Die Totenbändiger - Band 17: Neue Zeiten - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 17: Neue Zeiten E-Book

Nadine Erdmann

0,0

Beschreibung

Die dritte Unheilige Nacht ist vorüber und nach dem Schlag gegen Carlton brechen für die Hunts neue Zeiten an. Während sie den beiden geretteten Ritualkindern helfen, sich in ihrer Familie einzuleben, müssen sie gleichzeitig weiter gegen Carlton vorgehen, um ihm das Handwerk zu legen, bevor er zu einem Gegenschlag ausholen kann. Das ist allerdings gar nicht so leicht, wenn gerade der erste Herbstnebel durch die Straßen zieht und London lahmlegt. Im Nebel ist mit Geistern nicht zu spaßen. Das bekommen besonders die Spuks zu spüren, als sie zu einem Notfalleinsatz gerufen werden, der es in sich hat… Der Auftakt zur 3. Staffel. Der 17. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 209

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Table of Contents

Neue Zeiten

Wintersonnenwende

Staffel 2 - Kurz und knapp

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Vorschau

Impressum

Die Totenbändiger

Band 17

Neue Zeiten

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wintersonnenwende

Substantiv, feminin. Oberbegriff: Sonnenwende (lateinisch: Solstitium). Die Wintersonnenwende fällt auf den 21./22. Dezember und markiert den Tag, an dem die Sonne die geringste Mittagshöhe am Horizont erreicht, was besagten Tag zum kürzesten und die darauffolgende Nacht zur längsten des Jahres macht. Die Nacht der Wintersonnenwende ist die vierte und letzte Unheilige Nacht eines jeden Jahres und gilt aufgrund der besonders langen Phase der Dunkelheit als die gefährlichste. Auch in den unmittelbaren Nächten vor und nach der Wintersonnenwende wird allerdings zu extremer Vorsicht geraten.

 

Um den dunklen Tagen entgegenzuwirken, zelebrieren die Menschen den gesamten Dezember über die Julzeit, in der sie der Finsternis mit Lichterglanz begegnen. Höhepunkt ist dabei das Julfest, das am 22., 23. und 24. Dezember gefeiert wird. Es ist ein Fest der Lichter, bei dem man mit Freunden und Familie zusammenrückt, um gemeinsam der dunkelsten und gefährlichsten Zeit des Jahres zu trotzen und gleichzeitig zu feiern, dass die Tage nach der überstandenen Unheiligen Nacht nun wieder länger werden.

Staffel 2 - Kurz und knapp

 

Auf der Suche nach Antworten zu geminus obscurus kontaktieren die Hunts Professor Winkler, einen Experten für die Geschichte der Totenbändiger. Von ihm erfahren sie von Cyrus Kenwick, der zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ein Ritual erforscht und niedergeschrieben hat, bei dem ein bereits in der Schwangerschaft eingesetzter verborgener Zwilling in Totenbändigerkindern entstehen und dann mittels vier Ritualen in den Unheiligen Nächten in Unheiligen Jahren zur Reife gebracht werden soll. Winkler hilft den Hunts, eine Abschrift von Kenwicks Manifestes einzusehen. Die Lektüre des Werks bringt zwar nur bedingt neue Erkenntnisse, verrät ihnen aber die Zusammensetzung des Geminusserums sowie die Entwicklungsstufen des Zwillings nach den entsprechenden Ritualen: Beim ersten Ritual wird der Zwilling im Träger lediglich geweckt. Das zweite Ritual stärkt den Geminus insoweit, als dass er das Leben seines Trägers – und damit auch seine eigene Existenz – schützen kann. Nach dem dritten Ritual sollen die Träger in der Lage sein, den Zwilling ähnlich wie ihre Silberenergie zu rufen. Laut Kenwick können sie mithilfe des roten Zwillingsnebels dann Geister befehligen und vernichten. Das vierte Ritual führt schließlich angeblich dazu, dass der Geminusträger mit der Zwillingskraft Normalos in Totenbändiger verwandeln kann.

Nach dieser Erkenntnis zu geminus obscurus, der Gewissheit, dass Cam diesen Zwilling in sich trägt und der Vermutung, dass die Sekte erneut versucht, die Rituale an Kindern zu vollziehen und dafür zig Menschen töten wird, setzen die Hunts alles daran, die Sekte ausfindig zu machen.

Bei ihren Recherchen findet die Familie heraus, dass Cornelius Carlton der Kopf der Sekte ist. Daraufhin fahren sie – in der Hoffnung auf handfeste Beweise gegen Carlton - nach Newfield, um sich auf der Totenbändiger-Farm umzusehen. Die erhofften Beweise finden sie zwar nicht, nehmen jedoch einige Totenbändiger mit, die sich auf der Farm nicht wohlfühlen. Darunter ist Ivy, die ihnen vom Tod ihrer Mutter sowie anderer schwangerer Totenbändigerinnen berichtet, die ganz offensichtlich für das Ritual der Sekte missbraucht wurden. Sie führt die Hunts zu einem ehemaligen Jagdhaus unweit der Farm, in welchem die Mütter die letzten Wochen fristeten, die Babys zur Welt geholt und dann maskierten Männern übergeben wurde, die die Mütter verbluten ließen und mit den Babys wegfuhren.

Carlton rächt sich für die Einmischung der Hunts und ihrer Freunde in Newfield und revanchiert sich mit der Sabotage des neusten Auftrags der Ghost Reapers in Covington Garden, wobei er sowohl die Leben der dort arbeitenden Handwerker aufs Spiel setzt als auch die der Reapers, die sich ungeahnt einer Übermacht an Geistern und Wiedergängern gegenübersehen. Mit Hilfe ihrer Freunde und Familie gelingt es ihnen aber, dass niemand durch Carltons Aktion zu Schaden kommt und ihr guter Ruf ebenfalls keinen Schaden nimmt.

Dass Carlton nicht nur der Kopf der Geminus-Sekte ist, sondern auch die Terrororganisation Death Strikers anführt, die die Stadt seit zwölf Jahren um Gelder erpresst und mit Anschlägen terrorisiert, bei denen jeweils massenhaft Menschen sterben und Verlorene Orte in ganzen London entstehen, ahnen die Hunts erst, als ihre Kinder bei einem Anschlag auf ihre Schule Carltons Helfershelfer beobachten. Dieser Anschlag findet nach dem Votum der Stadträte für den Totenbändigersitz statt. Hunderte von Jugendlichen sowie Lehrkräfte und weiteres Personal sterben bei der Detonation der Sprengsätze oder in den Trümmern nach der Begegnung mit Geistern. Cam, Jules, Ella und Jaz können sich aus dem eingestürzten Gebäude retten. Jules wird dabei allerdings schwer verletzt.

Nach mehreren erfolglos durchsuchten Häusern finden die Hunts tatsächlich noch vor Samhain den aktuellen Ritualort der Sekte und bergen mit Unterstützung von Commander Pratt und einem Sondereinsatzkommando der Metropolitan Police die beiden verbliebenen Ritualkinder. Auch wenn damit das dritte Ritual vereitelt werden konnte, gelingt es dabei nicht, Mitglieder der Sekte festzunehmen, da sie sich dem Zugriff durch Freitod entziehen. Auch Carlton kann entkommen.

Die beiden überlebenden Ritualkinder werden von den Hunts aufgenommen. Um ihre Familie vor einem Vergeltungsschlag zu schützen, haben die Hunts gemeinsam mit Commander Pratt eine Strategie ausgearbeitet, die darin besteht, dass ein Teil der Information zur Terrorzelle an die Presse gegeben wird und man offiziell eine Zusammenarbeit mit Carltons Männern verkündet, um alle Verlorenen Orte, die die Death Strikers der Stadt zugefügt haben, auszumerzen. In einem Vier-Augen-Gespräch verlangt Sue außerdem, dass Carlton das Geld, das er im Laufe der Jahre von der Stadt erpresst hat, als anonyme Spende zurückgibt, die für die Säuberung sowie den Neuaufbau der Verlorenen Orte eingesetzt werden soll. Zusätzlich verlangt sie von ihm, dass er sich von ihrer Familie, zu der jetzt auch die geretteten kleinen Jungen gehören, fernhält. Sollte er das nicht tun, droht sie ihm mit dem Veröffentlichen von Fotos von vier seiner Sektenmitglieder, die Lehrer an Carltons Akademie waren. Dadurch könnte Carlton die Leitung der Schule verlieren. Somit kann er – vorerst – nicht anders, als Sues Forderungen zu akzeptieren.

Cam hat sich dazu entschlossen, an Samhain das dritte Ritual zu vollziehen. Zum einen erhofft er sich, dadurch Kontrolle über die Zwillingskraft in seinem Inneren zu bekommen. Zum anderen will er sich einem möglicherweise von Carlton gesteuertem Zwillingskraftträger in den Weg stellen können, sollte es Carlton oder einer anderen Person oder Gruppierung gelingen, ebenfalls die Zwillingskraft durch das vierte Ritual zu vervollständigen. Das Ritual gelingt und Cam kann nun tatsächlich seinen Geminus gezielt rufen. Gleichzeitig wird ihm allerdings klar, dass die Zwillingskraft sich sehr von seiner Silberenergie unterscheidet. Der Zwilling ist deutlich eigenständiger, besitzt Emotionen und teilt diese mit Cam, was die Frage aufwirft, inwieweit Cam ihn wirklich kontrollieren kann oder ob der Zwilling ihn womöglich manipulieren wird, sobald seine Kräfte noch weiter erstarken.

Blaine ist ebenfalls ein Träger des Zwillings, der im Alleingang das Geminusritual vollzieht. Dies ahnen bisher jedoch weder die Hunts noch Carlton senior.

Kapitel 1

 

Dreizehn Jahre zuvor

 

Trübes Licht fiel durch das Sprossenfenster des kleinen Cottage auf Annas Nähtisch. Draußen kämpfte die Vormittagssonne gegen den Hochnebel, mit dem der erste Novembertag sie heute begrüßt hatte. Anna unterdrückte ein Gähnen und blinzelte ein paarmal, während sie sich das Hosenbein der Anzughose zurechtlegte, das nach dem Kürzen jetzt noch einen neuen Saum bekommen sollte. Sie fühlte sich ziemlich gerädert. Wie meistens in Unheiligen Nächten hatte sie kaum ein Auge zugetan. Und wenn die Müdigkeit sie doch mal übermannt hatte, war sie von schrecklichen Träumen heimgesucht worden. Maskenmänner mit langen Messern hatten Menschen gejagt, um ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Sie hatten Anna bei ihren Gräueltaten zusehen lassen, bis sie sich irgendwann auch ihr zugewandt und Jagd auf sie gemacht hatten.

Anna schauderte und fragte sich, ob es wirklich nur ein Traum gewesen war oder ob in London in diesem Jahr nicht genau solche Taten tatsächlich stattfanden. Gestern war die dritte Unheilige Nacht gewesen. Falls das Geminusritual funktionierte, sollten die Kinder, die Cornelius und sein Vater sich für ihr Experiment herangezüchtet hatten, jetzt Geister befehligen können. Wieder schauderte Anna und fragte sich, ob sie weniger Albträume hätte, wenn sie jemandem davon erzählen würde, was womöglich gerade irgendwo im Verborgenen in London passierte.

Aber wenn die Carltons mit ihren Ritualen wirklich erfolgreich gewesen wären, hätte das nicht längst jemand bemerken müssen? Selbst in einer Stadt wie London sollte es doch eigentlich auffallen, wenn zig Menschen verschwanden. Und wenn die Carltons dabei so geschickt vorgingen, dass wirklich niemand etwas davon mitbekam, wer würde dann ihr – einer Totenbändigerin – glauben, wenn sie den Schulleiter der Akademie und seinen Sohn beschuldigte, eine Sekte anzuführen, die Menschen opferte und grausame Experimente an Kindern vollzog?

Niemand.

Das Einzige, was sie damit erreichen würde, war, dass sie Cornelius auf ihre Spur brachte, und sie hatte in den letzten Jahren zu viel dafür getan, genau das zu verhindern.

Seufzend ließ sie von der Hose ab, nahm stattdessen ihre Kaffeetasse und sah zum Fenster hinaus. Blaine spielte im Sandhaufen, den sie in einer Ecke ihres kleinen Gartens aufgeschüttet hatte. Für ihn hatte sie all die Gefahren auf sich genommen. Er durfte Cornelius auf keinen Fall in die Hände fallen, sonst würde es ein Unglück geben. Mit ihrer Flucht hatte sie zwar dafür gesorgt, dass ihr Sohn keins der Rituale in diesem Jahr vollzogen hatte, doch der dunkle Zwilling war schon jetzt stark in ihm. Manchmal so stark, dass es ihr Angst machte. Nicht auszudenken, was womöglich passiert wäre, hätte Cornelius mit ihm dann auch noch die Rituale vollzogen.

Ihre Tasse war leer und sie ging gedankenversunken hinüber in die Küche, um sich einen neuen Kaffee zu holen.

Als Cornelius ihr vor fünf Jahren davon erzählt hatte, dass es eine Möglichkeit gab, mithilfe von speziellen Vorbereitungen Kinder zu gebären, die in der Lage sein würden, den Stand ihrer Rasse in der Gesellschaft für alle Zeiten zu verbessern, war sie sofort begeistert gewesen und hatte sich geschmeichelt gefühlt, weil er in ihr eine würdige Kandidatin für eine solche Schwangerschaft gesehen hatte. Heute konnte sie nur noch den Kopf über ihre Dummheit und Naivität schütteln. Aber sie war noch so verdammt jung und unerfahren gewesen. Frisch in London angekommen und voller Hoffnung, dass es in der Großstadt fortschrittlicher zuging und man Totenbändiger nicht so misstrauisch betrachtete wie in dem kleinen Kaff, in dessen Nähe das Totenbändigerheim lag, in dem sie bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag gelebt hatte. Sie hatte von der Akademie in London gehört und gehofft, dass man ihr dort helfen konnte, einen Job zu finden, so wie die Akademie auch ihren eigenen Absolventen dabei half, nach ihrer Schulzeit in der Gesellschaft Fuß zu fassen.

Während sie vor dem Büro des Schulleiters auf ihren Termin gewartet hatte, war sie von seinem Sohn begrüßt worden und der charmanten Art von Cornelius Carlton sofort verfallen. Auch das war sicher schrecklich dumm und naiv gewesen, doch Cornelius war der erste Mensch, der echtes Interesse an ihr gezeigt hatte. Er wollte wissen, wo sie herkam, was sie bisher in ihrem Leben gemacht hatte und wie stark sie sich als Totenbändigerin einschätzte. Damals waren ihr die Fragen absolut gerechtfertigt erschienen, schließlich hatte sie ja gehofft, dass man ihr helfen würde, einen Job zu finden. Da war es nur verständlich, dass Cornelius und auch sein Vater ihre Totenbändigerkräfte hatten testen wollen. Und Anna hatte ihnen nur allzu gerne gezeigt, was sie konnte. Sie wusste, dass sie gut war. Sie hatten regelmäßig die Umgebung ihres Kinderheims von Geistern gesäubert, was dazu geführt hatte, dass sie von ihrer Heimleitung zur Anführerin der Säuberungstruppe gemacht worden war. Auch die Carltons waren von ihren Fähigkeiten, Geister zu bändigen, beeindruckt gewesen und ihr Lob hatte Anna unfassbar stolz gemacht. Genauso wie das Angebot, ihnen ein Totenbändigerkind zu gebären, dem besondere Fähigkeiten mit in die Wiege gelegt werden sollten. Fähigkeiten, die dazu führen würden, dass die Totenbändiger sich nicht länger von den Normalos unterdrücken lassen mussten.

Anna erinnerte sich noch gut daran, dass sie sich nicht sicher gewesen war, ob sie wirklich an Kenwicks angebliche Forschungsergebnisse und diesen geminus obscurus glauben wollte. Ein geheimes Serum, das in Verbindung mit den seltsamen Kräften, die in Unheiligen Zeiten herrschten, während der Schwangerschaft besondere Fähigkeiten in den ungeborenen Kindern entstehen lassen sollte? Das klang doch ziemlich abstrus.

Aber ob sie es nun glaubte oder nicht, für sie war es eine perfekte Chance gewesen. Die Carltons garantierten ihr die beste Versorgung während ihrer Schwangerschaft. Gemeinsam mit den anderen ausgewählten Frauen wollte man sie in einer kleinen Pension etwas außerhalb von London unterbringen. Für Kost, Logis sowie die sämtliche medizinische Versorgung wäre gesorgt und Anna könnte sich während ihrer Schwangerschaft in London einleben. Nach der Geburt würde sie sich um die Pflege ihres Kindes kümmern und es gemeinsam mit besonders geschulten Trainern auf seine große Aufgabe vorbereiten.

Anna war sofort einverstanden gewesen. Was hätte sie sich auch Besseres wünschen können? Sie liebte Kinder. Im Heim hatte sie sich oft um die Jüngeren gekümmert und immer von eigenen Kindern geträumt, da war das Angebot der Carltons wie ein Traum, der ganz unverhofft und viel schneller als sie zu hoffen gewagt hatte, wahr werden würde.

Dann war jedoch alles anders gekommen und der Traum war während der Schwangerschaft ganz schnell zum Albtraum geworden. Niemand hatte sie oder die anderen Frauen darauf vorbereitet, welch abartige Schmerzen die Behandlungen mit sich brachten. Immer wieder hatten die fürchterlichen Prozeduren ihr Verstand und Sinne geraubt. Manche der Frauen erlangten beides nicht zurück und vegetierten bis zur Geburt mehr weggetreten als wach in ihren Betten. Diejenigen, die die Prozeduren besser verkrafteten und sich beschwerten oder gar die Behandlung abbrechen wollten, wurden über Monate mit Medikamenten ruhiggestellt. Die meisten überlebten die Geburt nicht und was mit denen geschehen war, die nicht in der Nacht der Wintersonnenwende gestorben waren, wusste Anna nicht. Sie hatte keine von ihnen je wiedergesehen.

Sie selbst hatte sich während ihrer Schwangerschaft so still und unauffällig wie möglich verhalten und alle Behandlungen gehorsam über sich ergehen lassen. Sie hatte vorgespielt, weiter davon überzeugt zu sein, dass es wichtig war, den Geminus zu erwecken und mit ihm die Möglichkeit zu bekommen, ihren Stand in der Gesellschaft zu ändern. Sie hatte immer wieder betont, wie geehrt sie sich fühlte, eins der besonderen Babys in sich tragen zu dürfen, und dass sie stark genug war, all die Schmerzen auszuhalten. Die Carltons hatten ihr das hoch angerechnet. Aus diesem Grund hatte sie nach der Geburt auch bleiben und sich um die Kinder kümmern dürfen. Nicht nur um ihr eigenes. Um alle.

Auch dabei hatte sie sich kooperativ gezeigt. Ihr Körper war nach der schrecklichen Schwangerschaft stark geschwächt und auch der Kaiserschnitt, durch den ihr Sohn in der Nacht der Wintersonnenwende zur Welt geholt worden war, raubte ihr Kraft und heilte nur langsam. Trotzdem hatten die Carltons ihr nur wenige Tage nach der Geburt mitgeteilt, dass sie Anna zum nächsten Frühlingsäquinoktium ein weiteres Mal schwängern wollten. Schließlich hatte nicht nur sie sich als würdig erwiesen. Ihr Sohn war eins der stärksten Babys aus dem ersten Zyklus.

Anna hatte gute Miene zu bösem Spiel gemacht und die Carltons in dem Glauben gelassen, dass sie sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als einen weiteren Geminusträger zu gebären. Sobald sie sich jedoch kräftig genug gefühlt hatte, war sie mit ihrem Sohn aus der Pension geflüchtet. Bis zum heutigen Tag quälte sie sich oft mit Gewissensbissen, die anderen Kinder zurückgelassen zu haben. Doch sie hätte unmöglich alle fünf mitnehmen können. Bei zweien war es ohnehin fraglich gewesen, ob sie überhaupt überleben würden. Anna hatte auch nicht gewusst, an wen sie sich hätte wenden können, um ihnen Hilfe zu schicken. Sie kannte niemanden in London und zur Polizei zu gehen – was hätte das gebracht? Es ging schließlich nur um Totenbändigerkinder. Niemand hätte sich zuständig gefühlt. Vermutlich hätte man sie sogar für verrückt oder verwirrt gehalten und das Einzige, was passiert wäre, wäre ein Anruf in der Akademie gewesen, damit die Leute dort sie abholten und sich um sie kümmerten. Schließlich war sie eine junge Totenbändigerin mit einem Baby. Für genau solche Leute war die Akademie zuständig. Sie konnte aber auf keinen Fall zulassen, dass die Carltons sie und ihr Baby wieder in die Finger bekamen. Eine weitere Schwangerschaft hätte sie nicht durchgestanden und dass man ihr Baby womöglich mit denselben Prozeduren quälte, die sie hatte aushalten müssen, war eine unerträgliche Vorstellung.

Deshalb ging sie nicht zur Polizei. Sie lief aus London weg. Versteckte sich mit ihrem Kind immer wieder in anderen Städten. Blieb nie lange an einem Ort. Hielt sich immer unter dem Radar. Sie wusste nicht, ob die Carltons sie wirklich suchen ließen. Es hatte nie Anzeichen dafür gegeben, dass ihr jemand folgte, doch sie ging vom Schlimmsten aus. Immerhin hatte sie nicht nur einen der Geminusträger entführt, der Kleine war auch noch Cornelius’ Sohn, daher würde man ihr ihre Tat ganz sicher nicht durchgehen lassen.

Sie gab sich deshalb alle Mühe, unauffällig zu bleiben und keine Hinweise zu hinterlassen. Zu Beginn blieb sie immer nur wenige Wochen an einem Ort und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, bevor sie weiterzog. Das erste Jahr war schrecklich hart gewesen, aber sie überstand es. Nach und nach wagte sie, länger zu bleiben, doch spätestens nach drei Monaten zog sie immer weiter. Als dann vor zehn Monaten das Unheilige Jahr begonnen hatte, war sie wieder vorsichtiger geworden. Zwar hatte Blaine alle Vorbereitungen, die die Geminuskinder vor dem ersten Ritual vollziehen mussten, verpasst, aber Anna traute es Cornelius durchaus zu, dass er seinen Sohn trotzdem dazu antreten lassen würde, wenn er ihn rechtzeitig zur ersten Ritualnacht zurückbekäme. Deshalb war sie hierher auf die Isle of Skye geflüchtet. Abgelegen vor der Küste Schottlands würde hier hoffentlich niemand nach ihr suchen.

Und ihr Plan war aufgegangen. Drei Unheilige Nächte hatten sie und Blaine jetzt hinter sich gebracht und niemand hatte sie ausfindig gemacht. Eigentlich wäre das ein Grund zum Aufatmen gewesen – wenn Blaine nicht seit Beginn des Unheiligen Jahres einige beunruhigende Charakterzüge an den Tag gelegt hätte.

Anna schenkte sich Kaffee nach und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich vor dem Fenster eine Nähecke eingerichtet hatte. Nähen und Kleider flicken hatte sie im Heim gelernt. Vieles war dort durch Spenden finanziert worden und Kleider wurden so oft ausgebessert und weitergetragen wie nur irgendwie möglich. Daher wusste Anna mit Nadel, Faden und Nähmaschine umzugehen und ihre Fähigkeiten hatten ihr hier auf Skye zu einer Stelle als Näherin in der örtlichen Wäscherei verholfen. Sie verdiente zwar nicht viel, aber ihre Chefin war sehr nett. Glenda hatte keine Vorbehalte gegenüber Totenbändigern und ein großes Herz für alleinerziehende Mütter, weil sie ihre beiden Kinder auch allein hatte großziehen müssen. Sie hatte Anna Arbeit gegeben und ihr das winzige Cottage vermittelt. Es bestand bloß aus einer Küche und zwei weiteren kleinen Räumen. Einen Anschluss ans öffentliche Strom- und Wassernetz gab es nicht, nur einen Tank, den man mühsam aus dem Brunnen im Garten auffüllen musste. Und heizen konnte man nur mit einem Kamin und einem alten Holzofen, auf dem auch gekocht wurde. Das störte Anna jedoch nicht. Im Heim hatte sie auch sehr einfach gelebt.

Sie trat mit ihrem Kaffee ans Fenster und sah hinaus zum Sandhaufen, wo Blaine gerade noch mit seinen Baggern gespielt hatte. Jetzt war er verschwunden. Alarmiert stellte Anna ihre Tasse ab und eilte aus dem Haus.

»Blaine? Wo bist du?«

Fröstelnd zog sie ihre Strickjacke gegen die feuchtkühle Luft um sich.

»Hier!«

Die Stimme kam von rechts, wo geschützt zwischen Grundstückshecke und ein paar immergrünen Sträuchern ein kleiner Hühnerstall stand.

Hastig lief Anna hinüber und hielt erschrocken inne, als sie ihren kleinen Sohn im Stall sitzen sah, auf seinem Schoß ein Huhn – mit umgedrehtem Hals.

»Tut mir leid, Mum.« Sein unbekümmerter Tonfall verriet deutlich, dass es ihm kein bisschen leidtat und er nur die Worte sagte, von denen er wusste, dass Anna sie hören wollte. »Hab wieder eins kaputt gemacht.«

Das Funkeln in seinen Augen ließ es ihr kalt den Rücken hinunterlaufen.

»Blaine.« Sie kniete sich neben ihn. »Schatz, darüber hatten wir doch gesprochen. Man macht nichts einfach kaputt. Schon gar keine Tiere.«

»Aber es macht Spaß!« Grinsend grub er seine Finger in das Federkleid und riss eine Handvoll aus. »Immer nur im Garten spielen ist langweilig.«

In Momenten wie diesen fühlte Anna sich hoffnungslos allein und überfordert. Natürlich war ihr klar, dass ihrem Sohn eine gesunde Sozialisierung fehlte, weil er durch ihre ständigen Umzüge kaum Kontakt zu anderen Menschen und schon gar nicht zu anderen Kindern hatte. Aber sie musste ihn nun mal verstecken. Besonders jetzt, im Unheiligen Jahr. Doch auch wenn das Jahr in zwei Monaten überstanden war, war sie sich nicht sicher, ob sie es wagen konnte, Blaine hier auf der Insel ein paar Spielkameraden zu suchen. Totenbändigerkinder gingen nicht mit Normalokindern in den Kindergarten. Selbst wenn man das hier auf Skye vielleicht sogar etwas lockerer sehen würde, konnte sie das nicht riskieren. Nicht, solange es Blaine solchen Spaß machte, Dinge zu zerstören und Tiere zu töten. Damit würde er im Kindergarten sofort auffallen und das Letzte, was Anna sich leisten konnte, waren unbequeme Fragen und zu viel Aufmerksamkeit. Sie hoffte, dass sich Blaines Verhalten nach dem Unheiligen Jahr wieder bessern würde. Dass es im Moment einfach nur eine schwierige Phase war, war sich aber nicht sicher, ob sie sich damit nicht nur selbst belog.

Sie seufzte innerlich und verdrängte wie so oft den Gedanken daran, was Blaines Verhalten implizierte, wenn es nicht nur eine schwierige Phase war.

»Gib mir das Huhn, Schatz.« Sie wollte ihrem Sohn das tote Tier abnehmen. Wenn es ihnen keine Eier mehr liefern konnte, konnte es zumindest noch als Abendessen dienen.

Doch Blaine wollte es nicht hergeben. »Nein, das ist mein Huhn!« Er wandte sich von ihr ab, damit sie das Tier nicht erreichen konnte und riss ihm eine weitere Handvoll Federn aus. »Es ist meins! Meins! Und ich will es noch mehr kaputt machen!« Er klemmte sich den leblosen Körper unter den Arm und zerrte am Hals des Tieres. Seine Kraft reichte jedoch nicht aus, um ihn abzureißen, was ihn frustriert fauchen ließ.

»Blaine, hör auf!« Entsetzt versuchte Anna erneut, ihm das Huhn wegzunehmen. »So was tut man nicht!«

Wütend schrie Blaine auf, als sie ihn an den Armen packte. Er riss sich los und trat nach ihr. Gleichzeitig warf er das Huhn zu Boden und schlug mit seinen Fäusten auf den toten Körper ein. Wieder und wieder. Jeder Schlag begleitet von einem irren Wutschrei.

»Blaine, nein! Hör auf!« Tränen liefen Anna übers Gesicht, als sie versuchte, die Fäuste einzufangen, mit denen Blaine jetzt auch auf sie einschlug. »Bitte, hör auf!«

Plötzlich stoppte er und blickte über ihre Schulter.

Irritiert über die abrupte Änderung in seinem Verhalten wandte Anna sich um und folgte seinem Blick.

Erschrocken fuhr sie zusammen.

Ein Mann stand hinter ihnen an der Hausecke und sie erkannte ihn sofort.

Nathan Harris, Cornelius’ rechte Hand.

Kaltes Entsetzen lähmte sie und sie hatte ihm rein gar nichts entgegenzusetzen, als er seinen Silbernebel wie einen Pfeil in ihre Stirn bohrte.

Es ist vorbei, war ihr letzter Gedanke, dann sackte sie leblos in sich zusammen.

Blaine starrte seine Mum an. Blut sickerte aus dem Einstichloch und er sah fasziniert zu, wie es über ihr Gesicht lief.

»Du hast sie kaputt gemacht!« Beeindruckt blickte er zu dem Fremden auf. »Mum hat gesagt, man darf mit der Silberenergie nur Geister kaputt machen.«

»Deine Mum hatte unrecht«, antwortete Harris.

Blaine grinste und boxte triumphierend in die Luft. »Ich wusste es.« Stolz zeigte er dem Fremden das tote Huhn. »Das hab ich gerade kaputt gemacht.«

Harris musterte ihn. »So so.«

»Mum hat gesagt, das macht man nicht. Aber das stimmt nicht, oder? Es macht Spaß! Das findest du doch auch, stimmt’s? Du hast Mum kaputt gemacht. Ich wette, das hat dir auch Spaß gemacht.«

Harris musterte ihn noch immer und zog eine Augenbraue hoch. »Hm. Also du bist ja wirklich ein interessanter kleiner Kerl. Was hältst du davon, wenn ich dich jetzt zu deinem Vater bringe? Ich bin mir sicher, es wird ihn sehr interessieren, was dir so Spaß macht.«

Kapitel 2

 

Dreizehn Jahre später

Samstag, 2. November. Abends.

 

Blaine schob sich den letzten Bissen Tiefkühlpizza in den Mund und suchte im Chaos auf dem Tisch nach der Fernbedienung. Es war kurz vor acht und zur vollen Stunde würde LNN die wichtigsten Nachrichten des Tages bringen. Er war gerne informiert, auch wenn heute in London sicher nicht viel passiert war. In der letzten Nacht war wie von den Meteorologen vorhergesagt dicker Nebel aufgezogen und die Behörden hatten für fast alle Stadtteile den Lockdown ausgerufen. Damit war London so gut wie lahmgelegt. Im Prinzip fand Blaine das nicht weiter schlimm. Im Gegenteil. Wenn niemand vor die Tür gehen durfte, würde auch niemand Charlene vermissen. Wobei die Nachbarn hier im Haus zum Glück ohnehin nicht sehr neugierig waren. In den vier Wochen, die Blaine jetzt hier wohnte, hatte er immer noch nicht alle Parteien zu Gesicht bekommen. Doch das war ihm nur recht.