Die Totenbändiger - Band 8: Das Herrenhaus - Nadine Erdmann - E-Book

Die Totenbändiger - Band 8: Das Herrenhaus E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Das Finale der 1. Staffel. Blaine schmiedet einen teuflischen Plan, um Cam doch noch ins Trainingshaus der Akademie zu bekommen. Als Cam dort gegen die Geister antritt, macht er bezüglich seiner Kräfte eine unerwartete Entdeckung. Aber ist sie Segen oder Fluch? Als dann plötzlich an einem altbekannten Ort erneut Leichen mit durchgeschnittenen Kehlen auftauchen, steht für Cam fest, dass er endlich seine Erinnerung an die Nacht des Massakers zurückerlangen muss. Koste es, was es wolle … Der 8. Roman aus der Reihe, "Die Totenbändiger", von Nadine Erdmann (Cyberworld, Die Lichtstein-Saga).

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Table of Contents

Das Herrenhaus

Was bisher geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Nachwort

Impressum

Die Totenbändiger

Band 8

Das Herrenhaus

von Nadine Erdmann

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Wenige Tage nach Äquinoktium werden Topher und Emmett ermordet aufgefunden. Da ihre Leichen unversehrt sind und es zudem am Tatort keine Geister gab, liegt für die ermittelnden Beamten die Vermutung nahe, dass es sich um die Tat eines Totenbändigers handelt. Aufgrund der Anzeigen und Morddrohungen der Hunts gegen Topher fällt der erste Verdacht auf sie, allerdings kann jeder aus der Familie ein Alibi vorweisen und die Polizei hat keine Beweise dafür, dass sie Dritte für die Tat angeheuert haben. Die Hunts selbst vermuten, dass Cornelius Carlton hinter den Morden steckt, um die Familie in ein schlechtes Licht zu rücken und Sue als politische Konkurrentin kaltzustellen. Leider können sie ihm eine Beteiligung an den Morden jedoch nicht nachweisen.

Auf einer öffentlichen Stadtratssitzung bekommen alle Gilden sowie die Repräsentanten der Totenbändiger, die bei ihnen um Zustimmung geworben haben, die Möglichkeit, ihre Positionen darzulegen. Auch Vertreter aus der Bürgerschaft dürfen ihre Meinungen dazu äußern. Nach den Morden an Topher und Emmett sowie dem Bekanntwerden der Mobbingprobleme an der Schule, die in einem Pilotprojekt eine gemeinsame Beschulung von Normalos und Totenbändigern versucht, scheint die Abstimmung ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gegnern und Befürwortern zu werden.

Um im Fall eines positiven Abstimmungsergebnisses zu verhindern, dass Carlton sich den Posten im Stadtrat unter den Nagel reißt, entscheiden Gabriel, Sky und Connor gemeinsam mit den Ghost Reapers, dass es Zeit wird, entschiedener gegen ihren Gegner vorzugehen. Dafür planen sie unter anderem, Newfield genauer unter die Lupe zu nehmen, um herauszufinden, ob Menschen dort gegen ihren Willen festgehalten oder zu Dingen gezwungen werden. Dieser Plan verlangt allerdings eine gute Vorbereitung und darf nicht überstürzt werden.

Durch Blaine hat Cornelius das Video von Cam im Tumbleweed Park gesehen und sowohl Vater als auch Sohn finden Cams Kräfte äußerst interessant, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Cornelius sieht in Cam einen außergewöhnlichen Totenbändiger, dessen Kräfte gefördert und für ihre Gemeinschaft genutzt werden sollten. Blaine dagegen will herausfinden, ob Cam nur ein Hochstapler ist – und falls nicht, ob er sich wegen eines möglichen Konkurrenten um die Gunst seines Vaters Sorgen machen muss.

Beim Belauschen eines Gesprächs zwischen Sue und Carlton erfahren Gabriel und Matt, dass Blaine seinem Vater das Video von Cam gezeigt hat. Aus einer spontanen Eingebung heraus beschließen Gabriel, Matt und die anderen, Blaines Interesse an Cam auszunutzen und ihm eine Falle zu stellen. Als Blaine Cam zu einem Kräftemessen in ein Trainingshaus der Akademie locken will, lässt Cam sich zum Schein darauf ein. Da Blaine das Trainingshaus zu diesem Zweck mit Geistern ausstatten muss, hoffen die Spuks, ihm zum geheimen Lagerhaus der Akademie folgen zu können, um dort Beweise für Carltons Beteiligung an den Morden in der Elderly-Flowers-Wohnanlage zu finden. Der Plan geht auf und Blaine führt sie ahnungslos tatsächlich zum Lager der Akademie. Doch ob ihre Funde dort tatsächlich entscheidende Beweise gegen Carlton liefern werden, müssen die Untersuchungen der Forscher aus dem Tower noch zeigen.

Carlton ist von der Durchsuchung seines Geländes sowie der Beschlagnahmung der Seelenlosen und verschiedener Substanzen wenig angetan und sieht in seinem Sohn eine herbe Enttäuschung. Nach einem Streit will Blaine sich nicht länger von seinem Vater kleinhalten lassen und zieht seine Konsequenzen. Er sagt sich von ihm los, verlässt heimlich die Akademie und schwört, sich an den Hunts dafür zu rächen, dass sie ihn ausgetrickst haben.

Kapitel 1

 

Sonntag, 29. September

 

Wow, du bist echt gut geworden.« Cam lockerte seine Silberenergie, die er um Evans Arm gewickelt hatte. Evan schaffte es zwar noch nicht, ihn abzuschütteln, und Cam hätte ihm noch immer seine Lebensenergie nehmen können, aber er spürte Evans Widerstand stärker als bei ihrem letzten Training. »Jules scheint ein deutlich besserer Lehrer für dich zu sein als ich.«

Evan keuchte auf, als Cam ihn ganz losließ. Sein Kopf pochte und er kam sich gerade so vor wie nach einer schweren Matheklausur: mental völlig ausgelaugt. Gleichzeitig war da aber auch eine gewisse Euphorie, weil er merkte, dass er wirklich besser wurde.

»Vermutlich war es eher das Training mit Jack und Matt«, schnaufte er und sog tief die klare Vormittagsluft ein. »Die beiden haben mich nämlich nicht mit Samthandschuhen angefasst.« Er bedachte Cam und Jules mit vielsagenden Blicken. »Ihr zwei – und der Rest eurer Familie – seid einfach zu nett.«

Jules hatte Evan am Freitag mit ins Mean & Evil genommen und im Gegensatz zu Evans bisherigen Trainingspartnern hatte Matt sich nicht darauf beschränkt, seine Silberenergie nur um Evans Arm oder Bein zu schlingen und ihn festzuhalten. Er hatte ihm dabei auch Energie entzogen, seine Silberenergie heiß und heißer werden lassen oder dafür gesorgt, dass die Berührung ein widerliches Brennen durch Evans Körper jagte. Natürlich war nichts davon gefährlich gewesen und sie hatten vorher ein Safeword ausgemacht, damit Evan sagen konnte, wann er genug hatte. Aber er hatte die Zähne zusammengebissen und Matts Training hatte schnell dafür gesorgt, dass er deutlich besser verstand, warum man bei aller Faszination für die Silberenergie der Totenbändiger definitiv auch wissen sollte, wie man sich vor ihr schützte.

»Yep, ich weiß, was du meinst.« Jules bückte sich nach dem Stoffball, den Holmes ihm vor die Füße gelegt hatte, und warf ihn für den kleinen Kater quer durch den Garten. Sofort sprang Holmes begeistert hinterher. »Ich trainiere das Duellieren auch lieber mit einem der Reapers. Oder mit Jaz. Da tut es zwar schon mal weh, aber man lernt dadurch echt schneller.« Er verzog das Gesicht. »Irgendwie haben wir Hunts deutlich mehr Skrupel damit, anderen wehzutun. Zumindest, wenn wir sie mögen.« Er knuffte Evan gegen die Schulter. »Wenn du Stephen wärst, hätte ich vermutlich kein Problem damit.«

Evan grinste. »Stell dir doch einfach vor, ich wäre er.«

»Nope, lieber nicht. Zu gefährlich. Du hast keine Ahnung, wie viel Selbstbeherrschung es mich kostet, ihm nicht jedes Mal mit meinem Silbernebel die Kehle abzuschnüren, wenn ich ihn sehe.«

Seit Stephen ihn auf seiner Party an Äquinoktium bloßgestellt hatte, musste Jules sich in der Schule jede Menge blöder Sprüche und sexuelle Anspielungen anhören, die sich keinen Deut gebessert hatten, seit er und Cam am Freitag in der Schule Hand in Hand gesehen worden waren. Im Gegenteil. Jetzt bekam nicht nur Jules blöde Sprüche zu hören, sondern auch Cam, weil viele es schräg fanden, dass sie zusammen waren. Und natürlich hielten sich besonders Stephen und seine Kumpel aus der Basketball-AG nicht mit blöden Kommentaren zurück.

Cam deutete zum Terrassentisch, als er sah, wie Evan sich die Schläfe massierte. »Lasst uns eine Pause machen. Die hast du dir verdient. Du warst wirklich gut.«

Da das Wetter seit einer gefühlten Ewigkeit heute endlich mal wieder sonnig war, hatten sie sich Getränke und Kekse mit nach draußen genommen. Man spürte zwar schon den nahenden Herbst in der Luft, aber in der Sonne war es noch angenehm warm und sie setzten sich auf die Gartenstühle, was Watson sehr begrüßte. Er sprang sofort zu ihnen, holte sich von allen Streicheleinheiten ab und rollte sich dann auf Cams Schoß zusammen.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Cam, als Jules nach seinem Handy griff, um nachzusehen, ob Gabriel, Sky oder Connor sich gemeldet hatten. Die drei waren auf dem Revier und warteten auf den Untersuchungsbericht zu den Wiedergängern und all den Substanzen, die sie am Tag zuvor im geheimen Lager der Akademie gefunden hatten.

Jules checkte ihre Chatgruppe und schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

»Ich finde es immer noch ziemlich krass, dass du gestern als Lockvogel unterwegs warst«, meinte Evan zu Cam und nahm einen Schluck von Ednas selbstgemachter Holunderlimonade. »Und dass ihr danach praktisch bei einer Art Undercover-Polizeieinsatz dabei wart, ist echt unglaublich! Ich verzeihe euch, dass ihr mir nichts gesagt habt, weil ihr wusstet, dass ich bei meinem Job im Corner Shop war. Aber wenn ihr noch mal so eine Aktion plant, will ich dabei sein, klar?«

Cam verzog das Gesicht. »Glaub mir, es ist besser, wenn du nicht auf dem Radar von Carlton und Blaine auftauchst. Wer weiß, was die sonst womöglich mit dir machen.«

Da Evan bereits vom Hinterhalt wusste, den Carlton den Ghost Reapers bereitet hatte, hatten Cam und Jules ihm auch von ihrem Verdacht erzählt, dass er hinter den Morden an Topher und Emmett steckte, um Sue als politische Konkurrentin auszuschalten.

Unbekümmert fischte Evan sich einen Kaktuskeks aus der Plätzchendose. »Na, ich werde im Blocken doch besser. Habt ihr selbst gesagt. Und ich hab Jack bequatscht, dass er mir das Schießen mit Auraglue und Silberkugeln beibringt. Ich schätze, wenn man zielen kann und weiß, wie unterschiedliche Waffen funktionieren, ist es egal, womit man schießt – oder auf wen.« Er grinste hinterhältig. »Wird bestimmt spaßig, wenn jemand wie Carlton in mir nur einen unfähigen Unbegabten sieht und mich unterschätzt.«

Cam runzelte die Stirn und strich Watson übers Fell. »Du solltest Carlton aber auch nicht unterschätzen. Der Mann ist echt gefährlich. Der geht ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und er ist verdammt clever. Egal, was er bisher getan hat, wir können ihm nichts nachweisen.«

Evan biss in den Keks. »Ich sag ja auch nicht, dass ich mich um jeden Preis mit ihm anlegen will. Aber ich will bereit sein. Und ich will helfen, etwas gegen ihn zu tun. Wenn so jemand möglicherweise demnächst mit in unserem Stadtrat sitzt, geht mich das schließlich auch was an. Also, wenn ihr noch mal irgendwas unternehmt, um ihm seine dreckigen Machenschaften nachzuweisen, will ich dabei sein.«

Cam und Jules tauschten einen Blick. Einerseits konnten sie Evans Argumente verstehen, aber andererseits ging es um Carlton und der hatte schon ihre Familie auf dem Kieker. Jetzt womöglich Evan als ihren Freund auch noch in seine Schussbahn zu bringen, klang nach keiner guten Idee.

»Hoffen wir einfach, dass das nicht nötig sein wird«, meinte Cam schließlich. »Vielleicht finden die Leute vom Tower ja was, mit dem man Carlton drankriegen kann.«

»Ja«, seufzte Jules. »Wäre genial, wenn wir mal wieder eine Schlacht gegen ihn gewinnen würden. Im Moment liegt eindeutig er in Führung.« Er sah zu Evan. »Du hast Jack echt dazu gebracht, dir das Schießen beizubringen?«

Evan nickte. »Yep. Er ist ziemlich cool.« Ein verschmitztes Lächeln flog über sein Gesicht, dann wurde er jedoch wieder ernster. »Trainiert ihr das denn nicht? Ich weiß, ihr bekämpft Geister mit eurer Silberenergie, aber eure Kräfte sind ja nicht unendlich. Da ist es doch nur clever, Auraglue als Back-up zu haben, oder nicht? Und wenn ihr gegen Wiedergänger kämpfen müsst, reicht eure Energie alleine ja auch nicht aus. Solltet ihr deshalb nicht auch wissen, wie man mit Silberkugeln schießt?«

»Im Prinzip schon«, gab Jules zu. »Aber eigentlich geht es in unserem Training mehr darum, unsere Kräfte zu trainieren, stärker zu werden und unsere Fähigkeiten geschickt einzusetzen. Wenn wir k. o. sind, gehen wir heim. Wir säubern dabei zwar unsere Nachbarschaft von Geistern, aber wir sind keine Spuks. Wir haben keinen Auftrag, möglichst viele Geister und Wiedergänger pro Training zu vernichten, um London sicherer zu machen.«

»Außerdem mögen Sue und Phil keine Waffen«, sagte Cam. »Was nicht heißt, dass Gabe, Sky und Connor uns nicht trotzdem gezeigt haben, wie Auraglues funktionieren.« Er grinste. »Wie du schon sagst, ein Back-up zu haben, ist ganz clever. Aber offiziell dürfen wir die Waffen ja noch nicht benutzen. Das Waffengesetz hat sich zwar geändert, aber wir sind noch minderjährig. Und die Dinger sind ziemlich teuer. Deshalb haben selbst Gabe, Sky und Connor auch nur ihre Dienstwaffen, keine privaten.«

»Aber nicht mehr lange«, warf Jules ein. »Matt soll ihnen Privatwaffen besorgen.«

Cam starrte ihn überrumpelt an. »Echt?«

Jules nickte. »Nach allem, was passiert ist, will er für die Ghost Reapers mehr Ausrüstung besorgen und wenn er eine größere Bestellung draus macht, wird es anscheinend billiger. Deshalb schlagen Gabe, Sky und Connor auch zu. Sie wollen sich nicht auf ihre Dienstwaffen verlassen müssen. Es kann ja schließlich ziemlichen Ärger geben, wenn sie die privat benutzen. Matt soll uns außerdem zwei Schutzwesten besorgen. Für Dad und Granny. So wie die Geister – und Carlton! – drauf sind, ist das einfach sicherer, wenn die Tage jetzt immer kürzer werden. Wir wollen zusammenschmeißen, dann schaffen wir das.«

»Klar, auf jeden Fall!«, sagte Cam sofort. »Warum habt ihr mir denn noch nichts davon gesagt? Ich geb auch was dazu!«

Jules hob die Schultern. »Wir haben es besprochen, als du nach der Unheiligen Nacht ausgeknockt warst. Und dann kam die Sache mit Topher und Emmett und gestern die Aktion mit Blaine. Ist uns wohl einfach durchgegangen. Aber gib Sky einfach, was du an Taschengeld entbehren kannst. Sie sammelt alles. Und was nach den Westen übrig bleibt, geht in Munition für ihre privaten Auraglues und Silberwaffen.«

Evan spielte nachdenklich mit einem weiteren Kaktuskeks herum. »Vielleicht sollte ich Matt auch bitten, mir eine Waffe zu besorgen, wenn eine größere Bestellung alles billiger macht. Für meine Silberweste sind nicht alle meine Ersparnisse draufgegangen. Und wenn ich meinen Eltern sage, dass sich das College für mich erledigt hat, weil ich auf die Polizeiakademie gehen will, lassen sie mich vielleicht was vom Collegefonts nehmen, um mich damit auf die Ausbildung vorzubereiten.«

Jules lachte auf. »Nette Umschreibung dafür, dass du dir davon eine Waffe kaufen willst.«

Evan zuckte mit den Schultern. »Vermutlich hätten sie nicht mal was dagegen und sind eher froh, dass ihr Sohn endlich weiß, was er mit sich und seiner Zukunft anfangen will.« Er schnaubte. »Fragt nicht, wie viele ätzende Diskussionen es schon gegeben hat, weil ich dazu bisher noch nicht so den Plan hatte.«

Evans Tonfall ließ Cam aufhorchen. »Kommst du nicht so gut mit deinen Eltern klar?« Er war zwar schon ein paar Mal bei Evan zu Hause gewesen, aber seinen Eltern war er bei seinen Besuchen noch nie begegnet.

Wieder zuckte Evan mit den Schultern. »Sie sind okay, aber ziemliche Spießer. Alles muss hübsch geordnet sein und in geregelten Bahnen laufen. Das ist oft anstrengend und echt nervig. Vor allem, weil ich eben nicht der 08/15-Standardsohn bin.«

»Shit. Weil du schwul bist?« Wie alle Totenbändiger war Jules pan. Geschlechter oder sexuelle Orientierungen spielten für ihn keine Rolle und es fiel ihm schwer, nachzuvollziehen, warum manche Menschen ein Problem damit hatten, wenn jemand nicht cisgender und heterosexuell war.

Seufzend fuhr Evan sich über die Augen. »Sie haben deshalb keinen Aufstand gemacht oder mich enterbt oder so. Aber begeistert waren sie auch nicht, als ich mich geoutet hab. Und als ich dann auch noch keinen Plan vorweisen konnte, was ich mal beruflich machen will, war das eben alles nicht der Standard, den sie gerne in ihrem geordneten kleinen Leben hätten haben wollen.« Er lächelte müde. »Vermutlich werden sie auch nicht gerade hurra schreien, wenn ich ihnen verkünde, dass ich ein Spuk werden will. Sie haben auf Anwalt, Banker oder Arzt gehofft. Aber vielleicht tröstet es sie zumindest etwas, wenn sie vor ihren Spießerfreunden sagen können, dass ihr Sohn sich heldenhaft für die Sicherheit in London einsetzen will.«

Jules verzog mitfühlend das Gesicht. In solchen Momenten wurde ihm immer klar, welch unglaubliches Glück er mit seinen Eltern hatte. »Wann wirst du denn achtzehn?«, fragte er dann, um das Gespräch in eine etwas andere Richtung zu lenken und Evan wieder auf andere Gedanken zu bringen. »Selbst wenn Matt dir eine Waffe besorgt, darfst du den Waffenschein ja erst machen, wenn du volljährig bist.«

Evan grinste. »Nächsten Monat. Und von mir aus kann die Waffe so lange noch bei Matt bleiben, wenn das für ein besseres Gefühl bei allen Beteiligten sorgt. Wann werdet ihr achtzehn?«

»Erst nächstes Jahr«, antwortete Jules. »Im April.«

»Im Mai«, sagte Cam und fragte sich, wann er wirklich volljährig wurde. Sein Geburtstag war schließlich einfach von Sue und Phil festgelegt worden, als Thad ihnen eine Geburtsurkunde für ihn besorgt hatte. Vielleicht war er längst volljährig. Vielleicht war er aber auch viel jünger. So oder so sagte irgendein blödes Datum aber doch eigentlich rein gar nichts darüber aus, ob jemand reif genug dafür war, ihm eine Waffe anzuvertrauen, oder? Manchmal kam Cam die Welt der Erwachsenen schrecklich unlogisch vor und er war sich nicht sicher, ob seine Volljährigkeit – wann immer die passieren mochte – ihm dabei helfen würde, es besser zu verstehen.

Von der Straße auf der anderen Hausseite war ein Auto zu hören, das vor der Villa der Hunts stoppte. Der Motor wurde ausgestellt, dann gingen Autotüren auf und zu. Kurz darauf wurde der Motor wieder angelassen und das Auto fuhr wieder los.

»Klingt so, als wäre Jaz zurück«, mutmaßte Jules.

Bis jetzt waren die drei allein in der Villa gewesen – sah man von Sherlock, Holmes und Watson ab. Gabriel, Sky und Connor waren auf dem Revier, Ella traf sich mit Nell, um auf der Jagd nach ausgefallenen Secondhand-Klamotten einen der vielen Londoner Flohmärkte unsicher zu machen, während Sue und Phil zum Brunchen im Mean & Evil waren und sich dabei vermutlich mit Lorna, Eddie und Hank über die Heldentaten austauschten, die ihre Kinder am Vortag gemeinsam durchgezogen hatten. Edna wollte wie fast jeden Sonntagvormittag Mrs Hall, ihre alte Nachbarin, besuchen, die seit einem Treppensturz in einem Pflegeheim wohnte. Zuvor hatte Granny jedoch Jaz angeboten, ihr ihre erste Fahrstunde zu geben, damit sie den Führerschein machen konnte. Natürlich war Jaz sofort begeistert dabei gewesen.

Die Terrassentür ging auf und Jaz kam zu ihnen. »Hier seid ihr. Ich dachte, ihr wolltet trainieren.«

»Haben wir auch«, gab Evan zurück.

»Ach ja?« Ohne Vorwarnung bohrte Jaz ihm ihre Silberenergie in die nackte Haut an seinem Nacken. »Na, dann zeig mal, was du kannst.« Sie ließ die Berührung brennen wie einen üblen Insektenstich.

»Au!« Reflexartig wollte Evan über die Stelle reiben, um das Stechen loszuwerden, besann sich aber gerade noch rechtzeitig.

Niemals freiwillig Kontakt zur Silberenergie herstellen! Das hatten Sky und Connor ihm schon in seiner ersten Lektion eingeschärft.

»Ein Angriff aus dem Hinterhalt, das ist unfair«, knurrte er.

Jaz zuckte die Schultern. »Ich garantiere dir, wenn dir ein mieser Totenbändiger auf die Pelle rückt, ist der noch viel unfairer. Also los, wehre dich. Noch spüre ich von dir gar nichts.« Sie ließ das Stechen noch ein bisschen heftiger werden.

Evan keuchte auf und konzentrierte sich sofort auf seine Schutzbarriere. Er stellte sich glühende Hitze an der Stelle vor, an der Jaz ihn berührte, und verband sie mit dem brennenden Verlangen, die Berührung loszuwerden.

Das hier war sein Körper.

Niemand hatte ihn anzurühren, wenn er das nicht wollte.

Niemand!

Er spürte Jaz’ Kraft wie eine Art Widerstand, als er all seine Gedanken auf die Stelle fokussierte, an der ihre Silberenergie ihn berührte. Es war unfassbar anstrengend, aber er biss die Zähne zusammen und packte all seine Entschlossenheit in seinen Abwehrmechanismus. Er wollte, dass es klappte! Er wollte, dass seine Freunde sahen, dass er besser wurde, denn nur dann würden sie ihn irgendwann mitnehmen, wenn sie sich mit Geistern, Wiedergängern oder miesen Totenbändigern anlegten. Und er wollte nichts lieber als mit dabei zu sein. Er wollte zu ihrer Gemeinschaft dazugehören, in der man Seite an Seite Gefahren meisterte, sich gegenseitig das Leben rettete, füreinander da war und gemeinsam Abenteuer bestritt. Er wollte ein Teil davon sein, also musste er dieses Blocken verdammt noch mal hinbekommen!

Mit noch mehr Verbissenheit puschte er seine Abwehr und plötzlich spürte er, wie der Widerstand verschwand.

»Wow.« Jaz zog ihre Silberenergie zurück. »Du bist wirklich gut geworden. Ich konnte deine Gegenwehr viel deutlicher spüren als beim letzten Mal.« Anerkennend klopfte sie ihm auf die Schulter und ließ sich dann auf den Gartenstuhl neben ihm fallen. »Dafür, dass du es erst seit einer Woche trainierst, ist das echt schon super. Anscheinend bist du ein Naturtalent. Oder du lernst wahnsinnig schnell.«

»Danke«, ächzte Evan und massierte seinen Nacken. »Ich gebe mir Mühe.«

»Ja, das merkt man. Finde ich gut. Und ich unterstütze dich dabei gerne mit weiteren fiesen Attacken aus dem Hinterhalt.« Grinsend hielt sie ihm ihre Faust für ein Fistbump hin.

Er schnaubte, grinste aber zurück und knockte seine Faust gegen ihre. Dann sah er in die Runde. »Können wir heute Abend Geisterjagen gehen? Ich würde gerne ausprobieren, wie sich Geisterberührungen anfühlen, und versuchen, sie abzuschütteln.« Er blickte zu Cam. »Wenn du fühlen kannst, wie stark die Biester sind, könnten wir ja einen schwächeren Geist suchen, mit dem ich anfangen kann. Und wenn ich es noch nicht hinkriege, seid ihr ja da, um zu helfen.«

Bevor einer von ihnen antworten konnte, klingelten die Handys von Cam und Jaz und meldeten eine eingegangene Nachricht.

»Sind das Gabe, Sky und Connor?« Jules nahm sein Handy vom Tisch und runzelte die Stirn, da er keine Nachricht bekommen hatte.

»Nein.« Auch Jaz runzelte die Stirn, als sie aufs Display sah. »Das ist eine unbekannte Nummer.« Sie öffnete die Nachricht, die ein Video enthielt, das sofort zu spielen begann.

»Shit!«, keuchte Cam, der dieselbe Nachricht bekommen hatte.

Jules sah mit auf das Display und erstarrte.

Es zeigte Ella. Sie lag reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Boden eines abgedunkelten Zimmers. Man hatte ihr ein Stück Stoff über den Mund gebunden und ihre Hände und Füße waren mit Kabelbindern gefesselt.

Das Video war vermutlich mit einem Handy aufgenommen worden. Eine Stimme erklang hinter der Kamera.

»Ihr habt gedacht, ihr könnt mich verarschen?«

Blaine Carlton.

Jaz’ Hand krallte sich um ihr Handy.

»Ernsthaft?« Er lachte dreckig. »Ihr habt euch für so clever gehalten? Ha! Wer von uns ist jetzt der Cleverere? Wer sitzt am längeren Hebel?«

Er trat ganz nah an Ella heran und zeigte ihr Gesicht in Großaufnahme.

»Ich wollte dich, Camren, heute testen. Und mit dir, Jaz, hab ich noch eine Rechnung offen. Dachtest du wirklich, du könntest einfach so abhauen und dich bei irgendeiner Familie einnisten, ohne dass ich dich dafür büßen lasse? So naiv kannst du nicht sein.«

Er wich ein paar Schritte von Ella zurück und filmte sie in Ganzkörperaufnahme.

»Um euch klarzumachen, dass man sich besser nicht mit mir anlegt, hab ich heute Morgen dieses süße kleine Ding hier eingefangen.« Wieder lachte er. »Ich kann verstehen, dass du auf sie stehst, Jaz. Sie ist wirklich niedlich. Und da sie deine Schwester ist, Camren, und man in eurer Familie ja anscheinend sooo sehr auf Zusammenhalt setzt, ist das hoffentlich genug Motivation für dich, deinen Hintern zu der Adresse zu bewegen, die ich dir gestern gegeben hab. Ella liegt hier und wartet. Sie ist nur bewusstlos. Und keine Sorge, ich hab ihr kein Haar gekrümmt. Ob das so bleibt, liegt ganz bei euch. In einer halben Stunde werde ich anfangen, Geister hier im Haus freizulassen. Bis dahin solltet ihr also besser hier sein, denn Ella wird noch eine ganze Weile ausgeknockt bleiben und sich nicht selbst gegen die Biester schützen können. Es wäre für ihr Überleben also äußerst vorteilhaft, wenn ihr das übernehmen würdet. Kommt allein und erzählt niemanden etwas. Ich will hier keinen von euren älteren Geschwistern sehen, keine anderen Spuks und keine Ghost Reapers, klar?«

Blaines Hand tauchte vor der Kamera auf. Sie hielt ein Schnappmesser.

»Solltet ihr euch nicht daranhalten, sieht die Kleine bald nicht mehr ganz so niedlich aus.« Er ließ die Klinge aus dem Messer schnappen. »Oder ich mache sie kalt. Das liegt ganz an euch. Verspätet euch also besser nicht, haltet euch an die Anweisungen und versucht nicht, mich noch einmal zu verarschen.«

Die Hand mit dem Messer verschwand wieder aus dem Blickwinkel der Kamera. Stattdessen zeigte Blaine ihnen noch einmal Ellas Gesicht.

»Wir sehen uns um Punkt elf Uhr. Wie gestern ausgemacht. Seid pünktlich.«

Dann endete das Video abrupt und es herrschte einen Moment Stille, in der alle wie in Schockstarre weiter auf die Bildschirme der Handys starrten.

»Was zum Henker …« Ungläubig sah Evan von einem zum anderen und blieb an Cam hängen. »Ist das der Typ von gestern? Der, für den du den Lockvogel gespielt hast? Der ist völlig irre!«

»Gut erkannt!« Jaz war aufgesprungen. »Aber damit geht er endgültig zu weit! Los, kommt, wir müssen Ella da rausholen!«

Sie wollte ins Haus stürmen, doch Jules hielt sie zurück. Er und Cam waren ebenfalls aufgesprungen und für sie war genauso klar, dass sie Ella helfen mussten. Aber einfach loszustürmen, war keine Lösung.

»Warte. Wir müssen clever vorgehen.«

»Ja, das weiß ich! Ich bin nicht blöd!«, gab Jaz ungehalten zurück. »Vor allen Dingen müssen wir aber schnell sein! Wir müssen rüber nach Richmond. In einer halben Stunde! Das ist eh kaum zu schaffen, also sollten wir unseren Schlachtplan besser während der Fahrt schmieden.« Sie blickte zu Evan. »Leihst du uns deinen Wagen? Die Familienautos sind alle unterwegs und mit dem Bus –«

»Klar«, fiel Evan ihr sofort ins Wort. »Ich fahre euch. Und keine Diskussion darüber, ob das zu gefährlich ist. Die Zeit haben wir nicht und ich will nicht ständig von euch in Watte gepackt werden, kapiert? Ich liebe mein Leben und setze es garantiert nicht leichtsinnig aufs Spiel. Also lasst mich selbst entscheiden, klar? Und jetzt holt, was ihr braucht, um Ella zu retten. Wir treffen uns am Auto.«

 

Keine drei Minuten später sprangen Jaz, Cam und Jules mit ihrer Trainingsausrüstung in den Wagen und Cam wünschte, in seinem Rucksackbeutel wären nicht nur ein paar Energieriegel, Apfelsaft und seine Magnesiumlampe. Eine Auraglue wäre jetzt auch echt gut gewesen und hätte ihm ein bedeutend besseres Gefühl gegeben.

»Ruf du Matt an«, meinte Jules zu Cam, während er sein eigenes Handy hervorzog. »Ich sag Gabe Bescheid.«

»Ist das eine gute Idee?« Evan gab Gas. »Der Typ hat gesagt, ihr sollt alleine kommen. Ohne Spuks und ohne Reapers. Und er klang ziemlich entschlossen, als er mit dem Messer vor Ella herumgefuchtelt hat.«

Fahrig strich Jaz sich ihre dunkelroten Haare zurück. »Mir gefällt das auch nicht.«

»Wir können nicht alleine in dieses Trainingshaus gehen«, stellte Jules kategorisch klar. »Im Lager der Akademie waren die Regale mit allen stärkeren Geistern leergeräumt. Das haben wir gestern selbst gesehen. Wenn Blaine für dich und Cam in dem Haus einen ähnlichen Hinterhalt bereitet wie sein Vater es für die Ghost Reapers in dem Bürohaus getan hat, wäre es Selbstmord da nur zu zweit reinzugehen. Oder zu dritt, denn ich werde garantiert nicht seelenruhig dabei zusehen, wie der Dreckskerl Ella in seiner Gewalt hat und ihr beiden alleine Kopf und Kragen riskiert, um sie da rauszuholen.« Er wählte Gabriels Nummer. »Mal ganz davon abgesehen, dass Gabe uns umbringt, wenn wir ihm nicht erzählen, was passiert ist.«

Jaz schnaubte, gab sich aber geschlagen.

Jules hatte recht. Sie durften kein Risiko eingehen.

Nicht, wenn es um Ella ging.

Kapitel 2

 

Commander Pratt saß in seinem Rollstuhl hinter seinem Schreibtisch und deutete mit einem Seufzen auf die Aktenmappe, die vor ihm lag.

»Laut Doktor Michaels’ Bericht zeigen weder die Wiedergänger noch die Substanzen, die gestern in der alten Schlachterei sichergestellt wurden, eine Verbindung zu den Morden in der Elderly Flowers Wohnanlage.« Er zog eine Seite aus der Mappe. »Die Substanzen wurden analysiert als Xylanin in verschieden starken Konzentrationen, Carfentanyl und STB, was anscheinend eine Abkürzung für Stanozolol, Trenbolon und Boldenon ist und das wiederum sind Steroide, die rasches Muskelwachstum fördern.«

Er legte die Seite zurück und betrachtete die vier Mitglieder seiner Spuk Squad, die vor ihm auf der anderen Seite des Schreibtisches saßen. »All das hat mir gestern schon Cornelius Carlton genauso bereitwillig wie empört mitgeteilt, als er hier war, um sich über die Durchsuchung seines Lagerhauses zu beschweren. Keiner der Wiedergänger aus seinem Besitz wies Anzeichen besonderer Aggressivität oder rote Augen auf. Im Gegenteil. Laut Michaels’ Bericht waren die Kreaturen noch sehr schwach und schienen sich gerade erst gewandelt zu haben.«

»Klar«, knurrte Gabriel, alles andere als begeistert über die Untersuchungsergebnisse aus dem Tower. »Weil wir alle älteren Wiedergänger aus seinem Besitz bei den Angriffen in der Wohnanlage und im Bürohaus vernichtet haben. Bei den neuen ist er einfach noch nicht so weit. In Doktor Michaels’ Bericht steht, dass sie die Biester noch im Tower behalten will, um sie einem Langzeittest zu unterziehen. Vielleicht zeigen sich die roten Augen erst bei längerem Einsatz der Mittel. Oder erst, wenn die Wiedergänger ein gewisses Alter oder einen gewissen Muskelaufbau erreicht haben.«

Wieder seufzte Pratt. »Ich weiß. Ich habe den Bericht auch gelesen. Und natürlich werden die Wiedergänger vorerst noch im Gewahrsam des Towers bleiben. Doch da Carlton als Schulleiter der Totenbändiger-Akademie die Berechtigung hat, Geister und Wiedergänger zu halten, und er das in der alten Schlachterei laut den Experten auch unter ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen tut, können wir ihm nichts zu Lasten legen. Zu den Morden in der Wohnanlage bestehen keinerlei Verbindungen und eine Verbindung zwischen der Wohnanlage und dem Hinterhalt im Bürohaus besteht nur insofern, als dass bei beiden Vorfällen Wiedergänger mit roten Augen gesichtet wurden, was allerdings nur von euch bezeugt werden kann. Es gibt keine Beweise dafür, da – wie du schon sagtest – die Wiedergänger in beiden Fällen vernichtet wurden. Die Warnung, euch Cornelius Carlton nicht in den Weg zu stellen, könnte zwar ein Indiz dafür sein, dass er etwas mit den Vorfällen zu tun hat, aber das bestreitet er. Seiner Ansicht nach waren das irrgeleitete Anhänger, für deren Taten man ihn nicht zur Rechenschaft ziehen kann. Und damit hat er recht. Wir haben keinerlei Beweise gegen ihn persönlich. Natürlich warten wir noch die Langzeittests ab und Doktor Michaels’ Team wird die sichergestellten Substanzen auch an einigen der anderen Wiedergänger aus dem Tower ausprobieren, doch ihrer Einschätzung nach werden uns auch diese Tests vermutlich nicht viel weiterhelfen. Und für alle beschlagnahmten Substanzen besitzt Carlton Genehmigungen. Das Carfentanyl ist ein recht gebräuchliches Betäubungsmittel für Großwild und anscheinend auch für Wiedergänger. Einen Mix aus verschiedenen Steroiden zum Muskelwachstum einzusetzen, ergibt Doktor Michaels zufolge bei Wiedergängern ebenfalls Sinn, und zum Einsatz von Xylanin könnt ihr mir vermutlich mehr sagen als ich euch.« Er sah von Gabriel zu Sky. »Laut Michaels’ Bericht ist es unter Totenbändigern ein gängiges Aufputschmittel beim Bändigen von Geistern.«

»Das stimmt«, bestätigte Sky. »Aber Gabriel und ich nehmen es nicht. Carlton setzt das Mittel allerdings beim Training in der Akademie ein. Seit ein paar Wochen lebt eine seiner Schülerinnen in unserer Familie, weil sie es in der Akademie nicht mehr ausgehalten hat. Sie hat es uns bestätigt. Carlton gibt es schon Dreijährigen, obwohl das Mittel nicht ungefährlich ist und zu Schäden an Herz oder Gehirn führen kann.«

Pratt runzelte die Stirn. »Und warum um Himmels willen gibt er es dann seinen Schülern? Vor allem in so jungem Alter?«

»Nach ihrem dritten Geburtstag beginnt das Training zum Geisterbändigen. Xylanin senkt die Angstschwelle, macht euphorisch und verleiht ihnen kurzzeitig mehr Kraft. So wird das erste Training in der Regel ein Erfolg und die Kleinen verbinden es mit etwas Positivem«, erklärte Sky. »Verbunden mit viel Lob vom Schulleiter macht sie das stolz, sie wollen ihm weiter gefallen und schon erzieht er sich treue kleine Gefolgsleute heran, die ihn super finden und weiter alles tun, um in seiner Gunst zu bleiben.«

Pratt musterte sie nachdenklich. »Schon so junge Kinder Geistern auszusetzen, besonders, wenn sie dafür ein Aufputschmittel bekommen, klingt in der Tat bedenklich. Obwohl ich mir als Normalo dazu vermutlich kein Urteil erlauben darf, denn ich kenne mich mit euren Kräften und Gepflogenheiten nicht gut genug aus, um sagen zu können, was ein geeignetes Alter wäre, um euren Kinder das Geisterbändigen beizubringen – oder dass sie mit ihren Kräften niemandem schaden dürfen.«

»Dass sie niemandem wehtun dürfen, bringt man Totenbändigerkinder genauso bei wie Normalo-Kindern«, antwortete Sky. »Die lernen schließlich auch sehr früh, dass sie andere Kinder nicht schlagen, treten, kratzen oder beißen sollen, weil es sonst auf dem Spielplatz oder im Kindergarten Ärger gibt. Das ist bei Totenbändigerkindern nicht anders. Das Geisterbändigen sollten sie allerdings erst dann zum ersten Mal ausprobieren, wenn sie eine Vorstellung davon haben, was eine Seele ist, denn ihre Seele müssen sie vor den Geistern schützen können. Man trainiert also zuerst ihre Seelenverstecke mit ihnen und dafür reichen die kognitiven Fähigkeiten von Dreijährigen noch nicht aus. Carlton macht also den zweiten Schritt vor dem ersten und das kann fatale Folgen haben. Man muss erst wissen, wie man sich schützt, bevor man sich mit Geistern anlegt.«

Pratt nickte langsam. »Klingt ganz so, als gäbe es in eurer Gemeinschaft unterschiedliche Ansichten zu manchen Aspekten. Kindererziehung scheint einer davon zu sein. Aber auch für das Zusammenleben mit uns Normalos in unserer Gesellschaft scheinen die Vorstellungen auseinanderzugehen. Ich habe gestern wie viele andere die Sitzung im Stadtrat verfolgt und ihr kennt meine Meinung. Wenn es nach mir geht, sollen unsere Rechte und Gesetze uneingeschränkt für alle Menschen gleich sein, egal als was sie geboren sind. Einige eurer Repräsentanten – unter anderem auch eure Mutter – scheinen sich genau dafür auch stark zu machen. Bei Carlton und seinen Anhängern sieht es dagegen so aus, als wollten sie sich erst mal nur auf gewisse Bereiche konzentrieren. Er hat es so hingestellt, dass er damit auf die Ängste und Bedenken der Normalo-Eltern speziell von jüngeren Kindern Rücksicht nehmen will, weil die befürchten, dass gerade sehr junge Totenbändiger ihre Kräfte noch nicht im Griff haben könnten und damit eine Gefahr für ihre Mitschüler darstellen. Im Gegenzug fordert er dafür aber für ältere Jugendliche den uneingeschränkten Zugang zum Ausbildungsmarkt, da sie in der Akademie ja schließlich gelernt haben, ihre Kräfte zu beherrschen. Er stellt es als eine Art schrittweise Gewöhnung an Totenbändiger in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft dar.« Pratt sah zwischen Sky und Gabriel hin und her. »Wenn man es anders betrachtet – und mit dem Wissen dessen, was ihr mir gerade erzählt habt – könnte man es aber auch so auslegen, dass er bei der Kindererziehung und Schulbildung weiter autonom bleiben und sich in der Akademie nicht in die Karten sehen lassen will, um die Kinder dort in eine gewisse Spur zu bringen.«

»Gut erkannt.« Gabriel wusste wiedermal, warum er seinen Boss so schätzte.

Pratt schwieg einen Moment und klopfte nachdenklich mit einem Kugelschreiber auf die Akte zum Fall Schlachthof. »Ich habe Carlton gestern kennengelernt. Er besitzt eine sehr einnehmende Persönlichkeit und einen starken Willen. Er ist nicht unsympathisch oder unverschämt aufgetreten, als er sich über die Durchsuchung seines Geländes beschwert hat, aber sehr entschieden und wie jemand, der nicht ungefährlich ist, wenn man sich mit ihm anlegt.«

Gabriel schnaubte. »Ja, das trifft es ziemlich gut.«