Die Totenbändiger - Band 24: Wintersonnenwende - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 24: Wintersonnenwende E-Book

Nadine Erdmann

5,0

Beschreibung

Die Wintersonnenwende steht kurz bevor und mit ihr die alles entscheidende vierte Unheilige Nacht. Werden die Hunts Carltons Pläne vereiteln und Cams Leben retten können? Das große Finale der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Wintersonnenwende

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort und ein dickes Danke

Impressum

Die Totenbändiger

Band 24

Wintersonnenwende

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Das im Old English Gentlemen’s Club sichergestellte Tagebuch offenbart den Hunts, was nach dem vierten Ritual passieren wird: Ähnlich einem Wiedergänger erhält der Geminus nach dem Bändigen der dreizehn Geister einen Körper, den er damit festigt, dass er seinen Träger tötet und dessen Innereien frisst. Nach dem Schock über diese Enthüllung entwickeln die Hunts mehrere Pläne, um das Ritual zu verhindern oder zumindest dafür zu sorgen, dass Cam nicht stirbt, sollte Carlton ihn kidnappen und zur Durchführung des Rituals zwingen. Während eines Trainings versuchen sie deshalb, die Schwächen des Zwillings sowie mögliche Angriffspunkte herauszufinden. Cams Misstrauen gegen den Geminus wächst dabei immer mehr, da das Wesen Dinge vor ihm verbirgt. Als er einen flüchtigen Blick in die Gedanken des Zwillings erhascht, bekommt er die Gewissheit: Der Zwilling hat ihm seine Freundlichkeit nur vorgespielt und sich aus Eigennutz kooperativ gezeigt, weil er durch das Training stärker werden wollte. Nach dieser Erkenntnis brechen die Hunts das Training ab und Cam beschließt, den Zwilling kein weiteres Mal zu rufen.

 

Da die Hunts und ihre Verbündeten durch die Ermordung von Garrett Singer die Chance verloren haben, ihn als Kronzeugen gegen Carlton zu gewinnen, konzentrieren sich ihre Bemühungen nun komplett auf Plan B, der die Entführung Cams durch Carlton, eine schnelle Befreiung durch eine Sondereinsatztruppe sowie die Festnahme Carltons und seiner Männer beinhaltet. Um Carlton keine Gelegenheit zu geben, sich neben Cam auch Leo und Toby für die Ritualnacht zurückzuholen, verlassen Sky, Edna und Ella mit Jade und den beiden London. Ein Teil der Rifkins begleitet sie ebenfalls nach Schottland.

Gabriel will sich bei der gemeinsamen Säuberungsaktion des Cloverfield Shopping Centres in Carltons Truppe einschleusen. Dies gelingt zwar, doch Jack wird während des Einsatzes angeschossen.

 

Wie vermutet, nutzt Carlton den Tag der Säuberung dazu, Cam zu entführen. Leider durchschauen ihre Gegner allerdings, dass man Cam einen Peilsender eingesetzt hat und entfernen diesen.

Kapitel 1

 

Freitag, 20. Dezember

05:23 Uhr

London Memorial Hospital

 

Im Krankenzimmer herrschte schummriges Licht und das monotone Piepen der Überwachungsgerätschaften hatte etwas Einschläferndes. Evan kämpfte damit, die Augen offen zu halten. Schon zweimal war er kurz eingenickt, obwohl seine Sitzposition hier an der Wand alles andere als bequem war. Doch das Zimmer, in das man Jack nach der OP gebracht hatte, war nicht gerade riesig, und es war schon schwierig genug gewesen, drei Stühle für Eddie, Lorna und Hank hier unterzubringen. Evan war daher dankbar, dass man ihn überhaupt hier sein ließ. Lorna und Eddie hatten ihn jedoch völlig selbstverständlich mitgenommen, als Nells Anruf sie am Abend zuvor alle geschockt hatte.

Jack war beim Säuberungseinsatz im Cloverfield Shopping Centre während eines Kampfs gegen einen Wiedergänger angeschossen worden. Es konnte zwar niemand beweisen, aber der Verdacht lag mehr als nahe, dass die Männer aus Carltons Truppe den Wiedergänger absichtlich verfehlt und den Angriff der Bestie dafür genutzt hatten, auf die Spuks und Reapers zu schießen, um die Reihen ihrer Gegner auszudünnen. Morgen Abend stand die vierte Unheilige Nacht an und mit ihr das letzte Geminusritual. Während der Säuberung dafür zu sorgen, dass der ein oder andere ihrer Gegner außer Gefecht gesetzt wurde, damit sie Carlton beim Ritual nicht in die Quere kommen konnten, war zu erwarten gewesen.

Bei Jack war dieser Plan leider ziemlich gut aufgegangen. Er würde beim Einsatz morgen ganz sicher nicht dabei sein. Eine Kugel hatte ihn in den linken Oberschenkel getroffen. Evan hatte nicht viel von dem medizinischen Kauderwelsch der Ärztin verstanden, aber anscheinend gab es im Oberschenkel einiges, was wahnsinnig viel bluten konnte. Ein bisschen was davon hatte die Kugel getroffen, aber zum Glück nicht die Hauptarterie, sonst hätte es um Jack sehr schlecht gestanden. Außerdem hatte er gleich doppelt Glück gehabt, weil Nell und Matt ihn so schnell und gut erstversorgt hatten. Jacks Blutverlust war trotzdem ziemlich hoch gewesen und natürlich hatte man die Kugel aus seinem Bein herausoperieren müssen. Die Ärztin hatte ihnen aber versichert, dass alles gut gelaufen war und sie Jack bloß über Nacht sediert hatten, damit sein Körper sich besser von den Strapazen erholen konnte. Sie hatte die Rifkins nach Hause schicken wollen mit dem Angebot, sie anrufen zu lassen, sobald Jack aufwachte. Darauf war jedoch keiner von ihnen eingegangen. Im Gegenteil. Sie hatten darauf bestanden, alle zu Jack gelassen zu werden und über Nacht bei ihm zu bleiben.

Nicht nur, weil sie ihrem Sohn und Bruder nah sein wollten.

Carlton sollte auch keine Chance bekommen, jemanden herzuschicken, um Jack etwas anzutun. Nur einen seiner Gegner im Cloverfield ausgeschaltet zu haben, reichte ihm womöglich nicht. Vor allem, weil Jack nicht gestorben war. Dafür nachträglich noch zu sorgen und so seine Gegner durch Verlust und Trauer zusätzlich zu schwächen, war definitiv etwas, das jeder hier Carlton zutraute – und keiner von ihnen wollte das riskieren.

Dem Pflegepersonal hatten sie nichts von diesen Befürchtungen erzählt, weil niemand riskieren wollte, dass Jack womöglich so kurz nach seiner OP genauso aus dem Krankenhaus verwiesen wurde, wie man es bei Jules nach seinem Milzriss getan hatte. Der war zwar in einer anderen Klinik operiert worden, aber Vorstandsräte handelten mit Sicherheit alle ziemlich ähnlich. Da Lorna jedoch als stellvertretende Stadträtin für die Gilde der Totenbändiger recht bekannt war und Hank mit seinen stämmigen zwei Metern sehr eindrucksvoll wirken konnte, wenn er wollte, hatten sie das Personal schnell davon überzeugen können, dass die Familie bei Jack bleiben würde. Eddie, Lorna und Hank hatten sich neben ihren Sohn ans Bett gesetzt, während Willa, Matt und Nell sich mit Evan an einer der Wände auf den Boden gesetzt hatten.

Evan blickte zu den drei hinüber. Willa und Nell schienen eingenickt zu sein. Nell lehnte gegen Matt, der seinen Arm um sie gelegt hatte. Beide trugen graue Trainingsoutfits der Londoner Metro Police, die Dash und Leslie ihnen mitgebracht hatten, als sie nach dem Ende der Säuberungsaktion hergekommen waren, um nach Jack zu sehen. Jetzt saßen die beiden gemeinsam mit Flint im Besucherraum der Station, warteten darauf, dass Jack aufwachte, und hielten gleichzeitig Wache.

Ein leises Seufzen ließ Evan zum Bett hinübersehen.

Jacks Hand zuckte.

Sofort nahm seine Mum sie in ihre und drückte sacht seine Finger. »Hey mein Schatz«, sagte sie leise und strich über Jacks Stirn. »Hast du ausgeschlafen?«, fragte sie liebevoll und schenkte ihrem Sohn ein Lächeln, als dieser mit einem weiteren Seufzen seine Augen aufmühte.

Jack musste ein paar Mal blinzeln, bis er klarer sah und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, weil er dieses Zimmer noch nie gesehen hatte.

»Weißt du noch, was passiert ist?« Eddie saß auf der anderen Bettseite und hatte seine Hand auf Jacks Arm gelegt. Obwohl keinerlei Zweifel daran bestanden hatte, dass Jack aufwachen würde, war Eddie anzusehen, wie erleichtert er war, dass sein Sohn die Augen aufgeschlagen hatte.

»Ja«, brachte er krächzend hervor und sein Blick fiel auf einen Becher, der auf seinem Nachttisch stand. »W-Wasser?«

Eddie nahm den Becher und gab seinem Sohn den Strohhalm in den Mund. »Langsam und nur kleine Schlucke. Das hat uns der Pfleger eingebläut.«

Jack tat, wie ihm geheißen, und sah wie Willa, Matt und Nell neben Big Daddy am Fußende seines Betts auftauchten. Allen vier war anzusehen, dass sie eine ziemlich ätzende Nacht hinter sich hatten, wirkten gleichzeitig aber froh und erleichtert, dass er wach war. Jack schloss kurz die Augen und trank noch einen kleinen Schluck, ließ es dann aber, weil das Wasser zwar die Trockenheit in Mund und Kehle vertrieb, ihm gleichzeitig aber auch Halsschmerzen bescherte.

»Hast du Schmerzen?«, hörte er Big Daddy mit seiner tiefen Stimme fragen, und er mühte seine Augen wieder auf.

»Nein, es geht«, antwortete er matt. Sprechen war unglaublich anstrengend. »Ist mein Bein okay?«

Lorna drückte seine Hand. »Ja, mach dir keine Sorgen. Die Chirurgin hat die Kugel ohne Komplikationen entfernen können und uns versichert, dass alles gut heilen wird. In ein paar Wochen wirst du nichts mehr davon merken. Und dass du dich gerade so schlapp fühlst, liegt vor allem daran, dass du so viel Blut verloren hast. Aber auch davon wirst du dich wieder erholen.« Sie schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln.

Jack erwiderte ihren Händedruck und schloss erneut kurz die Augen. Dann blickte er zu Matt und Nell.

»Danke«, flüsterte er. »Wenn ihr nicht …« Er brach ab, weil er plötzlich einen dicken Kloß im Hals hatte.

Die Erinnerung an die furchtbaren Schmerzen, als die Kugel ihn getroffen hatte, schoss ihm durch den Kopf. Der Schock, weil die Wunde wie verrückt geblutet hatte. Die Panik, als er gemerkt hatte, wie ihm die Sinne schwinden wollten.

Nell war die ganze Zeit an seiner Seite gewesen, hatte versucht, die Blutung mit ihren Händen zu verlangsamen, hatte mit ihm geredet, ihn wachgehalten und seinem Körper mit Silberenergie geholfen, während Matt ihm einen Druckverband angelegt und ihn dann aus dem Einkaufszentrum getragen hatte.

»Hey.« Nell schob sich an ihrer Mum vorbei und umarmte ihren Bruder so gut es ging, während der im Bett lag. »Sehr, sehr gern geschehen. Obwohl du das definitiv nicht wiederholen musst, klar?« Sie ließ ihn wieder los und bohrte ihren Blick in ihn.

Jack verzog das Gesicht. »Hab ich nicht vor.« Dann sah er zu seinem großen Bruder. »Ich schätze, die Leute hier kriegen mich nicht so schnell wieder hin, dass ich morgen helfen kann?«

Matt schnaubte ironisch und schüttelte den Kopf. »Kleiner, du kannst froh sein, wenn wir dich morgen nach Hause holen, falls die Ärztin dafür grünes Licht gibt und das Pflegepersonal bis dahin genug davon hat, dass eine Horde von Leuten dein Zimmer bevölkert.«

Wieder verzog Jack das Gesicht. »Ihr müsst nicht hierbleiben. Geht nach Hause und schlaft. Gerade du und Nell habt es nötig. Der Tag gestern war auch ohne das Drama mit mir schon anstrengend genug. Und ihr müsst für morgen fit sein. Mir geht es gut und ich will nicht, dass euch was passiert, weil ihr wegen mir total übermüdet seid.«

»Da hat er nicht ganz unrecht«, brummte Hank in Richtung Nell und Matt. »Ihr solltet wirklich zusehen, dass ihr Schlaf bekommt. Geht und sagt Flint, Leslie und Dash Bescheid, dass Jack aufgewacht ist und es ihm gut geht. Dann nehmt Leslie und Dash mit und fahrt nach Hause. Flint kann ein paar der Evils zum Wachehalten herbestellen.«

Willa nickte sofort. »Das ist eine gute Idee.« Sie wandte sich an ihre drei Eltern. »Allerdings solltet ihr das auch machen. Fahrt heim und schlaft ein paar Stunden. Dann könnt ihr heute Mittag wieder herkommen und Evan und mich ablösen. Solange halten wir hier die Stellung, einverstanden?«

Sie blickte zu Evan, der noch immer auf dem Boden hockte, weil er sich bei dem Familienmoment nicht dazwischen drängeln wollte. Jetzt blickte er Willa überrumpelt an und fühlte sich plötzlich wie unter einem Flutscheinwerfer, als sich alle Augen auf ihn richteten.

»J-ja. Einverstanden«, stammelte er hastig.

»Perfekt.« Willa machte eine ermutigende Handbewegung. »Dann steh endlich auf und geh zu Jack. Das tut euch beiden gut. Ich ziehe los und organisiere uns Kaffee, der besser schmeckt als das furchtbare Gebräu aus diesem Automaten im Warteraum.« Damit verschwand sie aus dem Zimmer.

Lorna war aufgestanden und gab Jack einen Kuss auf die Stirn. »Wir kommen heute Mittag wieder her.«

Jack lächelte gerührt und sah von ihr zu seinen beiden Dads. »Das ist lieb, aber dann müsstet ihr das Evil heute schließen und das ist nicht nötig. Wegen der Nebeltage war der Pub ohnehin schon so oft in letzter Zeit geschlossen. Ich komme hier klar. Und ja, ich weiß, es geht auch darum, dass jemand hier sein soll, um auf mich aufzupassen. Aber wenn Onkel Flint ein paar der Evils hier Wache halten lässt, reicht das völlig.«

Eddie strich seinem Sohn über den Arm und gab ihm dann ebenfalls einen Kuss auf die Stirn. »Wir schauen mal, okay?« Dann machte er Platz für Hank, damit er sich ebenfalls von seinem Sohn verabschieden konnte.

Evan hielt sich weiter im Hintergrund und wartete, bis alle aus dem Zimmer verschwunden waren, bevor er ans Bett trat.

»Hey«, sagte er leise. Er setzte sich auf den Stuhl, den Lorna freigemacht hatte, und nahm Jacks Hand. Jack war schrecklich blass und seine Finger waren so kalt, dass Evan beide seiner Hände um Jacks legte, um dessen Finger zu wärmen.

»Hey«, antwortete Jack mit einem matten Lächeln.

Evan erwiderte es bemüht. »Du siehst ziemlich fertig aus. Hast du doch Schmerzen? Soll ich die Schwester holen?«

Jack schloss kurz die Augen. »Nein.« Dann deutete er mit dem Kopf zu seiner anderen Hand. Eine Klammer steckte dort auf seinem Finger und vom Handrücken führte ein Schlauch zu einem Infusionsbeutel, der an einem Ständer neben dem Bett hing. »Keine Ahnung, was die mir hier geben, aber es ist gutes Zeug.« Wieder schenkte er Evan ein kleines Lächeln. »Und die Schwester kommt gleich sicher von ganz allein.« Er drehte erneut den Kopf und blickte zum Überwachungsmonitor, auf dem Zahlen und Kurven leuchteten, die Jack nichts sagten. »Irgendeiner dieser Werte verrät der Überwachungszentrale bestimmt, dass ich aufgewacht bin.«

Evan schnaubte. »Dann lassen sie sich aber ganz schön Zeit, um nach dir zu sehen.«

»Sie müssen sich damit ja keinen Stress machen. Die Werte verraten ihnen sicher auch, dass es mir gut geht.« Versichernd drückte Jack Evans Finger. »Klar?« Er suchte den Blick seines Freundes. »Es geht mir gut.«

Evan schluckte hart. Jack wach zu sehen und mit ihm zu reden, tat unglaublich gut. Gleichzeitig waren all die Schläuche und Kabel aber nur schwer zu ertragen. Die Infusion im Handrücken und die Klammer am Finger waren schließlich nicht das Einzige. Unter dem blauen OP-Hemd ragten die Kabel der EKG-Elektroden heraus, um Jacks linken Arm lag eine Blutdruckmanschette und neben seinem verletzten Bein verlief ein Schlauch aus dem Bett heraus in einen Beutel, der eine blutige Flüssigkeit auffing. Evan verstand, dass all diese Dinge der Überwachung dienten oder Jack Medikamente gaben, die ihm gegen Schmerzen und die Auswirkungen des Blutverlustes halfen. Trotzdem war der Anblick beunruhigend.

Er spürte, wie Jack erneut seine Finger drückte.

»Es tut mir leid.«

Verwirrt runzelte Evan die Stirn. »Was?«

»Dass du dir Sorgen um mich machen musstest«, antwortete Jack mitfühlend.

Evans Gesicht verfinsterte sich. Er hatte gerade seine Eltern verloren und dass er gestern Abend auf der Fahrt hierher panische Angst gehabt hatte, jetzt auch noch Jack zu verlieren, hatte ihn fast wahnsinnig gemacht. Es war eine riesige Erleichterung gewesen, als Matt und Nell Entwarnung gegeben hatten, dass Jack im OP war und keine akute Lebensgefahr bestand. In der Nacht war der Erleichterung dann nach und nach die Wut auf Carlton gefolgt. Erst hatte dieser Dreckskerl ihm seine Eltern genommen und jetzt auch noch fast Jack. Was Evan dafür am liebsten mit ihm gemacht hätte, erschreckte ihn selbst.

»Es war nicht deine Schuld, dass ich mir um dich Sorgen machen musste, sondern Carltons«, fauchte er heftiger, als er gewollt hatte. »Tut mir leid.« Unwirsch fuhr er sich durch die Haare und fügte dann mit bemüht ruhigerer Stimme hinzu: »Ich glaube, ich bin gerade ziemlich dünnhäutig.«

Jack nahm Evans Hand zurück in seine. »Wenn einer das Recht dazu hat, gerade dünnhäutig zu sein, dann du. Aber wenn alles glattgeht, bekommt Carlton morgen endlich, was er verdient. Auch wenn ich jetzt leider nicht dabei helfen kann«, seufzte er frustriert.

Wieder musste Evan schlucken. »Ist es sehr egoistisch, wenn ich froh bin, dass du nicht dabei sein kannst?«, murmelte er nicht ohne schlechtes Gewissen.

Jack schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Nein. Ich bin schließlich auch froh, dass du nicht dabei sein wirst.«

Evan erwiderte das Lächeln schmal.

Jack merkte, wie die Müdigkeit ihn zurück in den Schlaf ziehen wollte, doch vorher musste er noch ein paar Dinge wissen. »Wie lief es mit Gabriel? Hat er es geschafft?«

Evan nickte. »Er ist in Jensens Wohnung und steht mit Matt und Commander Pratt in Kontakt. Laut Meyers, diesem Anführer von Carltons Spezialtruppe, steht für heute keinerlei Training oder Besprechung mehr an. Das hat er gestern zu Gabriel gesagt, als der den Einsatz abbrechen musste, um sich umzuziehen. Er hat sich mit Auraglue beschmiert, um früher als der Rest seines Teams verschwinden zu können, damit er nicht auffliegt. Bisher läuft bei ihm also alles ganz gut.«

Erleichtert schloss Jack kurz die Augen. Doch Gabriel war nur ein Teil ihres Plans.

»Und was ist mit Cam?«

Jack spürte sofort, wie Evans Hand nervös zuckte. Cam war einer seiner besten Freunde und es war offensichtlich, dass er sich Sorgen um ihn machte.

»Er ist gestern nach dem Joggen nicht nach Hause gekommen.«

Jack drückte Evans Finger. »Aber das ist doch gut. Das bedeutet ja, dass auch dieser Teil des Plans läuft.«

Evan seufzte schwer und nickte. »Ja, ich weiß. Ich wäre nur echt froh, wenn dieser ganze Mist endlich erledigt wäre und zwar ohne dass noch jemandem etwas passiert.« Er spielte mit Jacks Fingern.

»Es ist ja bald vorbei.« Jack merkte, dass er den Kampf gegen die Müdigkeit so langsam verlor. Das Sprechen wurde immer anstrengender und die Augen wollten ihm zufallen. »Und dann machen wir zwei irgendwas Schönes, okay?« Der Satz kam ihm nur noch ziemlich genuschelt über die Lippen. »Das – das haben wir uns verdient.«

Liebevoll streichelte Evan ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und gab ihm einen Kuss. »Du verdienst jetzt erst Mal noch ein paar Stunden Schlaf, verstanden? Also bleib nicht meinetwegen wach. Oder weil du wissen willst, wie es bei den anderen steht. Dein Job ist jetzt nur, wieder fit zu werden. Vielleicht darfst du dann morgen wirklich schon nach Hause.«

Ein mattes Lächeln huschte über Jacks Gesicht und er versuchte, noch einmal die Augen zu öffnen, kapitulierte aber, weil die verflixten Lider einfach zu schwer waren. »Bleibst du?«, murmelte er und seine Finger in Evans zuckten.

Zärtlich strich der ihm noch einmal über die Stirn. »Solange du willst.«

Kapitel 2

 

07:02 Uhr

In der Villa der Hunts

 

Es war still im Haus, als Matt die Tür hinter sich zuzog, doch der Duft von Kaffee und Toast hing in der Luft und er hatte von draußen Licht in der Küche gesehen. Irgendjemand war also schon wach. Nach dem Einsatz gestern und einer durchwachten Nacht auf dem Krankenhausboden wollte er jetzt eigentlich bloß duschen und sich für ein paar Stunden hinlegen. Er hatte allerdings von Cams Verschwinden und wie es danach gelaufen war, bisher nur per Textnachrichten erfahren. Bevor er schlafen ging, wollte er dazu gern mehr Details wissen. Er trat in die Küche und sah Connor am Kühlschrank stehen.

»Hey.«

Connor wandte sich zu ihm um und musterte ihn kurz. »Hey. Ist mit Jack alles okay?«

Müde ließ Matt sich auf einen Stuhl sinken. »Ja, er ist aufgewacht und es geht ihm soweit gut. Er ist bloß noch ziemlich erledigt, aber das ist wohl ganz normal. Ich fahre später wieder hin, um die Wache zu übernehmen.«

»Das klingt gut.« Connor stellte Milch, Orangensaft und Käse auf den Tisch. »Ich kann auch eine Wache übernehmen. Bis es morgen Abend losgeht, wird die Zeit sich sicher noch mal schrecklich ziehen.«

Matt stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub sein Gesicht in den Händen und nickte seufzend. »Mit Sicherheit. Wie steht es hier?«, fragte er dann und tauchte wieder aus seinen Händen auf. »Schlafen die anderen noch?«

»Ja. Sue und Phil waren ziemlich lange bei Betty auf dem Revier und wann Jules und Jaz endlich geschlafen haben, weiß ich nicht. Der Tag gestern war für keinen von uns leicht.«

Wieder nickte Matt müde.

»Willst du auch einen Toast?«, fragte Connor. »Ich schätze mal, im Krankenhaus hast du nichts gegessen, oder? Dann war das Frühstück gestern deine letzte Mahlzeit und du solltest was in den Magen bekommen, bevor du schlafen gehst.«

Wirklich hungrig fühlte Matt sich nicht, doch ihm war klar, dass er über diesen Zustand gerade einfach nur drüber weg war und Connor recht hatte. »Ein Toast wäre gut. Und ein Tee.« Er wollte aufstehen, um den Wasserkocher zu füllen, aber Connor klopfte ihm auf die Schulter und ließ ihn sitzen bleiben.

»Ich mach das schon. Gönn dir Ruhe. Du siehst völlig erledigt aus.«

Matt schenkte ihm ein Lächeln und stemmte sich trotzdem vom Stuhl hoch. »Danke. Mach du den Toast und erzähl mir, wie genau es hier gelaufen ist. Um den Tee kümmere ich mich schon selbst. Ich kann nicht nur rumsitzen, egal wie erledigt ich bin.«

Während Connor das Brot rösten ließ und Tomaten und Gurke kleinschnitt, berichtete er, was er von Sue und Phil über den gestrigen Tag gehört hatte. Cam war wie jeden Nachmittag in den letzten Wochen gegen fünfzehn Uhr zum Joggen aufgebrochen und als er nach einer guten Stunde bei Einbruch der Dämmerung nicht zurückgekehrt war, war klar gewesen, dass sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen hatten. Carlton hatte den Tag der Säuberung des Cloverfield Shopping Centres dazu genutzt, um Cam für die Unheilige Nacht entführen zu lassen. Sein Einsatz als Koordinator seiner drei Spezialtruppen während der Säuberung gab ihm das perfekte Alibi. Nichtsdestotrotz hatte Sue ihn angerufen und ihm vorgeworfen, seine Finger beim Verschwinden ihres Sohns im Spiel zu haben. Sie mussten schließlich den Schein aufrechterhalten. Da Carlton während des Säuberungseinsatzes nicht erreichbar gewesen war, hatte sie ihm eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Carlton hatte darauf erst spät am Abend reagiert und bloß eine Textnachricht zurückgeschickt.

 

ES TUT MIR SEHR LEID, DASS DEIN SOHN VERSCHWUNDEN IST. ICH WAR BIS GERADE IN DER EINSATZNACHBESPRECHUNG UND FINDE DEINE BESCHULDIGUNGEN SEHR BEFREMDLICH. NUR WEIL WIR POLITISCH NICHT IMMER DERSELBEN MEINUNG SIND, WÜRDE ICH GANZ SICHER NICHT DEINEN SOHN ENTFÜHREN. ICH ENTSCHULDIGE DEINE ANSCHULDIGUNGEN ABER DAMIT, DASS DU GERADE KRANK VOR SORGE BIST UND NICHT KLAR DENKEN KANNST. ICH HOFFE SEHR, DEIN JUNGE TAUCHT WOHLBEHALTEN WIEDER AUF. FALLS ICH DIR UND DEINER FAMILIE IN IRGENDEINER WEISE HELFEN KANN, LASS ES MICH WISSEN.

 

Es war in etwa das, was sie erwartet hatten und natürlich nichts, das sie in irgendeiner Weise gegen ihn hätten verwenden können. Da sie jedoch noch nicht wussten, wie genau der Schlag gegen Carlton und seine Sekte morgen Nacht ausgehen würde, hatten Sue und Phil sich so verhalten, wie alle Eltern sich verhalten würden, wenn eins ihrer Kinder nicht nach Hause kam. Sie waren zur Polizei gefahren und hatten eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Wenn alles nach Plan lief und sie Cam in der Unheiligen Nacht bei Carlton fanden, konnten sie ihm damit seine Beteiligung an Cams Entführung nachweisen.

Nach der Vermisstenmeldung waren Sue und Phil nach Hause zurückgekehrt und hatten darauf gewartet, dass Gabriel Bescheid gab, ob er sich erfolgreich in Carltons Truppe hatte einschleusen können.

»Hast du von Gabe noch was gehört?«, fragte Connor, als er sich zu Matt an den Tisch setzte. »Er hat sich bei uns gemeldet, als er in Jensens Wohnung war. Bis dahin schien alles glattgegangen zu sein.«

Matt nickte. Er hatte Connor Kaffee und sich selbst Tee eingeschenkt und jetzt stapelten beide Käse, Tomaten und Gurken auf die warmen Brotscheiben. »Wir haben heute Nacht ein paar Mal geschrieben, weil er wissen wollte, wie es Jack geht. Irgendwann gegen halb zwei muss er eingeschlafen sein. Jedenfalls hat er sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich hab ihm vorhin eine Nachricht geschickt, dass Jack aufgewacht ist und ich jetzt nach Hause fahre. Darauf hat er sich auch noch nicht gemeldet.«

Connor sah von seinem Teller auf. »Das muss aber kein Grund zur Sorge sein. Er stand gestern total unter Stress. Da ist es kein Wunder, wenn er irgendwann eingeschlafen ist. Im Gegenteil. Es ist sogar gut.«

Matt lächelte schief. »Ich mach mir auch keine Sorgen. Ich sehe das wie du. Wenn er schläft, vergeht die Wartezeit für ihn schneller und er geht weniger die Decke hoch.« Er nahm einen Schluck von seinem Tee. »Hast du noch was von Craig und Tonya gehört?«

Tonya war eine Spuk in der Squad aus Hackney, die von Craig Cox angeführt wurde. Die Squad gehörte zu ihrer Sondertruppe und hatte bereits an Samhain beim Schlag gegen Carlton geholfen. Gestern waren sie wie alle Spuk Squads Londons bei der Säuberung des Cloverfields dabei gewesen und hatten einen Quadranten gemeinsam mit einer von Carltons Truppen von Geistern befreit. Dabei waren ihnen gleich drei mächtige Schatten in einem Drogeriemarkt begegnet, die der Squad aus Hackney beinahe zum Verhängnis geworden wären. In dem vollgestellten Ladenlokal war es unmöglich gewesen, den Geistern auszuweichen, deshalb hatte Craig sich verschlingen lassen, um sein Team zu schützen. Die Squad aus Newham, die im selben Quadranten eingesetzt gewesen war, war ihnen sofort zu Hilfe gekommen. Beide Squads arbeiteten oft zusammen. Craigs Team bestand aufgrund von Personalmangel nur aus drei Leuten, während in der Squad aus Newham nur Normalos waren. Gemeinsam ergänzte man sich und half sich in den angrenzenden Stadtteilen oft aus. Nach Rücksprache mit Pratt hatte Craig die vier außerdem als zusätzliche Unterstützung mit ins geheime Sondereinsatzteam gegen Carlton geholt. Beim Kampf gegen die Schatten in der Drogerie hatten die vier zwei der Biester mit Auraglue eingefroren, während Caroline und Tonya den dritten mit Silberenergie angegangen waren, bis Tonya es gewagt hatte, in das Biest hineinzuspringen, um Craig herauszuholen. In der Enge des Ladens war sie dabei mit einem der Regale kollidiert und hatte sich an der Schulter verletzt. Craig dagegen war durch den langen Aufenthalt im Schatten stark geschwächt gewesen, sodass beide den Einsatz danach hatten abbrechen müssen.

»Sie sind okay«, antwortete Connor. »Craig brauchte nur Sauerstoff und Energie, hat Thad aber geschrieben, dass er nach einer Nacht Regeneration wieder einsatzbereit ist. Und Tonya meint, ihre Schulter wird auch wieder. Mit Schmerzmitteln und ihrer Silberenergie ist auch sie für morgen wieder fit. Außer Jack haben Carltons Leute keinen von uns ausschalten können.«

Niemand glaubte, dass ein unglücklicher Zufall drei so starke Geister in die Drogerie geführt hatte. Besonders, da Carltons Truppe Craigs Squad beim Kampf nicht beigestanden hatte. Angeblich waren sie so sehr mit den Geistern im Lager der Drogerie beschäftigt gewesen, dass sie die prekäre Lage der anderen nicht mitbekommen hatten. Bei der Einsatzleitung mochten sie sich damit vielleicht rausreden können. Allen Eingeweihten war dagegen klar, dass die Truppe die drei Schatten dort in Silberboxen platziert hatte, genauso wie Carltons anderer Trupp drei solcher Biester im Davenport’s freigelassen hatte. Dort war einer von ihnen zum Wiedergänger mutiert, der Carltons Leuten den perfekten Anlass für eine Schießerei geliefert hatte. Matt schauderte beim Gedanken, wie schlimm es für Craigs Team hätte ausgehen können, wenn die Schatten sich in der engen Drogerie in ihrer unmittelbaren Nähe ebenfalls in Wiedergänger verwandelt hätten.

»Ich schätze, wir können froh sein, dass Carltons Leute nicht noch mehr versucht haben«, ächzte Matt. Er hatte selbst riesiges Glück gehabt, dass ihn nicht auch eine der Kugeln getroffen hatte. Die dünnwandigen Regale der Süßwarenabteilung hatten kaum Deckung geboten, weil die Kugel durch sie hindurch geschlagen waren.

»Das wäre zu auffällig gewesen«, meinte Connor. »Es gab schließlich genug Leute, die Bodycams getragen haben. Es war ja eigentlich schon riskant, dass sie überhaupt so was gewagt haben. Das zeigt aber, dass Carlton unter Druck steht, weil die Truppe, die er morgen seinen Ritualort bewachen lassen kann, nicht unendlich groß sein wird.«

Matt wiegte den Kopf hin und her. »Unsere Truppe ist auch nicht unendlich groß. Nach der Auswertung der Videos von den Rettungseinsätzen an der Ravencourt wissen wir, dass Carltons Spezialtruppe dreißig Männer umfasst. Damals war Draper noch ihr Anführer und der ist an Samhain gestorben, genauso wie sein Sohn und einige weitere der Handlanger, die ebenfalls in der Spezialtruppe waren. Aber Carlton hatte jetzt sieben Wochen Zeit, diese Verluste auszugleichen und vielleicht sogar noch mehr Leute anzuwerben. Wir können nicht genau sagen, wie viele Gegner uns morgen erwarten.«

Connor spülte den letzten Bissen seines Frühstücks mit einem Schluck Kaffee hinunter. »Sicher wird Carlton ein paar neue Leute für seine Truppe rekrutiert haben, aber ich glaube nicht, dass es besonders viele sein werden. Nach Samhain wird er äußerst vorsichtig gewesen sein, weil er nicht wusste, wem er noch vertrauen kann. Zum einen musste er damit rechnen, dass wir versuchen, jemanden in seine Truppe einzuschleusen, zum anderen dürften Leute wie Singer, die plötzlich kalte Füße bekommen haben, für zusätzliche Paranoia bei ihm gesorgt haben. Dafür sprechen Singers Eliminierung und die Anschläge auf uns gestern während der Säuberung. Wenn er sich sicher wäre, dass seine Leute uns in Anzahl und Können absolut überlegen sind, hätte er dieses Risiko nicht eingehen müssen. Immerhin hätte er bei den Anschlägen auch eigene Leute verlieren können. Entweder weil auch sie hätten verletzt werden können oder weil ihre Taten aufgefallen wären. In beiden Fällen wären sie für die Ritualnacht ausgefallen.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee. »Ich glaube nicht, dass er viel mehr als vierzig Leute haben wird, die morgen für ihn kämpfen.«

Auch Matt hatte sein Frühstück beendet und schob seinen Teller von sich. »Schön wär’s. Aber wir sind auch nur siebenunddreißig und Gabriel, Sue und uns beide musst du rausrechnen. Wir werden bei der Angriffswelle draußen schließlich kaum mithelfen, weil wir uns so schnell wie möglich ins Haus zu Cam durchschlagen müssen.«

»Das stimmt.« Connor lächelte jedoch spitzfindig. »Du vergisst aber, dass Pratt uns noch ein paar zusätzliche Leute besorgen wollte. Als eine Art Back-up-Team. Er hat darum ein ziemliches Geheimnis gemacht, was ich verstehen kann, weil diese gesamte Mission gegen Carlton ja nun mal geheim ist. Aber jetzt steht Team B wohl fest. Pratt bestellt die Leute heute Nachmittag ins Lagerhaus. Thad, Craig und Flint sollen als Befehlshaber von Team A ebenfalls hinkommen, genauso wie wir zwei als Vertreter von Team C, das Cam retten soll.«

»Okay. Das klingt sehr gut«, meinte Matt angenehm überrascht. »Wann sollen wir da sein?«

»Um zwei.« Connor machte eine auffordernde Handbewegung Richtung Tür. »Also sieh zu, dass du bis dahin ein paar Stunden Schlaf bekommst.«

Kapitel 3

 

08:37 Uhr

Croydon, in der Wohnung von David Jensen

 

Jetzt komm schon«, knurrte Gabriel. »Ich will einfach nur einen schwarzen Kaffee. Stark. Heiß. Und schnell.«

Genervt tippte er über das Menü des Kaffeeautomaten, das gefühlt den Umfang der Getränkekarte eines Starbucks hatte. Der Automat nahm fast ein Drittel der kleinen Kochnische des Ein-Raum-Appartements ein und hatte vermutlich mehr gekostet als der komplette Rest des Hausstandes zusammengenommen. Gabriel konnte zwar absolut nachvollziehen, dass jemand Kaffee einen so hohen Stellenwert einräumte. Auch für ihn war er lebensnotwendig. Aber warum zum Henker kaufte man sich eine Maschine, bei der man sich für die simpelste, ursprünglichste und reinste Form eines Kaffees erst durch ein Dutzend Mixvarianten tippen musste, von denen Gabriel zum Großteil noch nie gehört hatte? Sollte die Auswahl nicht mit der einfachsten Version beginnen? Oder speicherte diese Höllenmaschine etwa die Varianten ab, die sein Besitzer am häufigsten trank?

»Na endlich«, seufzte er, als die Auswahl Kaffee, schwarz auf dem Display erschien. Er tippte drauf und eine neue Auswahl erschien im Display.

S, M, L.

»S? Ernsthaft? XL wäre ja wohl angebrachter!« Er drückte auf L.

Bitte warten … leuchtete im Display auf.

Gabriel stieß ein Knurren aus und fuhr gleich darauf heftig zusammen, da ohrenbetäubender Lärm einsetzte, als das Ungetüm irgendwo in seinem Inneren damit begann, die Kaffeebohnen zu mahlen. Mit finsterem Blick und einer guten Portion Argwohn ließ Gabriel die Maschine nicht aus den Augen, bis gefühlte Stunden später endlich der Kaffee in die Tasse gelaufen war.

Was für ein Aufstand.

Er schnappte sich die Tasse und beglückwünschte sich still für die absolut simple Kaffeemaschine, die Matt und er für ihr Schlafzimmer gekauft hatten. Ihre Minis waren oft schon früh wach und sahen dann nach, ob ihre Dads da waren und sie vielleicht ein bisschen Gemeinsamzeit herausschlagen konnten, bevor Dad und Daddy arbeiten gehen mussten. Meist gönnten Gabriel und Matt sich dann eine Tasse Kaffee im Bett, kuschelten mit den Kleinen und ließen das Koffein wirken, bevor sie aufstanden und dafür sorgten, dass Leo und Toby gewaschen und angezogen beim Frühstück erschienen.

Mit einer guten Portion Wehmut ließ Gabriel sich mit seinem Kaffee auf das Bett sinken, das hinter einer Regalwand etwas abgetrennt vom Rest des Appartements stand.

Verdammt, er vermisste diese gemeinsamen Starts in den Tag, obwohl sie mit Dämmerdiensten und Vorbereitungen auf den Schlag gegen Carlton viel zu selten gewesen waren. Aber ab morgen war das hoffentlich alles vorbei.

Gabriel nippte vorsichtig am heißen Kaffee, lehnte sich gegen die Wand und starrte an die Decke.

Wenn sie Carlton morgen endlich das Handwerk legten, konnten ihre Kleinen und der Rest der Familie aus Schottland zurückkommen. Dann würde er alle verbliebenen Urlaubstage dieses Jahres nehmen und sämtliche Überstunden abfeiern, um über den Jahreswechsel in Ruhe mit Matt und ihren Jungs ins neue Haus einzuziehen.

Er schloss die Augen und verbat sich den Gedanken daran, dass beim Kampf morgen jemand sterben konnte. Stattdessen klammerte er sich wieder an die Vorstellung von sich und Matt mit Leo und Toby im neuen Haus. Sky und Connor mit Jade und dem Baby, das noch kommen würde. Cam, der endlich Seelenfrieden finden konnte, wenn er den Zwilling mit all seinem Grauen, all dem Druck und der Verantwortung los war. Seine ganze Familie würde endlich wieder unbeschwert ohne all die Ängste und Sorgen der letzten Monate leben können. Nichts anderes hatten sie verdammt noch mal verdient und genau dafür würden sie morgen kämpfen. Entschlossen ballte er seine Hand um die Kaffeetasse, zwang sich dann, tief durchzuatmen – und zu überlegen, wie er die Zeit bis morgen Abend geduldig totschlagen wollte.

Er schnaubte ironisch.

Darin war er ja so wahnsinnig gut.

Er nahm noch einen Schluck Kaffee und sah sich im Appartement um. Viel zu sehen, gab es hier allerdings nicht und er hatte die Inspektion bereits am Abend zuvor in weniger als fünf Minuten abgeschlossen. Außer dem Bett, dem Raumteilerregal und der kleinen Kochnische gab es noch ein Sideboard mit Fernseher und Spielekonsole, einen winzigen Tisch mit zwei Stühlen, einen recht geräumigen Einbauschrank und ein Badezimmer, in dem es so eng war, dass Gabriel zum ersten Mal hatte nachvollziehen können, wie Cam sich mit seiner Klaustrophobie fühlen musste. Das Highlight war dagegen ein Laufband, das Jensen zwischen Bett und Fenster gequetscht hatte, und das Gabriel enorm dabei helfen würde, bis morgen Abend nicht die Decke hochzugehen. Im Regal lagen außerdem ein Stepper und mehrere Hanteln. Jensen musste ziemlich fanatisch sein, was Sport anging, denn laut der Nachforschungen, die Shiva und Betty über ihn angestellt hatten, verbrachte er die Zeit, die er nicht für Carlton arbeitete, im Fitnessstudio. Die Gerätschaften, die er zusätzlich für sein Appartement angeschafft hatte, sprachen dafür, dass er auch in Nebelzeiten, wenn Lockdowns herrschten, nicht auf Sport verzichten wollte.

Gabriel war das nur recht. Er befand sich schließlich, bis er morgen zum Einsatz gerufen wurde, hier in der Wohnung in einer Art Hausarrest. Für den Fall, dass es hier im Wohnblock neugierige Nachbarn gab, wollte er so wenigen Leuten wie möglich unter die Augen kommen. Gestern Abend hatte das zum Glück prima funktioniert. Nach dem Einsatz im Cloverfield war er mit Jensens Wagen zur Charing Cross Station gefahren, wo er in den Schließfächern der Bahnhofshalle eine Tasche mit ein paar Kleidungsstücken, sowie anderem nützlichen Kram deponiert hatte. Morgen Abend Jensens Schutzanzug tragen zu müssen, damit er in Carltons Truppe nicht auffiel, war für Gabriel okay. Er weigerte sich allerdings, andere Klamotten des Kerls zu tragen. Außerdem hatte sein Commander ihm ein Gerät besorgt, mit dessen Hilfe Shiva die Zugangscodes zu Jensens Handys hatte hacken können. Gabriel hatte es einfach nur mit dem Handy koppeln müssen. Das Smartphone, das Jensen privat nutzte, hatte nichts Neues gebracht, sondern nur bestätigt, was sie schon über ihn gewusst hatten: Er war ein Einzelgänger ohne nennenswerte Sozialkontakte.

Das zweite Handy war dagegen deutlich interessanter. Es schien eine Art Diensthandy zu sein, mit dem Jensen zum Training von Carltons Spezialtruppe gerufen wurde. Außerdem erhielt er damit Aufträge, die er einzeln oder gemeinsam mit anderen Mitgliedern ausführen sollte, oder ihm wurden generelle Anweisungen und Termine mitgeteilt. Auf dem Handy befanden sich zudem verschiedene Chatgruppen, die alle nur mit einer Zahlenkombination gekennzeichnet waren. Auch die jeweiligen Mitglieder hatten keine Klarnamen, sondern nur willkürlich anmutende Buchstabenkombinationen, hinter denen man seine Identität verbarg. Shiva und Jamal hatten sich sofort mit Feuereifer darauf gestürzt, um anhand der Nachrichteninhalte, die die verschiedenen Personen geschickt hatten, herauszufinden, hinter welcher Kombination sich Harris, Meyers oder vielleicht sogar Carlton verbarg.

Jamal hatte am Tag zuvor außerdem Jensens Abwesenheit genutzt und die Wohnung auf mögliche Kameras und Wanzen überprüft. Da keiner von ihnen abschätzen konnte, wie misstrauisch Carlton nach Samhain gegenüber seinen eigenen Leuten geworden war, war die Durchsuchung von Jensens Appartement eine Notwendigkeit gewesen, um Gabriel nicht womöglich in eine tödliche Falle zu schicken. Doch Jamal hatte nichts gefunden, sodass Gabriels Einzug nichts im Wege gestanden hatte.

Gabriel angelte sein eigenes Handy vom Tisch und las noch einmal Matts Nachrichten, die eingegangen waren, während er geschlafen hatte. Jack war aufgewacht und abgesehen davon, dass er von OP und Blutverlust noch ziemlich erledigt war, ging es ihm gut. Die erlösende Nachricht, dass die Kugel nichts Lebensbedrohliches verletzt hatte, hatte Matt ihm bereits am Abend geschickt. Obwohl die Sache damit verhältnismäßig glimpflich ausgegangen war, wäre Gabriel in der Nacht gern an Matts Seite gewesen, so wie Matt dagewesen war, als Gabriel um Jules gebangt hatte. Genauso hätte er viel dafür gegeben, jetzt zu Hause bei seinen Eltern und Jules sein zu können. Selbst wenn Cams Entführung zu ihrem Plan dazugehörte, würde seine Familie sich trotzdem Sorgen um ihn machen und gerade durch die Hölle gehen.

Auch Gabriel machte sich Sorgen und betete, dass es Cam gut ging. Zwar war klar, dass Carlton ihn nicht vor dem Ritual töten würde, aber zu welch perversen Psychospielchen der Mann fähig war, wussten sie ja. Gabriel hoffte jedoch, dass Carlton die erfolgreiche Durchführung des Rituals wichtiger war, als Cam vorher aus Rache für Samhain zu quälen, denn Cam gefoltert und geschwächt ins Ritual zu schicken, schmälerte schließlich die Aussicht auf Erfolg. Das würde Carlton sicherlich nicht riskieren. Zumindest hoffte Gabriel das sehr.

Einen Lichtblick gab es aber immerhin. Der Peilsender in Cams Arm funktionierte. Der Chip sagte zwar nichts über Cams Gesundheitszustand aus, aber sie wussten zumindest, wo er sich gerade befand: auf einem Anwesen im Epping Forest. In diesem ausgedehnten Waldgebiet nordöstlich von London lag auch das verlassene Herrenhaus, in dem Carlton an Samhain das dritte Ritual hatte vollziehen wollen. Das Anwesen, auf dem Cam sich laut Peilsender befand, lag allerdings knapp zehn Kilometer Luftlinie davon entfernt. Betty hatte bereits recherchiert, dass es laut Grundbucheintrag einem pensionierten Herzchirurgen nebst Gattin gehört, die beide allerdings nur auf dem Papier existierten und ganz offensichtlich als falsche Identitäten zum Kauf der Immobilie vor rund fünf Jahren erschaffen worden waren. Shiva arbeitete daran, herauszufinden, wer die tatsächlichen Käufer gewesen waren. Da sie vermuteten, dass die Grayers als Börsenmakler das Geld verwalteten, das Carlton über die Death Strikers von der Stadt erpresst hatte, hoffte Shiva, einen Beweis dafür zu finden, wenn sie die Scheinidentitäten verfolgten.

Gabriel verstand zwar, dass es wichtig war, möglichst viel gegen Carlton und seine Leute in die Hände zu bekommen, damit sie ihm den Prozess machen konnten. Trotzdem interessierte ihn die Spur des Geldes weit weniger als die Frage, ob man Cam auf diesem Anwesen nur bis zur Ritualnacht versteckte, oder ob das Haus auch als neuer Ritualort dienen würde, weil Carlton den bisherigen nicht mehr nutzen konnte.

Geplant war, heute Vormittag einen kleinen Spähtrupp loszuschicken, der unbemerkt das Anwesen in Augenschein nehmen sollte. Vielleicht würde ihnen das bereits mehr verraten.

Würde ihr Back-up-Team diesen Job übernehmen?

In seiner letzten Nachricht hatte Matt ihm geschrieben, dass er und Connor sich am Nachmittag mit Pratt, ihrem neuen Back-up-Team sowie Thad, Flint und Craig im Lagerhaus treffen würden. Da würde ein erstes Auskundschaften am Vormittag zeitlich passen.

Gabriel rechnete es seinem Commander hoch an, dass er ihnen weitere Unterstützung besorgt hatte, auch wenn er bisher nicht wusste, wie viele zusätzliche Leute das für ihre Truppe bedeutete. Aber dazu würde Matt ihm nach dem Treffen mehr erzählen können. Zärtlich fuhr Gabriel mit dem Finger über Matts letzte Nachricht und legte das Handy dann zur Seite. Liebend gern hätte er jetzt mit ihm gesprochen, doch Matt hatte ihm geschrieben, dass er sich hinlegen wollte, um ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Gabriel gönnte sie ihm von Herzen.

Er sah hoch zur Wanduhr.

09:18 Uhr.

Er ächzte.

Das hier würde ein verdammt langer Tag werden.

Er hoffte zwar sehr, dass Harris oder Meyers kein letztes Training oder noch eine Last-Minute-Besprechung für den morgigen Einsatz einberufen würden, denn dann war er als Trojanisches Pferd erledigt. Trotzdem musste er irgendwas finden, um sich zu beschäftigen. Er blickte hinüber zum Laufband. Das Ding wurde ihm immer sympathischer. Vielleicht konnte er damit eine Stunde totschlagen und dann mal bei Betty nachhören, wie es Jensen ging. Matt, Leslie und er hatten ihm gestern für den Austausch so viel Energie genommen, dass er sicher erst jetzt so langsam wieder zu sich kommen würde. Sie hatten ihn in einem Kleiderhaufen im Davenport’s versteckt und Pratt hatte ihn nach der Säuberung des Kaufhauses unauffällig von ein paar Leuten aus ihrer Geheimtruppe an einen sicheren Ort bringen lassen, um ihn heute zu befragen. Gabriel glaubte zwar nicht daran, dass Jensen etwas über Carlton und seine Machenschaften preisgeben würde, aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.

Wieder sah er sich in dem winzigen und ziemlich tristen Appartement um. Jensen konnte kein wirklich glücklicher Mensch sein, wenn er so spartanisch wohnte und sein Leben nur aus Sport und Carltons Spezialtruppe bestand, oder?

Gabriels Magen zog sich zusammen.

Hätte sein Leben nach Janeys Tod genauso einsam und trist werden können, wenn seine Familie nicht gewesen wäre? Wenn er vor lauter Schmerz und Angst vor neuen Verlusten genauso ein Einzelgänger geworden wäre wie Jensen anscheinend einer war, würde sein Leben jetzt vielleicht auch nur aus Sport und Job bestehen.

Er schauderte und war einmal mehr dankbar für die Familie, die das Schicksal ihm geschenkt hatte. Und für Matt, der bei ihm nie lockergelassen und ihm trotzdem alle Zeit der Welt geschenkt hatte.

Wehe Carlton nahm ihm morgen auch nur einen dieser Menschen weg.

Grimmig krallte Gabriel seine Hand um die Tasse. Dann verbat er sich jeden weiteren Gedanken in diese Richtung, kippte den Rest seines Kaffees hinunter und schwang sich entschlossen vom Bett.

Er musste den Kopf freikriegen.

Also: Laufband.

Jetzt. Sofort.

Kapitel 4

 

11:34 Uhr

 

Fetzen von wirren Traumbildern geisterten durch seinen Kopf, verblassten aber zu schnell, als dass er sie hätte greifen können. Er wusste nur, er musste aufwachen.

Dringend.