Die Totenbändiger - Band 23: Täuschungen - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 23: Täuschungen E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Nach der schockierenden Erkenntnis darüber, was beim vierten Ritual passieren wird, setzen die Hunts alles daran, einen Ausweg zu finden. Doch wird es ihnen gelingen, das Schlimmste zu verhindern? Der 23. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Täuschungen

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Vorschau

Impressum

Die Totenbändiger

Band 23

Täuschungen

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Nach dem zweiten großen Nebellockdown werden Cam und Jules auf einer Joggingrunde im Park von Blaine angegriffen, der herausfinden soll, ob Cornelius mit seinem Verdacht richtigliegt, dass Cam ebenfalls ein Geminusträger ist. Es kommt zu einem Kampf der Zwillinge, bei dem für beide Parteien deutlich wird, dass die Gemini auf derselben Entwicklungsstufe stehen. Beide Zwillinge rauben ihren Trägern während des Kampfes Energie, die Cam ausgleichen kann, da Jules ihn unterstützt. Das zwingt Blaine zum Rückzug. Da er jedoch die Vorstellung hasst, nicht der Einzige mit einem Geminus zu sein, und versucht er – entgegen der Anordnung seines Vaters –, Cam zu töten.

Nach dieser Attacke fokussieren die Hunts sich gemeinsam mit Pratt und ihren Verbündeten darauf, Carlton endgültig das Handwerk zu legen.

Plan A: Garrett Singer, einen der verbliebenen Dreizehn, als Kronzeugen zu gewinnen, der gegen Carlton aussagt und Beweise gegen ihn liefert.

Plan B: Cam lässt sich mit einem Peilsender chippen und von Carlton entführen. Sobald dieser Cam in der Nacht der Wintersonnenwende zum vierten Ritual zwingt, kann die Metro Police ihn orten und Carlton so auf frischer Tat ertappen.

Unabhängig von diesen Planungen wollen sowohl die Hunts als auch die Rifkins einige ihrer Familienmitglieder nach Schottland schicken, um sie außerhalb von Carltons Reichweite in Sicherheit zu wissen.

 

Während einer Beschattungsaktion führt Singer Gabriel, Matt, Evan und Jack zum Old English Gentlemen’s Club, dem geheimen Versammlungsort der Dreizehn. Dort im Safe finden die vier eine Abschrift von Kenwicks Manifest sowie dessen Tagebuch, das offenbart, was nach dem vierten Ritual passiert: Der Geminus nährt sich von seinem Träger und wandelt sich von einem Geist zu einem Wiedergänger, der die Fähigkeit besitzt, Normalos in Totenbändiger zu verwandeln. Geschockt von der Erkenntnis, dass Cam sterben wird, sollte er das vierte Ritual durchführen, schließt Gabriel Plan B kategorisch aus. Als Thad und Leslie deshalb Plan A verfolgen und Singer zur Kooperation überreden wollen, finden sie ihn jedoch tot in seiner Wohnung. Carlton hat ihn umbringen lassen, da Singer sich für seine Flucht an Geldern aus dem Safe im Old English Gentlemen’s Club bedient hat. Mit Singer ist somit auch Plan A gestorben.

Kapitel 1

 

Dienstag, 26. November

Abends in der Villa der Hunts

 

Cam rammte seine Fäuste gegen den Boxsack. Rechts, links, rechts. Dann ein heftiger Tritt, der das Stativ, in dem der Sack aufgehängt war, ins Wanken geraten ließ. Doch das nahm Cam kaum wahr. Wieder hieb er mit den Fäusten auf den Sack ein und spürte weder die Schmerzen in seinem Oberarm, wo die Wunde des Streifschusses gegen die Anstrengung protestierte, noch die Schmerzen in seinen Händen, weil er sich nicht die Zeit genommen hatte, sie zu tapen und Boxhandschuhe anzuziehen. Er fühlte nur Hass und Wut, Hilflosigkeit, Frust und Überforderung.

Und Angst. Schreckliche, eiskalte Angst.

Er wollte nicht sterben.

Nicht – so.

Nicht, weil er zum Futter dieser heimtückischen, widerlichen Kreatur werden sollte, die man ihm eingepflanzt hatte.

Er war bereit gewesen, die Kräfte, die man ihm aufgezwungen hatte, im Kampf für das Gute einzusetzen. Um zu helfen, dass niemand mehr dasselbe durchmachen musste wie er. Um zu verhindern, dass Carlton und seine Leute weiter Menschen töteten und die Normalos unterjochen konnten. Dafür hatte er den Zwilling trainiert – um mit ihm Gutes zu tun und Blaines Zwilling aufhalten zu können. Jetzt erkennen zu müssen, dass das alles völlig vergebens gewesen war, weil der Geminus ihn während des vierten Rituals töten würde – das war wie ein Messer, das man ihm in den Leib rammte.

Wieder und wieder.

Und jeder Stich brachte das Gefühl von Verrat, Zorn und himmelschreiender Ungerechtigkeit mit sich, das kaum zu ertragen war.

Ihm war klar gewesen, dass der Kampf gegen Carlton gefährlich werden würde. Auch mit einem gut trainierten Zwilling an seiner Seite wäre das Risiko, dass ihm dabei etwas passieren konnte, hoch gewesen. Aber das einzugehen, dazu war er bereit gewesen. Es wäre ein fairer Kampf gewesen – zumindest irgendwie. Jetzt jedoch erfahren zu müssen, dass er von Anfang an keine Chance gehabt hatte, dass er nur eine Art Brutkasten gewesen war und als Opfer für den Geminus dienen musste …

Cam fühlte sich dreckig, missbraucht und ausgenutzt. Am liebsten hätte er sich diese abartige Kreatur aus dem Leib gerissen. Er wollte dieses Monster nicht mehr in sich tragen. Zu wissen, was da in ihm heranwuchs, dass er es sogar gefüttert, trainiert und stärker gemacht hatte, war unerträglich.

Wieder schlug er auf den Boxsack ein. Und wieder. Und noch mal. So fest er konnte. Er wollte die Schmerzen in Arm und Händen spüren. Wollte, dass sie stärker wurden als all die anderen Gefühle, weil die nicht auszuhalten waren. Keuchend rammte er seine Fäuste erneut gegen den Sack. Noch ein Schlag und noch einer. Ein feuchter Fleck glänzte auf dem schwarzen Lederimitat des Boxsacks, als Cam seine Faust zurückzog und wieder zuschlug.

»Okay, das reicht jetzt«, sagte Jules sanft. Er hatte auf dem Konferenztisch gesessen, an dem sie zusammen ihre Homeschooling-Aufgaben erledigten, ging jetzt aber zu Cam und stoppte ihn, als er weiter auf den Boxsack einprügeln wollte.

Es war ein Schock gewesen, als Gabriel und Matt ihnen erzählt hatten, was sie heute herausgefunden hatten. Keiner von ihnen hatte glauben wollen, wie teuflisch das vierte Ritual enden würde. Doch wenn Kenwick in seinem Tagebuch nicht gelogen hatte, war es eindeutig: Der Zwillingsgeist würde zu einem Wiedergänger werden, der seinen Träger tötete und auffraß, um mit ihm seinen frisch entstandenen Körper zu festigen. Jules weigerte sich, sich das bei Cam vorzustellen. Er ließ auch Schock und Angst nicht zu – nicht jetzt. Jetzt musste er stark sein und Cam helfen, denn ihn traf das alles am schlimmsten und er hatte am meisten darunter zu leiden.

Auch Ella war ziemlich fertig, doch um sie kümmerten sich die anderen. Gabriel und Matt hatten Sky, Connor, Granny und ihren Eltern schon am Nachmittag erzählt, was sie herausgefunden hatten. Die fünf hatten also bereits Zeit gehabt, den Schock ein wenig zu verdauen. Für Jules, Cam, Ella und Jaz war dagegen alles noch ganz frisch. Als Cam die entscheidenden Seiten in Kenwicks Tagebuch gelesen hatte, hatte er einen Moment lang wie erstarrt dagesessen und auf keinerlei Ansprache reagiert. Dann war er aufgesprungen und ins Schulzimmer gerannt, um auf den Boxsack einzuprügeln. Nach dem Ritzen war das seine neue Art, mit Dingen umzugehen, mit denen er anders nicht umgehen konnte. Dass er sich nach einer Offenbarung wie heute nicht mit Rasierklingen den Unterarm aufschlitzte, hätte vermutlich ein gutes Zeichen sein können – wenn er sich stattdessen nicht auf andere Weise Schmerzen zugefügt hätte.

Jules trat zwischen Cam und den Boxsack und fing Cams Hände an den Handgelenken ein. »Deine Knöchel sind blutig«, sagte er im selben sanften Tonfall wie zuvor und suchte Cams Blick. »Du musst jetzt aufhören, auf den Sack einzuprügeln, sonst kannst du deine Hände in den nächsten Tagen nicht benutzen. Okay?«

Er sah das Flackern in Cams Augen – und die Tränen. Beides zerriss ihm fast das Herz.

Cam holte mühsam Luft und begann plötzlich schrecklich zu zittern. »Ich – ich kann nicht mehr«, stieß er hervor und sank auf die Knie, weil seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten.

Jules kniete sich neben ihn und zog ihn in seine Arme.

»Ich – ich wollte helfen und alles richtig machen.« Cam krallte seine blutigen Finger in Jules’ Longsleeve. »Aber es war alles falsch. Ich hätte den Zwilling niemals stärker machen dürfen«, wisperte er und in seiner Stimme schwangen so viel Angst und Verzweiflung mit, dass es Jules die Luft abschnürte.

Nichts von dem hier war richtig, weil nichts davon fair war. Cam hatte so sehr gekämpft, er hatte all das hier nicht verdient.

Jules drückte ihn so fest er konnte an sich. Er wollte Cam Halt geben, strauchelte aber selbst gerade so sehr, dass er sich nicht sicher war, wie lange er noch durchhielt. Er spürte, wie sehr das Zittern Cam beben ließ und würgte den Kloß hinunter, bevor der ihm endgültig den Hals zuschnüren konnte. Er schaffte das hier nicht allein.

»Dad!«, rief er laut genug, dass die anderen, die nebenan im Wohnzimmer beisammensaßen, ihn auch durch die geschlossene Tür hören konnten. »Wir brauchen Kühlpads! Und eine Wolldecke!«

Nur Sekunden später wurde die Tür zum Schulzimmer aufgerissen und Gabriel eilte zu ihnen, ganz so, als hätte er nur auf den ersten Laut gewartet. Schon als Cam aus dem Wohnzimmer gestürmt war, hatte er ihm folgen wollen, aber Matt hatte ihn zurückgehalten, weil klar gewesen war, dass Cam zuerst sein Ventil brauchte und nicht zig Leute um sich herum. Deshalb war nur Jules mit ihm gegangen.

Jetzt kniete Gabriel sich jedoch zu seinen Brüdern und schloss beide in seine Arme. »Kleiner, wir lassen nicht zu, dass du stirbst, klar?«, sagte er mit absoluter Entschlossenheit in der Stimme.

Cam schluchzte auf und krallte siene Finger in Jules’ Longsleeve und Gabriels Arm.

Er wollte seinem Bruder so, so gern glauben.

Seine Mum setzte sich zu ihnen. Tröstend streichelte sie ihm durchs Haar und legte eine Wolldecke um ihn. Eine zweite schlang sie um Jules und legte ihren Arm um ihn, während Gabriel Cam wieder an sich gezogen hatte.

»Lass mich mal deine Hände sehen.« Phil hatte Kühlpads und seine Arzttasche mitgebracht und setzte sich ebenfalls zu ihnen.

Cam spürte, wie Gabriel ihm Silberenergie gab, um ihn ruhiger und wieder hoffnungsvoller zu machen, doch im Moment fühlte er sich nur wie betäubt. Selbst der Schmerz in seinen Händen schien seltsam dumpf. So, als würde er gar nicht richtig zu ihm gehören. Er schob seine Hände unter der Decke hervor und zeigte sie seinem Dad. Beide waren gerötet und geschwollen und an der rechten Hand war über den Knöcheln von Mittel- und Ringfinger die Haut aufgeplatzt.

»Okay, das ist nicht dramatisch, aber wir müssen es reinigen und versorgen«, befand Phil nach einem kurzen Blick. »Matt«, rief er dann nach nebenan, »bring mir bitte eine Schüssel mit lauwarmem Wasser und ein paar saubere Handtücher!«

»Klar, sofort!«, kam prompt die Antwort und kurz darauf waren auf dem Flur Matts Schritte zu hören, als er in die Küche hinüberging, um das Gewünschte zu organisieren.

Phil tastete währenddessen vorsichtig Cams linke Hand ab, um zu überprüfen, ob irgendwas gebrochen war. Erleichtert, dass dem nicht so war, reichte er Gabriel das kalte Gelkissen. »Drück das auf seine Hand. Aber nicht fest. Halte es nur drauf, damit es nicht verrutscht. Ich wickle es gleich in einen Verband ein, will mir aber zuerst die andere Hand ansehen.«

»Alles klar.« Gabriel nahm das kleine Kühlpad und legte es über Cams Hand.

Matt trat zu ihnen und brachte Wasser und Handtücher. »Braucht ihr sonst noch was?« Er musterte erst Cam, der erschöpft gegen Gabriel lehnte, dann Jules, den Sue in ihre Arme gezogen hatte.

»Einen Plan, wie wir verhindern, dass Carlton sich Cam schnappt und ihn zum vierten Ritual zwingt.« Jules gab sich Mühe, genauso wild entschlossen wie Gabriel zu klingen und nicht so todmüde und demoralisiert, wie er sich tatsächlich gerade fühlte. »Singer ist tot, aber können wir nicht jemand anderes als Kronzeugen gegen Carlton gewinnen? Singer war ja nicht der Einzige der verbliebenen Dreizehn. Ihr habt gesagt, ihr seid euch ziemlich sicher, dass die Grayers und die Delawares auch dazugehören. Könnte man von denen nicht jemanden umdrehen und gegen Carlton aussagen lassen?«

Seufzend schüttelte Gabriel den Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir das bei ihnen schaffen würden. Wir haben nichts gegen sie in der Hand, das wir als Druckmittel einsetzen könnten. Wir gehen zwar davon aus, dass sie schon seit Byron Carltons Herrschaft in der Akademie Geld für die Carltons verwalten und seit den Anschlägen der Death Strikers auch das Erpressungsgeld für sie waschen, aber nachweisen können wir nichts davon. Wir müssen also davon ausgehen, dass die drei Familien schon lange zusammenarbeiten und entsprechend eng miteinander verbunden sind. Vermutlich dürfen sowohl die Delawares als auch die Grayers sich für ihre Dienste und ihre Verschwiegenheit hübsche Summen in die eigenen Taschen stecken. Damit sind sie viel zu eng mit Carlton verbandelt, als dass wir einen von ihnen für uns gewinnen könnten.«

Sue nickte betrübt. »Ich denke auch, dass es besser ist, nicht auf Grayer oder Delaware zuzugehen. Die Gefahr ist zu groß, dass sie Carlton einweihen und sich dann womöglich zum Schein auf eine Partnerschaft mit uns einlassen, um uns falsche Informationen zuzuspielen. Und solche Informationen könnten viel fataler sein als gar keine.«

Jules schnaubte unwirsch, weil das alles einfach nur frustrierend war.

Neben ihm zuckte Cam zusammen und sog scharf die Luft ein. Sein Dad hatte ihm vorsichtig das Blut von der Hand gewaschen und träufelte jetzt irgendwas auf die aufgeschlagenen Knöchel, das höllisch brannte.

»Tut mir leid«, meinte Phil mitfühlend. »Ich muss die Wunden desinfizieren. Das Brennen lässt aber gleich wieder nach.«

Cam nickte bloß stumm und wollte sich nicht freakig fühlen, weil ihm der Schmerz eigentlich ganz recht war. Er riss ihn aus diesem tauben Schockzustand und ließ ihn wieder klarer denken. Gabriels Energie half ebenfalls dabei, nicht mehr alles so schwarz zu sehen.

Er wollte sich nicht von Verzweiflung, Angst und Selbstmitleid lähmen lassen.

Er wollte nicht wieder ein Opfer sein.

Und schon gar nicht wollte er in der Nacht der Wintersonnenwende als Futter für den Geminus enden!

Er hatte die Schnauze voll!

Das hier war sein Leben und darum würde er verdammt noch mal kämpfen!

Er setzte sich auf und schüttelte Gabriel ab. »Ich will diesen Ortungschip haben. Ich weiß, eigentlich will jetzt keiner von uns mehr Plan B durchziehen, aber im Moment haben wir keine Alternative und damit ist die einzige Möglichkeit, Carlton das Handwerk zu legen, die, dass wir ihn auf frischer Tat ertappen. Und selbst wenn wir doch noch irgendeine andere Möglichkeit finden, müssen wir damit rechnen, dass Carlton mich verschleppen lässt. Darauf will ich vorbereitet sein.«

Phil hatte ihm die Hände verbunden und suchte jetzt den Blick seines Sohns. »Es ehrt dich, dass du weiter den Lockvogel spielen willst. Aber die Gefahr, in die du dich dabei begeben würdest, ist jetzt noch deutlich höher als zuvor. Niemand verlangt, dass du dich dem wirklich aussetzt. Wir können dich aus London wegbringen und –«

»Nein«, fiel Cam seinem Dad sofort ins Wort und schüttelte entschieden den Kopf. »Dass ich aus London weggehe, war schon vorher keine Option. Carlton wird Leo und Toby – und andere Mitglieder unserer Familie und der Rifkins – nur gehen lassen, wenn er dafür mich bekommt. Wenn ich mit nach Schottland gehe, wird er uns seine Männer hinterherjagen und damit würde ich die anderen nur in Gefahr bringen.«

»Du müsstest ja nicht mit den anderen nach Schottland gehen«, warf Phil ein. »Ich könnte mit dir allein irgendwo anders untertauchen.«

Wieder schüttelte Cam den Kopf. »Das würde auch nicht funktionieren. Carlton würde seine Männer trotzdem nach Schottland schicken und dann seine Wut an unseren Leuten auslassen, wenn ich nicht da bin. Das werde ich aber nicht zulassen. Ich will zwar ganz sicher nicht sterben, aber ich will genauso wenig andere in Gefahr bringen, wenn ich von hier weglaufe.« Er ballte die Fäuste, genoss kurz den Schmerz, der dabei in seinen Händen pochte. Er war froh, dass die Erschöpfung und das widerliche Gefühl von Verzweiflung, Angst und Ausgeliefertsein verschwunden war und er dafür Tatendrang und Starrsinn zurückhatte. »Plan B ist das Beste, was wir gerade haben«, sagte er in die Runde und wandte sich dann zu Gabriel um. »Wenn ich zum Trojanischen Pferd werde, könnt ihr Carlton finden und ihm das Handwerk legen, bevor ich das vierte Ritual beenden muss. Darauf sollten wir uns vorbereiten und dafür brauche ich diesen Ortungschip.«

Liebevoll zauste Gabriel ihm durchs Haar. »Das verstehe ich. Pratt hat vorhin bereits alles in die Wege geleitet. Mit etwas Glück sind die Chips morgen schon da und Dad kann sie uns beiden einsetzen.«

Nachdem er und Matt am Nachmittag nach dem Lesen des Tagebuchs den ersten Schock überwunden hatten, hatten sie Sky und Connor zum Revier gerufen, um gemeinsam zu überlegen, wie sie mit den neuen Informationen umgehen wollten. Dazu gehörte vor allem, dass Gabriels Vorhaben funktionieren musste. Dabei würde Pratt ihnen helfen.

Phil seufzte schwer und packte die Verbandsutensilien zurück in seine Arzttasche. »Ich setze euch die Chips ein, keine Frage. Und natürlich hoffe ich, dass wir es rechtzeitig zu dir schaffen, um das vierte Ritual zu verhindern.« Er sah auf und blickte von Cam zu Gabriel und Matt. »Allerdings sollten wir uns auch auf den Fall vorbereiten, dass das Ritual schon läuft und wir es dann vielleicht nicht mehr stoppen können. Wenn der Zwilling eigenständig genug ist, das Bändigen der dreizehn Geister selbst zu übernehmen, müssen wir seine Schwächen herausfinden, um ihn aufzuhalten.«

»Nicht nur aufhalten«, grollte Gabriel. »Wir sollten herausfinden, wie wir dieses verdammte Ding vernichten.«

»Ja, das sehe ich genauso«, stimmte Jules ihm aus ganzem Herzen zu. Hoffnungsvoll sah er von seinem großen Bruder zu Matt. »Habt ihr dafür schon einen Plan?«

Matt wiegte den Kopf hin und her. »Jein. Um einen konkreten Plan schmieden zu können, müssen wir vorher noch ein paar Dinge abklären.« Mitfühlend verzog er das Gesicht, als er sich jetzt an Cam wandte. »Und ich fürchte, dabei wirst du noch mal einiges leisten müssen.«

»Aber wir helfen dir«, fügte Gabriel schnell hinzu. Er hatte Cams Angst, Verzweiflung und die furchtbare Erschöpfung gespürt, die seinem kleinen Bruder tief in Knochen und Seele steckten. Cam war ein Kämpfer, aber die Erkenntnis, dass es den Geminusträgern vorherbestimmt war, nach dem vierten Ritual ihr Leben für den Zwilling zu geben, hatte ihn verständlicherweise völlig aus der Bahn geworfen. Gabriel hatte ihm mit seiner Energie geholfen, so gut er konnte, und Cam wirkte jetzt wieder ruhiger und seine Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen und weiterzukämpfen, war zurück. Trotzdem war klar, dass er nicht mehr viele solcher Schläge wegstecken konnte. Irgendwann erreichte jeder noch so starke Kämpfer seine Grenzen und Cams waren verdammt arg ausgereizt. Gabriel strich ihm über die Schulter und drückte sie dann versichernd. »Du musst da nicht allein durch. Versprochen.«

Cam nickte dankbar. »Ich weiß. Allein würde ich das auch nicht schaffen.« Er sah zwischen Gabriel und Matt hin und her. »Was habt ihr euch denn überlegt?«

Matt deutete zu Phil. »Im Prinzip wollen wir das machen, was dein Dad gesagt hat: die Schwächen des Zwillings herausfinden.«

»Okay. Und wie?«, wollte Jules wissen.

»Aus Kenwicks Aufzeichnungen wissen wir, dass dieses Wesen durch das Geminusserum entsteht«, antwortete Gabriel. »Und über das Serum wissen wir, dass es aus dem Blut von starken Totenbändigern, Geisteressenzen und Wiedergängerblut besteht. Von allen drei lassen sich Eigenschaften oder Fähigkeiten im Geminus wiederfinden. Der rote Nebel, mit dem er kämpft und Geister befehligen kann, ähnelt der Silberenergie von Totenbändigern. Nach dem dritten Ritual wurde der Zwilling zu einem Geisterwesen und laut Kenwicks Tagebuch wird er nach dem vierten Ritual zu einem Wiedergänger.«

Aufmerksam blickte Sue von ihrem Ältesten zu Matt und wieder zurück. »Ihr denkt, wenn der Geminus Eigenschaften und Fähigkeiten von Totenbändigern, Geistern und Wiedergängern in sich vereint, teilt er auch die entsprechenden Schwächen dieser drei?«

Gabriel atmete tief durch und nickte. »Das hoffen wir.«

Jules runzelte die Stirn. »Aber es sind nicht dieselben Eigenschaften. Der rote Nebel funktioniert anderes als unsere Silberenergie. Wenn wir damit Geister bannen, werden wir schwächer. Wenn der Zwilling mit seinem Nebel Geister vernichtet, macht ihn das stärker. Wir haben also nicht dieselben Schwächen.«

»Auf den ersten Blick nicht«, gab Matt ihm recht. »Wenn wir uns das Prinzip anschauen, dann aber schon. Totenbändiger sind lebende Menschen und wir werden stärker, wenn wir uns Lebensenergie von anderen Lebenden nehmen – oder wenn man uns Silberenergie gibt. Also kurz gesagt, das, was schon in uns steckt, macht uns noch stärker, wenn wir Extraportionen davon bekommen. Umgekehrt schwächt uns das Gegenteil, nämlich die Todesenergie der Geister.«

»Im Moment ist der Zwilling ein Geist und durch die Geisteressenz im Geminusserum trägt er Todesenergie in sich«, übernahm wieder Gabriel. »In dem Stadium, in dem er jetzt nach dem dritten Ritual steckt, scheint er also Eigenschaften und Fähigkeiten von Geistern zu haben, deshalb macht Todesenergie ihn stärker. Dieses Phänomen haben wir in letzter Zeit sogar nicht nur bei ihm beobachten können. Auch während unserer Einsätze sind uns immer wieder Geister begegnet, die ihre Artgenossen verschluckt haben, um stärker zu werden.«

»Ihr denkt also, wir könnten den Zwillingsgeist mit Silberenergie erledigen?«, hakte Jules nach und warf einen zweifelnden Blick zu Cam. »Aber er ist mit Cam verbunden. Beim Kampf gegen Blaine hat er sich Energie von Cam genommen, um seine Verluste auszugleichen. Selbst wenn wir den Zwilling mit unserer Silberenergie also theoretisch vielleicht erledigen könnten, würde er Cam aussaugen, bevor wir ihn vernichtet hätten. Dabei hätten wir also nichts gewonnen.«

Cam schluckte beklommen. »Das stimmt. Ich kann den Zwilling zwar eine Weile blocken, aber er bleibt mit mir verbunden und ich weiß nicht, ob ich es überstehen würde, wenn ihr ihn vernichtet.«

Gabriel nickte ernst. »Eure Verbundenheit ist in der Tat ein Problem. Deshalb werden wir nicht riskieren, den Zwilling zu töten, solange wir nicht wissen, was das für dich bedeutet.« Er seufzte. »Die einzig sichere Chance, den Geminus zu erledigen und dich vor ihm zu beschützen, ist daher vermutlich der Moment während des vierten Rituals, wenn der Zwillingsgeist zum Wiedergänger mutiert. Dann scheint er sich komplett von dir zu lösen und dich nur noch ein letztes Mal als Futter zu brauchen. Das ist der Augenblick, in dem wir ihn vernichten müssen – bevor er sich auf dich stürzt, um dich zu fressen.«

Wieder schluckte Cam und Jules brachte es auf den Punkt. »Das ist aber ein verdammt kurzes Zeitfenster.«

»Ja, es ist knapp«, gab Gabriel zu. »Aber das schaffen wir. Pratt hilft uns bei den Vorbereitungen und damit werden wir rechtzeitig da sein, um dir zu helfen.« Er blickte Cam tief in die Augen und drückte erneut dessen Schulter. »Wir lassen dich nicht sterben, klar?«

Cam wollte ihm glauben. Er musste ihm glauben, deshalb blockte er alle Gedanken daran, was bei diesem Plan alles schiefgehen konnte, und mühte sich ein schmales Lächeln ab.

»Okay.« Er sah von seinem Bruder zu Matt. »Du meintest, ich werde einiges dafür leisten müssen, um die Schwächen des Zwillings auszutesten. Was soll ich tun?«

Kapitel 2

 

Es war schon weit nach Mitternacht und eigentlich war Jules todmüde. Trotzdem konnte er nicht einschlafen. Seine Familie hatte am Abend noch ziemlich lange beisammengesessen und besprochen, was sie alles regeln und vorbereiten konnten, wollten und mussten, damit Cam in der Nacht der Wintersonnenwende nicht starb.

Zermürbt rieb Jules sich über die Augen und massierte seine Schläfen, hinter denen dumpfe Kopfschmerzen pochten. Es war so falsch, sich über so was Gedanken machen zu müssen, und er war all die Ängste und Sorgen um Cam und den Rest seiner Familie so, so leid.

In der Dunkelheit blickte er hinüber zu Cam, der neben ihm lag und fest schlief. Cam hasste es, sich ausgeliefert zu fühlen, deshalb hatte er sich mit Feuereifer aufs Pläneschmieden und die Ausarbeitung der entsprechenden Details gestürzt. Der Plan gab ihm die Möglichkeit, zu kämpfen und das Schicksal, das man ihm aufs Auge gedrückt hatte, nicht einfach hinnehmen zu müssen.

Jules konnte ihn dafür nur bewundern. Und natürlich würde er ihn beim anstehenden Training so gut er konnte unterstützen und nicht von seiner Seite weichen, obwohl er gerade das Gefühl hatte, den Boden, den ihm die Offenbarung um das vierte Ritual unter den Füßen weggerissen hatte, noch nicht hundertprozentig wiedergefunden zu haben.

Er schluckte schwer und wischte sich erneut über die Augen.

Er hatte eine Scheißangst um Cam und keine Ahnung, wie er die in den Griff bekommen sollte. Er schloss die Augen, fühlte sich aber zu unruhig und zu kribbelig, um hier im Bett liegen zu bleiben und auf Schlaf zu warten, der nicht kommen würde.

Er blickte noch einmal zu Cam und schlüpfte dann vorsichtig unter der Bettdecke hervor. Er wollte ihn nicht wecken, auch wenn das eher unwahrscheinlich war. Ihr Dad hatte ihn überredet, wegen seiner verletzten Hände ein Schmerzmittel zu schlucken, das bei Cam den willkommenen Nebeneffekt hatte, dass es ihn schläfrig machte.

Jules schlich zum Schreibtisch, um sein Handy zu holen, und ging dann leise hinaus auf den Flur. Alles war dunkel und still. Er zog die Tür hinter sich zu und lief die Treppe hinunter. Auch im zweiten und ersten Stock war alles still und dunkel. Als er jedoch die Stufen zum Erdgeschoss hinunterstieg, sah er Licht. Die Küchentür stand einen Spalt weit offen und gedämpft drangen die Geräusche von Herumkramen zu ihm – und das Quengeln, das Jade von sich gab, wenn sie anmerkte, dass sie Hunger bekam.

Dankbar für die Ablenkung lief Jules die restlichen Stufen hinunter und schob die Tür auf. »Hey«, sagte er leise, als er in die Küche trat.

Sky stand an der Spüle und füllte gerade den Wasserkocher. Jades Babyschale stand auf dem Tisch und die Kleine quäkte herum, während der Fläschchenwärmer auf der Anrichte seinen Job tat.

Überrascht blickte Sky zu ihrem Bruder. »Was machst du denn hier? Hast du auch das Verlangen nach einem späten Mitternachtssnack so wie deine Nichte?«

Jules war an den Tisch herangetreten und hielt Jade einen Finger hin. Sofort grabschte die Kleine danach, zog ihn zu ihrem Mund und begann daran zu nuckeln. Jules musste lächeln und ließ Jade gewähren, obwohl es sicher nicht lange dauern würde, bis sie merkte, dass der Finger keine Milch enthielt.

»Nein«, antwortete er auf Skys Frage. »Ich kann nicht schlafen und wollte Cam nicht wecken. Deshalb dachte ich, ich setz mich ins Wohnzimmer und surfe ein bisschen im Internet oder gucke ein paar Videos.«

Er hielt kurz sein Handy hoch, legte es dann aber auf den Küchentisch, als Jade wieder zu quengeln begann. Er schnallte die Kleine aus ihrer Schale und nahm sie auf den Arm.

»Also Jade und ich haben nichts gegen ein bisschen Gesellschaft einzuwenden.« Sky lächelte, als sie sah, wie Jules ihr Töchterchen wiegte, um die Zeit zu überbrücken, bis das Fläschchen warm war. »Willst du auch einen Tee? Vielleicht helfen dir Baldrian und Lavendel, Ruhe zu finden.«

Jules hob die Schultern. »Einen Versuch ist es wert.«

Sky kümmerte sich um den Tee, während Jules weiter Jade auf dem Arm wiegte, bis der Fläschchenwärmer endlich meldete, dass die Babymilch bereit war. Jules schüttelte die Flasche kurz und prüfte am Handgelenk, ob sie tatsächlich die richtige Temperatur hatte. Dann setzte er sich und musste schmunzeln, als Jade sofort begeistert zu nuckeln begann, kaum dass der Sauger in ihrem Mund steckte.

»Sie ist so niedlich.« Zärtlich streichelte er seiner kleinen Nichte über die winzige Hand.

Sky lehnte an der Anrichte und betrachtete die beiden zärtlich. »Ja, das ist sie.«

Das Teewasser begann zu brodeln und der Kocher schaltete sich ab. Sky goss zwei Tassen Tee auf und setzte sich damit zu Jules und ihrer Tochter.

»Und sie ist noch so herrlich ahnungslos von allem Üblen, was in der Welt passiert.« Sacht strich sie Jade eine grüne Haarsträhne aus der Stirn, dann nahm sie ihren Bruder ins Visier. »Kannst du nicht schlafen, weil du Angst um Cam hast?«

Jules verzog das Gesicht. »Vermutlich. Aber ich komm schon klar.« Er vermied einen Blick zu seiner Schwester und konzentrierte sich stattdessen lieber weiter auf das niedliche kleine Menschlein, das er im Arm halten durfte.

Sky betrachtete ihn einen Moment lang still. »Ich hoffe, du weißt, was für ein unglaublicher Mensch du bist«, sagte sie dann leise. »Ohne dich würde Cam das alles sicher nicht so gut meistern. Aber es ist anstrengend, immer da zu sein, und es ist absolut verständlich, wenn du dich gerade überfordert und am Ende deiner Kräfte fühlst.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und drückte ihn sacht. »Nicht nur Cam hat in den letzten Wochen eine Menge durchgemacht, sondern auch du. Und dabei meine ich jetzt nicht, dass du ständig ohne zu zögern an Cams Seite bist. Obwohl das allein schon eine unglaubliche Leistung ist. Aber du musstest außerdem noch hautnah einen Terroranschlag miterleben, bei dem du fast gestorben wärst. Als wir in Cornwall waren, musstest du mit ansehen, wie Cam beinahe ertrunken wäre. Und jetzt noch die Sache mit dem vierten Ritual. Es ist absolut verständlich, wenn dir das alles gerade zu viel wird. Das hat nichts mit Versagen zu tun, sondern einfach nur damit, dass jeder irgendwann an diesen Punkt kommt, wenn man zu viel durchgemacht hat und zu lange stark sein musste.«

Jetzt sah Jules doch zu ihr auf und schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Das weiß ich. Und es wird wieder einfacher, wenn der Schock nicht mehr so tief sitzt. Deswegen sag ich ja: Ich komme schon klar.«