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Aus heiterem Himmel erfährt der junge Marquess of Meadowby, dass seine Familie wegen Percivals Spielschulden vor dem Ruin steht. Damit droht Vincent der Verlust seiner großen Liebe: Lady Helena. Als verarmter Adliger kann er ihr kein angemessenes Leben bieten. Ihr Vater, der Duke of Parbrooke, will sie mit dem Textilfabrikanten Frederick Chester verheiraten. Das ist die spannende, prekäre Situation, wie sie sich zu Beginn dieser großherrschaftlichen Familiensaga um einen herausragenden, außergewöhnlichen Lord darstellt. "Ich brauche dein Kleid, Elsie", kam Lady Florence ohne Umschweife zur Sache. Verdattert nestelte ihre Zofe am runden Ausschnitt ihres langen Baumwollkleides. "Mein Kleid, Mylady? "Genau. Also, natürlich nicht dieses. Du hast doch noch ein Zweites in der Farbe, richtig? "Ja, Mylady. In meinem Zimmer. " Das gesamte Personal von Renwood Hall trug Schwarz, genau wie die Herrschaft. Ein Zeichen des Respekts für den Marquess of Meadowby, der vor wenigen Monaten gestorben war. "Sehr schön. Leihst du es mir, Elsie? Nur für heute? Die junge Zofe zögerte. Es stand ihr nicht zu, einen Wunsch ihrer Herrin zu hinterfragen. Andererseits hatte Lady Florence die Wahl zwischen etlichen eleganten schwarzen Roben. Also weshalb um alles in der Welt …? "Du würdest mir wirklich aus der Patsche helfen", beteuerte die Schwester des neuen Marquess of Meadowby. Sie saß am Sekretär und trug noch ihren seidenen schwarzen Morgenmantel. "Später habe ich den ersten Termin mit meinem Bruder und einigen Arbeitern.
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2023
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„Ich brauche dein Kleid, Elsie“, kam Lady Florence ohne Umschweife zur Sache.
Verdattert nestelte ihre Zofe am runden Ausschnitt ihres langen Baumwollkleides. „Mein Kleid, Mylady?“
„Genau. Also, natürlich nicht dieses. Du hast doch noch ein Zweites in der Farbe, richtig?“
„Ja, Mylady. In meinem Zimmer.“ Das gesamte Personal von Renwood Hall trug Schwarz, genau wie die Herrschaft. Ein Zeichen des Respekts für den Marquess of Meadowby, der vor wenigen Monaten gestorben war.
„Sehr schön. Leihst du es mir, Elsie? Nur für heute?“
Die junge Zofe zögerte. Es stand ihr nicht zu, einen Wunsch ihrer Herrin zu hinterfragen. Andererseits hatte Lady Florence die Wahl zwischen etlichen eleganten schwarzen Roben. Also weshalb um alles in der Welt …?
„Du würdest mir wirklich aus der Patsche helfen“, beteuerte die Schwester des neuen Marquess of Meadowby. Sie saß am Sekretär und trug noch ihren seidenen schwarzen Morgenmantel. „Später habe ich den ersten Termin mit meinem Bruder und einigen Arbeitern. Ich bin ausgezeichnet vorbereitet.“ Zum Beweis nahm sie einen dicken Papierstapel vom Sekretär und hielt ihn hoch. „Nur an meine Garderobe habe ich zu spät gedacht. Ich kann nicht mit einem meiner Kleider in der Scheune erscheinen.“
„Der Scheune, Mylady?“, stieß Elsie entgeistert hervor. Es stand ihr auch nicht zu, die Entscheidungen ihrer Herrin zu beurteilen. Aber eine Dame dieses Ranges hatte in einer Scheune nichts zu suchen!
„Ist es nicht wundervoll?“ Strahlend drückte die Neunzehnjährige den Papierstapel an sich. „Ich werde arbeiten! Genau wie du.“
„Ja, Mylady“, erwiderte Elsie in der Hoffnung, man möge ihr die Skepsis nicht anhören.
„Es ist mir wichtig, dass unsere Arbeiter mich ernst nehmen. Heute sollen sie mich nicht in erster Linie als Schwester des Marquess of Meadowby sehen.“
„Nicht, Mylady?“ Elsie hatte ein sehr gutes Verhältnis zu Lady Florence. Sie konnte sich keine bessere Herrin wünschen. Nun allerdings kam sie nicht mehr mit. Wie sonst sollten die Arbeiter die junge Frau sehen denn als Schwester des Marquess?
Lady Florence seufzte. „Ich habe unzählige Stunden über Berichten und Statistiken gebrütet. Natürlich muss ich noch eine Menge lernen, aber ich will, dass man mich für voll nimmt. Das erreiche ich kaum, wenn ich in einem meiner Kleider aufkreuze. Sie eignen sich nicht für einen Rundgang über ein Feld oder durch einen Stall. Damit würde ich auf dem falschen Fuß starten.“
Jetzt strahlte Lady Florence nicht mehr. Im Gegenteil, der Blick aus ihren grauen Augen war eindeutig besorgt. Elsie fühlte mit ihrer Herrin. Sie wusste, wie sehr es ihr am Herzen lag, den Marquess zu unterstützen. „Ich verstehe“, sagte sie rasch. „Natürlich borge ich Ihnen mein Kleid, Mylady.“
„Ach, du bist ein Schatz. Vielen Dank. Ich werde mich auch damit vorsehen, versprochen.“
„Ich freue mich doch, wenn ich Ihnen helfen kann, Mylady“, wehrte die Zofe ab. „Verzeihen Sie, dass ich gezögert habe. Ich war nur so überrascht. Meine Kleider sind nämlich sehr – schlicht.“
„Genau richtig für meine Zwecke.“ Lady Florence legte den Papierstapel wieder auf die Schreibfläche des Sekretärs.
„Es wird Ihnen ein bisschen zu weit sein. Und zu kurz“, meinte Elsie besorgt. Wie würde der Marquess reagieren, wenn seine Schwester ein solch bescheidenes Kleid trug?
„Das macht nichts. Ich muss mich ja freier bewegen können, als wenn ich nur auf der Chaiselongue sitze und eine Teetasse zum Mund führe.“
„Es ist auch nicht aus Seide, sondern aus Baumwolle“, ergänzte Elsie beklommen. Die beiden Damen des Hauses trugen stets die edelsten Stoffe. Hatte ihre Herrin die Sache auch gründlich durchdacht?
Lady Florence schmunzelte. „Ist es möglich, dass du mir dein Kleid ausreden willst?“
„Aber nein, Mylady! Ich hole es sofort.“ Elsie knickste, eilte aus dem Zimmer und lief die Treppen hinauf in ihre Dienstbotenkammer unter dem Dach von Renwood Hall.
*
Lady Florence fühlte sich anders als an jedem anderen Tag der letzten neunzehn Jahre.
Heute würde ihr aufregendstes Ereignis nicht sein, Besuch zu empfangen und über Belanglosigkeiten zu plaudern. Oder jemandem einen Besuch abzustatten und ebenfalls über Belanglosigkeiten zu plaudern. Oder die Klaviersonate von Beethoven einen Tick besser zu spielen als gestern.
Nein. Heute war ein ganz besonderer Tag. Sie fühlte sich wichtig. So wichtig, wie eine Frau im Jahr 1838 in England eben sein konnte.
Natürlich nicht so wichtig wie Ihre Majestät, ruderte sie in Gedanken hastig zurück. So vermessen war sie nicht, dass sie sich mit Königin Victoria vergleichen wollte. Die regierte schließlich ein ganzes Land. Lady Florence hingegen lediglich Renwood Hall.
Zumindest regierte sie ein bisschen mit. Herr über Renwood Hall war natürlich ihr Bruder Vincent, der Marquess of Meadowby. Aber der junge Fürst hatte seiner vier Jahre jüngeren Schwester angeboten, ihn bei der Modernisierung des Anwesens zu unterstützen. Eine Chance, die sie nur allzu gern beim Schopf packte.
Zunächst war ein Stapel Statistiken auf ihrem Sekretär gelandet. Was wurde auf den Ländereien von Renwood Hall alles angebaut? Wie viele Rinder und Schafe besaßen sie? Von welchen Erfahrungen mit Saatgut, Maschinen und Tierzucht berichteten andere Großgrundbesitzer?
Lady Florence, die eine Schwäche für Gedichte besaß, hatte die trockene Materie mit Feuereifer durchgeackert. Sie war ihrem Bruder überaus dankbar, weil er sie einbezog.
Wen kümmerte es schon, ob sie den x-ten Kissenbezug bestickte oder ein weiteres Blumengesteck anfertigte? Vincent bot ihr die Chance, etwas Bedeutsames zu tun. Sie wollte ihm unbedingt beweisen, dass sie sein Vertrauen verdiente.
„Ich habe eine Besprechung“, informierte Lady Florence ihre Stute, die den schmalen Feldweg entlang zockelte. Sie lauschte den Worten nach. Eine Besprechung. Wie großartig das klang! Auch Poppy schien angemessen beeindruckt zu sein, denn sie stellte die Ohren auf.
Vergnügt zupfte Lady Florence an der linken Manschette des geliehenen Baumwollkleides. Es saß recht locker, denn Elsie war kräftiger als ihre Herrin. Außerdem war sie fast einen Kopf kleiner. Deshalb sah das Kleid zwar nicht unschicklich, aber doch einen Tick zu kurz geraten aus. Nun, heute stand nicht im Vordergrund, eine gute Figur zu machen, sondern vernünftig gekleidet zu sein.
Wie gut, dass Lady Mildred dieser Anblick erspart blieb, weil sie bei ihrer Schwester in Worcestershire weilte. Die Marchioness of Meadowby hielt ohnehin nichts vom neuen Hobby ihrer Tochter. Ackerbau und Viehzucht waren keine angemessenen Beschäftigungen für eine junge Aristokratin. Nur dank der Fürsprache des Marquess hatte Lady Mildred eingewilligt.
Lady Florence musste schmunzeln, als sie sich an Elsies fassungslose Miene erinnerte. In einem derart schlichten Kleid hatte die Zofe ihre Herrin noch nie zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig wie der Stallbursche, der Poppy gesattelt hatte. Vielleicht hielt er die Schwester des Marquess jetzt für exzentrisch?
Sie heftete den Blick auf die große Scheune in einiger Entfernung. Die Vorstellung, für exzentrisch gehalten zu werden, gefiel ihr irgendwie. Im Kleid ihrer Zofe befand sie sich auf dem Weg zu einem geschäftlichen Termin … Es fühlte sich aufregend und abenteuerlich an.
„Ich werde mir ein paar schlichte Kleider schneidern lassen“, erzählte sie Poppy und legte den Kopf in den Nacken, um die Junisonne zu genießen. „Diese Baumwolle trägt sich recht angenehm. Vielleicht sollte ich sogar – oh!“, brach sie ab, weil die Stute über eine Baumwurzel stolperte.
Lady Florence konnte sich gerade noch im Sattel halten. Ihr Pferd humpelte ein paar Schritte und blieb dann stehen.
„Hast du dich verletzt?“ Sie machte sich Vorwürfe. Warum hatte sie auch in die Luft geguckt statt auf den schmalen Pfad?
Nachdem sie abgestiegen war, sah sie, dass Poppy das linke Vorderbein hochhielt. „Oje“, stieß sie hervor und tätschelte der Stute beruhigend den Hals. „Lass mich mal fühlen. Ich bin auch ganz vorsichtig.“
In einem ihrer eigenen Kleider hätte sie nicht so mühelos in die Hocke gehen können, wie sie es jetzt tat. Behutsam tastete sie Poppys Bein ab. „Ich kann nichts Außergewöhnliches feststellen.“ Sie richtete sich wieder auf. „Was machen wir beiden Hübschen denn jetzt? Gleich soll ich Vincent vor der Scheune treffen. Glaubst du, du kannst auftreten? Ich gehe einfach neben dir her, und …“
Abrupt wich Lady Florence zurück, weil Poppy den Kopf hochriss und wieherte. Sie konnte das Weiße in den Augen der Stute sehen. Ihr Pferd hatte Angst!
Da hörte sie ein seltsames Geräusch hinter sich. Langsam schaute sie sich um. Etwa zehn Meter entfernt stand ein junger dunkelbrauner Bulle. Er schnaubte laut.
Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Was sollte sie tun? Sich rasch in den Sattel schwingen und losgaloppieren? Aber was, wenn ihr Pferd so stark verletzt war, dass es sich nicht rühren konnte?
In der nächsten Sekunde bekam sie die Antwort auf ihre Frage, denn Poppy raste wiehernd davon, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Der Bulle drehte den Kopf in Poppys Richtung. Zögerlich machte er ein paar Schritte, als würde er überlegen, ob er die Verfolgung aufnehmen sollte. Dann blieb er stehen und wandte sich wieder Lady Florence zu.
Stocksteif stand sie da. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Wie in Zeitlupe senkte der Bulle den Kopf. Oh nein, bitte nicht, dachte sie flehentlich. Warum gab es hier keinen Zaun, hinter den sie sich werfen konnte? Warum wusste sie nicht genug über Bullen, um jetzt das Richtige zu tun und sich in Sicherheit zu bringen? Ihr gesamtes Leben hatte sie in Renwood Hall verbracht. Wie beschämend wenig wusste sie über die Tiere, die hier gezüchtet wurden! Sollte sie ihrem Instinkt folgen und schreiend wegrennen? Vermutlich nicht.
Der Bulle scharrte mit dem rechten Vorderhuf. Er stieß einen Laut aus, den man mit Fug und Recht als Brüllen bezeichnen konnte. Lady Florence spürte, wie sich auf ihrer Stirn Schweißtröpfchen bildeten.
Plötzlich nahm sie noch etwas wahr. Etwas Breites, rechts von ihr. Es war ein Baum. Sie schluckte schwer. Hatte sie eine Chance, den Baum zu erreichen, oder würde der Bulle sie vorher niedertrampeln?
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, rannte Lady Florence los. Sie packte mit beiden Händen einen Ast und stemmte sich hoch. Wieder brüllte der Bulle. Der Laut ging ihr durch Mark und Bein – und er war viel näher als eben!
Mit dem Mut der Verzweiflung schaffte sie es, einen Fuß auf den Ast zu stellen. Den anderen Fuß nachzuziehen. Nicht nach unten zu schauen, wo der Bulle schnaubte, sondern nach oben. Einen Arm nach dem Ast über ihr auszustrecken und höher zu steigen. Bloß weg von dem wütenden Tier, das den Baum umkreiste. Sie hörte, wie der Stoff ihres Kleides am Saum riss.
Als sie nach dem nächsten Ast griff, rutschte ihre Hand ab. Mit Reithandschuhen kletterte es sich schlecht. Verlier bloß nicht das Gleichgewicht, befahl sich Lady Florence energisch. Sie zerrte den Handschuh mit den Zähnen herunter und ließ ihn fallen. Sofort stürzte sich der Bulle darauf. Der zweite Handschuh folgte. „Hoffentlich erstickst du daran!“, rief sie zornig.
Unwillkürlich verzog sie das Gesicht, denn jetzt hatte sie einen bitteren Geschmack im Mund – samt ein paar Stückchen Baumrinde. Undamenhaft spuckte sie aus. Es knackte. Ruckartig gab das Holz unter ihren Füßen nach. Lady Florence kreischte erschrocken und rettete sich auf einen dickeren Ast.
Zitternd vor Angst und Anstrengung klammerte sie sich an den Stamm. Es ist eine Eiche, stellte sie fest – und lachte beinahe hysterisch, weil die Art des Baumes doch völlig unwichtig war.
Was nun? Sollte sie einfach abwarten? Wie lange dauerte es wohl, bis der Bulle das Interesse verlor und abzog? Vincent und die anderen Männer würden sich wundern, wo sie blieb. Für unzuverlässig würden sie sie halten. Gleich bei der ersten Besprechung. Dabei hatte sie jede Menge Arbeit in dieses Projekt gesteckt. Das Schicksal war so ungerecht!
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„Da bist du ja, du Schlingel“, ertönte eine tiefe Stimme. „Na, hast du dich ausgetobt? Was ist an diesem Baum denn so verdammt interess…?“ Die Stimme verklang.
„Ich!“, rief Lady Florence undeutlich, weil sie die Wange an den Stamm presste. Sie wusste nicht, ob sie wütend oder erleichtert sein sollte. „Ich bin an diesem Baum so verdammt interessant! Wenn Sie bitte die Güte hätten, Ihren Schlingel von hier zu entfernen?“
„Verzeihung, Miss. Natürlich. Einen Moment. So, Rover, hör mit dem Imponiergehabe auf. Die Dame möchte nicht mit dir spielen.“
„Spielen!“, wiederholte Lady Florence empört. „Das gemeingefährliche Vieh hat mein Pferd verscheucht und mich auf diesen Baum getrieben! Wissen Sie eigentlich, was für Ängste ich ausgestanden habe?“
Sie wagte einen Blick nach unten. Ein Arbeiter mit Schiebermütze zog gerade ein Seil durch den Nasenring des Bullen. Lammfromm stand der da, als könnte er kein Wässerchen trüben.
„Das bedaure ich sehr, Miss. Rover ist ungestüm, das stimmt. Er rangelt für sein Leben gern, aber er hat noch niemandem etwas zuleide getan.“
„Sie gestatten, dass ich es nicht drauf ankommen lassen wollte“, schnappte Lady Florence.
„Tut mir wirklich leid, Miss. Soll ich Ihnen herunterhelfen?“
„Nein“, antwortete sie scharf. Gleich darauf fragte sie sich, ob es klug war, das Angebot abzulehnen. Wie sie es bis hier oben geschafft hatte, war ihr ein Rätsel. Die Panik musste ihr Flügel verliehen haben. Aber wie sollte sie den Rückweg antreten? Aus dieser Perspektive sahen die Äste bemerkenswert weit voneinander entfernt aus.
„Ich binde Rover schnell dort drüben an. Dann komme ich wieder, Miss. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Sie eine zusätzliche Hand gebrauchen können.“
Vorsichtig ließ Lady Florence den Stamm los und tastete sich mit einem Fuß auf einen niedrigeren Ast vor. Nicht genug damit, dass dieser Mann so tat, als wäre der Bulle ein Schoßhündchen. Als hätte sie sich völlig unnötigerweise auf die Eiche geflüchtet. Nein, obendrein redete er sie auch noch unverfroren mit „Miss“ an. Sie, die Schwester des Marquess of Meadowby! Was dachte er sich bloß?
Zentimeterweise schob sie sich abwärts. Ihr Blick fiel auf den Ärmel ihres Kleides. Den Ärmel von Elsies Kleid, um genau zu sein. Nun gut. Dieses bescheidene Kleid ließ nicht vermuten, dass die Schwester des Marquess of Meadowby darin steckte. Ebenso wenig wie ihr derzeitiger Aufenthaltsort.
Lady Florence mahnte sich, nicht ungerecht zu sein. Was hatte sie vor ein paar Stunden doch gleich zu Elsie gesagt? Die Arbeiter sollten sie heute nicht in erster Linie als Mylady sehen. Nun, dieser Arbeiter tat ihr den Gefallen. Das war doch gut, oder?
Vorsichtig ließ sie sich auf den nächsten Ast sinken und spähte nach unten. Der Boden kam ihr weit weg vor. Sollte sie es riskieren und springen? Was, wenn es ihr wie Poppy erging und sie umknickte?
Eine Handfläche schob sich in ihr Blickfeld. „Ich helfe Ihnen, Miss.“
Seit ihrer Geburt hatte Lady Florence unzählige Hände gesehen. In dieser Sekunde kam ihr der Körperteil allerdings gänzlich unvertraut vor.
Dabei war die Hand gar nicht außergewöhnlich. Sie hatte fünf Finger. So, wie es sein sollte. Sie war breit. Die Hand eines Mannes. Eines Arbeiters, wie die Schwielen bewiesen. Und doch löste der Anblick etwas Seltsames in Lady Florence aus.
Ein Schauer rieselte ihr über den Rücken. Vielleicht, weil dir vorhin der Angstschweiß ausgebrochen ist und jetzt eine kühle Brise weht, mutmaßte die vernünftige Stimme in ihrem Hinterkopf.
Unsinn, sagte die andere innere Stimme in Lady Florence. Jene Stimme, die nicht im Kopf saß, sondern in der Herzgegend. Nur dieses eine Wort, dann schwieg sie. Mehr musste sie allerdings auch gar nicht sagen.
Denn Lady Florence spürte, dass ihre Reaktion ganz und gar seltsam war. Dass sie sich nicht mit Vernunft erklären ließ. Irgendetwas Großes ereignete sich gerade. Etwas Mächtiges, das ihr Leben für immer verändern würde.
Auf einmal nahm dieser Moment eine enorme Bedeutung an. Der Ast, auf dem sie gerade saß. Die kühle Brise. Die Hand, auf die sie starrte. Lady Florence wusste, dass sie sich für den Rest ihres Lebens daran erinnern würde.
„Es ist recht hoch“, hörte sie die Stimme des Fremden.
Sie nickte, ohne seine Hand aus den Augen zu lassen.
„Wie um alles in der Welt sind Sie da hinaufgekommen, Miss?“
