelstücke beiseite und folgte seinem Bruder aus dem Saal.

Seltsamerweise stand ihm Maaras Bild noch eine ganze Weile vor Augen. Die Barbarenprinzessin war beim ersten Anzeichen von Gefahr aufgesprungen und hatte ihre Waffen gepackt, stolz und ohne falsche Scham. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern, und sie trug nur die nötigsten Kleider, nämlich die wenigen, die nicht mit dem Blut ihrer Feinde durchtränkt waren. Ihr Anblick weckte in Guederic Gefühle, besser gesagt, eine Leidenschaft, die er nicht unterdrücken konnte.

Das alles war umso befremdlicher, als die Kriegerin in der Nacht versucht hatte, ihn zu töten.

Weise Menschen hätten sicher gesagt, dass das eine mit dem anderen zusammenhing.

Die Luft war feucht und schneidend kalt, aber Damián tat unbefangen ein paar tiefe Atemzüge. Die Kälte belebte seinen vor Müdigkeit tauben Körper und gab ihm das Gefühl, lebendig zu sein. Nach einer Weile dämmerte ihm, was an diesem Morgen so besonders war: Es war der erste Morgen, an dem er vom Geheimnis seiner Eltern wusste. Von nun an würde nichts mehr sein wie zuvor.

»Und? In welche Richtung willst du gehen?«

Guederic blies sich in die Hände und tänzelte auf der Stelle. Mit einem Kopfnicken wies Damián nach links. Die Brüder schlenderten den Wehrgang entlang und ließen den Blick über die einsame Weite des Herzogtums Kercyan schweifen. Viel konnten sie nicht erkennen: In den Senken hingen dichte Nebelschwaden, und die Wälder, die sich bis zum Horizont erstreckten, verbargen ihre Geheimnisse unter einem geschlossenen Laubdach. Die alte Festung wirkte mehr denn je wie ein steinernes Schiff auf einem Meer aus grünen Blättern.

Die Brüder schwiegen eine Weile, jeder in seine Gedanken versunken und fasziniert von dem Ausblick, der sich ihnen bot. Die Landschaft war von atemberaubender Schönheit. Doch dann fiel Damián ein, was für eine unglückliche Kindheit und Jugend Josion in diesen Wäldern verbracht hatte. Für seinen Cousin mussten sie ein Sinnbild seiner Einsamkeit sein. Seine einzigen Spielgefährten waren die Erinnerungen seiner Eltern und die düsteren Schatten der Dämonen gewesen, gegen die sie einst gekämpft hatten.

Dieser Gedanke schaffte, was der Kälte nicht gelungen war: Damián lief ein Schauer über den Rücken. Hätten unten im Waffensaal nicht mehrere Leichen gelegen, hätte Damián geglaubt, die Ereignisse der vergangenen Nacht nur geträumt oder sich eingebildet zu haben. Doch so müde war er nicht, dass er Traum und Wirklichkeit verwechselte. Und dann waren da noch die Tagebücher seiner Vorfahren. Da er ein geübter Leser war– ein Großteil seiner Arbeit bei der Grauen Legion bestand darin, Schriftstücke zu studieren–, konnte er sie nicht missverstanden haben.

Damián hatte fast die ganze Nacht in den Tagebüchern gelesen und dabei ein Geheimnis nach dem anderen entdeckt. Am Abend zuvor hatte Josion ihnen den Inhalt zwar grob zusammengefasst, aber die Bücher selbst in der Hand zu halten, war etwas ganz anderes. Sie stammten wahrhaftig aus der Feder seiner Großmutter Corenn und seines Vaters Amanón! Es waren ihre Geschichten, ihre Abenteuer, ihr Leid, ihre Kämpfe und ihre Siege…

Von all den ungeheuerlichen Geschehnissen hatte Damián bisher nicht das Geringste geahnt. Was sollte er bloß von all dem halten? Von der Herkunft der Götter und Dämonen, von dem Schicksal der Menschheit und dem Verschwinden der Unsterblichen aus der Welt? Wie lange würde es dauern, bis Damián bereit wäre, die Bürde dieses Geheimnisses zu tragen? Sicher ein ganzes Leben lang. Und all dieses Wissen war innerhalb weniger Dekanten über ihn hereingebrochen. Er fühlte sich von der Wahrheit wie betäubt, wie vor den Kopf geschlagen.

Immer wenn er sich an eine bestimmte Stelle in den Tagebüchern erinnerte, erschauderte er. Als Guederic plötzlich zu sprechen begann, zuckte Damián heftig zusammen. Er hatte fast vergessen, dass sein Bruder neben ihm ging.

»Sieh mal, da drüben.«

Damián folgte Guederics ausgestrecktem Finger und sah etwa dreihundert Schritte von der Zugbrücke entfernt zwei Pferde durch den Wald streifen. Menschen waren weit und breit nicht in Sicht.

»Das sind unsere«, versicherte Damián. »Ich erkenne Lorilis’ Fuchs.«

Guederic nickte und zog bibbernd den Mantel fester um sich.

»Sollten wir sie nicht besser reinholen? Wo sie schon in der Nähe sind…«

Damián dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf.

»Weitere Feinde könnten uns im Wald auflauern. Und selbst wenn nicht, sollten wir als Erstes nach den Pferden unserer Angreifer suchen. Irgendwie sind sie schließlich hergekommen. Wir müssen so viel wie möglich über sie herausfinden, und das können wir nur alle zusammen machen.«

»Und was dann?«, fragte Guederic weiter. »Du weißt so gut wie ich, dass wir nicht hierbleiben können. Bald werden noch mehr Männer aufkreuzen, um nachzusehen, warum ihre Kumpane nicht zurückkehren, und die Neuen werden sicher nicht lange fackeln, sondern uns gleich die Kehle durchschneiden.«

Damián nickte ernst. Er war zu demselben Schluss gekommen. Er hatte bereits darüber nachgedacht, wohin sie sich als Nächstes wenden könnten, aber er wollte Zejabels Bericht abwarten, bevor er sich endgültig entschied. Josions Mutter wusste vielleicht etwas Entscheidendes.

Aber da war noch etwas, das Damián keine Ruhe ließ. Etwas, das ihn ganz persönlich betraf. Er seufzte tief, zögerte noch einen Augenblick und gab sich dann einen Ruck.

»Sie wollten mich nicht töten«, sagte er unvermittelt.

»Was? Wovon redest du?«

»Von heute Nacht. Von unseren Angreifern. Sie haben mich verschont. Ich glaube, sie wollten mich lebend gefangen nehmen. Für kurze Zeit hatten mich zwei der Kerle in ihrer Gewalt, und einer sagte: ›Der da nicht. Kümmre dich um die anderen.‹ Durch ihren Wortwechsel waren sie kurz abgelenkt, so dass ich mich losreißen und weiterkämpfen konnte.«

Guederic sah ihn eindringlich an. Sein Blick war zugleich ungläubig und besorgt.

»Bist du sicher? Warum sollten sie so etwas tun? Was könnten sie von dir wollen?«

»Keine Ahnung. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Vor allem, weil sie bei dem ersten Kampf in dem Keller in Benelia wirklich alles versucht haben, um mich zu töten. Ich verstehe nicht, was sich seither geändert hat.«

Sein Bruder runzelte die Stirn. Er schlenderte ein paar Schritte an den Zinnen entlang und kehrte dann mit einer neuen Idee zurück.

»Vielleicht hielten sie dich für unseren Anführer und wollten uns einschüchtern, indem sie dich gefangen nehmen. Um uns zu zwingen, die Waffen niederzulegen.«

»Das glaube ich nicht. Anfangs waren sie uns haushoch überlegen, und nichts wies darauf hin, dass sie Gefangene machen wollten.«

»Dann solltest du vielleicht als Geisel dienen. Als eine Art Tauschmittel. Vielleicht sind ihnen Vater und die anderen ein Dorn im Auge, und jetzt versuchen sie, uns in ihre Gewalt zu bringen, um unsere Eltern zu erpressen…«

»Das passt irgendwie nicht. In diesem Fall hätten sie versucht, uns alle gefangen zu nehmen.«

»Herrje, dann weiß ich es auch nicht!«, brauste Guederic auf. »Außerdem, sei doch froh! So ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass du den nächsten Angriff überlebst.«

»Ich habe die Tagebücher gelesen«, wechselte Damián unvermittelt das Thema. »Das von Corenn und auch das von Vater.«

Guederic baute sich vor ihm auf und sah ihn stirnrunzelnd an. Damián nahm ihm seine Reizbarkeit nicht übel. Wie auch ihn quälte seinen Bruder vor allem die Frage, warum sie sich in dieser misslichen Lage befanden.

»Und?«, drängte Guederic. »Steht etwas darin, was erklären könnte, warum dich die Kerle verschont haben?«

»Nein«, sagte Damián zögernd. »Aber Vater und Großmutter erzählen von so vielen Gräueltaten, von so viel Leid…«

Er schluckte schwer. Er musste es sagen, zumindest seinem Bruder, sonst würde er noch verrückt.

»Ich habe Angst, Guederic«, gestand er leise. »Angst vor dem, was wir entdecken werden. Angst vor dem, was mit uns geschehen wird.«

Lorilis, die sich zum Schlafen in einem Sessel zusammengerollt hatte, schreckte durch einen Knall hoch und geriet kurzzeitig in Panik, bis sie begriff, dass Maara nur ihre Decke ausgeschlagen hatte. Entschuldigend hob die Kriegerin die Hand und faltete die Decke seelenruhig zusammen. Najel lugte hinter dem Rücken seiner Schwester hervor und schenkte Lorilis ein mitfühlendes Lächeln. Das Mädchen verzog unwillig das Gesicht. Es war offensichtlich, dass die Barbarenprinzessin sie und die anderen mit Absicht geweckt hatte.

Da nun an Schlaf nicht mehr zu denken war, schob Lorilis den grauen Umhang beiseite, den Souanne ihr für die Nacht geliehen hatte, und streckte die Beine aus. Im Saal war es noch kälter als am Abend zuvor. Zwei Drittel der Kerzen waren mittlerweile erloschen. Immerhin war draußen endlich die Sonne aufgegangen! Nie wieder würde Lorilis die Nacht mit gleichen Augen sehen, nach all den haarsträubenden Geschichten über ihre Eltern, die Josion erzählt hatte, nach all den Enthüllungen über die Götter und Dämonen und nachdem sie nur knapp den Angriff einer Mörderbande überlebt hatten, deren Beweggründe sie nicht kannten. Als Kind hatte Lorilis Angst im Dunkeln gehabt, und diese Furcht war jetzt zurückgekehrt.

Sie richtete sich in dem Sessel auf und ließ den Blick durch den Saal schweifen: Damián und Guederic waren fort. Man musste ihr die Sorge ansehen, denn Najel kam zu ihr herüber, noch bevor sie Gelegenheit hatte, nach dem Verbleib der Brüder zu fragen.

»Die beiden sind vor ein paar Dezillen nach draußen gegangen«, erklärte er. »Sie wollten nur eine kurze Runde drehen, um sicherzugehen, dass uns keine weitere Gefahr droht. Sie haben versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen.«

Lorilis nickte und sah dann zu der Tür hinüber, hinter der sich Zejabel mit Josion verschanzt hatte.

»Sie haben sich immer noch nicht blicken lassen«, berichtete Najel. »Maara hat gerade eben noch einmal nach ihnen gerufen. Keine Antwort.«

Lorilis nickte abermals und dankte dem Wallatten mit einem schmalen Lächeln, dabei war sie alles andere alsfroh. Das einzige Gute an den letzten Dekanten war, dass sie alle den Überfall der Mörderbande überlebt hatten. Allerdings wusste niemand, wie es um Josion stand. Nach dem Kampf war er totenbleich gewesen, so dass sie mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Jedenfalls war ihre Lage hoffnungslos– schlimmer noch, als Lorilis bei ihrer Ankunft auf der Burg befürchtet hatte. Die Mörder hatten sie beharrlich bis in den Norden Lorliens verfolgt und schienen immer den genauen Aufenthaltsort der Gefährten zu kennen. Und zu allem Überfluss standen die Kerle vermutlich auch noch im Dienst einer höheren Macht, eines Dämons oder schwarzen Magiers. Bei der Vergangenheit ihrer Eltern wäre das jedenfalls kein Wunder…

Offenbar war abermals ein Schatten über Lorilis’ Gesicht gehuscht, denn Najel warf ihr einen weiteren mitfühlenden Blick zu. Plötzlich war es ihr peinlich, ihm wie ein Häufchen Elend gegenüberzusitzen. Lorilis straffte die Schultern, erhob sich aus dem Sessel, der zwei Dekanten lang ihr Zufluchtsort gewesen war, und lief zur Lockerung ihrer steifen Glieder ein paar Schritte auf und ab.