Die Totenbändiger - Band 14: Die Abstimmung - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 14: Die Abstimmung E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Sky und Connor begeben sich zu Emilia Flemming, deren Vater einst Nachforschungen zu Cyrus Kenwick anstellte, dann aber plötzlich verstarb. Besitzt seine Tochter vielleicht trotzdem noch wertvolle Informationen, die den Hunts weiterhelfen könnten? Außerdem steht der Tag der Entscheidung im Stadtrat an. Werden die Gilden für den Sitz der Totenbändiger stimmen oder lassen sie sich von den Drohungen der Death Strikers beeinflussen? Der 14. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Die Abstimmung

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Vorschau

Impressum

Die Totenbändiger

Band 14

Die Abstimmung

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Mit Professor Winklers Hilfe gelingt es den Hunts, ein Exemplar von Kenwicks Manifest an sich zu bringen. Die Aufzeichnungen bestätigen viele ihrer Vermutungen sowie Ivys Schilderungen von den Geschehnissen in der Waldhütte bei Newfield. Außerdem erfahren sie, was nach dem dritten Ritual passiert: Die Träger des geminus obscurus sind dann laut Kenwick in der Lage, die Zwillingskraft gezielt einzusetzen, um Geister unter ihre Kontrolle zu bringen. Das liefert zum einen die Erklärung dafür, warum die Schattengeister mit so viel Hass und Zorn auf Cam reagieren. Zum anderen macht diese Erkenntnis das Aufhalten von Carlton und seiner Sekte jetzt noch dringlicher, denn mit Kindern, die Geister befehligen können, könnte er bereits nach dem dritten Ritual damit beginnen, die Normalbevölkerung einzuschüchtern und zu unterjochen.

Um Carlton aufzuhalten, beschließen die Hunts und die Reapers, sich ab sofort ganz auf das Auffinden der Kinder zu konzentrieren. Wenn sie es schaffen, diese aus den Fängen der Sekte zu befreien, würden Carlton die Träger des geminus obscurus fehlen und seine Pläne der Machtübernahme würden scheitern. Außerdem wären damit nicht nur die Kinder gerettet, sondern auch zahlreiche Obdachlose, die an Samhain sonst wieder als Opfer für die Erschaffung der benötigten Geister sterben müssten.

Nach den Informationen, die sie aus Kenwicks Manifest erhalten haben, muss Cam sich Gedanken darüber machen, ob er das dritte Ritual vollziehen will. Einerseits würde es bedeuten, die fremde Macht in sich noch stärker werden zu lassen, andererseits verspricht das dritte Ritual aber auch eine bessere Kontrolle über den Zwilling. Um Cam alle Optionen offenzuhalten, sammeln seine Familie und Freunde schwache Geister in Silberboxen, die sie an Samhain kontrolliert freilassen könnten, um das Durchführen des Rituals so ungefährlich wie möglich zu gestalten, sollte Cam sich dafür entscheiden.

Während die Hunts und die Reapers die Liste der leer stehenden Häuser auf der Suche nach dem Versteck der Kinder abarbeiten und gleichzeitig Schule und Arbeitsalltag stemmen, sinnt Carlton auf Rache für den Einbruch in seine Wohnung sowie für das Einfallen der Spuks und Reapers in Newfield. Durch seine Handlanger lässt er Geister und Wiedergänger in Bereichen von Covington Garden frei, die durch die Reapers bereits gereinigt waren und somit als sicher galten. Er hofft, damit die Ghost Reapers in Verruf zu bringen und ihre berufliche Existenz zu zerstören. Durch Glück und rasches Eingreifen können Matt und Leslie den Tod eines Arbeiters gerade noch verhindern. Mithilfe ihrer Freunde und Familie vernichten sie die eingeschleusten Geister und Wiedergänger und retten ihren guten Ruf.

Trotz seiner peniblen Planung erfährt auch Carlton einen Dämpfer: zwei der verbliebenen vier Kinder, die den geminus in sich tragen, sterben überraschend beim Training, das sie auf das dritte Ritual vorbereiten soll.

Kapitel 1

 

Donnerstag, 10. Oktober

Tag der Abstimmung im Stadtrat über den Sitz für die Totenbändiger

 

Connor lenkte den Dienstwagen durch die hübsche Kastanienallee in Hammersmith. Links und rechts der Straße lagen Einfamilienhäuser im viktorianischen Stil in – für Londoner Verhältnisse – recht großen Gärten, die durch Eisenzäune geschützt waren. Viele Bewohner hatten die Zäune zusätzlich mit hohen Hecken umgeben, um für Privatsphäre in ihren Gärten zu sorgen. Zwischen den Kastanienbäumen standen Straßenlaternen im nostalgischen Gaslampenstil, bei denen Sky allerdings jede Wette einging, dass sie nachts mit Magnesiumlicht für Sicherheit sorgten. Hammersmith war zwar kein Viertel der Superreichen, aber eindeutig eine Gegend für die besserverdienende Bevölkerungsschicht, die Wert auf Platz für die Familie und nicht auf topmoderne Designerwohnungen in der City legte. Viele, die hier lebten, arbeiteten als Ärzte und Anwälte sowie im Immobilien- und Businessbereich. Für ihre Kinder hatten sie hier einige der gefragtesten Privatschulen und pädagogisch als besonders wertvoll ausgezeichneten Kindergärten der ganzen Stadt errichtet.

Emilia Flemming musste in dieser Nachbarschaft wie eine Außerirdische von einem falschen Planeten wirken. Bevor Sky und Connor sich zu ihr aufgemacht hatten, hatten sie sich ein paar Eckdaten zu ihr besorgt. Ms Flemming war achtunddreißig, Single, kinderlos und hatte ihr Haus von ihren Eltern, Oscar und Mary-Anne Flemming, geerbt. Beide waren bereits seit etlichen Jahren tot. Ihr Vater, ein Geschichtsprofessor, starb vor rund fünfundzwanzig Jahren überraschend an einem Herzinfarkt, kurz nachdem er seinen Fachkollegen mitgeteilt hatte, dass er bahnbrechende neue Informationen zu einem seiner früheren Forschungsprojekte aufgetan hatte. Ihre Mutter, ebenfalls eine Geschichtsprofessorin, erlag vor sechs Jahren einer verschleppten Grippe. Emilia war ihre einzige Tochter. Diese hatte Kunst und Kunstgeschichte studiert und eine Weile lang wie ihre Mutter an der Universität unterrichtet, bis sie vor knapp zehn Jahren mit zwei Geschäftspartnerinnen eine Galerie in Knightsbridge eröffnet hatte, in der sie wechselnde Ausstellungen veranstaltete. Jetzt gerade bereiteten sie eine Vernissage für Adriana Undala vor, einer in der Kunstwelt sehr bekannten Malerin aus Südafrika. Erst vor zwei Tagen war Ms Flemming aus Kapstadt zurückgekehrt, wo sie die letzte Woche verbracht hatte, um mit Ms Undala die endgültige Auswahl der Bilder für die Ausstellung festzulegen und deren sicheren Transport nach London zu organisieren.

»Da vorne muss es sein.« Sky wies auf eins der Häuser zu ihrer Rechten, das wie alle anderen Häuser der Nachbarschaft hinter einer hohen Hecke verschwand, doch ihr Navi hatte sie zuverlässig zur Balveston Avenue 39 geleitet.

Connor parkte den Wagen am Straßenrand und sie stiegen aus. Ein gut zwei Meter hohes silberfarbenes Tor sicherte das Grundstück und während Connor die Klingel betätigte, checkte Sky kurz ihr Handy. Heute würde sich entscheiden, ob die Gilde der Totenbändiger einen Sitz im Stadtrat bekam. Ihre Mum war als eine der Repräsentanten in der Ratshalle, wo sich die wichtigsten Vertreter aller Gilden für die Abstimmung versammelt hatten – und um die letzten Konditionen abzusprechen, denn ohne die würde es offensichtlich nicht gehen. Aber selbst wenn es vielleicht nicht sofort in allen Bereichen gleiche Rechte für Totenbändiger geben würde, wäre schon allein die Abschaffung der Todesstrafe und der Schutz vor Selbstjustiz durch Normalos ein immens wichtiger Schritt. Genauso wie die Möglichkeit, zukünftig bei Entscheidungen, die im Stadtrat gefällt wurden, mitbestimmen zu können.

Das Display ihres Handys zeigte keine neuen Nachrichten.

Eigentlich hatte Sky auch noch nicht damit gerechnet. Die Abstimmung war für zwölf Uhr angesetzt und es war erst kurz vor zehn. Sie hatte jedoch gehofft, ihre Mum hätte vielleicht schon eine erste Tendenz der Gilden, deren Entscheidungen noch in der Schwebe hingen, in Erfahrung bringen können. Bisher stand es vier zu zwei für ihren Sitz. Drei Gilden hatten sich bisher allerdings noch nicht festlegen wollen – oder sie waren nur nicht dazu bereit, in der Öffentlichkeit darüber zu diskutieren.

Connor sah, wie Sky seufzend ihr Handy wieder wegsteckte, und zog sie kurz an sich. »Hey, ich bin mir sicher, es wird gut für euch ausgehen. Jeder mit einem bisschen gesundem Menschenverstand wird zustimmen, dass es höchste Zeit wird, die Rechte für euch dem einundzwanzigsten Jahrhundert anzupassen.«

Sie zog die Nase kraus. »Schön wär’s. Aber ich fürchte, ich habe eine deutlich pessimistischere Einschätzung zum gesunden Menschenverstand unserer Mitmenschen.«

Lächelnd gab er ihr einen Kuss. »Na, dann bin ich heute mal für uns beide optimistisch.«

Es knackte im Lautsprecher der Gegensprechanlage. »Ja bitte?«, fragte eine Frauenstimme.

»Guten Morgen. Hier sind Sergeant Fry und Sergeant Hunt von der Londoner Metropolitan Police. Wir haben einen Termin mit Ms Flemming«, antwortete Connor, während Sky kurz seine Hand drückte, bevor die beiden Privates und Berufliches wieder trennten.

»Guten Morgen, Sergeants. Bitte kommen Sie herein.«

Ein Summton erklang und sie traten aufs Grundstück. Hinter dem Tor führte eine kurze Auffahrt durch den Teil des Gartens, der vor dem Haus lag und sich durch gepflegten englischen Rasen sowie ein paar ordentlich gestutzte Büsche auszeichnete. Dazwischen waren gekonnt Skulpturen in verschiedenen Formen und Größen arrangiert worden, manche abstrakt, andere naturgetreu, und alle aus ganz unterschiedlichen Materialien. Stein, Holz, Metall, Glas – Emilia Flemming schien diesbezüglich keine Präferenz zu haben. Wichtig schien ihr nur, dass jedes Kunstwerk ausreichend Abstand zum nächsten aufwies, um perfekt wirken zu können. Viele standen in Beeten aus Kies oder auf Steinplatten und um jedes einzelne waren kleine Scheinwerfer in den Boden eingelassen, um sie in der Dunkelheit kunstvoll beleuchten zu können.

»Sieht hier abends bestimmt toll aus«, meinte Sky, als sie dem Weg zum Haus folgten.

»Yep. Aber die Stromrechnung muss der Horror sein.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, wenn dir eine Galerie gehört, die eine namhafte Künstlerin nach London einfliegen lässt, musst du dir über Stromrechnungen keine Sorgen machen.«

Ms Flemming wartete an der Haustür auf sie und begrüßte sie freundlich. »Bitte, treten Sie ein.« Einladend hielt sie den beiden die Tür auf.

»Vielen Dank.«

Hinter der Tür lag eine kleine Eingangshalle, der man ihren viktorianischen Ursprung noch an der originalen Treppe aus dunklem Holz ansah, die ins nächste Stockwerk hinaufführte. Die Einrichtung wirkte dagegen jedoch hell, schlicht und modern, mit einigen Bildern und Skulpturen, die als geschmackvolle Eyecatcher dem Eingangsbereich eine persönliche Note verliehen.

»Ich habe in der Bibliothek Tee bereitgestellt.« Flemming wies auf eine offen stehende Doppeltür zu ihrer Rechten. »Oder hätten Sie lieber einen Kaffee? Oder ein Wasser?«

»Wir nehmen sehr gern den Tee«, versicherte Sky. Sie trat in die Bibliothek, die mit ihren deckenhohen Bücherregalen, einem alten Globus in einem hüfthohen Holzständer und einem edlen, aber ziemlich wuchtigen Schreibtisch wie ein Ort aus einer anderen Zeit wirkte. Vor dem offenen Kamin stand ein Ledersofa mit zwei dazu passenden Lesesesseln, dazwischen ein Tisch, auf dem Teekanne, drei Tassen und ein Teller mit Gebäck angerichtet worden waren. Flemming bot Connor und Sky das Sofa an, schenkte ihnen Tee ein und nahm dann selbst mit einer Tasse in einem der Lesesessel Platz.

»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.« Sky betrachtete die Galeristin.

Emilia Flemming war eine sehr attraktive Frau, die sowohl Selbstsicherheit als auch Herzlichkeit ausstrahlte, und der es sicher nicht schwerfiel, Menschen für sich zu gewinnen. Sie trug einen schlichten, hellen Businessanzug und hatte ihr dunkelbraunes Haar im Nacken zusammengesteckt.

»Meine beiden Geschäftspartnerinnen kommen heute Vormittag auch ohne mich zurecht«, winkte sie ab und schenkte Sky ein Lächeln. »Ich schätze, für Sie ist dieser Tag viel wichtiger als für mich. Ich hoffe sehr, dass die Abstimmung heute Mittag zu Ihren Gunsten ausfällt.«

Sky erwiderte das Lächeln. »Danke.«

»Ich hoffe auch, dass ich Ihnen überhaupt helfen kann«, wandte Flemming sich dann dem Grund des Besuchs der beiden zu. »Ich besitze leider keinerlei Aufzeichnungen oder Forschungsmaterial zum letzten Projekt meines Vaters. Ich denke, das hat Ihnen Professor Winkler sicher bereits erzählt.«

Connor nickte. »Allerdings klangen die Umstände, wie das Material abhandengekommen ist, ein wenig mysteriös. Daher würden wir dazu gern ein paar Dinge nachhaken, obwohl uns natürlich bewusst ist, dass Fragen zum Tod Ihres Vaters für Sie sehr schmerzlich sein müssen.«

Flemming seufzte. »Ich war erst dreizehn, als er starb, und ja, damals ist für mich eine Welt zusammengebrochen, genau wie für meine Mutter, weil sein Tod so völlig unerwartet kam. Aber mittlerweile ist das fünfundzwanzig Jahre her.« Sie lächelte milde. »Also fragen Sie ruhig, was Sie wissen wollen. Wenn es bei der Aufklärung eines Verbrechens helfen kann, versuche ich gern, alles zu beantworten. Ich weiß nur nicht, ob ich dabei eine große Hilfe sein kann. Wie gesagt, das alles ist schon sehr lange her. Ich wüsste nicht, wie es da irgendeinen Bezug zu einem aktuellen Fall geben könnte.«

»Das wissen wir auch noch nicht«, hielt Sky ihre Erklärung bewusst vage. »Wir gehen im Moment einfach jedem noch so kleinen Hinweis nach. Der Name Kenwick tauchte in diesem Zusammenhang auf und wir haben von Professor Winkler erfahren, dass Ihr Vater über ihn geforscht und kurz vor seinem Tod im Interview einer Fachzeitschrift verkündet hatte, dass ihm neues, aufschlussreiches Material in die Hände gefallen wäre und er dementsprechend seine Forschungen zu ihm weiterführen wollte.«

Fleming nickte. »Ja, aber eben dieses Material ist verschwunden.«

»Können Sie uns erzählen, was genau damals passiert ist?«, bat Connor.

Die Galeristin hob die Schultern. »Natürlich.« Sie nahm einen Schluck Tee, bevor sie weitersprach. »Mein Vater vertrat sein Leben lang die Spezies des abenteuerlustigen Historikers und liebte die düsteren Kapitel unserer Geschichte. Er und meine Mutter waren beide Experten für das Mittelalter und in dieser Epoche findet sich wahrlich genug Grausames zum Erforschen. Die Interessen meiner Mutter lagen allerdings eher auf der Lehre. Sie ging voll und ganz im Unterrichten an der Universität auf. Mein Vater war dagegen ein Abenteurer, und wenn es irgendwo Ausgrabungen oder außergewöhnliche Funde gab, war er oft unterwegs, um sich Dinge vor Ort anzusehen. Dabei war das Mittelalter zwar sein Steckenpferd, er interessierte sich aber auch für andere Epochen. Wie genau er dabei auf Kenwick stieß, weiß ich leider nicht, denn ins Mittelalter fiel er ja nicht. Aber er hatte das Interesse meines Vaters geweckt.« Sie warf einen entschuldigenden Blick zu Sky. »Wie gesagt, mein Vater hatte eine Schwäche für die düsteren Geschehnisse in unserem Land.«

Sky nickte verstehend. »War Ihr Vater vor seinem Tod wieder auf einer Forschungsreise, von der er das neue Material zu Kenwick mitgebracht hatte?«

»Ja. Ich weiß noch, dass er im Norden Englands war. Wo genau, kann ich Ihnen allerdings leider nicht sagen.« Ein wehmütiges Lächeln flog über Flemmings Gesicht. »Ich erinnere mich aber noch daran, wie aufgeregt und glücklich er war, als er von der Reise zurückkehrte und meinte, dass er etwas wirklich Spektakuläres aufgetan hätte, und wenn sich das alles als wahr herausstellte, würde er damit für eine Menge Aufsehen sorgen. Genau das erzählte er auch in dem Interview, das Sie ja offensichtlich schon kennen.«

Connor und Sky tauschten einen Blick. Wenn Oscar Flemming Kenwicks Manifest in die Hände gefallen war, hätten die darin enthaltenen Aufzeichnungen über das Ritual, geminus obscurus und die Fähigkeiten, die sowohl dieser Zwilling als auch sein Träger angeblich an den Tag legen konnten, definitiv für Aufsehen gesorgt.

»Wissen Sie, was Ihr Vater damit gemeint hat?«, fragte Sky neutral, um abzuklären, wie weit Ms Flemming über Kenwick und seine Experimente Bescheid wusste.

Die Galeristin zögerte, bevor sie antwortete. »Nein, seine genauen Pläne kannte ich damals nicht. Als ich älter wurde, habe ich mich aber immer mal wieder damit beschäftigt und natürlich kenne ich den Artikel, den mein Vater vor seinem neuen Fund über Kenwick geschrieben hatte. Dafür standen ihm allerdings nur einzelne Seiten eines Werks zur Verfügung, in dem Kenwick eine Art Ritual beschreibt, das Normalos in Totenbändiger verwandeln könnte. Ich könnte mir vorstellen, dass er ein vollständiges Werk aufgetrieben hatte und darin vermutlich das komplette Ritual nachzulesen war. Die Möglichkeit, Normalos in Totenbändigern zu verwandeln, wäre mit Sicherheit heiß diskutiert worden – falls dieses Ritual wirklich funktioniert. Aber selbst wenn nicht, war das exakt die Art von gruseliger Geschichte, die meinen Vater begeistert hat. Ich vermute allerdings, dass er den Wahrheitsgehalt und die Wahrscheinlichkeit, ob Kenwicks Ritual tatsächlich erfolgreich durchführbar wäre, zuvor abklären wollte. Für seine Darstellung Kenwicks wäre es schließlich wichtig gewesen, ob dieser nur verblendet und größenwahnsinnig war, oder ob an seinem Ritual wirklich etwas Wahres dran ist. Ich denke, um das herauszufinden, hat mein Vater sich damals mit einem Totenbändiger getroffen.«

Gewaltiger hätte sie Skys und Connors Interesse nicht wecken können.

»Erinnern Sie sich vielleicht noch an den Namen dieses Totenbändigers?«, fragte Connor.

Bedauernd schüttelte Flemming den Kopf. »Mein Vater hatte mir zwar erzählt, dass es bei seinem Forschungsprojekt um einen Totenbändiger ging, viel mehr wusste ich dazu damals jedoch noch nicht. Ich fand es aber ganz logisch, dass er sich deshalb für seine Forschung Hilfe bei einem Totenbändiger suchte. Immerhin musste der ja so was wie ein Experte sein.« Sie lächelte entschuldigend. »Als Kind denkt man noch recht gradlinig und ich fand es spannend, dass ein Totenbändiger zu uns nach Hause kam. Es war das erste Mal, dass ich näheren Kontakt zu jemandem dieser Rasse hatte. Damals waren die Zeiten noch anders als heute und die Rassentrennung noch viel stärker.«

»Haben Sie den Totenbändiger persönlich kennengelernt? Könnten Sie ihn uns beschreiben?«, hakte Sky nach.

»Persönlich kennengelernt – nein«, antwortete Flemming. »Er kam eines Abends nach dem Abendessen hierher. Es war schon recht spät und ich hätte in meinem Zimmer sein sollen, aber ich war neugierig und versteckte mich oben auf der Treppe, um zumindest einen Blick auf den Totenbändiger zu erhaschen. Ich weiß, dass er größer war als mein Vater. Das war allerdings keine Kunst. Mein Vater war eher klein.« Sie grübelte kurz. »Der Totenbändiger war schlank. Er trug einen dunklen Trenchcoat und einen Fedora-Hut. Und er hatte dunkles Haar. Das konnte ich sehen, als er den Hut abgenommen hatte. Mehr kann ich Ihnen zu seinem Äußeren leider nicht sagen, fürchte ich.« Wieder lächelte sie entschuldigend in Skys Richtung. »Ich war allerdings völlig fasziniert von seinem Totenbändigermal. Vermutlich ist das sehr unhöflich, aber ich finde diese Male noch heute unglaublich faszinierend und frage mich immer, ob die Art der Zacken und Wirbel und wie kantig oder verspielt sie sind Rückschlüsse auf Charakter oder Persönlichkeit eines Totenbändigers zulassen.«

Sky erwiderte ihr Lächeln. »Ich glaube, das fragen sich viele. Ob das Aussehen unserer Male wirklich Parallelen zu unserem Charakter aufweist, ist schwer zu sagen. Die Male sind aber auf jeden Fall sehr individuell, ähnlich wie ein Fingerabdruck.«

Flemming musterte sie überrascht. »Tatsächlich? Das wusste ich nicht. Moment.« Sie stellte ihren Tee auf dem Couchtisch ab und ging zum Schreibtisch. »Ich kann Ihnen das Mal des Totenbändigers, der damals hier war, aufzeichnen. Wenn diese Zeichen so individuell sind, hilft Ihnen das vielleicht, ihn ausfindig zu machen.«

»Wow«, entfuhr es Sky. »Sie wissen nach all dieser Zeit wirklich noch, wie das Totenbändigermal Ihres damaligen Besuchers aussah?«

Flemming hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, aus einer der Schubladen einen Notizblock hervorgezogen und zeichnete jetzt mit sichtlich routinierter Hand verschiedene Linien. »Zeichnen war schon immer meine Passion. Das Talent habe ich von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt. Und wie gesagt, ich war völlig fasziniert von dem Totenbändigermal unseres Besuchers. Mein Vater hatte ihn drüben in der Eingangshalle empfangen, bevor sie hierher in die Bibliothek gingen, die damals noch das Arbeitszimmer meines Vaters war. Ich wollte mich zur Tür schleichen, um sie zu belauschen, aber meine Mutter erwischte mich. Sie schickte mich wieder nach oben in mein Zimmer. Ich sollte schlafen. Stattdessen zeichnete ich aus Trotz das Totenbändigermal und machte mir ein Lesezeichen daraus.«

Sie ergänzte noch eine Linie, betrachtete ihre Zeichnung kurz und korrigierte etwas, dann löste sie die Seite aus dem Notizblock und kehrte zu Sky und Connor zurück.

»Vielleicht kann Ihnen das weiterhelfen.« Sie reichte Sky die Zeichnung. »Wobei natürlich die Frage ist, ob dieser Totenbändiger heute überhaupt noch lebt. Das ist fünfundzwanzig Jahre her. Mein Vater war damals Ende vierzig und seinen Besucher würde ich ein bisschen älter schätzen. Also wäre er jetzt zwischen siebzig und achtzig. Das ist natürlich noch kein Alter, aber es ist sicher auch nicht völlig unwahrscheinlich, dass er bereits verstorben sein könnte.«

»Trotzdem vielen Dank dafür.« Connor hatte einen kurzen Blick auf die Zeichnung geworfen, die Sky jetzt einsteckte. Das Mal kam ihm nicht bekannt vor. Wenn sein Verdacht bezüglich des Besuchers aber stimmte, konnte Sue damit vielleicht etwas anfangen. »Wissen Sie zufällig etwas darüber, wo Ihr Vater diesen Totenbändiger als Experten damals ausfindig gemacht hat?«

Flemming nahm wieder ihre Teetasse und dachte kurz nach. »Nein, aber wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich vermuten, dass er sich an die Akademie gewandt haben wird. Ich bin überfragt, wann genau sie als Heim und Schule für Totenbändiger gegründet wurde, aber sie besteht sicher schon seit über hundert Jahren und ist als Ort für und von Totenbändigern in London ja allgemein bekannt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass mein Vater sich dorthin gewandt hat, um jemanden zu finden, der ihm bei Fragen bezüglich seines Forschungsprojekts weiterhelfen konnte.« Sie deutete auf die Brusttasche von Skys Cordjacke, in die sie die Zeichnung gesteckt hatte. »Vielleicht erkennt dort jemand das Mal.«

»Das werden wir auf jeden Fall überprüfen«, sagte Sky. »Danke für den Tipp.«

»Können Sie sich noch daran erinnern, ob es zu einer Zusammenarbeit zwischen dem Totenbändiger und Ihrem Vater gekommen ist?«, hakte Connor nach. »Hat Ihr Vater dazu vielleicht mal etwas erzählt?«

Ein trauriger Schatten flog über Flemmings Gesicht und sie schüttelte den Kopf. »Ich war am nächsten Tag in der Schule und sah meinen Vater erst beim Abendessen wieder. Ich erinnere mich noch, dass er äußerst gut gelaunt war und es kaum erwarten konnte, sich in die Arbeit an seinem neuen Projekt zu stürzen.« Sie schluckte. »Das machte es für meine Mutter und mich nur umso schwerer, zu begreifen, dass er in der Nacht so plötzlich verstarb.«

Sky und Connor tauschten einen Blick und brauchten keine Worte, um sich zu verständigen. Es klang schon nach einem sehr, sehr seltsamen Zufall, dass Oscar Flemming einen Tag nach dem Besuch des Totenbändigers so unerwartet verstarb.

»Das tut uns sehr leid«, meinte Sky mitfühlend. »Ich kann mir vorstellen, dass es ein fürchterlicher Schock für Sie und Ihre Mutter gewesen sein muss. Ergab die Obduktion denn irgendetwas, das eine Erklärung für den plötzlichen Tod geliefert hätte?«, fragte sie behutsam nach, obwohl sie sich die Antwort bereits denken konnte.

Flemming schüttelte den Kopf. »Nein. Der Arzt ging davon aus, dass Stress oder die Aufregung wegen seiner Funde und allem, was er diesbezüglich geplant hatte, zu einem Herzinfarkt geführt hatten.«

»Sie sagten, Ihr Vater starb in der Nacht. Verstarb er im Schlaf?«

Wieder schüttelte die Galeristin den Kopf, zögerte dann jedoch und hob die Schultern. »Ich würde sagen nein, genau weiß ich das aber ehrlich gesagt nicht. Er hatte sich nach dem Abendessen in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Das war nichts Ungewöhnliches. Er arbeitete viel und gern, besonders, wenn ihn etwas faszinierte. Dann konnte er völlig die Zeit vergessen und es kam nicht selten vor, dass er den Weg ins Bett nicht fand und meine Mutter ihn morgens schlafend an seinem Schreibtisch vorfand. So war es auch an jenem Morgen. Wir wissen daher nicht, ob ihn der Infarkt während seiner Arbeit oder im Schlaf getroffen hat.«

»Ein Fremdverschulden wurde aber ausgeschlossen?«, erkundigte Connor sich. »Ich frage nur, weil Sie meinten, dass das Forschungsmaterial Ihres Vaters verschwunden sei. Verschwand es in dieser Nacht?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Vieles von diesem schrecklichen Tag ist mir nur sehr bruchstückhaft im Kopf geblieben.« Flemming seufzte traurig. »Fremdverschulden war allerdings kein Thema, sonst wäre ja sicher an diesem Tag noch die Polizei gekommen. Die kam aber erst einige Tage später, als uns aufgefallen war, dass das Forschungsmaterial meines Vaters verschwunden war.«

»Wie ist Ihnen denn aufgefallen, dass das Material fehlte?«, fragte Sky.

Wieder legte sich ein wehmütiger Ausdruck auf Flemmings Gesicht. »Ich hatte meine Mutter um die beiden Lesezeichen gebeten, die ich meinem Vater für seine Forschungsmaterialien angefertigt hatte. Als Kind hatte ich ständig irgendwelche kreativen Phasen, in denen ich verschiedene Dinge gezeichnet oder gebastelt habe. In der Zeit um den Tod meines Vaters waren es Lesezeichen. Ich hatte ihm zwei geschenkt und wollte sie wiederhaben, doch in seinem Arbeitszimmer fand ich sie nicht. Dort war rein gar nichts vom Forschungsprojekt meines Vaters. Weder Kenwicks Werke noch die Notizen, die sich mein Vater dazu gemacht hatte. Deshalb fragte ich meine Mutter nach den Lesezeichen. Ich war davon ausgegangen, dass sie das ganze Material mit an die Uni genommen hatte, weil Kollegen die Forschung meines Vaters vielleicht übernehmen wollten.«

»Aber dem war nicht so?«

»Nein. Meine Mutter hatte nichts davon angerührt. Sie versprach aber, an der Uni im Büro meines Vaters nachzusehen.«

»Da waren die Unterlagen aber auch nicht?«

Flemming schüttelte den Kopf. »Sie waren verschwunden. Meine Mutter meldete es der Universität und die Polizei untersuchte sein Büro dort genauso wie sein Arbeitszimmer hier, aber es gab keine Einbruchspuren. Die Tür zum Büro in der Uni war in den beiden Wochen nach dem Tod meines Vaters allerdings mehrfach vom Hausmeister geöffnet worden, weil Kollegen die Seminare, die mein Vater an der Uni gegeben hatte, übernommen hatten und dafür seine Aufzeichnungen und verschiedene Materialien brauchten. Die Polizei ging deshalb davon aus, dass dabei vermutlich auch jemand das Material zu Kenwick mitgenommen hat. Vielleicht ein Kollege, der neugierig auf den Fund war, den mein Vater als so spektakulär angepriesen hatte.«

Sky runzelte die Stirn. »Aber hätten Kollegen Ihres Vaters dann nicht einfach darum bitten können, statt sie heimlich an sich zu nehmen? Wenn jemand Interesse an den Materialien bekundet hätte, um die Forschung im Namen Ihres Vaters fortzusetzen, hätte Ihre Mutter ja vielleicht gar nichts dagegen gehabt, alles auszuhändigen, oder nicht?«

Flemming hob die Schultern. »Vermutlich nicht. Allerdings gibt es natürlich auch viel Neid und Missgunst, was Veröffentlichungen zu spektakulären Entdeckungen angeht. Da könnte ich mir durchaus vorstellen, dass man Material entwendet, um Konkurrenten auszuschalten und sich selbst einen Vorsprung zu verschaffen. In diesem Fall würde ich das allerdings eher ausschließen. Kenwick ist geschichtlich für die meisten kaum interessant gewesen. So wie ich das sehe, wurde der erste Artikel, den mein Vater zu ihm verfasst hatte, kaum wahrgenommen, und er galt eher als eine gruselige Randnotiz in der Geschichte. Viele taten es wohl einfach als eine der vielen unheimlichen Legenden ab, die man gern um Totenbändiger und ihre angeblichen Gräueltaten spinnt. Wie eine Geistergeschichte, die man am Lagerfeuer erzählt. Ich will natürlich nicht ausschließen, dass es damals nicht den ein oder anderen Kollegen meines Vaters gegeben haben könnte, der auch an Kenwick interessiert war und der die Bücher, die mein Vater aufgetrieben hatte, interessant gefunden hätte. Aber dafür einen Diebstahl zu begehen, statt meine Mutter einfach darum zu bitten, die Materialien einsehen zu dürfen, halte ich für eher abwegig. So historisch relevant ist Kenwick wie gesagt einfach nicht. Und es tauchte danach ja auch nie wieder etwas über ihn auf. Falls jemand das Material also entwendet hatte, um selbst eine spektakuläre Veröffentlichung dazu herauszubringen, hat er sich das entweder doch nicht getraut, nachdem meine Mutter die Polizei eingeschaltet hatte, oder derjenige hat bei der Durchsicht der Materialien festgestellt, dass Kenwick bloß ein größenwahnsinniger Spinner war.«

»Eine weitere Möglichkeit wäre, dass man nicht wollte, dass Kenwicks Gräueltaten einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden«, meinte Connor. »Entweder, weil derjenige Totenbändiger nicht mochte und sie seiner Meinung nach keine Aufmerksamkeit und keinen Platz in der Öffentlichkeit verdienen. Oder man wollte die Totenbändiger schützen und hat das Material verschwinden lassen, damit ihr Stand in der Gesellschaft nicht noch schwieriger wird, wenn Kenwicks Grausamkeiten ans Licht kommen und alle Totenbändiger über einen Kamm geschoren werden.«

»Wenn Letzteres der Fall gewesen wäre, dann könnte ich es sogar verstehen.« Flemming sah zwischen Sky und Connor hin und her. »Denken Sie, der Totenbändiger, den mein Vater als Experte hinzugezogen hat, könnte die Bücher aus der Universität entwendet haben?«

»Vielleicht«, hielt Sky ihre Antwort absichtlich vage und lenkte Flemmings Aufmerksamkeit dann in eine andere Richtung. »Sie sagen immer die Bücher, also Plural. Und dass Sie Ihrem Vater zwei Lesezeichen geschenkt hatten. Hatte er gleich zwei von Kenwicks Werken aufgetrieben?«

Flemming nickte. »Eins war eine ziemlich ramponierte Blättersammlung ohne Umschlag, die nur mit einer schmalen Kordel am Rand zusammengehalten wurden. Das andere war ein dünnes Buch mit Ledereinband. Beide waren sehr alt und die Seiten vergilbt.«

»Können Sie sich vielleicht noch an die Titel der Bücher erinnern?«, fragte Connor.