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Aus heiterem Himmel erfährt der junge Marquess of Meadowby, dass seine Familie wegen Percivals Spielschulden vor dem Ruin steht. Damit droht Vincent der Verlust seiner großen Liebe: Lady Helena. Als verarmter Adliger kann er ihr kein angemessenes Leben bieten. Ihr Vater, der Duke of Parbrooke, will sie mit dem Textilfabrikanten Frederick Chester verheiraten. Das ist die spannende, prekäre Situation, wie sie sich zu Beginn dieser großherrschaftlichen Familiensaga um einen herausragenden, außergewöhnlichen Lord darstellt. »Mumienbraun.« Ehrfürchtig hielt Lady Josephine das Fläschchen Ölfarbe gegen das Licht. »Davon habe ich schon so viel gehört. Es soll ein unvergleichlich sattes Tiefbraun auf die Leinwand zaubern.« »Ich freue mich, dass Sie nun Gelegenheit haben, das selbst zu beurteilen«, sagte Frederick Chester mit Genugtuung. »Was für ein wunderbares Geschenk.« Lady Josephine ließ das Fläschchen sinken und strahlte den jungen Textilfabrikanten an. »Tausend Dank, Mr. Chester. Sie hätten mir gar keine schönere Überraschung bereiten können.« Er neigte den Kopf. »Ich weiß ja, wie gern – und gut – Sie malen.« »Oh, gern schon«, meinte die Achtzehnjährige bescheiden. »Aber gut … Bevor ich das von mir behaupten darf, habe ich noch sehr viel zu lernen.« Die Antwort gefiel Frederick Chester. Genau wie die Person, von der sie stammte. Lady Josephine zeigte sich angemessen dankbar und wertschätzend. Außerdem spielte sie ihr offenkundiges Talent herunter, also hatte sie keine Flausen im Kopf.
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2023
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»Mumienbraun.« Ehrfürchtig hielt Lady Josephine das Fläschchen Ölfarbe gegen das Licht. »Davon habe ich schon so viel gehört. Es soll ein unvergleichlich sattes Tiefbraun auf die Leinwand zaubern.«
»Ich freue mich, dass Sie nun Gelegenheit haben, das selbst zu beurteilen«, sagte Frederick Chester mit Genugtuung.
»Was für ein wunderbares Geschenk.« Lady Josephine ließ das Fläschchen sinken und strahlte den jungen Textilfabrikanten an. »Tausend Dank, Mr. Chester. Sie hätten mir gar keine schönere Überraschung bereiten können.«
Er neigte den Kopf. »Ich weiß ja, wie gern – und gut – Sie malen.«
»Oh, gern schon«, meinte die Achtzehnjährige bescheiden. »Aber gut … Bevor ich das von mir behaupten darf, habe ich noch sehr viel zu lernen.«
Die Antwort gefiel Frederick Chester. Genau wie die Person, von der sie stammte. Lady Josephine zeigte sich angemessen dankbar und wertschätzend. Außerdem spielte sie ihr offenkundiges Talent herunter, also hatte sie keine Flausen im Kopf. Sie würde nicht versuchen, sich in den Vordergrund zu spielen, sondern ihrem Ehemann das Glänzen überlassen.
»Ihr Streben, sich zu verbessern, ehrt Sie. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich darf mich wohl mit Fug und Recht strebsam nennen. Diese Tugend hat mir schon viel Glück gebracht.«
»Das Glück des Tüchtigen.«
In Lady Josephines Stimme schwang so viel Bewunderung mit, dass die Duchess of Parbrooke beinahe unmerklich die Augen verdrehte. Sie hatte ihre drei Töchter zu selbstbewussten Persönlichkeiten erzogen. Und mit welchem Ergebnis? Josephine stellte ihr Licht unter den Scheffel! Obendrein himmelte sie den Besucher unverhohlen an. Aber Mr. Chester würde sein blaues Wunder erleben, wenn er sie zu seiner Ehefrau machte.
Denn das wollte er gewiss, sonst würde er nicht ständig in Axbury Manor aufkreuzen. Vermutlich hielt er erst um Josephines Hand an, wenn das Trauerjahr für ihren Vater endete. In dieser Hinsicht war der Gute bemerkenswert altmodisch, fand die Duchess. Wie viele Neureiche, die sich starr an die Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft hielten, zu der sie so gern gehören wollten. Dabei übersahen sie, dass manches früher eherne Gesetz heute, im Jahr 1838, nicht mehr in Stein gemeißelt war.
Wie lange er wohl brauchte, um festzustellen, dass seine Auserkorene beileibe nicht so sanftmütig und bescheiden war, wie sie sich ihm präsentierte? Mitleid empfand die Duchess allerdings keines. Mr. Chester stammte aus kleinen Verhältnissen und hatte sich ein Vermögen erarbeitet. Was er aus eigener Kraft erreichen konnte, hatte er erreicht. Nun sollte ihm eine aristokratische Gattin den Zugang zur besseren Gesellschaft sichern.
Er war Geschäftsmann. Wie ein neues unternehmerisches Projekt plante er auch die Wahl seiner Gattin. Liebe tat dabei nichts zur Sache. Deshalb hatte er seine Aufmerksamkeit ja auch Josephine schenken können, kurz nachdem ihre ältere Schwester ihm einen Korb gegeben hatte. Ja, am selben Tag sogar noch! Wer derart kalkulierend an die Ehe heranging, verdiente kein Mitleid. Erst recht nicht, wenn fast jeder seiner Sätze mit dem Wort ›Ich‹ begann.
»Ist es wirklich wahr, dass die Farbe aus ägyptischen Mumien gemacht wird?«, fragte Lady Josephine den Besucher, der auf dem zierlichen Sofa im Grünen Salon ein wenig deplatziert wirkte. Sie vermutete, dass ihre Mutter ihm absichtlich diesen Platz zugewiesen hatte. Die Duchess of Parbrooke brachte ihre Mitmenschen gern aus dem Konzept. Angesichts des Ungewohnten offenbarten sie ihr wahres Gesicht, pflegte sie zu sagen.
Frederick Chester nickte entschieden. »Oh ja. Ich habe die Farbe bei einem absolut vertrauenswürdigen Händler erworben. Ich lege meine Hand für den Mann ins Feuer.«
»Wie aufregend! Ich habe mehrmals versucht, Mumienbraun zu kaufen. Leider stets ohne Erfolg. Die Farbe ist so begehrt, dass mich die Lieferanten immer wieder vertröstet haben.«
»In der Tat ist sie nicht leicht zu bekommen. Ich dachte mir schon, dass eine passionierte Malerin wie Sie Mumienbraun gebrauchen kann. Ich habe deshalb keine Sekunde gezögert, als mir ein Bekannter erzählte, wo gerade eine Lieferung eingetroffen ist.«
»Sie sind zu gütig. Ich schätze mich wirklich glücklich, diese exquisite Farbe nun zu besitzen – dank Ihrer Großzügigkeit, Mr. Chester.«
Zufrieden hob er die fast beängstigend dünne Porzellantasse und trank einen Schluck Tee. Wie sehr unterschied sie sich doch von den robusten Bechern, aus denen er in seiner Kindheit und Jugend getrunken hatte. »Ich freue mich, dass Sie Verwendung dafür haben, Lady Josephine.«
»Noch heute werde ich mir überlegen, für welches Motiv das Mumienbraun am geeignetsten ist.« Sie neigte den Kopf in einem ganz bestimmten Winkel und lächelte den Fabrikanten an. Diese Pose brachte ihre Gesichtszüge und den schlanken Hals optimal zur Geltung, wie sie vom Ausprobieren vor dem Spiegel wusste.
Erwartungsgemäß fand Frederick Chester den Anblick zauberhaft. Es war überaus angenehm, in Lady Josephines große braune Augen zu schauen. Er fühlte sich in seinem Urteil bestätigt: Diese Frau würde eine exzellente Gattin für ihn abgeben.
Ursprünglich hatte er einkalkuliert, sich mit der Tochter eines Barons, dem niedrigsten Titel in der aristokratischen Rangfolge, begnügen zu müssen. Lieber hätte er natürlich in die Familie eines Viscounts eingeheiratet. Auch das erschien ihm angesichts seines beträchtlichen Vermögens machbar. Doch nun war sogar die Tochter eines Duke in greifbarer Nähe! Ein Duke kam direkt nach der königlichen Familie. Das überstieg alles, was Mr. Chester realistischerweise hatte erhoffen dürfen. Die beste Partie, die man sich denken konnte.
Eine Hochzeit mit Lady Josephine garantierte ihm Aufnahme in die vornehmsten Kreise des Königreiches. In jene Elite, der er sich wegen seiner unternehmerischen Leistungen zugehörig fühlte, die ihm aber ohne eine adelige Gattin versperrt blieb.
»Ich bin gespannt, für welches Motiv Sie sich entscheiden, Lady Josephine«, sagte er. »Und natürlich auf das Ergebnis.«
Frederick Chester hatte schon immer einen ausgeprägten Instinkt für den richtigen Zeitpunkt gehabt. Jetzt war der Moment da, um sein Ass aus dem Ärmel zu ziehen. Keine Frage, die Duchess of Parbrooke und ihre Tochter würden begeistert sein.
Lässig zog er eine elfenbeinfarbene Karte aus der Innentasche seines maßgeschneiderten schwarzen Jacketts. Mit einer angedeuteten Verbeugung reichte er sie der Duchess. »Ich möchte mir erlauben, Euer Gnaden … Eine Einladung zu einem Abend der besonderen Art in Westgrove House. Für Sie, und natürlich auch für Ihre drei Töchter.«
Constance Parbrooke schluckte elegant den Rest ihres Gurkensandwiches herunter. »Ein Abend der besonderen Art?« Sie nahm die Karte. »Das klingt aber spannend.«
»Ich verspreche nicht mehr, als ich halten kann, Euer Gnaden«, beteuerte der Fabrikant selbstbewusst.
Die Duchess lächelte unverbindlich und senkte den Blick auf die Karte.
Lady Josephine schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich legte ihre Mutter eine angemessene Begeisterung an den Tag. Unabhängig davon, was in der Einladung stand. Die Duchess hatte ihren Töchtern versprochen, sich bei der Wahl ihrer Ehemänner nicht einzumischen. Sie würde Mr. Chester doch nicht mit einer herablassenden Bemerkung verärgern?
Jetzt hob sie die tizianroten Brauen. »Eine Mumienparty«, las sie laut vor.
Lady Josephine schnappte nach Luft. »Eine Mumienparty! Das ist ja wirklich etwas ganz Besonderes. Richtig, Mama?«
»Durchaus. Sie haben tatsächlich nicht zu viel versprochen, Mr. Chester.«
Er lächelte zufrieden. »Ich hoffe doch, Sie haben nichts anderes von mir erwartet, Euer Gnaden.«
»Ach, wissen Sie, wir beide kennen einander bisher ja eher flüchtig. Und ich habe im Laufe meines Lebens gelernt, keine Vorschusslorbeeren zu vergeben.«
Frederick Chesters Lächeln wurde starr. »Ich verstehe. Und ich teile Ihre Meinung, Euer Gnaden: Es ist unklug, Vorschusslorbeeren zu vergeben. Glücklicherweise bin ich nicht auf so etwas angewiesen. Ich überzeuge durch Taten. Mit der Zeit garantiert auch Sie.«
»Ganz gewiss, Mr. Chester«, versicherte Lady Josephine eifrig. »Sie sind auf dem besten Wege, sonst würde Mama nicht so offen mit Ihnen reden. Eine Mumienparty!« Entzückt klatschte sie in die Hände. »Sagen Sie: Werden Sie allen Ernstes eine echte ägyptische Mumie in Westgrove House haben?«
»Absolut. Ich darf Ihnen versichern, dass die Herkunft der Mumie über jeden Zweifel erhaben ist. Der namhafteste Apotheker Londons wird sie vor den Augen meiner Gäste auswickeln.«
»Oh«, hauchte Lady Josephine, »das muss ich unbedingt sehen. Wir gehen doch hin, Mama?«
Die Duchess schmunzelte. »Ein solches Ereignis darf ich meinen Töchtern kaum vorenthalten. Sonst würden sie vermutlich mein Leben lang kein Wort mehr mit mir wechseln. Danke für die Einladung, Mr. Chester. Wir kommen gern.«
Er deutete eine Verbeugung an. »Ich freue mich auf die Ehre, Sie und Ihre Töchter in Westgrove House willkommen zu heißen. Und nun muss ich mich verabschieden. Ich wünsche den Damen noch einen angenehmen Tag.«
Wenig später saß Frederick Chester in seiner Kutsche – der neuesten und am besten gefederten Kutsche außerhalb von London. Diese Tatsache tröstete ihn halbwegs darüber hinweg, dass auf seiner Kutsche kein Wappen prangte. Noch nicht. Aber vielleicht änderte sich das eines Tages? Immerhin konnte Königin Victoria verdiente Männer in den Adelsstand erheben. Warum sollte es ihm nicht gelingen, das zu erreichen? Erst recht mit einer Ehefrau aus einer Familie, die fast so vornehm war wie die der Königin selbst?
Abgesehen von ihrer gesellschaftlichen Stellung war Lady Josephine schön und anmutig. Sie besaß tadellose Manieren. Natürlich ließ sich Mr. Chester davon allein nicht zu Euphorie hinreißen. Er wäre kein so erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, wenn er nicht jedes Projekt sachlich auf mögliche Schwachstellen abgeklopft hätte. So auch dieses.
Manchmal erschien Lady Josephine ihm ein wenig zu gescheit. Schließlich wollte er keine Konkurrenz, sondern eine fügsame Gattin. Eine, die sein Wohlergehen und das der gemeinsamen Kinder in den Mittelpunkt ihres Strebens stellte. Alle Interessen, die darüber hinausgingen, hatte sie in den Hintergrund zu rücken. Und je klüger ein Mensch war, desto weniger selbstlos war er Frederick Chesters Erfahrung zufolge.
Außerdem hatte Lady Josephine rote Haare. Rothaarige Frauen galten gemeinhin als temperamentvoll und eigenwillig. Ja, als störrisch sogar. Doch er hatte die junge Dame nun schon einige Male getroffen. Stets war ihm ihr freundliches und ausgeglichenes Naturell aufgefallen. Ein fortschrittlicher Mann wie er sollte deshalb nichts darauf geben, was der Volksmund sagte. Überdies waren Lady Josephines Haare von einem sehr sanften Tizianrot. Tizianblond eigentlich, wenn man es ganz genau nahm.
Und was ihre Intelligenz betraf: Er wollte ja auch keine einfältige Gattin, die zwar von nobler Herkunft, aber sterbenslangweilig war. Klugheit war im Zweifelsfall von Vorteil. Zumal Frederick Chester seine Ehefrau schon in die richtige Richtung zu lenken gedachte. Falls nötig, würde er sie auch in die Schranken weisen.
Allerdings glaubte er nicht, dass dies bei Lady Josephine nötig sein würde. Sie zeigte sich erfreulich interessiert an allem, was er sagte. An ihm. Doch, das durfte er wohl behaupten, ohne sich schmeicheln zu wollen. Sie war ein Glücksfall. Anders als viele Aristokratinnen trug sie keine Scheuklappen. Sie gab nicht nur etwas auf Rang und Namen, sondern bewertete auch, was ein Mensch darstellte. Und Frederick Chester war nicht nur sehr erfolgreich, sondern auch ein Gentleman. Selbst wenn er aufgrund seiner bescheidenen Herkunft erst als einer galt, wenn er die passende Gattin vorweisen konnte …
*
Lady Florence zog den dunkelroten Samtvorhang zur Seite. Es war noch ganz früh an diesem Herbstmorgen. Jenseits des Fensters erstreckte sich in fahlem Licht der Park von Renwood Hall. In der Ferne ästen zwei Rehe. Ihr Anblick konnte die Neunzehnjährige heute nicht erfreuen. Das trübe Wetter passte genau zu ihrer Stimmung. Sie seufzte schwer.
Eine gute Stunde dauerte es noch, bis ihre Zofe mit dem ersten Tee des Tages erschien. Damit blieb Lady Florence immerhin genügend Zeit, heimlich Timothys Brief aus dem Versteck zu holen.
Obwohl das eigentlich überflüssig war. Sie kannte den Inhalt längst auswendig. Wieder und wieder hatte sie die kostbaren Zeilen gelesen. Aber wenn sie den Brief in den Händen hielt, kam es ihr vor, als könnte sie Timothys Stimme hören. Dann sah sie ihn vor sich. Die Augen, blau wie Vergissmeinnicht. Die gerade Nase. Die rotblonden Haare und Bartstoppeln.
»Du solltest es lassen«, murmelte sie halbherzig vor sich hin. Ja, für ihren Seelenfrieden wäre es besser gewesen, den Brief nicht mehr zu lesen. Solange sie es immer wieder tat, kam sie nicht von Timothy Taylor los. Und das war schlecht, denn realistisch betrachtet, hatten sie beide nicht den Hauch einer Chance.
Die Schwester des Marquess of Meadowby und ein mittelloser Handwerker … Ungläubig schüttelte Lady Florence den Kopf. Wie hatte sie sich bloß einbilden können, es sei die große Liebe?
Nur zweimal hatte sie den Mann getroffen. Im Juni. Dann war er mit einem Auswandererschiff nach Amerika gereist, um dort sein Glück zu machen. Er hatte ihr geschworen, in einem Jahr als reicher Mann zurückzukehren, der um sie werben durfte.
Mit jeder Faser ihres Herzens hatte sie daran geglaubt. Auch, weil er vor seiner Abfahrt wie versprochen einen Brief zurückgelassen hatte. Im Loch des Stammes jener Eiche, an der sie einander begegnet waren. So viel Liebe sprach aus dem Brief. So viel Entschlossenheit, in Amerika erfolgreich zu sein.
Schon mancher Mann hatte es dort zu einem Vermögen gebracht. Lady Florence traute es Timothy durchaus zu. Allerdings schwand ihr Vertrauen darauf, dass sie ihm dann noch etwas bedeutete. Geschweige denn, dass er sie zu seiner Frau machen wollte.
Fast vier Monate waren seit seiner Abreise verstrichen. Kein einziges Wort hatte sie in dieser Zeit mehr von ihm gehört. Zugegeben, Amerika war fern, die Post langsam und Timothy gewiss sehr beschäftigt. Außerdem zögerte er sicher, sie direkt anzuschreiben, um ihr keine Schwierigkeiten zu machen.
Üblicherweise wurde die gesamte Post an die Familie zunächst deren Oberhaupt vorgelegt. Ein Brief an die ledige Lady Florence von einem ebenfalls ledigen Handwerker – das schickte sich nicht. Timothy musste befürchten, dass der Marquess of Meadowby den Brief öffnete und las. In diesem Fall hätte er sich jenen Mann, von dem die Zustimmung zu einer Hochzeit abhing, zum Feind gemacht.
Timothy wusste ja nicht, dass Lady Florence sich ihrem Bruder in einem Moment höchster Verzweiflung bereits offenbart hatte. Und dass Lord Vincent wider Erwarten verständnisvoll reagiert hatte: Der junge Fürst würde in die Hochzeit einwilligen, sofern Lady Florence nach einem Jahr noch immer Mrs. Taylor werden wollte.
Sie schätzte sich glücklich, weil ihr Bruder ihr den Umgang mit Timothy nicht rundweg verboten hatte. Eine erstaunliche fortschrittliche Haltung für einen englischen Adeligen im Jahr 1838. Sicher profitierte Lady Florence von der Tatsache, dass auch er verliebt war und ihr die Freude gönnte, die er selbst empfand.
Vielleicht aber hielt Lord Vincent die Beziehung insgeheim für hoffnungslos? Rechnete er damit, dass Timothy gar nicht nach England zurückkehrte? Oder wenn, dann nicht als reicher Mann? Dass Lady Florence sich im Zweifelsfall gegen ein Leben ohne den gewohnten Komfort entscheiden würde? Hatte der Marquess die Einwilligung zur Hochzeit nur in Aussicht gestellt, weil er glaubte, sein Versprechen nie einlösen zu müssen?
Lady Florence vergrub das Gesicht in beiden Händen. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Wenn Timothy sie wirklich liebte, musste sich doch irgendein Weg finden lassen, sie zu kontaktieren?
Zumal er wusste, dass sie keine Möglichkeit hatte, ihn zu erreichen. Sie konnte ja schlecht bei seiner Mutter und seinem Stiefvater aufkreuzen und um seine Adresse bitten.
Die beiden waren Pächter auf Renwood Hall. Ganz in der Nähe lebten also zwei Menschen, die ihr garantiert weiterhelfen könnten. Doch da es sich für die unverheiratete Schwester eines Marquess nicht gehörte, nach der Anschrift eines unverheirateten Mannes zu fragen, blieb ihr dieser Weg versperrt. Es war zum Verrücktwerden!
Langsam ließ Lady Florence die Hände sinken. Ihr Blick glitt zum großen Ölgemälde an der Wand. Ein Stillleben mit Äpfeln und Birnen, dazwischen eine Vase mit Blumen. Solange sie zurückdenken konnte, hing dieses Bild dort. Timothys Brief steckte auf der Rückseite, klein zusammengefaltet zwischen Leinwand und Bilderrahmen.
