Die Totenbändiger - Band 16: Samhain - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 16: Samhain E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Samhain rückt unaufhaltsam näher und damit auch die dritte Unheilige Nacht. Wird Cam an seinem Entschluss festhalten und das dritte Geminus-Ritual vollziehen? Außerdem bereiten die Hunts gemeinsam mit ihren Verbündeten einen Schlag gegen Carlton vor. Doch werden sie ihn wirklich aufhalten können? Oder wird Carlton sich mit seinem Ritual die Mittel beschaffen, um die Macht in London endgültig an sich zu reißen? Das Finale der 2. Staffel. Der 16. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Samhain

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Nachwort

Impressum

Die Totenbändiger

Band 16

Samhain

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Nach dem Terroranschlag an der Ravencourt Comprehensive School ringen noch immer viele Opfer um ihr Leben. Auch Jules wurde auf der Flucht aus dem einstürzenden Gebäude schwer verletzt, kann durch eine Notoperation aber gerettet werden. Aus Angst vor einem Angriff der Death Strikers ordnet die Klinikleitung allerdings eine Verlegung nach Hause an, sobald Jules nicht mehr in akuter Lebensgefahr schwebt. In der Villa übernehmen Phil und Sue die postoperative Versorgung ihres Sohns und die Familie beweist einmal mehr, dass sie in Krisenzeiten fest zusammenhält. Gemeinsam schaffen sie es, Jules durch die kritische Zeit zu bringen und helfen ihm, langsam wieder auf die Beine zu kommen.

Schock und Trauer sitzen nach dem Anschlag bei allen tief. Viele Mitschülerinnen und Mitschüler sowie etliche Lehrkräfte starben, unter ihnen Direktorin Carroll, Ms Margret und Larissa. Ms Lime und der Geschichtskurs, dem auch Stephen angehörte, sind ebenfalls umgekommen. Weil einer der Sprengsätze im Raum neben Ms Limes Klassenzimmer detonierte, gehen die Hunts davon aus, dass Carlton mit dieser Bombe besonders ihre Kinder treffen wollte. Es bedeutet gleichzeitig, dass Ms Lime den vier mit ihrem Rauswurf aus der Klasse das Leben gerettet hat.

Da die Gebäude der Ravencourt zerstört wurden, müssen für die überlebenden Jugendlichen Ersatzschulen gesucht oder Homeschooling organisiert werden. In diesem Zuge wird den Hunts von der Schulbehörde mitgeteilt, dass keine der weiterführenden Schulen bereit ist, Cam, Jules, Ella und Jaz aufzunehmen. Die Angst vor weiteren Anschlägen der Death Strikers, die offensichtlich gegen die Gleichstellung von Totenbändigern in der Gesellschaft sind, ist zu groß. Für die Kinder der Hunts steht daher vorerst wieder Homeschooling an. Auch von der offiziellen Trauerfeier für die Opfer des Terroranschlags werden die Hunts ausgeladen.

Evan wurde von einem von Carltons Männern aus den Trümmern der Schulgebäude gerettet, konnte sich zuvor aber erfolgreich gegen einen Geisterübergriff zur Wehr setzen. Carlton bietet ihm daraufhin an, ihn an der Akademie zu trainieren. Mehr noch: Er will ihm nicht nur das Blocken professioneller beibringen, als die Hunts es können, er stellt Evan auch in Aussicht, ihn im Umgang mit Auraglue und Silberwaffe zu trainieren und ihn gemeinsam mit seinen Totenbändigerschülern in den Trainingshäusern zu unterrichten. Außerdem macht Carlton allen Schülerinnen und Schülern der Ravencourt das Angebot, zukünftig in der Akademie zur Schule zu gehen. Seine Hintergedanken sind dabei, sich würdige Kandidaten zu formen, die er in Totenbändiger verwandeln kann, sobald der geminus nach der vierten Unheiligen Nacht dazu in der Lage ist.

Evan nimmt die Einladung an die Akademie an, spricht sich dafür aber mit den Hunts ab. Er hofft, ihnen als Insider wertvolle Informationen über Carlton liefern zu können, wenn er ihm nahe ist und ihn so im Auge behalten kann.

Seit der Erkenntnis, dass Carlton die Death Strikers anführt und sich in den Verlorenen Orten eine Armee aus Geistern herangezüchtet hat, wird es noch dringender, ihn aufzuhalten. Aus diesem Grund arbeiten die Hunts gemeinsam mit den Reapers mit Hochdruck daran, endlich bei der Suche nach den Sektenverstecken einen Schritt weiterzukommen. Dafür holen sie sich zusätzliche Unterstützung: Flint kommt mit einigen seiner Mighty Evils nach London, um bei der Überprüfung der Adressenliste zu helfen.

Gabriel, Matt und Cam bilden eins der Teams und stoßen bei der Suche nach Carltons Verstecken auf ein Haus, das von Poltergeistern bevölkert wird. Die Geister nehmen die Eindringlinge gefangen und Cam bittet seine Zwillingskraft um Hilfe, als Gabriels Leben in Gefahr ist. Der Zwilling erscheint und verhilft ihnen zur Flucht, allerdings ohne dass Cam die Kraft selbst steuern kann. Als die drei in Sicherheit sind, verschwindet der geminus wieder und lässt Cam entkräftet zurück.

Als die drei ein weiteres Haus unter die Lupe nehmen, finden sie in dessen Keller einen verdächtigen Raum mit alten Blutlachen. Zwei Holzkisten, die mit Eisenketten umgeben sind, stehen dort bereit. Auf den Boden wurde mit schwarzer und weißer Farbe das Zwillingszeichen von Carltons Sekte gemalt.

Kapitel 1

 

Donnerstag, 24. Oktober

Eine Woche bis Samhain, der dritten Unheiligen Nacht.

 

Harter Tobak, aber wirklich gute Arbeit.« Commander Pratt sank in seinem Rollstuhl zurück und musterte über seinen Schreibtisch hinweg anerkennend seine Spuk Squad samt Matt Rifkin. Letzterer war an diesem Vormittag mitgekommen, als Connor, Sky und Gabriel um einen Gesprächstermin gebeten hatten, um ihren Boss auf den neusten Stand ihrer inoffiziellen Ermittlungen bezüglich der rätselhaften Massenmorde in den letzten beiden Unheiligen Jahren zu bringen. Pratt war stolz auf seine Truppe. Sie hatten in den vergangenen Wochen nicht nur ohne Aufsehen zu erregen ermittelt, wer hinter den Taten steckte, sondern auch recherchiert, was damit bezweckt werden sollte. Sie hatten ebenfalls aufgedeckt, dass die Taten der Death Strikers Teil eines großen Masterplans waren, mit dessen Vorbereitung und Umsetzung Cornelius Carlton bereits vor über einem Jahrzehnt gemeinsam mit seinem Vater begonnen hatte. Doch Pratt war nicht nur stolz auf die Ermittlungsergebnisse seiner Leute. Besondere Hochachtung hatte er davor, dass die Hunts sich dabei nicht zu Selbstjustiz hatten verleiten lassen, obwohl ihre Familie auf mehr als eine Weise von den Machenschaften der Carltons betroffen war. Auch wenn die ein oder andere Vorgehensweise in Graubereichen stattgefunden haben mochte, wie die Durchsuchung des Lagerhauses der Akademie oder das Überprüfen von Newfield, hatten sie sich nicht zu einer Racheaktion hinreißen lassen.

Pratt blickte von einem zum anderen. »Was ihr in den letzten Wochen geleistet habt, ist beeindruckend.«

»Danke, Sir«, antwortete Sky.

»Und aus eurer Sicht besteht keinerlei Zweifel daran, dass in diesem Haus nächste Woche das dritte Ritual stattfinden wird?«

»Nein, kein Zweifel«, meinte Gabriel finster beim Gedanken an den widerlichen Keller, auf den er und Matt am Tag zuvor bei ihrer Suche gestoßen waren.

Connor nickte zustimmend. Nachdem Gabriel und Matt sie über ihren Fund informiert hatten, waren Connor und Sky mit Ella und Jaz ebenfalls zum Haus gekommen. Auch Thad, Leslie und Jack, die ein weiteres Suchteam gebildet hatten, hatten sich den Keller angesehen. »Das Haus an sich ist unberührt. Überall liegt fingerdicker Staub und wir haben uns bemüht, den nicht aufzuwirbeln, um verräterische Spuren zu vermeiden. Es sieht allerdings nicht so aus, als würde sich für das Haus an sich jemand interessieren. Nur am Hintereingang ist offensichtlich, dass dieser in letzter Zeit regelmäßig benutzt wurde. Es gibt eine Art Vorraum, durch den man zur Kellertür kommt. Dort gibt es Fußspuren. Die Tür zum Keller ist mit Riegeln gesichert, die geölt und leichtgängig waren. Außerdem legen Art und Beschaffenheit der Blutspuren, die wir gefunden haben, die Vermutung nahe, dass in diesem Kellerraum zum Herbstäquinoktium Menschen für Kenwicks Ritual geopfert wurden. Ob es auch ältere Blutspuren gibt, die ähnliche Morde zum Frühlingsäquinoktium vermuten lassen würden, dürfte ohne Forensikteam schwer zu sagen sein. Die frischeren Blutlachen überlagern alles, was möglicherweise älter ist.«

Pratt betrachtete auf seinem Tablet die Fotos, die Connor am Tatort geschossen hatte.

»Das aufgemalte Zwillingszeichen auf dem Steinboden des Opferraums ist ein weiteres Indiz dafür, dass Carlton dort sein Experiment vollzieht«, übernahm Sky und deutete auf das Symbol, das die Titelseite von Kenwicks Manifest zierte. Sie hatten ihrem Commander das Werk gezeigt, damit er sich ein Bild von den Ritualen machen konnte, und eine Vorstellung davon bekam, was Carlton mit der Durchführung erreichen wollte, und wozu der geminus nach dem dritten Ritual – angeblich – in der Lage war.

»Außerdem sind dort die Kisten, in denen sie die Kinder während des Rituals festsetzen, damit sie den Geistern nicht entkommen können«, fügte Gabriel hinzu. »Laut der Fotos von damals sind es identische Modelle wie die Kisten, die vor dreizehn Jahren am Tatort gefunden wurden, und als Cam die Kisten gestern gesehen hat, hatte er einen so üblen Flashback, dass er fast erstickt wäre.« Bei der Erinnerung daran fuhr er sich unwirsch übers Gesicht.

Pratt bedachte ihn mit einem scharfen Blick. »Du hast ihn diesen Ort sehen lassen?«

Gabriel schnaubte und hielt dem Blick ungerührt stand. »Sie kennen Cam nicht. Nachdem er gehört hatte, was da im Keller ist, hätte ihn niemand davon abhalten können, sich dort umzusehen. Zu sehen, was Carlton tut – egal wie krank und abartig es auch ist – hilft Cam, zu begreifen, was mit ihm passiert ist. Und alles, was Cam hilft, damit klarzukommen, macht meine Familie möglich.«

Pratts Miene wurde wieder deutlich milder und er nickte. »Das verstehe ich und ich garantiere euch meine volle Unterstützung dabei, Carlton zu stoppen. Allerdings ist eine Sache dabei nicht verhandelbar: Wenn wir ihm und seinen Anhängern an Samhain einen Hinterhalt bereiten, werden weder Cam noch eure anderen Geschwister in der Nähe dieses Ritualorts sein. Da wir vieles zum Ablauf dieses Abends nur spekulieren können, wird es schwer werden, einen präzisen und möglichst sicheren Zugriffsplan auszuarbeiten. Klar dürfte aber sein, dass Carlton und seine Leute sich nicht kampflos ergeben werden, und in diesem Fall will ich keine minderjährigen Zivilisten in der Schusslinie. Ich kann zwar verstehen, dass es eurem Bruder Erleichterung oder Genugtuung bringen würde, bei diesem Schlag gegen seine Peiniger dabei zu sein, aber das ist zu gefährlich und nicht zu verantworten.«

»Das sehen wir genauso«, versicherte Sky. »Und wir garantieren, dass sowohl Cam als auch unsere anderen Geschwister an diesem Abend zu Hause bleiben werden.«

Sie hatten ihren Boss zwar in alles eingeweiht, doch die Tatsache, dass Cam in der letzten Unheiligen Nacht unfreiwillig das zweite Ritual vollzogen hatte und an Samhain das dritte durchführen wollte, hatten sie ihm verschwiegen. Sky vertraute ihrem Commander zwar, aber je weniger Menschen über Cams Zwillingskraft Bescheid wussten, desto besser, und für das Vorgehen gegen Carlton war es ohnehin nicht wichtig, dass Pratt von Cams Kräften wusste. Zudem war es Cams Entscheidung, wen er in sein Geheimnis einweihen wollte, und er kannte Pratt kaum.

»Gut. Ich verlasse mich darauf.« Mit vielsagendem Blick sah Pratt in die Runde und blieb besonders bei Gabriel hängen.

Der erwiderte den Blick erneut, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sir, wir hätten unsere Geschwister vor zwei Wochen beinahe bei einem Terroranschlag verloren und Jules wird mit den Folgen seiner Verletzung noch eine ganze Weile zu kämpfen haben, bis er wieder fit ist. Solche Ängste noch einmal durchzumachen, ist das Letzte, was wir wollen. Deshalb, ja, Sie können sich darauf verlassen, dass wir unsere Geschwister nicht in die Schusslinie von Carlton und seiner Sekte bringen werden.«

Pratt betrachtete ihn noch einen Moment lang, sah dann kurz zu Sky und atmete tief durch. »Okay.« Er setzte sich wieder auf und stützte seine Ellbogen auf die Tischplatte. »Dann gehen wir jetzt mal die Fakten durch und überlegen, was sie für unsere Planungen bedeuten. Ihr sagt, im Opferraum standen zwei Kisten und vier weitere befanden sich in einem benachbarten Kellerraum. Dann müssen wir wohl davon ausgehen, dass von ursprünglich sechs Kindern nur noch zwei am Leben sind?«

Gabriel presste die Kiefer aufeinander und Matt, der neben ihm saß, ballte eine seiner Hände kurz zur Faust.

»So sieht es wohl leider aus«, nickte Thad grimmig. Diese Kisten zu sehen, hatte grausame Erinnerungen zurückgebracht, und die Vorstellung, dass erneut bereits vier kleine Kinder für das Geminus-Ritual gestorben waren, war unerträglich. »Die übrigen beiden zu befreien und in Sicherheit zu bringen, muss die höchste Priorität haben.«

»Ich denke, da sind wir uns alle einig«, stimmte Pratt ihm zu. »Carlton aus dem Verkehr zu ziehen, ist allerdings ebenfalls wichtig. Der Mann ist eine Gefahr für ganz London und sollte er mit seinen Plänen Erfolg haben, wird er zu einer Bedrohung für alle Normalos.«

»Wenn wir ihm die Ritualkinder entziehen, würde das die Gefahr, die von ihm ausgeht, schon deutlich mindern«, sagte Connor. »Verliert er die Kinder, kann er weder die Geister in den Verlorenen Orten befehligen noch das vierte Ritual durchführen, um mit dem Zwilling Normalos in Totenbändiger zu verwandeln.«

»Deshalb werden die Kinder auch auf jeden Fall die Priorität beim Zugriff haben.« Pratt blickte von Connor zu Sky, Gabriel und Matt. »Trotzdem sollten wir uns auch Strategien überlegen, wie wir Carlton und diese Sekte hochnehmen. Oder denkt ihr, er wird bei diesem Ritual gar nicht anwesend sein? Lässt er es vielleicht nur von seinen Leuten durchführen und ist bloß am Ergebnis interessiert?«

Sky seufzte. »Das ist schwer zu sagen. Es würde zu ihm passen, sich das Ritual nicht entgehen zu lassen. Vermutlich wird er sich dabei allerdings nicht selbst die Hände schmutzig machen und den Opfern persönlich die Kehlen durchschneiden.« Sie hielt inne. »Obwohl – wer weiß? Dass er sadistische und psychopathische Züge an den Tag legt, kann man wohl nicht von der Hand weisen. Das Problem dürfte eher sein, dass er erst sehr spät am Ritualort eintreffen wird, weil er mit Sicherheit alle Vorbereitungen von seinen Handlangern erledigen lässt. Dazu gehört mit großer Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder in die Kisten gebracht werden. Auch die Opfer, aus denen die Geister entstehen sollen, müssen vorher in den Keller geschafft werden, denn sie alle werden ja offensichtlich an einem anderen Ort gefangen gehalten. Die Keller neben dem Ritualraum bieten dafür nicht die richtigen Voraussetzungen. Es gibt zwar zwei abschließbare Räume, aber die sind sehr klein und nur für eine kurzzeitige Unterbringung geeignet. Carltons Leute werden die Opfer also vermutlich erst an Samhain dort hinbringen.«

»Dadurch entsteht für uns aber eine Zwickmühle«, übernahm wieder Connor. »Wenn die höchste Priorität die Rettung der beiden Kinder sowie die aller anderen potenziellen Opfer ist, sollten wir den Zugriff möglichst früh durchführen, da dann vermutlich nur wenige Handlanger dort sind, die die entsprechenden Vorbereitungen treffen. Weniger Leute, die wir ausschalten müssen, bedeuten weniger Gefahr für uns und alle, die wir retten wollen. Gleichzeitig werden wir dabei aber höchstwahrscheinlich nicht verhindern können, dass jemand Carlton warnt oder er sich wundern wird, wenn er von den Leuten vor Ort keine Nachricht bekommt, dass alles bereit ist. Wenn wir dadurch sein Misstrauen wecken, wird er zwar vermutlich weitere Leute zum Haus schicken, um nach dem Rechten zu sehen, aber persönlich taucht er dort dann sicher nicht auf. Und selbst wenn wir vielleicht einen der Mittäter zum Reden bringen und er bestätigt, dass Carlton ihr Anführer ist, stünde Aussage gegen Aussage, und ich gehe jede Wette ein, dass Carlton Leute an der Hand haben wird, die ihm für den Abend ein falsches Alibi geben, sollte er eins brauchen.«

Pratt nickte ernst.

»Die Alternative wäre, abzuwarten bis Carlton und der Rest der Sekte für das Ritual am Haus eintreffen. Dann werden allerdings deutlich mehr Leute vor Ort sein. Es ist ja unwahrscheinlich, dass Carlton die Handlanger wegschicken wird«, fuhr Thad fort. »Die müssen nach dem Ritual schließlich die Leichen entsorgen und das geht an Samhain unauffälliger als Tage später, weil sich in der Unheiligen Nacht so gut wie niemand auf die Straßen traut.«

Wieder nickte Pratt.

»Wenn sich Sektenmitglieder sowie Handlanger gleichzeitig in den Kellerräumen aufhalten, wird der Zugriff allerdings schwierig«, gab Sky zu bedenken. »Auf so engem Raum gegen Silberenergie und Kugeln zu kämpfen, ohne dass es zu Opfern kommt, ist so gut wie unmöglich. Wir können zwar davon ausgehen, dass Carlton die Geminus-Kinder beschützen wird, weil ihr Tod das Aus seiner Pläne bedeuten würde, aber wenn er sie abschirmt und mit aller Macht verteidigt, wird es umso schwieriger für uns, ohne schwere Verluste an sie heranzukommen. Und für die Verschleppten, die als Ritualopfer dort sind, könnte ein später Zugriff ebenfalls fatal sein. Carlton und seine Leute werden sicherlich keine Skrupel haben, sie als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.«

Pratt tippte sich mit der Faust gegen sein Kinn, während er gedanklich ihre Optionen durchging. »Da Menschenrettung sowie der Schutz von Leben vorgehen«, sagte er dann, »ist ein möglichst früher Zugriff die bessere Taktik, auch wenn wir dabei dann vermutlich nicht an Carlton herankommen.«

Wieder presste Gabriel die Kiefer aufeinander und es stand ihm mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben, wie wenig ihm diese Aussicht gefiel.

Pratt bedachte ihn mit einem verständnisvollen Blick. »Glaub mir, mir wäre es anders auch lieber. Aber wenn ich das Leben von voraussichtlich achtundzwanzig Geiseln, darunter zwei kleine Kinder, sowie euer Leben und das der anderen Einsatzkräfte einem geringeren Risiko aussetzen kann, entscheide ich mich für den frühen Zugriff.«

»Das verstehe ich«, versicherte Gabriel. »Und ich sehe das genauso. Die Kinder lebend da rauszuholen, ist das Wichtigste, und da bei diesem Einsatz eine Menge Leute dabei sein werden, die mir verdammt viel bedeuten, bin ich auch sehr dafür, dass der Zugriff so sicher wie möglich abläuft. Das Problem ist nur, dass Carlton bisher nicht ahnt, dass wir ihm und seiner Sekte auf der Spur sind. Sobald wir aber an Samhain in Aktion treten, ist das vorbei. Er wird sich denken können, dass meine Familie und die Ghost Reapers maßgeblich an diesem Schlag gegen ihn und seine Sekte beteiligt waren und er wird dafür Rache nehmen wollen. Wozu er bei seiner Fehde gegen uns schon jetzt bereit gewesen ist, wissen Sie. Was er gegen uns unternehmen wird, wenn wir sein drittes Ritual vereiteln und ihm die Chance auf den geminus nehmen, will ich mir gar nicht vorstellen. Wenn wir also davon ausgehen, dass wir Carlton an Samhain womöglich nicht ausschalten können, müssen wir einen Weg finden, wie wir unsere Familie und Freunde vor einem Vergeltungsschlag schützen können.«

Pratt blickte von ihm zu Sky und dann zu den anderen. »Das sehe ich genauso. Habt ihr diesbezüglich schon einen Plan? Wenn ja, dann sagt mir, wie ich euch unterstützen kann.«

Kapitel 2

 

Pratt schenkte Connor, Sky, Gabriel und Matt einen anerkennenden Blick. Am Abend zuvor hatten die Hunts in der Familie gemeinsam ihre Möglichkeiten samt Vor- und Nachteilen durchgespielt. »Das ist ein guter Plan. Ich werde dafür von meiner Seite alles Nötige in die Wege leiten. Außerdem soll Betty sich um die Zusammenstellung der Sondereinsatztruppe kümmern, die euch beim Zugriff unterstützen wird. Sie wird wissen, bei welchen Kolleginnen und Kollegen wir uns auf Verschwiegenheit verlassen können.« Er sah in die Runde. »Da der Einsatz in der Unheiligen Nacht stattfindet, werdet ihr alle Silberschutzmontur tragen. Auch eure Leute. Wie viele sind das?«

»Einundzwanzig inklusive unserer Squad«, antwortete Connor.

Pratt wandte sich an Matt. »Sie und Leslie Rascal haben durch Ihren Einsatz bei der Säuberung der West End Arkaden Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Polizeitruppen und ich weiß, dass meine Spuks den Ghost Reapers in ihrer Freizeit bei Aufträgen zur Hand gehen und ihr alle dementsprechend ein eingespieltes Team seid. Die Leitung des Einsatzes wird Thad haben – sowohl über den Sondertrupp als auch über die zivilen Helfer. Kann ich davon ausgehen, dass es dabei keine Probleme geben wird?«

»Ja, Sir. Mein Onkel und seine Leute sind zwar nicht unbedingt die größten Fans von Regeln und Befehlsketten, aber sie wissen, worum es geht«, versprach Matt. »Flint hat nur seine zuverlässigsten und verschwiegensten Leute ausgewählt, die Thad als Befehlshaber akzeptieren werden.«

»Gut.« Pratt wandte sich Thad zu. »Kennst du die Truppe schon?«

»Ja, wir haben uns abends nach dem Dämmerdienst ein paar Mal im Mean & Evil getroffen. Es sind gute Leute. Rauer Umgang, aber das Herz am rechten Fleck. Sie werden verstehen, dass einer die Leitung des Einsatzes übernehmen muss und wenn ich Flint miteinbeziehe, werden seine Leute mich als Chief anerkennen.«

»Okay. Aber diese Treffen im Mean & Evil reichen als Vorbereitung nicht. Alle zivilen Helfer brauchen Training, um Kommandos durchzugehen«, entschied Pratt. »Sie müssen wissen, wie man koordiniert vorgeht, damit niemand in die Schusslinien gerät.«

»Das sehe ich genauso«, stimmte Thad ihm zu. »Da wir den Einsatz geheim halten wollen, fällt das Trainingsgelände der Polizeiakademie dafür allerdings flach.«

Pratt überlegte einen Moment. »Ich bitte Betty, euch eine leer stehende Lagerhalle zu organisieren. Das sollte als Trainingsort reichen, damit ihr grundlegende Taktiken durchgehen könnt.« Er wandte sich an die Totenbändiger in der Runde. »Ich schätze, bei einer Konfrontation werden Carltons Leute mit Silberenergie kämpfen?«

Sky nickte. »Einen Gegner mit Silberenergie auszuschalten, geht schneller, als eine Waffe zu ziehen. Außerdem werden wir mit der Energie, die wir anderen rauben, schneller und stärker.«

»Zumal ohnehin fraglich ist, ob Carltons Leute überhaupt Schusswaffen tragen«, gab Matt zu bedenken. »Messer ja. Zumindest einige. Aber wenn die Sektenmitglieder sich nicht selbst die Hände schmutzig machen und ihre Handlanger die Kehlen der Opfer durchschneiden lassen, besteht für sie eigentlich keine Notwendigkeit, eine Waffe zu tragen. Sie rechnen ja schließlich nicht damit, dass ihnen jemand auf die Spur gekommen ist und das dritte Ritual vereiteln will. Und falls die potenziellen Opfer versuchen sollten, ihnen Ärger zu machen, haben sie ihre Silberenergie.«

»Trotzdem sollten wir nicht ausschließen, dass der ein oder andere unserer Gegner nicht doch eine Schusswaffe tragen könnte«, warf Connor ein. »Wir sollten auf alles vorbereitet sein und niemanden unterschätzen.«

»Definitiv«, gab Pratt ihm recht und wandte sich dann an Matt. »Die Ghost Reapers sollten deshalb ebenfalls am Training teilnehmen. Und ihr«, er sah zu Sky, Connor und Gabriel, »werdet Thad beim Training unterstützen. Klärt, wer eine Waffe tragen kann und will. Außerdem solltet ihr den Einsatz von Silberenergie besprechen. Natürlich darf sich jeder zum Selbstschutz verteidigen oder die Energie einsetzen, um die Geiseln zu retten. Aber macht deutlich, dass Evils und Reapers wann immer möglich ihren Gegnern nur so viel Energie nehmen sollen, dass sie das Bewusstsein verlieren. Wenn wir Carlton als Anführer nicht zu fassen bekommen, ist jeder Mittäter, den wir verhören können, um ihn zu Fall bringen zu können, für uns wertvoll.«

Gabriel schnaubte. »Ich glaube nicht, dass wir viel aus den Leuten herausbekommen werden, wenn es dieselben sind, die für Carlton Morde und Terroranschläge begehen.«

Er fing sich einen warnenden Blick seines Commanders ein. »Vielleicht stehen die Chancen in der Tat nicht besonders gut, Informationen von ihnen zu erfahren. Und ich kann deine Wut auf diese Leute nachvollziehen und dass du Vergeltung für alles willst, was sie deiner Familie angetan haben. Aber Selbstjustiz ist keine Option. Verstanden?«

Gabriel schnaubte erneut. »Ja, Sir. Verstanden.«

»Das hoffe ich.« Pratt bohrte seinen Blick noch einen Moment länger in Gabriel, dann wandte er sich wieder an alle. »Ihr habt meinen größten Respekt für das, was ihr in den letzten Wochen geleistet habt, und bekommt meine volle Unterstützung, sowohl für den Einsatz als auch was eure Idee zum Schutz eurer Familie angeht. Falls es noch irgendetwas gibt, das ich für euch tun kann, dann sagt es.«

Sky tauschte einen kurzen Blick mit Connor, Gabriel und Matt. »Danke, Sir. Ihre Unterstützung bedeutet uns sehr viel und natürlich sorgen wir dafür, dass sowohl die Reapers als auch die Evils mit der bestmöglichen Vorbereitung in den Einsatz gehen. Eigentlich wollten wir aber die Zeit bis Samhain nutzen, um weiter die Adressenliste durchzugehen. Zum einen bestünde so die Chance, die Kinder sowie mögliche Ritualopfer schon früher zu finden. Zum anderen müssen wir nach dem Fund der Leichen am damaligen Ritualort von einem oder mehreren zusätzlichen Tätern ausgehen, die unabhängig von Carlton agieren und ebenfalls das Ritual durchführen. Wie genau sie zur Sekte stehen, wissen wir zwar nicht, aber da sie ihren alten Ritualort verloren haben, werden sie sich einen neuen gesucht haben. Den vor Samhain zu finden, wäre wichtig. Wenn diese Unabhängigen das Ritual durchführen, sterben auch dafür dreizehn Menschen und sie quälen ein Kind. Ganz zu schweigen davon, dass diese Leute – sollte das Ritual gelingen – mit dem Kind und dem geminus in der Lage wären, Geister zu befehligen.«

Pratt ließ sich in seinem Rollstuhl zurücksinken. »Ich verstehe eure Sorge. Aber so wie ich das sehe, haben wir keinen Hinweis darauf, dass sich diese möglichen Abtrünnigen einen neuen Ritualort gesucht haben. Das alte Herrenhaus wird kameraüberwacht und bisher ist niemand dort aufgetaucht. Die Chancen stehen also gut, dass der oder die Täter noch gar nicht bemerkt haben, dass ihr Versteck aufgeflogen ist.« Er deutete auf Kenwicks Manifest. »Samhain ist erst in einer Woche und man braucht zur Durchführung der Rituale nur dieses Geminusserum und die Geister. Der Ort spielt keine Rolle und muss nicht auf eine bestimmte Weise präpariert werden. Es ist also nicht abwegig, dass die Täter erst kurz vor Samhain zum Herrenhaus zurückkehren, weil es vorher keinen Grund dafür gibt. Sobald dort jemand auftaucht, zeichnen die Kameras diejenigen auf und melden die Aktivitäten. Dann können wir sofort reagieren und die Personen entweder gleich fest nehmen oder zur Fahndung ausschreiben.«

»Natürlich könnte es sein, dass der oder die Täter noch nicht bemerkt haben, dass ihr Ritualort aufgeflogen ist«, räumte Connor ein. »Aber für die Durchführung werden dreizehn Opfer gebraucht. Falls er allein agiert, hätte er dann nicht schon die ersten ins Herrenhaus gebracht? Er hat schließlich nur noch acht Tage dafür Zeit und die Spurensicherung hat ergeben, dass die Zellen im Keller als Gefängnisräume genutzt worden sind. Dass bisher niemand am Haus aufgetaucht ist, spricht daher schon dafür, dass es nicht mehr genutzt wird.«

»Aber das Haus liegt völlig einsam, der Einsatz dort wurde unter Verschluss gehalten und Kameras, die das Grundstück überwacht hätten, hat das Tech-Team nicht gefunden«, warf Pratt ein. »Wie sollte da jemand mitbekommen haben, dass der Ort aufgeflogen ist?«

»Das wissen wir leider auch nicht«, gab Sky zu.

Pratt verfiel einen Moment in Schweigen, dann kramte er in einem Aktenstapel, der sich auf einer Ecke seines Schreibtisches türmte, und zog die Mappe zu den Leichenfunden im alten Herrenhaus hervor. »Sechsundzwanzig Leichen wurden im Keller gefunden«, las er die Informationen noch einmal laut nach. »Dreizehn davon würden vom geschätzten Todeszeitpunkt zu einem Opfermord am Herbstäquinoktium passen. Bei den anderen dreizehn wäre ein Todesdatum im Frühling zeitlich möglich. Deshalb war unsere Vermutung, dass sich jemand von der Sekte abgespalten hat, um das Ritual mit nur einem Kind durchzuführen. Richtig?«

Alle nickten.

»Warum gab es in diesem Keller dann keine Kiste? Sind sie nicht zwingend erforderlich?« Pratt deutete zum Manifest. »In diesem Werk sind jede Menge widerliche Details vermerkt, aber von einer Kiste stand da nichts.«

Gabriel verbannte die Erinnerung an die hölzernen Gefängnisse und verbat sich die Vorstellung, welche Qualen die Kinder – und Cam – darin hatten aushalten müssen. »Die Kisten werden nicht unbedingt gebraucht. Diese Dreckskerle müssen nur sicherstellen, dass die Kinder nicht weglaufen können, sobald den Opfern die Kehlen durchgeschnitten werden und die Geister entstehen. Instinktiv werden die Geister sich den Kindern zwar immer als Erstes zuwenden, weil deren Lebensenergie besonders reizvoll ist, aber sollten die Kleinen weglaufen, würden sich die Schemen auch auf die Erwachsenen stürzen. Deshalb ist es praktischer, die Kinder festzusetzen, und eine Eisenkette um sie herum zu legen. Ein frisch entstandener Geist ist zu schwach, um diese Barriere zu überwinden, und wenn das Kind nicht flüchten kann, wird es den Geist bändigen müssen.«

Pratt dachte kurz darüber nach. »Würde es denn dann nicht auch reichen, das Kind an einen Stuhl zu fesseln, um es in diesem Eisenkreis festzuhalten?«

»Im Prinzip ja«, antwortete Matt. »Aber Fesseln schränken die Bewegungsfreiheit stärker ein als eine Kiste. Nach dem, was wir herausgefunden haben, gibt es zwei Jahrgänge von Kindern und die Kleinen sind entweder drei oder vier Jahre alt. Es ist erstaunlich, dass sie in so jungem Alter überhaupt schon so gut Geister bändigen können. Wenn sie es tun, werden sie ihre Silberenergie aber noch stark mit ihren Händen lenken und noch nicht so sehr mit ihren Gedanken. Fesseln würden sie dabei zu sehr einschränken. In der Kiste können sie sich mehr oder weniger frei bewegen und das Bändigen der Geister dürfte so deutlich leichter für sie sein.«

Pratt nickte langsam und blätterte erneut durch die Akte. »Hier drin steht nichts von einer Kiste, einem Stuhl oder Ähnlichem.« Er blickte auf und sah in die Runde. »Wäre es dann nicht denkbar, dass die Abtrünnigen das Ritual gar nicht mit einem Kind vollziehen, sondern mit einem Erwachsenen, der es freiwillig macht? Das könnte eventuell sogar der Grund für die Abspaltung von der Sekte und einen eigenen Durchlauf des Rituals gewesen sein. Kenwick schreibt zwar, dass es mit Kindern vollzogen werden muss, die schon während Zeugung und Schwangerschaft auf diesen geminus vorbereitet werden müssen, aber vielleicht herrschte darüber Uneinigkeit in der Sekte. Besonders, weil das Ritual beim Versuch vor dreizehn Jahren ja offensichtlich schon in der ersten Unheiligen Nacht gescheitert ist. Der Hauptgrund dafür dürfte ja vermutlich gewesen sein, dass die Kinder zu klein und zu schwach waren. Vielleicht hat sich deshalb eine Gruppe von der ursprünglichen Sekte abgewendet und probiert es in diesem Jahr mit einem Erwachsenen, der die Rituale freiwillig vollzieht.«

Einen Moment herrschte Schweigen, als alle diese Möglichkeit erwogen.

Wäre es möglich, diese Zwillingskraft allein dadurch in sich zu erzeugen, dass man in den Unheiligen Nächten eines Unheiligen Jahres dreizehn Geister bändigt? Für Sky klang das eher unwahrscheinlich, allerdings wusste niemand genau, welche seltsamen Kräfte in dieser Zeit wirkten, die Geister so aggressiv werden ließen. Wer wollte dann absprechen, dass sich genau diese Kräfte nicht auch auf die Kräfte der Totenbändiger auswirken konnten? Und Cam war der Beweis, dass das Ritual auch jenseits des Kindesalters funktionierte und ohne dass man vorher das Geminusserum verabreicht bekam. Zumindest hatte er es nicht kürzlich bekommen. Als Kind und vor seiner Geburt dagegen schon. War das ausschlaggebend?

»Ich bin mir nicht sicher, ob das Ritual bei einem Erwachsenen ohne entsprechende Vorbereitung in der Kindheit und der pränatalen Phase funktionieren würde«, meinte sie zweifelnd.

Pratt hob die Schultern. »Vielleicht tut es das auch nicht, aber das muss dieser Truppe ja nicht unbedingt klar sein. Laut Kenwicks Aufzeichnungen kann die Zwillingskraft erst nach dem dritten Ritual bewusst von den Trägern gerufen und eingesetzt werden. Wenn ihr Proband also nach den ersten beiden noch nichts von diesem Zwilling spürt, wundern sie sich darüber vermutlich nicht sonderlich und machen einfach erst mal weiter.«

»Das könnte natürlich sein.« Sky verzog das Gesicht. »Allerdings wäre dann sehr zu hoffen, dass das Ritual tatsächlich nicht funktioniert. Wenn sich einer oder vielleicht sogar mehrere von Carltons Sekte abgewendet haben, um ihren eigenen Versuch unter eigenen Bedingungen durchzuführen, hätten wir an Samhain sonst womöglich außer den Kindern noch einen Erwachsenen, der Geister befehligen kann. Wenn dieser ursprünglich in Carltons Sekte war, dürfte er gesinnungsmäßig ähnlich orientiert sein wie er und das könnte dann ziemlich übel werden.«

Connor nickte und wandte sich zu seinem Commander. »Ob es nun ein Einzeltäter ist oder eine Splittergruppe, und egal, ob sie das Ritual mit einem Kind oder einem Erwachsenen vollziehen, wir sollten sie finden und dafür die noch ausstehenden Adressen überprüfen, für den Fall, dass sie nicht zu ihrem ursprünglichen Ritualort zurückkehren werden.«

»Ich verstehe euren Punkt«, räumte Pratt ein. »Aber wenn es mehrere Personen sind, die getrennt vom Rest der Sekte das Ritual durchführen, spricht vieles dafür, dass sie noch nicht bemerkt haben, dass ihr Versteck aufgeflogen ist. Ja, sie brauchen dreizehn Opfer, aber als Gruppe können sie die kurzfristig entführen. Das wäre schließlich viel praktikabler, als die Gefangenen eine ganze Woche lang festzuhalten, mit Nahrung und Wasser zu versorgen sowie sicherstellen zu müssen, dass sie weder entkommen noch sich etwas antun. Sie nur möglichst kurzfristig gefangen halten zu müssen, macht die Sache einfacher. Es ist also durchaus möglich, dass diese Splittergruppe erst kurz vor der Unheiligen Nacht im Herrenhaus auftauchen wird.«

»Und so lange tun wir nichts?« Ungehalten schüttelte Gabriel den Kopf. »Was, wenn da keiner auftaucht, weil die Truppe eben doch – wie auch immer – herausgefunden hat, dass ihr Versteck aufgeflogen ist? Dann töten sie an Samhain dreizehn Menschen! Und bloß weil es am Tatort keine Kiste gab, ist ja nicht komplett ausgeschlossen, dass sie das Ritual nicht doch mit einem Kind vollziehen, das dabei ebenfalls sterben könnte. Das können wir doch nicht einfach in Kauf nehmen!«

Pratt seufzte schwer. »Ich weiß, es ist schwer, aber wir müssen Prioritäten setzen, weil wir aufgrund der Geheimhaltung leider nicht auf besonders viele Ressourcen zurückgreifen können. Carlton rechtzeitig seine Macht zu nehmen, und zwar ohne dass die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, was er mit diesem geminus plant, oder dass er für die Taten der Death Strikers verantwortlich ist, muss Priorität haben. Sollte das bekannt werden, würde das unsere Stadt in einen nie gekannten Aufruhr stürzen. Selbst die friedlichsten Totenbändiger wären dann kaum noch sicher, und wenn die weniger friedlichen sich gegen die Übergriffe der Normalos zur Wehr setzen, endet das womöglich in Krawallen und Bürgermilizen mit Zuständen wie in einem Bürgerkriegsgebiet.« Er warf einen ernsten Blick in die Runde. »Das müssen wir um jeden Preis vermeiden.«

In den Gesichtern der anderen war zu lesen, dass auch sie diese Vorstellung erschreckend fanden.

»Ich bin nicht glücklich darüber, dass wir deshalb die Suche nach der Splittergruppe vernachlässigen müssen«, gestand Pratt seinen Leuten, als er weitersprach. »Aber ich stufe Carlton als deutlich gefährlicher ein als diese Abtrünnigen. Er leitet eine Terrorgruppe und hat Verlorene Orte geschaffen, in denen eine Geisterarmee wartet, die er in einer Woche befehligen kann, wenn wir ihn nicht stoppen. Deshalb muss der Einsatz an Samhain erfolgreich sein und dafür brauche ich euch an einer anderen Front und nicht beim Überprüfen von Adressen. Da wir aus Geheimhaltungsgründen bei diesem Einsatz auf zivile Helfer zurückgreifen, müssen diese so gut es geht vorbereitet sein, und dazu gehört, dass ihr ihnen die Grundlagen verschiedener Zugriffsstrategien erklärt. Auch das Duellieren solltet ihr mit ihnen trainieren.« Er wandte sich an Gabriel, Sky und Connor. »Dass ihr diesbezüglich mit den Ghost Reapers bereits ein eingespieltes Team seid, weiß ich. Seht zu, dass es mit den Evils ähnlich gut funktioniert und übt Kommandos und Abläufe ein.« Er blickte zu Matt. »Da Carltons Leute mit Silberenergie kämpfen werden, bin ich froh, dass wir die Ghost Reapers sowie die Mighty Evils Ihres Onkels als Unterstützer an unserer Seite haben. Nur mit Gabriel und Sky, die Carltons Sekte mit ihrer Energie die Stirn bieten könnten, wäre der Einsatz höchst riskant.«

»Es ist selbstverständlich, dass wir helfen«, versicherte Matt. »Carlton hat die Reapers schon mehr als einmal persönlich angegriffen und ich sehe das wie Sie: Er ist eine Bedrohung für ganz London.«

Pratt nickte knapp. »Ich hoffe, dann kann ich beim Training auch auf Ihre Unterstützung zählen. Ich werde Betty bitten, zuverlässige und verschwiegene Leute auszuwählen, fürchte aber, dass die meisten davon Normalos sein werden, weil die Metro Police, was Totenbändiger angeht, leider noch viel zu unterbesetzt ist.« Er blickte in die Runde. »Ihr werdet unsere Leute also auf das vorbereiten müssen, was sie beim Zugriff erwarten kann. Ich denke nämlich, dass die meisten von ihnen noch nie Silberenergie gesehen, geschweige denn gespürt haben. Mir ist klar, dass ihr ihnen nicht innerhalb von einer Woche beibringen könnt, sich effektiv dagegen zu schützen. Aber sie sollten beim Anblick eurer Kräfte und wie ihr euch damit bekämpft, nicht völlig überwältigt sein. Außerdem solltet ihr ihnen erklären, wie sie euch unterstützen können. Nutzt die Zeit bis Samhain, um Zugriffsstrategien zu entwickeln, auszutesten und zu koordinieren. Zum Wohle unserer Stadt müssen wir bei diesem Einsatz verhindern, dass die Kinder das dritte Ritual vollziehen und sie aus Carltons Händen befreien. Ich hoffe, wenn ihr gemeinsam mit den Evils, den Reapers und der Sondereinsatztruppe trainiert, schaffen wir das – und zwar mit möglichst wenigen Opfern auf unserer Seite.«

Kapitel 3

 

Montag, 28. Oktober

4 Tage bis Samhain

 

Evan zog seinen Rucksack vom Beifahrersitz, warf die Autotür zu und sah hinüber zur Akademie. Nach einer Woche Herbstferien, in der er jeden Tag hier verbracht hatte, wirkte der Bau mittlerweile fast vertraut. Heute, an seinem ersten offiziellen Schultag, herrschte allerdings kurz vor Beginn der ersten Stunde deutlich mehr Treiben als sonst. Externe Schülerinnen und Schüler wurden von ihren Eltern hergebracht und vor dem Eingangstor abgesetzt. Außerdem gab es zwei Schulbusse, die Kinder aus Brixton und dem East End abholten. Die Totenbändigerfamilien, die in den ärmeren Stadtvierteln lebten, konnten sich oft keine Autos leisten, und da die Akademie ziemlich abgeschieden lag, wären die Kinder mit öffentlichen Verkehrsmitteln den halben Tag unterwegs gewesen. Manche dieser Kinder schliefen unter der Woche auch in der Akademie, wenn die Wohnsituation zu Hause nicht die beste war, und kehrten nur an den Wochenenden und in den Ferien in ihre Viertel zurück. Beim Thema Förderung und Unterstützung von finanziell schwächer gestellten Familien machte Carlton in der Akademie möglich, was möglich gemacht werden konnte, und man richtete sich nach den individuellen Wünschen der Familien. Evan konnten daher gut verstehen, warum der Schulleiter bei vielen Totenbändigern so beliebt war. Für seine Rasse tat er in den Augen seiner Anhänger so gut wie alles – was Evan prinzipiell nicht schlecht fand. Es wäre nur gut, wenn Carlton dafür nicht über unzählige Leichen von Normalos gehen würde.

Evan war froh, dass er durch die Hunts Carltons wahres Gesicht kannte. Hätte er nicht von der Sekte und den Plänen mit geminus obscurus gewusst, oder dass Carlton der Kopf der Death Strikers war, vielleicht wäre er dann auch auf die charmante Fassade des Schulleiters hereingefallen. Woher hätte er es auch besser wissen sollen? Ihn persönlich behandelte Carlton jedenfalls ausgesprochen gut. In der letzten Woche hatte der Akademieleiter sich jeden Tag eine Stunde Zeit für Evan genommen und mit ihm das Blocken trainiert. Hart, aber nicht unfair. Er ging zwar gnadenlos an Evans Grenzen, doch nie darüber hinaus, verriet ihm wertvolle Tricks und gab Tipps, wie er weitertrainieren sollte. Das Training mit Carlton war nämlich nicht sein einziges. Auch Ruben und David hatten täglich mit ihm geübt und Evan war begeistert, wie sehr er sich bereits in nur einer Woche verbessert hatte. Das stand definitiv auf der Plusseite seines neuen Alltags.

David und Ruben standen ebenfalls dort, auch wenn Evan klar war, dass Davids Loyalität zweifellos bei seinem Schulleiter lag, was eine echte Freundschaft mit ihm unwahrscheinlich machte. Evan war sich ziemlich sicher, dass Carlton David in der letzten Woche ein paar Mal zu sich zitiert hatte, um zu hören, wie Evan sich einfügte, welche Fragen er stellte und was sie den ganzen Tag machten, wenn Evan in der Akademie war. David war einer der internen Schüler, ziemlich intelligent und sich sehr bewusst, was Carlton ihm in der Akademie alles ermöglichte. Entsprechend dankbar war er seinem Schulleiter und ließ nichts auf ihn kommen. Er wollte Medizin studieren und danach nach Newfield gehen, um die wachsende Gemeinschaft dort mit seinen Fähigkeiten zu unterstützen. Carlton befürwortete das und hatte ihm bereits zugesichert, ihm sein Studium zu finanzieren.

Ruben war ebenfalls ein interner Schüler. Er teilte sich ein Zimmer mit David und war ein Jahr jünger als er und Evan. Auch Ruben war seinem Schulleiter dankbar, ging aber in vielen Dingen schlicht den Weg des geringsten Widerstandes. Er erledigte zuverlässig seine Pflichten, weil er sich damit Ärger ersparte, danach seine Ruhe hatte und tun konnte, was er wollte. Evan mochte ihn, weil Ruben ähnlich neugierig auf den Alltag und das Leben von Normalos war, wie Evan alles über Totenbändiger wissen wollte. Sie hatten in der letzten Woche viel Zeit miteinander verbracht, wenn David sich entschuldigt hatte, um für die Schule zu lernen oder sich in einen seiner Medizinwälzer zu vertiefen.