Die Götter - Ruf der Krieger - Pierre Grimbert - E-Book

Die Götter - Ruf der Krieger E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Die neue Serie von Bestsellerautor Pierre Grimbert

Noch immer hat die Insel Ji ihr größtes Geheimnis bewahrt. Nun schicken sich die Erben der Krieger und Magier an, die Insel zu verteidigen. Eine mysteriöse Botschaft führt die jungen Kämpfer zusammen, die fortan magische Abenteuer und gefährliche Schlachten bestehen müssen, wenn sie das Rätsel um die verschwundenen Götter lösen und ihre Aufgabe als Hüter der Insel erfüllen wollen … Nach "Die Magier" und "Die Krieger" setzt Pierre Grimbert mit "Die Götter" seine Erfolgsserie fort.

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Seitenzahl: 379

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PIERRE GRIMBERT

im Wilhelm Heyne Verlag

Einst reisten Vertreter aller Nationen auf die geheimnisvolle Insel Ji. In den Tiefen der Insel, so erzählt man sich, gerieten sie in ein Felslabyrinth – und verschwanden spurlos. Jahr für Jahr treffen sich nun ihre Nachkommen am Eingang des Labyrinths, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Denn was hat es mit der Insel Ji wirklich auf sich? Als schließlich ein Nachkomme nach dem anderen grausamen Mördern zum Opfer fällt, machen sich die letzten Erben auf, um das Geheimnis von Ji zu lüften.

DIE MAGIER

Erster Roman: Gefährten des Lichts Zweiter Roman: Krieger der Dämmerung Dritter Roman: Götter der Nacht Vierter Roman: Kinder der Ewigkeit

DIE KRIEGER

Erster Roman: Das Erbe der Magier Zweiter Roman: Der Verrat der Königin Dritter Roman: Die Stimme der Ahnen Vierter Roman: Das Geheimnis der Pforte Fünfter Roman: Das Labyrinth der Götter

Die GÖTTER

Erster Roman: Der Ruf der Krieger Zweiter Roman: Das magische Zeichen

Mehr über Autor und Werk unter: www.heyne-magische-bestseller.de

Inhaltsverzeichnis

ERSTES BUCH - DIE GRAUE LEGIONZWEITES BUCH - BURG CLÉRIMONTAHNENTAFELDIE WEISEN VON JI UND IHRE ERBENKLEINES LEXIKON DER BEKANNTEN WELTCopyright

Mein Name ist Yan. Yan aus Eza. Obwohl ich bisher nichts von der Kraft und Neugier meiner Jugend eingebüßt habe, bin ich dem Kindesalter schon lange entwachsen. Vermutlich wurde ich vom Jungen zum Mann, als ich vor langer Zeit gemeinsam mit einigen Freunden und dem Mädchen, das später meine Frau werden sollte, durch die Oberen und Unteren Königreiche zog. Im Verlauf dieser Reise, die das Antlitz der Welt veränderte, sahen wir unzählige Male dem Tod ins Auge. Das alles liegt jetzt schon fast fünf Jahrzehnte zurück.

Mittlerweile bin ich einundsechzig Jahre alt. Cael, mein einziger Sohn, zählt siebenunddreißig Winter, und meine Frau Léti und ich sind längst Großeltern.

Trotzdem fällt es mir nicht schwer, mich an jene Zeit vor sechsundvierzig Jahren zu erinnern, deren Folgen – gute wie schlechte – wir noch heute spüren.

Alles begann mit einer Reihe von Morden, begangen von den Boten der Göttin Zuïa. Ein paar Menschen, darunter Léti und ihre Tante Corenn, entkamen den Mördern. Sie schlossen sich zusammen, um einander zu beschützen und herauszufinden, weshalb es die Boten Zuïas auf sie abgesehen hatten. Ich folgte Léti, und gemeinsam begaben wir uns auf eine lange, abenteuerliche Reise, auf der wir viele Kämpfe ausfechten und unzähligen Gefahren trotzen mussten. Am Ende gelang es uns, das Geheimnis von Ji, wie wir es nannten, zu lüften.

Ji ist eine kleine unbewohnte Insel vor der lorelischen Küste, eine scheinbar bedeutungslose Anhäufung von Felsen im Meer. Anderthalb Jahrhunderte zuvor hatte ein seltsamer Fremder namens Nol Würdenträger aus allen Ländern und Königreichen der bekannten Welt auf der Insel versammelt. Diese Würdenträger, welche die weisen Gesandten genannt wurden, verschwanden spurlos und blieben einige Dekaden lang verschollen. Als sie schließlich wieder heimkehrten, bewahrten sie Stillschweigen über alles, was ihnen widerfahren war, und die meisten fielen in ihrer Heimat in Ungnade.

Die Menschen, mit denen ich vor sechsundvierzig Jahren jene gefährliche Reise unternahm, waren Nachkommen der weisen Gesandten – so auch Léti und Corenn.

Auf unserer Reise erlebten wir die seltsamsten Abenteuer und entdeckten Unglaubliches: Offenbar hatte Nol die weisen Gesandten auf der Insel Ji durch eine magische Pforte geführt. Überall auf der bekannten Welt gab es weitere Pforten, die der auf Ji ähnelten, und sie alle führten zu einem seltsamen Ort, dem Jal, das aus zwei gegensätzlichen Hälften bestand: dem Dara und dem Karu. Das Reich des Lichts und die Welt der Schatten. Ein wunderschönes Tal und ein finsteres Labyrinth. Die Kinderstube der Götter und die Wiege der Dämonen.

Das Jal war nämlich nichts anderes als der Ort, an dem Götter und Dämonen entstanden. Die Unsterblichen nährten sich aus den Gedanken, Träumen und Gebeten der Sterblichen – und aus ihren Seelen, denn diese verschmolzen beim Tod eines Menschen mit einem Gott oder Dämon. So wuchsen im Dara und im Karu über Jahrhunderte hinweg Götter- und Dämonenkinder heran, bevor sie in die Welt der Sterblichen überwechselten und dort den Platz einnahmen, den die Menschen ihnen zugedacht hatten.

Die weisen Gesandten kannten nun das Geheimnis der Unsterblichen. Diese Bürde war schon schwer genug zu tragen, aber es sollte noch schlimmer kommen. Einer der weisen Gesandten, ein Hexer namens Saat, verführte ein Kind des Jal zum Bösen. So erschuf er den grausamsten Dämon, den die Welt je gesehen hatte, und nahm ihn mit in die Welt der Menschen. Und Saat war es auch, der die Boten Zuïas damit beauftragte, die Nachkommen der weisen Gesandten zu ermorden – denn eine Prophezeiung besagte, dass sein Dämon, dem er den Namen Sombre gegeben hatte, einst von einem Nachfahren der weisen Gesandten besiegt werden könnte.

Im letzten Moment gelang es uns, Saats Pläne zu durchkreuzen und zu verhindern, dass er die bekannte Welt unterjochte. Der Hexer war nahezu unsterblich, aber als sich sein Dämon von ihm abwandte, verlor er seine Unverwundbarkeit. Léti versetzte Saat schließlich den Todesstoß, indem sie ihm sein eigenes Schwert ins Herz stieß.

Nach Saats Tod lebten wir über zwanzig Jahre in Frieden. Niemand wusste, was aus Sombre geworden war, und wir hofften, nie wieder von ihm zu hören. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit uns: Eines Tages tauchte der Dämon wieder auf, und diesmal hatte er es auf unsere Kinder abgesehen.

Nach zwei Jahrzehnten der Untätigkeit brannte Sombre auf neue Eroberungen, und er hatte sich neue Verbündete gesucht, Menschen und Dämonen. Als Erstes tötete er Aliandra die Sonnige, eine Göttin aus dem Dara. Daraufhin überstürzten sich die Ereignisse. Einige Götter, darunter Nol und Eurydis, versuchten zu retten, was zu retten war, und holten uns ins Jal, damit Sombre uns nichts antun konnte. Doch sie schafften es nicht mehr, auch unsere Töchter und Söhne in Sicherheit zu bringen. Um ihre Chancen, Sombre zu besiegen, nicht noch mehr zu verringern, hinderten sie uns daran, unseren Kindern zu Hilfe zu eilen. So blieben wir Gefangene des Jal, während sich unsere Kinder auf die Suche nach uns begaben und ein ums andere Mal um ihr Leben kämpfen mussten.

Auf ihrer Reise fanden sie einiges über das Jal, die magischen Pforten und die Herkunft der Götter heraus, und schließlich schafften sie es sogar, zu uns ins Dara zu gelangen. Doch wir konnten uns nicht lange über das Wiedersehen freuen, denn Sombre führte weiter Böses im Schilde: Um sich zum Herrscher über Menschen, Götter und Dämonen aufzuschwingen, tötete er nach und nach alle Ewigen Wächter – das waren die magischen Kreaturen, die die Pforten ins Jal bewachten – und versperrte so sämtliche Durchgänge zwischen der Welt der Menschen und dem Jal. Wenn wir nicht den Rest unseres Daseins im Jal verbringen wollten, mussten wir es auf der Stelle verlassen. Uns blieb keine Zeit, unsere nächsten Schritte zu planen.

Obwohl die beiden Generationen von Erben nun wieder vereint waren, konnten wir nichts gegen Sombre ausrichten: Er hetzte uns Lemuren auf den Hals, niedere Dämonen in Affengestalt, die er sich untertan gemacht hatte. Auf der Flucht vor den Bestien tappten wir in die Falle, die Sombre uns gestellt hatte. Er lockte uns an jenen Ort, an dem er seine finsteren Pläne schmiedete: den Palast der lorelischen Königin Agénor. Und so begann der Kampf zwischen Sombre und seinem Erzfeind, jener Kampf, von dem eine Prophezeiung hundertvierzig Jahre zuvor gekündet hatte.

Unsere Körper und Seelen trugen schwere Wunden davon. Kein einziger der tapferen wallattischen Krieger, die sich uns angeschlossen hatten, überlebte diese blutige Nacht, als gäbe es beim Kampf zwischen dem grausamsten Dämon der Welt und den wenigen Sterblichen, die das Geheimnis seiner Herkunft kannten, keinen Platz für andere.

Unsere Kinder überraschten uns durch ihren Mut und ihr Geschick im Umgang mit der Waffe. Meinem Sohn Cael gelang es sogar, den Dämon in die Knie zu zwingen. Für eine Weile dachten wir, er wäre der Erzfeind aus der Prophezeiung, und der Alptraum wäre endlich vorbei. Doch das war ein Irrtum. Sombre konnte nicht mit einer Waffe besiegt, sondern musste auf andere Art getötet werden.

Dieses letzte Geheimnis enthüllte uns die Göttin Eurydis, deren Beiname »die Führende« lautete. Sie erschien uns in jenem prächtigen Ballsaal von Sombres Palast, während wir blutüberströmt und zu Tode erschöpft inmitten unserer gefallenen Kameraden standen. Der Dämon war bereits im Begriff, sich abermals zu erheben – da verkündete uns Eurydis, dass wir die einzigen lebenden Menschen seien, die beide Hälften des Jal gesehen hätten. Deshalb besäßen wir grenzenlose Macht über die Existenz dieses unwirklichen Orts. Wenn jeder von uns das Jal verleugnete, würde es sich für alle Zeiten in Nichts auflösen und sämtliche Götter und Dämonen mit ihm.

Obwohl dies die einzige Chance war, unser Leben zu retten, fiel uns die Entscheidung unendlich schwer. Eine von uns, Eryne, war nämlich im Jal gezeugt worden, und alles deutete darauf hin, dass auch sie für immer verschwinden würde, wenn wir das Jal verleugneten. Sie selbst war entschlossen, ihr Leben zu opfern, aber Amanón, ihr Geliebter, weigerte sich rundheraus, sie in den Tod zu schicken, und bedrohte uns sogar mit dem Schwert. Aus Liebe zu Eryne war er bereit, dem Dämon die Herrschaft über die Welt zu überlassen.

Erynes Bruder Nolan gelang es schließlich, ihn zur Vernunft zu bringen, und Nolan war auch der Letzte von uns, der das Jal verleugnete – so wurde er zu dem Erzfeind aus der Prophezeiung. Indem er vier einfache, aber schicksalsträchtige Wörter aussprach, tötete er Sombre, brachte das Jal zum Verschwinden und vernichtete sämtliche Götter, Dämonen und übersinnlichen Kreaturen, auch Nol und Eurydis, die uns bei unserer Suche begleitet hatten. Fortan war die Welt in der Hand der Menschen, die nichts von all dem ahnten.

Damals konnten wir nicht abschätzen, welche Folgen unser Tun haben würde. Wir waren einfach nur außer uns vor Glück, weil ein Wunder geschehen war: Anders als erwartet weilte Eryne noch immer unter uns. Wir hatten überlebt, alle von uns, und glaubten, damit endete die Geschichte.

Welch ein Irrtum.

Mit einem Mal spürte Serguel etwas Warmes und Feuchtes an seiner Hüfte. Der Hund, den er unter seinem Mantel verbarg, hatte ihn zum dritten Mal in einer knappen Dezime angepinkelt. Im Gehen rammte er dem Tier mit voller Wucht die Faust in die Flanke, um ihm richtig wehzutun. Das Winseln, das der Hund trotz zusammengebundener Schnauze von sich gab, bereitete ihm hämisches Vergnügen, und er schlug gleich noch einmal zu. Vermutlich hätte er den Hund windelweich geprügelt, wären nicht drei Säufer aus dem Wirtshaus getorkelt gekommen, an dem er soeben vorbeiging.

Um die Zecher nicht auf sich aufmerksam zu machen, senkte er den Kopf und setzte seinen Weg durch die finsteren Gassen Lorelias fort. Für Saufgelage, bei denen Wildfremde einander ewige Freundschaft schworen, nur weil sie gemeinsam ein paar Krüge Bier geleert hatten, hatte er nichts als Verachtung übrig, denn Serguel hielt sich für einen Mann mit Prinzipien, der seine Entscheidungen nicht aus einer bierseligen Laune heraus traf. Er hatte ein Ziel. Er strebte nach Höherem. Und auch wenn der Hund ihn noch zehnmal anpinkelte, würde sich daran nichts ändern. Um dem Tier zu zeigen, wer der Herr war, stieß er ihn absichtlich gegen die Hausmauer, als er um die nächste Straßenecke bog. Der Köter gab ein jämmerliches Fiepen von sich, und sein Peiniger grinste schmierig.

Der Hund gehörte einem Schmied in der Straße, in der Serguel eine schäbige Dachkammer bewohnte, und er hatte das Vieh von Anfang an gehasst. Überall hinterließ es seine Lachen und Haufen, mit Vorliebe vor der Tür, durch die Serguel mehrmals am Tag ein und aus ging. Außerdem kläffte es sich jedes Mal die Lunge aus dem Hals, wenn Serguel an ihm vorbeiging. Der Köter hatte ihm den letzten Nerv geraubt, und da es diesmal seine Aufgabe gewesen war, ein Opfertier für die Zeremonie zu besorgen, hatte er keine Dezille gezögert.

Schon vor zwei Tagen hatte er dem Hund einen Sack übergestülpt und ihm Pfoten und Schnauze zusammengebunden. Seitdem hielt Serguel ihn in dem zugigen Loch gefangen, in dem er hauste. Er gab ihm weder Wasser noch Futter. Nur wenn der Köter zu laut winselte oder mit seinen Krallen über den morschen Holzboden kratzte, schenkte er ihm etwas Aufmerksamkeit und bestrafte ihn. Außerdem setzte es Prügel, wenn das Tier wieder einmal eine Lache hinterließ. Er fragte sich, wie ein Hund, der nichts trank, so viel pinkeln konnte. Vielleicht war das Vieh krank – da war es nur gut, wenn er es von seinem Leid erlöste.

Serguel war unglaublich stolz, weil bisher keiner der Brüder seines Zirkels ein so gutes Opfertier mitgebracht hatte. Die Kaninchen und Hühner, die sie bisher für ihre Zeremonie verwendet hatten, waren schon vor geraumer Zeit langweilig geworden. In der vergangenen Dekade waren alle ganz aufgekratzt gewesen, weil sie ausnahmsweise eine Katze geopfert hatten. Aber heute Abend … Serguel würde es ihnen allen zeigen. So schnell würde ihn keiner der anderen übertrumpfen.

Da er es eilig hatte, die Bewunderung seiner Brüder zu ernten, beschleunigte er seine Schritte. Nach wenigen Dezillen erreichte er den vereinbarten Treffpunkt. Die Barbier-Enfel-Straße war eine schäbige Sackgasse, in der man nur selten einen Menschen antraf, seit das Westtor der Altstadt zugemauert worden war. Seit Jahrzehnten standen die meisten Häuser leer und verfielen zusehends. Nach einem flüchtigen Blick über die Schulter klopfte Serguel an die Tür eines der besser erhaltenen Gebäude. Acht Schläge gegen das Holz, in einem genau festgelegten Rhythmus.

Die Mitglieder seines Zirkels legten großen Wert auf geheime Losungen, Abzeichen und Rituale. Schließlich war ihr Tun von herausragender Bedeutung, auch wenn es das Verständnis der allermeisten Sterblichen überstieg. Der Meister hatte es ihnen unzählige Male eingebläut: Sie waren Auserwählte, die zu Höherem berufen waren, mussten ihr Geheimnis aber unbedingt wahren, sonst würden sie nie die nächste Daseinsstufe erreichen. Das war der Preis für die Unsterblichkeit, die den treuesten Anhängern versprochen war, und Serguel war zum Äußersten bereit, um den ersehnten Lohn zu erhalten. Eigentlich war er zu allem bereit, wenn es nur dem Zirkel diente. Im Kreise der Brüder fühlte er sich wohl, denn hier wurde ihm endlich einmal Respekt gezollt.

In der Tür öffnete sich eine kleine Holzklappe. Serguel murmelte die Parole und schob sich durch den schmalen Spalt, der sich vor ihm auftat. Kurz bevor er im Inneren des Hauses verschwand, meinte er zu sehen, wie hinter ihm ein Schatten vorbeihuschte. Doch da ihm das in letzter Zeit häufiger passierte, schenkte er dem flüchtigen Eindruck keine Beachtung, sondern konzentrierte sich ganz auf den Meister, der in einer schwarzen Kutte und mit einer Kerze in der Hand vor ihm stand. Serguel begegnete ihm fast jeden Tag. Er hieß Fidenis, aber bei den Zusammenkünften des Zirkels nannte er sich Ankmar.

»Willkommen, Bruder«, sagte Ankmar. »Was hast du uns mitgebracht?«

Wortlos öffnete Serguel den Mantel und ließ den Hund fallen. Das gefesselte Tier plumpste zu Boden und jaulte erstickt auf. Ein freudiger Ausdruck huschte über Ankmars Gesicht, bevor seine Züge zu einer lüsternen Maske erstarrten.

»Wunderbar«, flüsterte er heiser. »Das wird die beste Zeremonie aller Zeiten!« Er stellte die Kerze ab, packte den winselnden Hund an den Fesseln und hob ihn hoch. »Beeil dich«, sagte er zu Serguel. »Die anderen sind schon oben.«

Serguel nickte hastig, während der Meister die knarrende Treppe hochstieg und verschwand. Angewidert zog Serguel das uringetränkte Hemd aus und streifte sich die schwarze Kutte über. Sofort hatte er das Gefühl, von neuer Kraft, einer körperlichen und geistigen Stärke erfüllt zu werden. Er war jetzt eins mit seinen Brüdern, und falls es ihm gelingen sollte, die Lehren des Meisters Wirklichkeit werden zu lassen, würde er in einem halben Dekant eins werden mit dem Geist, zu dem sie beteten.

Mit Alastiir. Dem Allesverschlinger.

Ihn hatten sie auserwählt, er war der Gott, in den sie all ihre Hoffnungen setzten.

Um von Alastiir erhört zu werden und die nächste Daseinsstufe zu erreichen, schreckte Serguel vor nichts zurück. Und sicherlich nicht davor, einen räudigen Köter zu opfern.

Wir nahmen an, dass sich die Vernichtung des Jal und das Verschwinden der Götter und Dämonen auf die Welt der Sterblichen auswirken würden. Auch gingen wir davon aus, dass die meisten Sterblichen nichts von den Veränderungen mitbekommen würden, weil sie auf einer rein spirituellen Ebene stattfanden.

Jedoch rechneten wir nicht mit dem völligen Verschwinden der Magie.

Wie nur sehr wenige Menschen der bekannten Welt waren Létis Tante Corenn und ich in der Lage, mit unserem magischen Willen auf die vier Elemente einzuwirken, aus denen jedes Lebewesen und jeder Gegenstand besteht. So konnten wir fast alles erreichen, was wir uns vornahmen, auch wenn wir stets große Vorsicht walten lassen mussten. Zum Beispiel waren wir imstande, aus der Ferne eine Bogensehne zum Reißen zu bringen, einen Gegenstand schweben zu lassen oder sogar einen Menschen in tiefen Schlaf zu versetzen. Diese Fähigkeiten waren uns bei unseren Reisen von großem Nutzen gewesen und hatten uns oftmals das Leben gerettet. Doch mit dem Verschwinden der Götter war es auch mit unseren übersinnlichen Kräften vorbei.

Ich entdeckte den Verlust, als ich meinen Sohn kurz nach unserem Sieg über Sombre in Magie unterweisen wollte. All meine Bemühungen blieben vergeblich. Weder Corenn noch ich konnten noch auf unsere Umgebung einwirken, und das aus einem einfachen Grund: Wir sahen die Welt nicht mehr auf dieselbe Art wie vorher. Im Inneren eines Wesens oder Gegenstands nahmen wir die vier Elemente, aus denen alles besteht, nicht mehr einzeln wahr, sondern als zusammengeballten Energiekern, der sich ständig veränderte und mal heller, mal dunkler leuchtete. Sicher hätten wir irgendetwas bewirkt, wenn wir unseren magischen Willen auf diesen Energiekern gerichtet hätten, aber Corenn und ich waren nicht bereit, dieses Wagnis einzugehen. Ich wäre in der Vergangenheit schon einmal fast an der Reglosigkeit gestorben, die einen Magier trifft, wenn er sich überschätzt und seine eigenen Kräfte auf ihn zurückschlagen, und mir stand nicht der Sinn danach, mich noch einmal wie ein unvorsichtiger Zauberlehrling zu gebärden.

Ich war nicht sonderlich traurig über den Verlust der Magie. Als Junge hatte ich mich ohnehin nur bemüht, meine magischen Kräfte zu entwickeln, um Léti zu beeindrucken. Offenbar hängt die Liebe meiner Frau jedoch nicht von meinen Fähigkeiten als Magier ab, und da nach dem Sieg über Sombre Frieden in der Welt zu herrschen schien, waren meine Kräfte auch nicht weiter von Bedeutung. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich einst noch ein drittes Mal zu einem gefährlichen Abenteuer würde aufbrechen müssen.

Corenn nahm das Verschwinden ihrer Fähigkeiten ähnlich gelassen hin. Sie gewann der Sache auch etwas Gutes ab: Nun konnte niemand mehr seinen magischen Willen für böse Zwecke einsetzen, denn auch Hexer wie Saat hatten ihre Kräfte verloren und waren so machtlos wie gewöhnliche Sterbliche. Natürlich würden einige magisch Begabte versuchen, ihren Willen auf den Energiekern zu richten, den wir wahrgenommen hatten, aber es würde Jahrzehnte dauern, bis sich daraus eine neue Form der Magie entwickelt hätte – wenn das überhaupt möglich war. So war die Welt nicht nur von Göttern befreit, sondern auch von allen Menschen, die schwarze Magie betrieben, um die Macht eines Gottes oder Unsterblichkeit zu erlangen.

Neben dem magischen Willen hatte es vor dem Verschwinden des Jal noch eine weitere übersinnliche Fähigkeit gegeben: die Kraft der Erjaks. Erjaks waren Männer und Frauen, die zumeist einem der Klans aus dem Weißen Land entstammten und kraft ihrer Gedanken mit höheren Tieren sprechen konnten. Sie bewahrten ihre Fähigkeit auch nach dem Verschwinden des Jal, aber von Bowbaq und Niss weiß ich, dass sie sich seitdem doppelt so stark konzentrieren müssen. Im Laufe der Jahre stellte sich außerdem heraus, dass keines der Kinder, die nach dem Verschwinden des Jal geboren wurden, die Erjak-Gabe aufweist. So sind wohl auch die Erjaks dazu bestimmt, eines Tages auszusterben.

Die Götter Eurydis und Nol der Seltsame hatten verkündet, nach Sombres Sturz werde eine neue Zeit anbrechen: das Zeitalter von Ys, auch das Zeitalter der Harmonie genannt. Sämtliche Schriften, die von diesem Zeitalter künden, sprechen von einer verheißungsvollen Ära, in der die Menschen glücklich und in Frieden zusammenleben, einer Ära, in der es kein Leid, keine Habgier und keine Grausamkeit mehr gibt, jene Geißeln der Menschheit, die den Abgründen unserer sterblichen Seelen entstammen.

Bisher ist davon allerdings nicht viel zu merken.

Vielleicht dauert es einfach noch ein paar Jahrhunderte, bis der schöne Traum in Erfüllung geht, denn die Menschen haben sich nicht verändert: Sie sind immer noch jederzeit bereit, ihrem Nachbarn aus Selbstsucht Leid zuzufügen. Überall auf der bekannten Welt lügen, stehlen, und streiten die Menschen wie eh und je; sie verstümmeln, vergewaltigen und töten einander, als trügen sie nach dem Verschwinden der Götter nicht selbst Verantwortung für ihr Leben.

Manchmal glaube ich sogar, es geschehen mehr Gräueltaten als je zuvor. Ahnen die Menschen vielleicht, dass die Götter sie ihrem Schicksal überlassen haben? Denken sie vielleicht, keine Strafe mehr fürchten zu müssen? Ziehen sie deshalb beim nichtigsten Streit oder beim ersten unfreundlichen Wort das Schwert?

Ich und meine Gefährten haben keiner Menschenseele vom Verschwinden des Jal erzählt. Schließlich wussten die Menschen auch zuvor nicht, dass dieser Ort existierte. Wenn wir verkündet hätten, er habe sich in nichts aufgelöst, hätte man uns bestenfalls für Verrückte gehalten, schlimmstenfalls wäre die Welt im Chaos versunken.

Die Menschheit weiß also nichts von ihrer Lage, auch wenn manche etwas zu ahnen scheinen. Vor allem in den letzten Jahren breitet sich eine seltsame Unruhe aus, wie bei Schafen, die instinktiv spüren, dass sich ein Rudel Wölfe nähert. Das sichtbarste Zeichen dieser Unruhe ist die Tatsache, dass immer mehr religiöse Geheimbünde gegründet werden.

Für uns, die Erben von Ji, ist das ein böses Omen.

Der Abend war ein voller Erfolg. Auch wenn Serguel die nächste Daseinsstufe noch nicht erreicht hatte, platzte er fast vor Stolz. Die fünf Mitglieder seines Zirkels, einschließlich des Meisters, hatten ihn in den höchsten Tönen gelobt, weil er den Hund als Opfergabe mitgebracht hatte. Bevor sie mit der eigentlichen Zeremonie begannen, entzündeten sie ein paar Kerzen und Lampen mit ätherischen Ölen, verbrannten Weihrauch und rezitierten Verse aus einem Buch, dessen Einband aus Menschenhaut gefertigt war.

Den Hund banden sie mit einem Strick so straff an einen Deckenbalken, dass seine Pfoten gerade noch den Boden berührten. Sie nahmen ihm die Fesseln ab, außer der um das Maul, damit er sie nicht durch Kläffen verriet. Dann ließ der Meister flüssiges Wachs auf das Tier tropfen und brachte auf seinem Fell das Symbol des Allesverschlingers an. Der immer inbrünstigere Singsang seiner Brüder, die Weihrauchschwaden und der rituelle Schnaps, der ihm in der Kehle brannte, versetzten Serguel in einen Rausch, in dem sich sein Geist tatsächlich zu ungeahnten Höhen aufzuschwingen schien. Selbst dass der Köter mit eingeklemmtem Schwanz immer wieder ein paar Tropfen Urin verspritzte, ärgerte ihn nun nicht mehr. Noch nie hatte er sich so gut gefühlt. Er war ein Auserwählter, allen Unwissenden und Ungläubigen überlegen. Als der Meister endlich verkündete, die glühenden Kohlen seien nun heiß genug, jagte ihm ein Schauer durch den Körper, denn jetzt kam der Höhepunkt der Zeremonie, der Moment, an dem sie mit ihrem Gott in Verbindung treten würden.

Auf ein Zeichen des Meisters hin legte die einzige anwesende Frau ihre Kleider ab. Unter anderen Umständen hätte Serguel ihren nackten Körper alles andere als schön gefunden, doch in diesem Augenblick spielte das keine Rolle. Das Einzige, was zählte, waren ihre Hingabe und ihre Entschlossenheit, einem höheren Zweck zu dienen. Ohne sie konnte die Zeremonie nicht stattfinden. Es war wirklich ein Jammer, dass es so schwierig war, Frauen zu finden, die bereit waren, ihrem Zirkel beizutreten. Sämtliche Brüder waren ständig auf der Suche nach neuen weiblichen Mitgliedern, aber sobald diese erfuhren, was von ihnen erwartet wurde, ergriffen sie die Flucht. Für diese armseligen Weiber, die nicht nach Höherem strebten, hatte Serguel nur Verachtung übrig. Vermutlich gefiel ihnen ihr erbärmliches Leben. Anders konnte sich Serguel ihr Verhalten jedenfalls nicht erklären.

Der Meister überreichte seiner Schülerin eine Eisenschale voll glühender Kohlen, und Serguel hob den Hund hoch. Die Frau stellte die Schale auf dem Boden ab, trat einen Schritt zurück und kniete nieder, während Serguel das am ganzen Leib zitternde Tier auf die Glut herabließ und den Knoten des Stricks enger zog. Wimmernd tänzelte der Köter auf den glühenden Kohlen herum. Von der Eisenschale herunterspringen konnte er nicht, ohne sich zu strangulieren. Die Zeremonie würde sich also eine ganze Weile hinziehen. Hoffentlich einen Dekant oder länger, dachte Serguel. Lüstern starrte er auf die nackte Frau hinab, die immer noch vor der Schale kniete.

Der Meister schürzte seine schwarze Kutte, murmelte ein letztes Gebet und schickte sich an, von hinten in sie einzudringen. Nach ihm würden die anderen an die Reihe kommen, bis sie alle mit Alastiirs Geist in Verbindung getreten wären. Weil Serguel das Opfertier mitgebracht hatte, war er als Zweiter an der Reihe. O ja, die Zeremonie war wahrlich ein voller Erfolg. Sie hätte nicht besser laufen können.

Bis plötzlich die Decke einstürzte.

Serguels erster Gedanke war, dass ein morscher Deckenbalken nachgegeben hatte, denn die Häuser in der Barbier-Enfel-Straße waren die reinsten Bruchbuden. Selbst Landstreicher hielten sich fern, weil sie fürchteten, bei einem Einsturz unter den Trümmern begraben zu werden. Serguel hob den Blick zur Decke, aber diese wirkte mehr oder minder unversehrt. Erst als es aufhörte, Holzsplitter, Mörtel, rostige Nägel, Mäusekot und Staubflocken zu regnen, konnte er erkennen, was geschehen war: Zwischen den Deckenbalken klaffte ein Loch, und unten stand eine Gestalt, umgeben von den verdatterten Mitgliedern des Zirkels.

In seiner Benommenheit dachte Serguel im ersten Moment, es wäre ihnen tatsächlich gelungen, ein höheres Wesen herbeizurufen. Vielleicht sogar Alastiir selbst? War ihre Zeremonie so wirkungsvoll gewesen? Hatte der Gott sie wahrhaftig erhört?

Doch als er die Gestalt näher betrachtete, wurde ihm rasch klar, dass keine höheren Mächte im Spiel waren: Der Fremde mochte zwar einen beeindruckenden Auftritt hingelegt haben, aber er trug gewöhnliche Kleider, die Serguel an die Uniform der lorelischen Miliz erinnerten. Die schwarze Maske, die sein Gesicht komplett verbarg, bestand aus grobem Stoff, und das Heben und Senken seines Brustkorbs zeugte davon, dass er wie jeder Sterbliche atmete. Vermutlich war der Fremde nur ein Vagabund, der im Dachstuhl geschlafen hatte, während der Zirkel seine Zusammenkunft abhielt.

Als der Maskierte jedoch zum Angriff überging, fragte sich Serguel, ob sie es nicht doch mit einer übersinnlichen Kreatur zu tun hatten.

Der Fremde ließ ihnen etwa drei Herzschläge Zeit. Das reichte, um sich sein Bild einzuprägen, nicht aber, um eine Waffe zu ziehen oder zu fliehen. Als er mit einer massiven Eisenstange auf die Brüder losging, war es zu spät – er schlug ohne Vorwarnung zu. Mal gebrauchte er die Eisenstange, mal die Kette, die an der Stange befestigt war. Beim Anblick des zweischneidigen Dolchs am anderen Ende der Kette erstarrte Serguel vor Entsetzen. Noch setzte der Fremde diese Waffe nicht ein, aber das konnte sich jeden Moment ändern. Serguel rührte sich nicht vom Fleck.

Die Frau hatte sich beim Einsturz der Decke in eine Ecke geflüchtet. Jetzt kauerte sie an der Wand, die Hände auf die Ohren gepresst, und stieß einen langgezogenen Schrei aus. Der Meister lag am Boden. Ihm hatte der Fremde Knie und Handgelenke zerschmettert. Ein Bruder war von der Eisenstange am Kopf getroffen worden und lag besinnungslos inmitten der Trümmer. Die beiden verbliebenen Brüder versuchten, sich gemeinsam auf den Angreifer zu stürzen, aber er bewegte sich so schnell, dass sie unbewaffnet keine Chance gegen ihn hatten. Als einer der Männer ihn packen wollte, wickelte der Maskierte ihm die Kette um den Arm und verdrehte ihm das Schultergelenk, gleichzeitig rammte er dem andern die Eisenstange ins Gesicht. Dann schleuderte er den ersten mit einem Schulterwurf zu Boden und setzte ihn mit einem Handkantenschlag gegen die Kehle außer Gefecht. Schließlich wandte er sein schwarz maskiertes Gesicht Serguel zu.

Schlagartig ging Serguel auf, dass er der Einzige war, der noch aufrecht stand. Panisch sah er sich nach einem Fluchtweg um.

Als der Fremde den Dolch hob, war es zu spät: Die Waffe sauste durch die Luft und zog die Kette wie einen Schweif hinter sich her. Serguel wähnte sich bereits verloren, als er merkte, dass der Dolch gar nicht ihn hatte treffen sollen. Die Klinge durchtrennte das Seil, das den Hund auf den glühenden Kohlen hielt. Das befreite Tier raste die Treppe hinunter und verschwand.

Serguel hatte keine Zeit, sich zu fragen, was der Fremde mit ihm anstellen würde. Der Maskierte zog ruckartig an der Kette und fing den zurückschnellenden Dolch auf, nur um ihn gleich wieder in einer Seitwärtsbewegung fortzuschleudern. Die Kette wickelte sich zweimal um Serguels Hals und nahm ihm die Luft. Bevor er auch nur blinzeln konnte, stand der Fremde hinter ihm, packte die Kette an beiden Enden und drückte Serguels linke Gesichtshälfte in die Glut. Serguel schrie auf und wehrte sich verzweifelt, doch der Maskierte hielt ihn mit eisernem Griff fest. Schließlich ließ er Gnade walten und gab ihn frei. Lange hatte das Martyrium nicht gedauert, aber Serguel würde in jedem Fall Brandnarben zurückbehalten. Der Fremde nahm Serguel die Kette ab und stieß ihn zu Boden.

Dann ergriff er zum ersten Mal das Wort. Seine Stimme bebte vor Zorn. »Eure Dämonen existieren nicht! Hört auf, sie heraufzubeschwören, oder ich bin beim nächsten Mal nicht so nachsichtig.«

Jedem der Brüder, die sich auf dem Boden krümmten, wandte er das maskierte Gesicht zu, bevor er wie ein Schatten verschwand. Als die Haustür unten zuschlug, brach Serguel in Tränen aus. Dämonen existieren nicht? Er hätte schwören können, soeben einen gesehen zu haben. Meine Enkelin weiß nichts von unseren Abenteuern, dabei ist sie so wissbegierig wie ich in ihrem Alter. Sie weiß nur, dass wir viel gereist sind, damals, als in den Oberen Königreichen ein blutiger Krieg tobte. Ihr haben wir einfach erzählt, wir seien auf der Flucht vor den Kämpfen durch die Lande gezogen.

Ganz hat sie uns die Lüge wohl nicht abgenommen – sie ist nicht auf den Kopf gefallen, und irgendwann wird der Tag kommen, an dem sie Fragen stellt, die wir nicht mit einem Lächeln und einem Schulterzucken abtun können. Wie haben sich ihre Eltern kennengelernt, wo sie doch aus verschiedenen Ländern stammten? Warum waren ihre engsten Freunde Lorelier? Was hatten sie auf ihrer Reise erlebt? Ich kann mir mühelos vorstellen, wie sie uns Löcher in den Bauch fragt. Noch bewahrt sie sich einen Rest kindlicher Unschuld, aber meine Enkelin ist zu einem selbstbewussten Mädchen herangewachsen, und bald wird ihre Neugier überhandnehmen. Dann werden mein Sohn und seine Frau vor einer schwierigen Entscheidung stehen. Entweder erfinden sie eine ausgefeilte Lügengeschichte, oder sie sagen ihrer Tochter die Wahrheit und bürden ihr ein schweres Erbe auf.

Ich weiß selbst nicht, welche Entscheidung die richtige ist. Cael machte uns damals Vorwürfe, weil wir ihm nichts gesagt hatten, aber auch er hat einsehen müssen, dass die Dinge nicht immer so einfach sind, wie sie scheinen. Wie erzählt man einem Kind, dessen Glück einem am Herzen liegt, vom Jal, von den Dämonen, von Sombre? Und wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? Es kommt einem immer zu früh vor – bis es eines Tages plötzlich zu spät ist. Jahrelang hat man seinem Kind etwas vorgemacht, und um ihm die Enttäuschung darüber zu ersparen, dass seine Eltern es angelogen haben, schweigt man weiterhin. Alles andere wäre zu schmerzhaft.

Meines Wissens hat sich bisher keiner meiner Freunde dazu durchringen können, der nächsten Generation jenes schwere Erbe aufzubürden, obwohl es um ein Geheimnis geht, das sie unmittelbar betrifft. So sind die Kinder von Eryne, Amanón, Zejabel, Nolan, Ke’b’ree, Niss und Cael ebenso ahnungslos, wie sie selbst es vor zwanzig Jahren waren. Sie glauben, wie alle anderen zu sein, dabei sind sie etwas ganz Besonderes. Sie sind vom Schicksal gezeichnet, denn durch ihre Adern fließt das Blut des Jal. Als wir ihnen das Leben schenkten, haben wir es ihnen vererbt. Es ist der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass wir Antworten auf unsere Fragen suchten. Wir verbrachten einige Zeit im Jal, sowohl in den Gärten des Dara als auch in der Unterwelt des Karu, wobei uns die rätselhafte Magie jenes Orts beeinflusste. Durch den Aufenthalt im Jal verlängerte sich unsere Lebensdauer, zugleich verringerte sich jedoch unsere Fruchtbarkeit: Die meisten von uns haben nur ein einziges Kind in die Welt gesetzt. Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass unseren Söhnen und Töchtern ein ungewöhnlich langes Leben beschert ist. Sie werden sich bis ins hohe Alter eine sichere Hand und einen festen Stand bewahren – so wie Grigán mit seinen achtundachtzig Jahren.

Vor allem hoffen wir aber, dass unsere Vergangenheit sie nicht einholen wird.

Eigentlich müssten wir uns keine Sorgen machen. All unsere Feinde sind tot: Saat, Aleb, Gors der Zimperliche, Zamerine, Königin Agénor und selbst Sombre, der von allen der Mächtigste war. Der Erzfeind hat Sombre bezwungen, und die Prophezeiung hat sich erfüllt. Ein neues Zeitalter ist angebrochen. Ein Zeitalter ohne düstere Offenbarungen vom Weltuntergang. Ein Zeitalter, in dem die Zukunft noch nicht geschrieben ist.

Doch das bedeutet auch: ein Zeitalter, in dem alles geschehen kann, selbst das Unfassbare.

Lange Zeit lebten wir in Ruhe und Frieden, doch irgendwann kamen uns Zweifel. Amanón, der stets wachsam geblieben ist, schrieb uns, er mache sich Sorgen – ernsthafte Sorgen. In seinem Brief steht, wir sollten uns bereithalten.

Nur zu gern würde ich glauben, dass er sich irrt, aber Amanón ist niemand, der überstürzt handelt. Außerdem gibt es Anzeichen, Ereignisse, über die wir uns gegenseitig auf dem Laufenden gehalten haben und die sich, als wir die Mosaikteile erst einmal zusammengefügt hatten, zu einem schrecklichen Verdacht verdichteten.

Ein neues Zeitalter mag begonnen haben, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Geschichte eine Wiederkehr des Immergleichen ist.

Jeder Tod kündet von einer neuen Geburt.

ERSTES BUCH

DIE GRAUE LEGION

Damián stieg die fünf Stockwerke zu seinem Arbeitszimmer empor, ohne stehen zu bleiben. Dank seiner dreiundzwanzig Jahre und seiner hervorragenden körperlichen Verfassung kostete ihn das Treppensteigen keine Mühe. Zudem herrschte kurz vor dem Mit-Tag auf den Fluren und Treppen des Hauptquartiers der Grauen Legion ein ständiges Kommen und Gehen, und er wollte nicht von einem Kameraden angesprochen werden, dem gerade nach einem Plausch zumute war. Auch im obersten Stockwerk, in dem die ranghöchsten Legionäre untergebracht waren, verlangsamte er seine Schritte nicht. Der Mann, der auf dem Treppenabsatz Wache hielt, salutierte.

»Für Euch wurden zwei Berichte abgegeben, Ritter. Sie liegen auf Eurem Schreibtisch.«

Damián dankte dem Mann mit einem knappen Nicken und ging rasch weiter zu seinem Arbeitszimmer. Erst vor knapp zwei Monden war er in einen höheren Rang erhoben worden und hatte sich noch nicht daran gewöhnt, »Ritter« genannt zu werden. In Lorelia gab es nur elf Männer und Frauen dieses Dienstgrads, und in der gesamten Grauen Legion waren es nicht mehr als achtzig. Damián war von allen der Jüngste, und die Angelegenheiten, um die er sich zu kümmern hatte, waren keine, die man für gewöhnlich Anfängern anvertraute. Er konnte stolz sein auf seine Laufbahn.

Noch glücklicher wäre er allerdings gewesen, wenn man sich nicht erzählt hätte, sein Vater halte die Hand über ihn und er sei nur deshalb so erfolgreich.

Es war nicht immer ganz einfach, den Namen von Kercyan zu tragen. Als Erynes und Amanóns Sohn und Reyans Enkel würde Damián eines Tages die Herzogswürde erben, und das rief Neider auf den Plan. Auch die Theaterstücke aus der Feder seines Großvaters Rey, in denen dieser hemmungslos über die lorelischen Edelleute herzog, waren seinem Ruf nicht gerade zuträglich, waren doch fast alle ranghohen Legionäre adliger Herkunft. Im Grunde wurde Damián nur von jenen Legionären geschätzt, mit denen er bereits zusammengearbeitet hatte, denn sie wussten um sein Pflichtbewusstsein, seine Ehrlichkeit und Bescheidenheit.

Doch selbst unter seinen Kameraden gab es welche, die sich das Maul zerrissen, weil sie ihn für ein Vatersöhnchen und einen Emporkömmling hielten.

Ein Wunder war das nicht, denn Damiáns Vater Amanón war niemand Geringeres als der Kommandant der Grauen Legion. Mehr noch: Nach Königin Agénors Tod hatte er die Legion, die dem lorelischen Königshaus diente, komplett neu aufgebaut. Aus einer Bande von Spitzeln und Mördern, die als Mittel nur Verbrechen und Gewalt kannte, hatte er ein hoch angesehenes diplomatisches Korps gemacht. Mittlerweile dienten die Grauen Legionäre hauptsächlich als Botschafter Loreliens und führten in dieser Eigenschaft Verhandlungen mit anderen Ländern und Königreichen. Morde, Entführungen, Folterungen, Rachefeldzüge und Intrigen gehörten der Vergangenheit an. Die neuen Legionäre wachten zwar immer noch über die Sicherheit des Königreichs, bemühten sich aber bei Konflikten stets um eine friedliche Lösung. Jenseits der lorelischen Grenzen genossen die Grauen Legionäre ein so hohes Ansehen, dass sie manchmal bei Streitigkeiten anderer Länder als Schlichter herangezogen wurden. Amanón hatte hervorragende Arbeit geleistet – zumindest das wagte niemand in Abrede zu stellen.

So war es nicht immer gewesen. Amanón, der sein Brot zuvor als Übersetzer verdient hatte, war nämlich nur dank seines Schwiegervaters Reyan zum Kommandanten der Grauen Legion ernannt worden. Der Herzog hatte verhindern wollen, dass seine Tochter die lorelische Hauptstadt verließ, und deshalb seinem Schwiegersohn vorgeschlagen, sich hier eine Arbeit zu suchen. Seine Worte waren Monrand dem Ersten zu Ohren gekommen, dem neu gekrönten König, und dieser hatte sich daran erinnert, dass er seinen Thron Reyan und seinen Gefährten verdankte, die Königin Agénors Verschwörung aufgedeckt hatten. Daraufhin hatte er Amanón den Posten offiziell angeboten, und dieser hatte nach einigem Zögern angenommen.

Am Anfang hatte er es nicht leicht: Man hielt ihm seine kaulanische Herkunft vor und beschuldigte ihn, die Graue Legion für persönliche Zwecke missbrauchen zu wollen, nämlich um seine private Sammlung ethekischer Handschriften und archäologischer Fundstücke zu erweitern. Doch irgendwann verstummten die Zweifler und Neider. Amanón führte die Graue Legion nun schon seit über zwanzig Jahren mit straffer Hand, und wer es wagte, ihn öffentlich schlechtzumachen, blamierte sich nur selbst.

Das Dumme daran war nur, dass sein Sohn umso mehr als Günstling galt. Dabei hatte sich Damián seinen Vater zum Vorbild genommen. Er hatte Literatur, Fremdsprachen und Rhetorik studiert, war ein hervorragender Reiter und Bogenschütze, und sein Großvater Grigán, ein erfahrener Krieger, hatte ihn im Umgang mit dem Schwert unterwiesen. Als Damián in die Legion eingetreten war, hatte er ganz unten angefangen und sich mühsam hochgearbeitet. Er hatte jede noch so unliebsame Aufgabe erledigt, jeden Wachdienst übernommen, bei Tag und Nacht, und hatte sich für Aufträge gemeldet, die sonst niemand haben wollte. Nach und nach hatten sich seine Bemühungen ausgezahlt. Um in den Rang eines Ritters erhoben zu werden, hatte er eine schriftliche Prüfung bestehen müssen, bei der er sich gegen sieben andere Kandidaten durchgesetzt hatte. Deshalb war Damián überzeugt davon, sich seinen Titel verdient zu haben, und er ertrug es nicht, wenn jemand ihm das Gegenteil unterstellte.

Trotzdem kamen ihm manchmal selbst Zweifel. Hatte sein Vater nicht vielleicht doch ein gutes Wort für ihn eingelegt?

Er schüttelte den Kopf, um die ärgerlichen Gedanken zu verscheuchen, und öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Der Raum war klein, aber ordentlich und zweckmäßig eingerichtet, genauso, wie es ihm gefiel. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte Amanón einen leerstehenden Palast mitten in der Hauptstadt, in dem einst der königliche Handelskommissar residiert hatte, zum Hauptquartier der Grauen Legion gemacht. Nun gingen alle ranghohen Legionäre ihrer Arbeit unter einem Dach nach, wodurch die Zusammenarbeit wesentlich reibungsloser ablief. Von seinem Arbeitszimmer im fünften Stock hatte Damián einen herrlichen Blick über den Platz der Reiter. Nur selten hatte er jedoch die Muße, am Fenster zu stehen und hinauszuschauen: Es gab viel zu tun.

Zu seinen Pflichten gehörte die Beobachtung der neu gegründeten Sekten und religiösen Kulte. Im Königreich Lorelien herrschte seit jeher Religionsfreiheit, aber seit einigen Jahren gab es Auswüchse, wie man sie bisher eher aus der Heiligen Stadt Ith kannte: Es kam zu Selbstverstümmelungen, Tieropfern, Selbstmorden und rituellen Morden. Amanón höchstpersönlich hatte ihn damit beauftragt, die Vorfälle zu überprüfen und ihm über jeden einzelnen Bericht zu erstatten. Zu den schlimmsten Vorkommnissen führte Damián dann eine Untersuchung durch, um die Täter vor Gericht zu bringen. Es war nicht Aufgabe der Grauen Legion, in den Straßen Lorelias zu patrouillieren, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und auch nicht, anstelle eines Richters Recht zu sprechen. Damián befolgte die neuen Grundsätze der Legion gewissenhaft: Nach jedem Vorfall suchte er als Erstes das Gespräch mit den Sektenanhängern, um sie davon zu überzeugen, ihre religiöse Hingabe mit weniger extremen Mitteln zu bekunden. In letzter Zeit war er jedoch immer häufiger gezwungen, sich die Spuren ihrer mörderischen Exzesse anzusehen.

Gerade eben hatte er im Osten der Stadt den Schauplatz eines grausamen Mordes besichtigt. Unbekannte Täter hatten einem Mann einen Strick um den Hals gelegt und ihn von einer Brücke gestoßen. Seit Damián mit der Beobachtung der Sekten betraut worden war, war es das dritte Opfer, das auf diese Weise ums Leben gekommen war. Bisher hatte er nur wenig über die Täter herausfinden können: Sie schienen ihre Opfer nach dem Zufallsprinzip auszuwählen und sie im Namen eines Gottes zu erhängen, der vermutlich ihnen allein bekannt war. Diesmal hatten sie ihr Opfer allerdings zuvor gefoltert, denn der Erhängte wies auf einer Gesichtshälfte Verbrennungen auf. Außerdem roch er nach Hundepisse, aber Damián hatte keine Ahnung, ob das mit dem Mord zusammenhing. Wahrscheinlich war der Mann ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Jetzt musste Damián einen Bericht über den Vorfall verfassen. Er beschloss, zuvor die Schriftstücke zu lesen, die auf seinem Schreibtisch auf ihn warteten. Es handelte sich um Berichte seiner Untergebenen. Falls sie etwas mit seinem Fall zu tun hatten, würde das vielleicht ein neues Licht auf die Sache werfen. Er vertiefte sich in den ersten Bericht, obwohl recht schnell klar war, dass er nichts mit dem Vorfall auf der Brücke zu tun hatte. Gerade las er die letzten Zeilen des zweiten Schriftstücks, als es an der Tür klopfte.

»Ritter?«, fragte der Wachsoldat. »Ich habe hier einen, äh … Gefangenen für Euch.«

Damián seufzte schwer. Allein an der Art, wie der Wachmann das Wort »Gefangener« betont hatte, erkannte er, worum es ging. Er straffte die Schultern und räusperte sich, bevor er mit fester Stimme sagte: »Herein mit ihm.«

Der Legionär öffnete die Tür und führte einen Mann in Handschellen in das Arbeitszimmer. Er grüßte seinen Vorgesetzten mit einem knappen Nicken und ging wortlos wieder hinaus. Beide befanden sich nicht zum ersten Mal in dieser Situation, weshalb jede Erklärung überflüssig war. Als Damián mit dem Gefangenen allein war, musterte er ihn abschätzig.

Der Mann war etwas jünger als Damián, und seiner Kleidung war anzusehen, dass er keine Not litt, auch wenn sie jetzt zerknittert und mit Wein- und Blutflecken besudelt war. Zweifellos handelte es sich um die Folgen einer Wirtshausschlägerei. Der Gefangene selbst schien keine ernsthaften Blessuren davongetragen zu haben. Hinter den Fransen seines langen braunen Haars grinste er spöttisch in sich hinein. Obwohl er mit Handschellen gefesselt in einem Arbeitszimmer der Grauen Legion stand, gebärdete er sich immer noch wie ein Draufgänger, dem niemand Vorschriften zu machen hatte.

Eigentlich war es weder Damiáns Aufgabe noch die der Grauen Legion, sich um Säufer und Raufbolde zu kümmern, aber diesen Mann lieferten die Nachtwächter immer wieder bei Damián ab, vermutlich weil sie Scherereien fürchteten, wenn sie ihn ohne viel Federlesens in den Kerker warfen. Dabei hatte Amanón keine besondere Order ausgegeben. Vielleicht hätte er das tun sollen, denn dann hätte Damián sich nicht zwei- bis dreimal in jeder Dekade dieses hämische Grinsen ansehen müssen, das Grinsen eines Mannes, der sich weigerte, seine Lektion zu lernen.

Krampfhaft versuchte Damián, die Wut zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. Als sich das Schweigen in die Länge zog, verlor der Gefangene die Geduld.

»Lässt du mich jetzt endlich frei, oder was?«, blaffte er und hob die gefesselten Hände.

Damián war derart überrumpelt von der Unverschämtheit des Kerls, dass er seinen Zorn für einen kurzen Moment vergaß, eine Schublade aufzog und einen Schlüsselbund hervorholte. Dann ging er um seinen Schreibtisch herum zu dem Mann, dessen Grinsen immer breiter wurde.

Sie waren so unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich, dass Damián bisweilen nicht glauben konnte, dass dieser Mann sein Bruder war.

Der Junge schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das sie geflissentlich übersah. Schließlich floss auch ihr Verhalten in ihre Note ein. Angestrengt bemühte sich Lorilis um eine undurchdringliche Miene, konnte sich dem Charme des Müllerlehrlings aber nicht ganz entziehen. Nach einer Weile rief die Ratsfrau, bei der sie in die Lehre ging, die Vierzehnjährige zur Ordnung: »Lorilis! Du scheinst mir nicht ganz bei der Sache zu sein. Hörst du überhaupt zu?«

Schamesröte schoss ihr in die Wangen. Sie hatte sich so sehr darauf konzentriert, das Gehabe des Jungen zu ignorieren, dass sie fast nichts vom Vortrag des Müllermeisters mitbekommen hatte.

»Äh … Ja, natürlich … Der Bach wird durch einen Kanal gelenkt. Verschiedene Klappen regeln die Wasserzufuhr, die Strömung bewegt das Mühlrad und dieses wiederum den Mahlstein …«

»Das weiß jeder«, fiel ihr die Ratsfrau ins Wort. »Aber kannst du uns auch sagen, wie dieser Kanal heißt? Und wie viel Getreide die Mühle in einem Dekant mahlen kann?«

»Siebenhundert Pfund!«, rief der Lehrling stolz.

Lorilis warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Offenbar reichte es ihm nicht, ihren Unterricht zu stören, er musste sie auch noch wie einen Trottel dastehen lassen. Sein selbstgefälliges Lächeln und Augenzwinkern konnte er sich sparen! Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie noch kurz vorher an ihm gefunden hatte.

»Der Kanal heißt Gerinne«, sagte sie trotzig. »Und oben am Wehr fließt das Wasser durch ein Gitter, das regelmäßig gesäubert werden muss, mindestens einmal pro Dekade. «

Der Müller und die Ratsfrau nickten, und der Unterricht ging weiter. Als Nächstes besichtigten sie die Getreidespeicher. Doch obwohl sich Lorilis fest vornahm, von nun an aufmerksamer zu sein, begann sie sich rasch wieder zu langweilen. In dieser Dekade hatten sie bereits eine Sägemühle, eine Walkmühle und eine Papiermühle besucht. Die Funktionsweise war immer dieselbe, nur die Erzeugnisse unterschieden sich. Jedenfalls hatte sie den Eindruck, mittlerweile genug über das Thema zu wissen. Warum schleppte Ratsfrau Izaelle sie nur immer weiter von Mühle zu Mühle?

Natürlich kannte Lorilis die Antwort: Es gehörte zu ihrer Ausbildung. Wenn sie Ratsfrau des Matriarchats von Kaul werden wollte, musste sie Land und Leute kennen, und daher war es unabdingbar, dass sie alles über die verschiedenen Handwerke wusste.