Die Totenbändiger - Band 12: Newfield - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 12: Newfield E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

In der Hoffnung Munition gegen Carlton zu finden, machen Gabriel, Matt, Sky und Connor sich mit den Kids auf nach Yorkshire, um Newfield unter die Lupe zu nehmen. Was verbirgt sich hinter der einsam gelegenen Farm im Norden Englands und welches schreckliche Geheimnis hütet ihr Leiter? Der 12. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Newfield

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Vorschau

Impressum

Die Totenbändiger

Band 12

Newfield

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Der Sondereinsatz zur Säuberung der West End Arkaden stellt besonders Gabriel vor einige persönliche Herausforderungen, da er beim ersten Säuberungsversuch seine Freundin Janey verlor. Dennoch meistert er den Einsatz dort und die Spuk Squad um ihn, Sky und Connor schafft es – ähnlich wie die anderen Squads – die ihnen zugewiesenen Quadranten des alten Einkaufszentrums ohne Verluste von Geistern und Wiedergängern zu reinigen. Matt trägt bei einem Sturz zwar Verletzungen davon, doch Gabriel kann sie mithilfe seiner Totenbändigerkräfte auf ein ungefährliches Maß eingrenzen.

Währenddessen nehmen sich Jules und Cam gemeinsam mit Evan, Jaz und Ella die ersten Adressen leer stehender Häusern in und um London vor in der Hoffnung, so eine Spur zu den Verstecken der Sekte zu finden. Bei den ersten beiden Adressen, die sie aufsuchen, entdecken sie jedoch nichts Verdächtiges.

Am Abend steht eine weitere Säuberungsaktion in Covington Garden an. Dort hat sich mittlerweile ein Großteil der Geister ins Haus verzogen, weil durch Missgeschicke eines Handwerkerbetriebs die Absicherung des Herrenhauses beschädigt wurde. Hinter diesen vermeintlichen Missgeschicken steckt jedoch Cornelius Carlton, der die entsprechende Firma bestochen hat, um die Arbeit der Ghost Reapers zu sabotieren.

Evan begleitet seine Freunde zur Säuberungsaktion nach Covington. Dort kann er in Anwesenheit der anderen zum ersten Mal das Blocken bei Geistern ausprobieren. Während des Trainings schwankt er zwischen Euphorie, Ehrgeiz und Frust und ist weiterhin sehr fasziniert von der Möglichkeit, dass Cam mit der Zwillingsenergie, die er in sich trägt, in der Lage sein könnte, Normalos in Totenbändiger zu verwandeln. Seiner Meinung nach sollte Cam die noch ausstehenden Rituale vollziehen und sich die Chance auf außergewöhnliche Kräfte nicht entgehen lassen. Cam selbst ist noch nicht bereit, diesbezüglich eine Entscheidung zu treffen. Er hat noch immer daran zu knabbern, dass er diesen roten Zwillingsnebel in sich trägt, ohne ihn zu spüren oder kontrollieren zu können.

Während Cam, Connor und Leslie mit Evan in Covington das Blocken von Geistern trainieren, bekommen Jules, Jaz und Ella von Gabriel und Sky ihre erste Lektion im Schattenspringen, da alle drei lernen wollen, wie sie einen Verschluckten aus so einem Geist retten können. Ella stellt sich als Versuchskaninchen zur Verfügung. Jaz schafft es, sie aus dem Schatten zu stoßen, bleibt dabei aber selbst in dem Seelenlosen stecken. Jules gelingt es, sie und sich selbst herauszuholen, und schafft das Schattenspringen damit gleich beim ersten Versuch.

Nach einigen Vorbereitungen steht für die Hunts und die Ghost Reapers nun die Fahrt nach Newfield an, um herauszufinden, was genau auf dieser Farm vor sich geht und ob sich dort etwas finden lässt, das ihnen helfen kann, Carlton und seine Sekte aufzuspüren …

Kapitel 1

 

Samstag, 5. Oktober

Früh am Morgen

 

Dunkelheit lag über der Autobahn nur unterbrochen von den Lichtern der Fahrzeuge, die vor ihnen fuhren oder ihnen entgegenkamen. Bis zum Sonnenaufgang war es noch gut eine Stunde. Rechts und links grenzten kleine Wäldchen und Felder die Autobahn von den Vororten Londons ab und hin und wieder sah man in der Ferne Häuser, in denen die ersten Lichter brannten. Nicht jeder kannte den Luxus, samstags ausschlafen zu können.

Im Wagen herrschte bis auf die Fahrgeräusche tiefe Stille. Abfahrt war um Viertel vor sechs gewesen, da sie London hinter sich lassen wollten, bevor der Samstagsverkehr einsetzte. Außerdem war geplant, sich gegen Mittag mit der Verstärkung zu treffen, die Matt und Nell organisiert hatten, und die reine Fahrzeit bis Yorkshire betrug laut Routenplaner ungefähr fünf Stunden. Sechs, wenn sie den einen oder anderen Stau und eine Frühstückspause einplanten. Außer Kaffee hatte keiner von ihnen zu so früher Stunde etwas runterbekommen, deshalb hatten Granny und Hank ihnen großzügige Proviantpakete mitgegeben.

Gabriel hatte das Steuer von Matts Kombi übernommen und genoss die Stille. Neben ihm auf dem Beifahrersitz döste Matt vor sich hin und auf der Rückbank hatten sich Cam und Jules unter einer Wolldecke aneinander gekuschelt. Nach dem Weckerklingeln um kurz nach fünf waren die beiden im Halbschlaf ins Bad gestolpert, um danach ohne viele Worte direkt ins Auto zu tapsen und dort weiterzuschlafen. Gabriel musste schmunzeln, als er bei einem kurzen Blick in den Rückspiegel ihre dunklen Silhouetten sah. Die Fraktion der begeisterten Frühaufsteher saß definitiv nicht in diesem Fahrzeug. Connor hatte sein tiefstes Mitgefühl. Der fuhr mit Sky, Ella und Jaz im Familienkombi, den sie für diesen Trip aus Platzgründen gegen ihren Polo eingetauscht hatten, und Gabriel kannte seine Schwestern. Die waren jetzt gerade garantiert nicht so herrlich still wie seine Brüder.

Angeführt wurde ihr kleiner Trupp von Nell, Leslie und Jack in einem Minibus, den Eddie ihnen den über einen seiner zahlreichen Kontakte für ihren Trip besorgt hatte. Der Bus bot Platz für zwölf Personen, falls sie in Newfield auf Leute trafen, die die Farm verlassen wollten. Nell hatte einige Recherchen zu der Farm betrieben, doch wirklich viel war über den Ort nicht herauszubekommen. Es gab zwar eine offizielle Homepage, auf der ein gewisser Reed Ambrose als Leiter die kleine Gemeinschaft vorstellte und alle Totenbändiger einlud, sich ihnen anzuschließen, besonders jetzt, da die dunkle Jahreszeit nahte und viele womöglich noch kein sicheres Zuhause hatten. Die Fotos auf der Internetseite zeigten eine geballte Ladung ländlicher Idylle: Felder im goldenen Sonnenlicht, blühende Obstbäume, üppige Gemüsebeete, dazwischen fröhlich spielende Kinder und immer wieder lachende Totenbändiger, die gemeinsam auf Hof und Feldern arbeiteten, an einem neuen Wohnhaus bauten oder an einer langen Tafel zusammen beim Essen saßen. Für Totenbändiger, die sich allein durchschlagen oder ihre Familie aufgrund von Diskriminierung mehr schlecht als recht in den sozialen Brennpunktvierteln der Großstädte durchbringen mussten, klang Newfield vermutlich wie das Paradies.

Gabriel konnte niemandem verdenken, dass er solch ein sicheres Zuhause für sich selbst oder seine Familie suchte – und dafür vielleicht auch das ein oder andere in Kauf nahm, das ihm in Newfield nicht gefiel. Er selbst hatte unfassbares Glück gehabt, dass er in dem Krankenhaus zur Welt gekommen war, in dem Sue als Klinikwächterin arbeitete. Weil sie und Phil seine Eltern geworden waren, war er in einem Umfeld aufgewachsen, in dem sich Normalos für gleiche Rechte engagierten und ihm so Möglichkeiten erkämpft hatten, von denen andere Totenbändiger nur träumen konnten. Außerdem hatten sein Dad, Granny und Thad sich immer wieder für ihn eingesetzt, sodass ihm einige seiner Eskapaden nicht zum Verhängnis geworden waren. Da seine Eltern zudem mit Eddie, Lorna und Hank befreundet waren, die mit dem Mean & Evil im Norden Londons ein Netzwerk aufgebaut hatten, in dem Totenbändiger einander halfen, standen ihm auch in dieser Gemeinschaft seit jeher alle Türen offen. Von Zugewanderten wussten sie, dass es in anderen Städten ganz anders aussah und Totenbändiger dort weit weniger gut zusammenhielten. Häufig war sich jeder selbst der Nächste und wenn man irgendwo einen Vorteil sah oder sich mühsam eine Chance erkämpft hatte, verteidigte man sie und gönnte anderen nichts.

Matt war in so einer Stadt aufgewachsen. In Manchester gab es keinen Totenbändiger wie Peter Duggan im Jugendamt, der die Totenbändiger in seiner Umgebung immer wieder anschrieb, um Familien zu finden, die bereit waren, ungewollten Totenbändigerbabys ein Zuhause zu geben. Als Matt von seinen Normalo-Eltern in der Klinik zurückgelassen worden war, hatte der Klinikwächter ihn in ein Heim gebracht, das die Stadt für Kinder wie ihn eingerichtet hatte. Dort wurden eine Handvoll Totenbändiger mehr schlecht als recht dafür bezahlt, dass sie die Kinder versorgten und ihnen beibrachten, wie sie mit ihren Kräften umzugehen hatten, ohne jemandem zu schaden. Den Älteren wurde zusätzlich lesen, schreiben und rechnen beigebracht. Für mehr fehlte das Personal. Je älter die Kinder wurden, desto mehr Pflichten mussten sie innerhalb des Heims übernehmen. Wer clever war, wurde zum Unterrichten der Jüngeren eingeteilt. Andere mussten Küchen-, Wäsche- oder Putzdienste leisten. Das Heim verlassen durfte niemand. Es war umgeben von hohen Mauern, die die Normalbevölkerung vor den Freaks schützen sollten. Das Tor nach draußen blieb für die Heimkinder verschlossen, bis sie achtzehn waren. Dann wurden sie vor die Tür gesetzt und mussten für sich selbst sorgen.

Matt sprach nicht oft von seiner Kindheit dort, aber das, was Gabriel darüber wusste, hatte ihn sein eigenes Glück noch mehr wertschätzen lassen. In Matts Heim hatte es keine Liebe und Geborgenheit gegeben. Die Totenbändiger, die sich dort um die Kinder gekümmert hatten, waren überlastet und schlecht bezahlt, während die Stadt ihnen gleichzeitig immer wieder vorhielt, wie teuer es war, Missgeburten ein Dach über dem Kopf zu bieten und sie durchzufüttern. Man erwartete Dankbarkeit, denn immerhin hätte man die Bälger auch gleich nach ihrer Geburt kostengünstig entsorgen lassen können, da es nicht unter Strafe stand, ungewollte Totenbändigerbabys zu töten. Im Heim bekamen sie eine Chance. Dafür erwartete man allerdings, dass sie Gegenleistungen erbrachten und die Kosten, die sie der Stadt verursachten, abarbeiteten. Manche Männer zahlten äußerst gut dafür, sich mit Kindern vergnügen zu können. Dass es Totenbändiger waren, gab vielen von ihnen noch zusätzlich einen Kick. Ein Spiel mit einer Gefahr, die realistisch gesehen allerdings gar nicht existierte. Denn was sollte schon passieren? Falls die Kinder ihre Kräfte einsetzen, um sich zu wehren, war das eine Bedrohung und man konnte sie straffrei töten. Das kam allerdings nur selten vor. Die meisten waren aus Angst gefügig und den Aufmüpfigen wurden vom Personal Drogen verabreicht, die sie zahm machten, bevor sie zu den Freiern geführt wurden.

Matt war kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag aus dieser Hölle weggelaufen – nach einer Nacht, in der er auf besonders ausführliche Weise seine Dankbarkeit hatte zeigen müssen. Gabriel wusste nicht, wie oft Matt solche Torturen durchgemacht hatte. Er wusste nur, dass Matts Leben nach seiner Flucht auf den Straßen von London nicht viel besser gewesen war. Auch hier hatte er seinen Körper verkauft, um sich irgendwie über Wasser zu halten und zumindest in den Nächten ein Dach über dem Kopf zu haben, die durch Vollmond oder Unheilige Zeiten besonders gefährlich gewesen waren. Doch einer der Dreckskerle, die sich dabei an ihm vergangen hatten, hatte ihn statt mit Geld mit Prügeln bezahlt und halbtot in die Gosse geworfen. Matt hatte Glück gehabt, dass Menschen ihn fanden, bevor Geister es taten, und durch das Netzwerk, das Eddie, Hank und Lorna mittlerweile auch im East End pflegten, war Matt im Mean & Evil gelandet.

Gabriel warf einen Blick hinüber zum Beifahrersitz, wo sein Freund friedlich döste.

Wenn Matt von einem Ort wie Newfield gehört hätte, als er aus dem Heim weggelaufen war, wäre er dann dorthin geflüchtet?

Gabriel war sich nicht sicher.

Als Matt zu den Rifkins gekommen war, hatte er kein besonders positives Bild von Erwachsenen gehabt. Seinen Erfahrungen nach taten sie nichts, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten, unabhängig davon, ob sie Totenbändiger oder Normalos waren. Als Lorna, Hank und Eddie ihm angeboten hatten, bei ihnen zu bleiben, hatte er sich zwar gefreut, weil es eine sichere Unterkunft bedeutete, er Essen bekam und die drei nett zu ihm und ihren anderen Kindern waren. Doch er war davon ausgegangen, dass sie dafür sexuelle Gefälligkeiten von ihm erwarteten. Genauso war er davon ausgegangen, Phil auf eine ähnliche Weise dafür bezahlen zu müssen, dass er seine Wunden versorgte und ihm half, wieder gesund zu werden. Matt hatte schlicht nichts anderes gekannt. Gabriel war sich daher nicht sicher, ob ein Ort wie Newfield – hätte es ihn damals schon gegeben – Matt wirklich gereizt hätte. Eine ganze Farm voller Erwachsener, denen man Dankbarkeit erweisen musste, weil sie ihn aufgenommen hatten – vielleicht wäre er da doch lieber allein klargekommen und hätte sich nur zu seinen Bedingungen verkauft, wenn es unbedingt nötig war, um sich für ein paar Nächte in Sicherheit bringen zu können.

Gabriel erinnerte sich noch gut daran, wie sein Dad ihm und Sky von dem neuen Jungen erzählt hatte, der schwer verletzt zu den Rifkins gebracht worden war und der dringend ein paar Freunde brauchte, die ihm zeigten, wie Familien funktionierten und dass es Erwachsene gab, die Kinder liebten und beschützten, ohne dafür sexuelle Gefälligkeiten zu verlangen. Sein Dad war davon überzeugt gewesen, dass Matt jemandem in seinem Alter eher glauben würde als Erwachsenen. Für Gabriel und Sky war sofort klar gewesen, dass sie Matt helfen würden, sich bei ihnen einzugewöhnen. Mit Nell trafen sie sich ohnehin oft und die Aussicht, mit Matt einen neuen Freund zu gewinnen, war cool. Dass der erst mal überzeugt werden musste, dass er jetzt bei Menschen wohnte, die wirklich nett waren, war für sie kein großes Ding. Auch dass Matt sich manchmal ein bisschen seltsam verhielt, schreckte sie nicht ab. Das kannten sie schließlich von Cam, der im Jahr zuvor in ihre Familie gekommen war. Auch Cam hatte Schlimmes durchgemacht und Zeit gebraucht, um sich einzugewöhnen und ihnen zu vertrauen. Er war immer noch ein bisschen anders und manchmal auch seltsam, aber das war okay. So war er eben und sie liebten ihn genauso sehr wie sie Jules und Ella liebten. Sowohl Gabriel als auch Sky waren davon überzeugt gewesen, dass es mit Matt ganz genauso laufen würde. Auch er brauchte einfach nur Zeit, bis er sie gernhaben und ihr Freund sein wollen würde.

Und sie sollten recht behalten. Matt hatte sich damals sogar erstaunlich schnell auf sein neues Familienleben eingelassen. Fast so, als hätte er die Zeit davor einfach aus seinem Leben gestrichen. Er redete schlichtweg nicht mehr darüber. Für Gabriel war das total nachvollziehbar. Wenn er an Matts Stelle gewesen wäre, hätte er über dieses furchtbare Heim und alles, was dort passiert war, auch nicht reden wollen, und er hätte es gehasst, wenn man ständig nachgebohrt hätte. Deshalb ließ er ihn damit in Ruhe und es dauerte nicht lange, bis sie so gut wie unzertrennlich geworden waren.

Seine Kindheit völlig zu verdrängen, schaffte Matt allerdings nicht, und je älter sie wurden, desto mehr schürten Ausgrenzung und Diskriminierung, die die Gesellschaft ihnen entgegenbrachte, Wut, Hass und Bitterkeit. Was Totenbändigerkinder in einem Heim wie dem in Manchester erleiden mussten, war nur möglich, weil die Normalbevölkerung Totenbändigern keine gleichen Rechte gewährte und ihnen damit nicht nur die Chance auf ein gleichberechtigtes Leben nahm, sondern sie zu Freiwild erklärte, das den Launen der Normalos schutzlos ausgeliefert war.

Gabriel seufzte beim Gedanken daran, zu welchen Eskapaden sie ihre Wut getrieben hatte. Doch Matt und er hatten sich schließlich wieder in den Griff bekommen, weil sie Menschen um sich gehabt hatten, die ihnen geholfen hatten. Aber was war mit denen, die genauso voller Wut, Hass und Bitterkeit waren und niemanden hatten, der ihnen Perspektiven zeigte und eine Chance gab? Was, wenn solche Leute nach Newfield kamen und deren Hass und Wut auf die Ungleichbehandlung dort noch zusätzlich geschürt wurden? Professor Winkler ging davon aus, dass sich damals so viele Anhänger um Kenwick geschart hatten, weil er ihnen mit der Hilfe des geminus obscurus eine Änderung des Status quo versprach. Eine Neuordnung der Gesellschaft, bei der die Totenbändiger die Machthabenden wären. Versprach dieser Reed Ambrose den Leuten in Newfield dasselbe? Standen sie deshalb genauso hinter ihm, wie die Lehrer in der Akademie und das radikale Lager ihrer Gilde zu Carlton standen?

Gabriel verzog das Gesicht.

Sie wussten nicht, was sie in Newfield erwartete. Aber selbst wenn es auf dieser Farm vielleicht nur ein oder zwei Leute gab, die nicht freiwillig dort waren oder denen die Verheißungen, die ihnen versprochen wurden, mit einem zu hohen Preis daherkamen, war es diesen Trip wert, um sie dort herauszuholen und Alternativen zu zeigen. Außerdem bestand mit solchen Leuten auch die Chance auf Insiderinformationen, mit denen sie vielleicht in der Lage wären, eine Spur zur Sekte zu finden und Carlton das Handwerk zu legen. Obwohl das mit Sicherheit nicht einfach werden würde, denn falls sie tatsächlich hieb- und stichfeste Beweise gegen ihn fanden, wie sollten sie dann weiter vorgehen? Wenn die Öffentlichkeit erfuhr, dass der charmante Totenbändiger, der in den Medien die treibende Kraft um den Stadtratssitz für seine Rasse war, in Wirklichkeit eine Sekte anführte, die mithilfe von grausamen Opferritualen die Totenbändiger zur herrschenden Rasse erheben wollte, wären die Folgen katastrophal. Sämtliches Vertrauen, das die gemäßigten Totenbändiger in den letzten Jahren so mühsam in der Normalbevölkerung aufgebaut und all die kleinen Erfolge, die man in Sachen Akzeptanz und Gleichstellung errungen hatte, wären mit einem Schlag wieder verloren. Und nicht nur das. Die Bevölkerung würde sich betrogen und hintergangen fühlen und wie sehr damit Hass, Wut und Misstrauen gegen Totenbändiger neu angefacht würden, wollte Gabriel sich gar nicht vorstellen.

Er schnaubte resigniert.

Wie sie Carlton – und seine Anhänger – unauffällig ausschalten wollten, ohne dabei zu riskieren, dass der Stand der Totenbändiger in der Gesellschaft danach schlimmer aussah als im tiefsten Mittelalter, war eine weitere ihrer Baustellen, von denen gefühlt immer schneller neue auftauchten, als dass sie welche abbauten.

Doch zumindest eine konnte er von dieser Liste streichen: die Säuberung der West End Arkaden – und das war eine riesige Erleichterung. Es war kein Highlight gewesen, gestern für einen weiteren Einsatz in die Arkaden zurückzukehren, um ihren dritten Quadranten zu säubern. Aber es war ihm leichter gefallen als die erste Rückkehr und er hatte es durchgezogen, obwohl sein Commander ihm die Teilnahme am Einsatz erneut freigestellt hatte. Gabriel hatte es jedoch schon kaum ertragen, sein Team nicht bei der Säuberung des zweiten Quadranten unterstützen zu können, weil Pratt ihn angewiesen hatte, Matt zur Untersuchung ins Krankenhaus zu begleiten. Er war nicht blöd. Ihm war klar, dass sein Commander ihm damit den weiteren Einsatz hatte ersparen wollen. Da Matt aber außer Gefahr gewesen war und Granny äußerst kompetent darin war, Leute wieder auf die Beine zu bringen, – viel kompetenter als er selbst – hatte es außer Frage gestanden, dass er am zweiten Tag der Säuberungsaktion wieder an der Seite seines Teams stehen würde.

Die Säuberung ihres dritten Quadranten war erfreulich problemlos verlaufen, was in erster Linie am Magnesiumlicht gelegen hatte, dass sie am ersten Einsatztag in allen gereinigten Bereichen verteilt hatten. Es schien die Geister, die sich in den Arkaden hauptsächlich vom Vollmondlicht ernährt hatten, enorm zu schwächen. Die Biester waren deshalb zwar wütend und schienen zum Teil noch irrer als zuvor, meistens reichten jedoch ein oder zwei Ladungen Auraglue, um sie zu eliminieren. Die Schattengeister schienen dagegen den Kräfteverlust durch das Magnesiumlicht mit dem Verschlingen ihrer Artgenossen kompensieren zu wollen, wodurch sie gleichzeitig bei der Dezimierung der Geister halfen. Einzig die Wiedergänger blieben eine größere Herausforderung. Auch sie hassten das Magnesiumlicht und viele hatte es über Nacht so rasend gemacht, dass sie die blind vor Zorn auf die Spuks stürzten, kaum dass diese die Arkaden betreten hatten. Die waren aber auf die Angriffe vorbereitet gewesen und so hatte es nur sechs Kollegen gegeben, die bei den Kämpfen Verletzungen davongetragen hatten. Keiner davon schwebte jedoch in Lebensgefahr und gegen Mittag erklärte Commander Gallagher, der Oberbefehlshaber des Einsatzes, die Säuberung der West End Arkaden für erfolgreich abgeschlossen. Insgesamt waren achtzehn Einsatzkräfte verletzt worden. Zwei davon lagen noch im Krankenhaus, würden aber in den nächsten Tagen entlassen werden. Gestorben war niemand.

Nachdem der erste Versuch vor drei Jahren mit so vielen Toten geendet hatte, hatte Gabriel den Erfolg der zweiten Säuberung mit sehr gemischten Gefühlen durchlebt. Am späten Nachmittag waren alle Beteiligten zu einer Dienstbesprechung zusammengerufen worden, auf der der Polizeichef sich persönlich für den Einsatz und das, was jeder Einzelne geleistet hatte, bedankte. Die West End Arkaden waren der erste Verlorene Ort, den die Spuks von London zurückerkämpft hatten, und das war eine Leistung, die Anerkennung und Wertschätzung verdiente. Auch die Medien feierten die Spuks und ihren Erfolg und viele von Gabriels Kollegen waren verständlicherweise euphorisch gewesen und hatten sich am Abend im McBrody’s getroffen, einem Pub, der von einem Polizistenpaar im Ruhestand geführt wurde.

Gabriel war nicht wirklich zum Feiern zumute gewesen. Natürlich freute er sich über den erfolgreichen Abschluss der Säuberungsaktion und er war erleichtert, wie glimpflich der Einsatz verlaufen war und dass keinem seiner Leute etwas Ernstes passiert war. Doch der Erfolg von heute ließ die Katastrophe von damals nur schwerer wiegen, weil damit klar war, dass sie hätte verhindert werden können, wenn man bei der Planung und Durchführung nicht so verdammt naiv gewesen wäre.

Trotzdem war Gabriel mit zur Feier gegangen. Wie von Phil angeordnet, hatte Matt den Tag im Bett verbracht, um sich vom Sturz aus dem Baumhaus zu erholen. Die Abschlussbesprechung mit dem Polizeichef hatte er sich jedoch nicht entgehen lassen wollen. Nicht, weil er unbedingt die warmen Worte hören wollte, sondern um sich noch einmal bei Commander Pratt für die Chance zu bedanken. Als selbstständige Geisterjäger gute Kontakte zur Londoner Polizei zu haben, war Silber wert. Das war auch der Grund, warum er und Gabriel nach der Dienstbesprechung noch mit den anderen ins McBrody’s gefahren waren. Nicht nur für die Ghost Reapers war das Knüpfen und Pflegen von neuen und alten Kontakten wichtig. Auch für Spuk Squads konnte es hilfreich sein. Zumal etlichen der Squads Totenbändiger angehörten und sie sich so unauffällig umhören konnten, wo es vielleicht weitere Verbündete und Helfer gegen Carlton gab. Lange waren sie allerdings nicht im Pub geblieben. Matt war noch immer ziemlich angeschlagen und da sie heute früh aus den Federn rausgemusst hatten, wäre eine lange Nacht keine gute Idee gewesen.

Gabriel seufzte und leerte seinen Kaffee. Über Langeweile konnten sie sich in letzter Zeit definitiv nicht beklagen. Statt eines Trips zum potenziellen Basislager einer gefährlichen Sekte wäre ihm ein ruhiges Wochenende in einer einsamen Hütte irgendwo an der Küste, wo ihm zwei Tage lang mal keiner auf den Sack ging, deutlich lieber gewesen.

Er warf einen Blick zum Beifahrersitz, wo Matt mittlerweile genauso fest schlief wie Jules und Cam auf der Rückbank. Die Vorstellung, das Wochenende irgendwo allein mit Matt zu verbringen, war verlockender, als sie hätte sein sollen.

Noch so eine Baustelle, um die er sich kümmern musste.

Gabriel stöhnte innerlich und richtete seinen Blick wieder auf die dunkle Straße.

Fokus!

Erst mal stand jetzt Newfield an und er hoffte wirklich, dass dieser Trip die ein oder andere Baustelle aus der Welt schaffen würde. Vorzugsweise ohne dass dabei gleich zig neue entstanden.

Kapitel 2

 

London

 

Die Uhr am Armaturenbrett zeigte kurz nach halb zehn an, als Evan den Ford in gebührendem Abstand zum Anwesen stoppte. Sehen konnte er davon noch nichts, aber laut Navi musste das Bloomsfield Country House ungefähr zweihundert Meter hinter der nächsten Biegung liegen. Er wendete den Wagen auf dem schmalen Waldweg, um im Fall der Fälle schnell von hier verschwinden zu können, und parkte zwischen zwei Büschen am Straßenrand. Zum Glück hatte er sich heute den Wagen seiner Mutter ausleihen dürfen, damit war es kein Problem, sich ein paar der Adressen am äußersten Stadtrand von London vorzunehmen. Um die nach der Schule abzuklappern, waren die meisten zu weit entfernt, wenn sie sich abends pünktlich zum Geisterjagen mit den Reapers treffen wollten, und die Chance aufs Geisterjagen würde er sich garantiert nicht entgehen lassen. Obwohl sein erstes Training mit den Biestern unglaublich frustrierend gewesen war, war der Abend in Covington gleichzeitig das Coolste, was er je erlebt hatte, und er konnte es gar nicht abwarten, dorthin zurückzukehren.

Leider war das Geistertraining am Tag zuvor ausgefallen. Die Spuks hatten nach der Säuberung der West End Arkaden noch eine Abschlussbesprechung und eine Art Siegesfeier in irgendeiner Kneipe gehabt. Damit war Covington nicht infrage gekommen, weil nur Nell und Jack sie hätten begleiten können. Das wäre in einem Haus voller Geister aber anscheinend zu gefährlich gewesen, vor allem, da sie nicht nur auf ihn als Frischling hätten aufpassen müssen, sondern auch, weil Cam seine neuen Kräfte noch nicht zuverlässig einschätzen konnte.

Als Ausgleich hatten Cam, Jules, Ella und Jaz ihm angeboten, im Wald vom Hampstead Heath auf Geisterjagd zu gehen. Im Freien war Geisterjagen ungefährlicher, da es dort leichter war, den Biestern auszuweichen, als in geschlossenen Räumen – und Cam spürte, wo sich zu viele Geister befanden, sodass sie diese Bereiche meiden konnten. Es war ein netter Ausgleich gewesen und Evan rechnete es seinen Freunden hoch an, dass sie ihm die Chance gegeben hatten, allerdings war der Abend trotzdem ein ziemlicher Reinfall gewesen.

Eigentlich hatten sie am Nachmittag zwei weitere Adressen abklappern wollen, doch genau wie das Training in Covington hatte das ausfallen müssen. Eine Nachbarin der Hunts hatte ihnen ihr Haus vermacht, weil sie jetzt in einem Pflegeheim lebte. Ein geschenktes Haus war ohne Frage eine großartige Sache, deshalb hatte die Familie den Nachmittag bei der alten Dame verbracht, um sich dafür zu bedanken, und Cam, Jules, Ella und Jaz waren erst nach der Dämmerzeit zurück zur Villa gekommen. Da waren die meisten Geister aus dem Heath aber schon verschwunden, um in belebteren Gegenden auf die Jagd nach Lebensenergie zu gehen. Die Geister, die sie im Wald noch angetroffen hatten, waren schlicht zu stark gewesen, als dass Evan mit ihnen hätte trainieren können. Als er entnervt darauf bestanden hatte, es trotzdem mit einem auszuprobieren, hatte er dem Geisternebel so gut wie nichts entgegensetzen können, als der ihn berührte. Damit war der Abend kein weiteres Training, sondern nur jede Menge Frust gewesen.