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Aus heiterem Himmel erfährt der junge Marquess of Meadowby, dass seine Familie wegen Percivals Spielschulden vor dem Ruin steht. Damit droht Vincent der Verlust seiner großen Liebe: Lady Helena. Als verarmter Adliger kann er ihr kein angemessenes Leben bieten. Ihr Vater, der Duke of Parbrooke, will sie mit dem Textilfabrikanten Frederick Chester verheiraten. Das ist die spannende, prekäre Situation, wie sie sich zu Beginn dieser großherrschaftlichen Familiensaga um einen herausragenden, außergewöhnlichen Lord darstellt. »Es ist verschwunden!« Mit gerafften Röcken platzte die Marchioness of Meadowby in die Suite ihres Sohnes. Fast ließ der Butler die schwarze Seidenfliege fallen, die er dem neuen Marquess of Meadowby um den Hals legen wollte. Entgeistert starrte er die Hausherrin an. Nur eine Sekunde, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Eine Lady schneite nicht einfach in das Zimmer eines Gentleman. Selbst dann nicht, wenn es sich um ihren Sohn handelte. Oder wenn sie erst seit Kurzem Witwe war. Würdevoll trauernd hatte Lady Mildred sich nach dem Tod ihres Mannes verhalten. Wie es sich für die Herrin von Renwood Hall gehörte. Wenn sie die Grenzen des Schicklichen nun außer Acht ließ, musste etwas Unerhörtes passiert sein. Die bestürzte Miene ihrer Zofe, die im Türrahmen erschien, bestätigte Wilsons Vermutung. Mit der Fliege in den erhobenen Händen trat er diskret vor dem langen Spiegel zur Seite. »Mutter.« Besorgt ging der 23-jährige Lord Vincent auf die Dame im schwarzen Ballkleid zu und schob ihr eine Hand unter den Ellbogen, um sie zu stützen. »Was meinst du? Was ist verschwunden?« Lady Mildred atmete so schwer, wie ihr Korsett aus Fischbein es zuließ. »Das Smaragd-Collier meiner Mutter«, stieß sie mit hochroten Wangen hervor.
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Seitenzahl: 132
Veröffentlichungsjahr: 2023
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»Es ist verschwunden!« Mit gerafften Röcken platzte die Marchioness of Meadowby in die Suite ihres Sohnes.
Fast ließ der Butler die schwarze Seidenfliege fallen, die er dem neuen Marquess of Meadowby um den Hals legen wollte. Entgeistert starrte er die Hausherrin an. Nur eine Sekunde, dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
Eine Lady schneite nicht einfach in das Zimmer eines Gentleman. Selbst dann nicht, wenn es sich um ihren Sohn handelte. Oder wenn sie erst seit Kurzem Witwe war.
Würdevoll trauernd hatte Lady Mildred sich nach dem Tod ihres Mannes verhalten. Wie es sich für die Herrin von Renwood Hall gehörte. Wenn sie die Grenzen des Schicklichen nun außer Acht ließ, musste etwas Unerhörtes passiert sein. Die bestürzte Miene ihrer Zofe, die im Türrahmen erschien, bestätigte Wilsons Vermutung. Mit der Fliege in den erhobenen Händen trat er diskret vor dem langen Spiegel zur Seite.
»Mutter.« Besorgt ging der 23-jährige Lord Vincent auf die Dame im schwarzen Ballkleid zu und schob ihr eine Hand unter den Ellbogen, um sie zu stützen. »Was meinst du? Was ist verschwunden?«
Lady Mildred atmete so schwer, wie ihr Korsett aus Fischbein es zuließ. »Das Smaragd-Collier meiner Mutter«, stieß sie mit hochroten Wangen hervor. »Nicht aufzufinden! Ebenso wenig wie die dazugehörigen Ohrringe. Oh …« Sie schwankte leicht und schloss die Augen.
Vorsichtig bugsierte der Marquess sie zum nächsten Sessel. »Nimm Platz, Mutter. Wilson, bringen Sie mir bitte ein Glas Wasser.«
»Sehr wohl, Mylord.« Der Butler legte die Fliege auf eine glänzend polierte Kommode aus Mahagoni, verbeugte sich und eilte aus dem Zimmer.
Den Tränen nahe, zog die Zofe einen kleinen Fächer aus einer Tasche ihres schwarzen Kleides und fächelte Lady Mildred Luft zu. Währenddessen tätschelte der junge Fürst die Hand seiner Mutter – beruhigend, wie er hoffte.
»Gleich kommen die ersten Gäste«, keuchte die Marchioness. »Wir geben einen Ball zu Ehren des neuen Marquess of Meadowby, und ich kann mein Smaragd-Collier nicht tragen!«
»Danke, Wilson.« Vincent nahm das Wasserglas vom Silbertablett und hielt es seiner Mutter an die Lippen. »Trink einen Schluck.«
Sie öffnete die Augen halb, nippte und schloss die Augen wieder. Lady Mildred war eine Frau, die in jeder Situation Haltung bewahrte. Deshalb widerstand sie jetzt auch der Versuchung, den Kopf an die Rückenlehne des Sessels sinken zu lassen. Schließlich war sie nicht allein. Außerdem durfte sie den Dutt auf ihrem Hinterkopf nicht durcheinanderbringen. Edna hätte die aufwendige Frisur bis zum Eintreffen der Gäste nicht noch einmal so perfekt hinbekommen.
»Wann hast du den Schmuck denn zuletzt getragen, Mutter?«
Die Marchioness überlegte kurz. »Etwa einen Monat vor dem Tod meines lieben Mannes. Zum 25. Hochzeitstag des Viscount of Clyde. 25 Jahre! Fast wäre auch uns diese Gnade vergönnt gewesen. Leider wollte das Schicksal es anders.« Als sie die Augen aufschlug, waren sie leicht gerötet.
»Und anschließend wurde das Collier mit den Ohrringen wieder an den üblichen Platz gelegt?«, fragte der dunkelhaarige Lord Vincent.
»Ja, Mylord«, antwortete Edna. »Ich habe die Juwelen zum restlichen Schmuck von Mylady gelegt, die Kassette verschlossen und den Schlüssel im rechten Fach von Myladys Sekretär deponiert.«
Lady Mildred nickte matt. »Dort lag er auch heute. Aber als Edna vorhin das Collier und die Ohrringe holen wollte … Wie vom Erdboden verschluckt.«
»Fehlt weiterer Schmuck?«
Erschrocken wechselte die Zofe einen Blick mit ihrer Herrin. »Verzeihung, Mylord, das weiß ich nicht. Als ich das Collier und die Ohrringe nicht finden konnte, habe ich gleich Mylady informiert. Ich habe nicht überprüft, ob noch etwas anderes fehlt.«
»Schon gut, Edna, in all der Aufregung war das gewiss auch nicht der naheliegendste Gedanke. Gehen Sie bitte jetzt und schauen Sie nach.«
»Sehr wohl, Mylord.« Edna knickste und verließ das Zimmer.
»Wilson, Sie helfen Edna«, entschied Lady Mildred. »Die Arme ist so aufgeregt. Sie wissen doch auch, welchen Schmuck ich besitze. Vier Augen sehen mehr als zwei.«
»Sehr wohl, Mylady.« Der Butler verbeugte sich und folgte Edna. Zwischen seinen Brauen grub sich eine senkrechte Falte ein. Der Ball war das wichtigste Ereignis auf Renwood Hall seit Jahren. Nicht zu prachtvoll, schließlich trauerte man noch um den verstorbenen Marquess. Aber doch prachtvoll genug, um dessen Nachfolger die gebührende Aufmerksamkeit zu erweisen. Als Butler musste Wilson für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Und dazu gehörte auch, dass er dem jungen Fürsten eine tadellose Fliege band. Wozu er nicht gekommen war.
»Möchtest du noch etwas trinken?«, bot Vincent seiner Mutter an, als sie allein waren.
»Nein, danke. Offen gestanden glaube ich nicht, dass Edna Hilfe benötigt. Aber ich wollte, dass wir unter uns sind.«
»Ja?« Fragend richtete er die graublauen Augen auf die Marchioness.
Sie faltete die Hände im Schoß. »Ich habe durchaus mit mir gerungen, ob ich heute das Smaragd-Collier und die Ohrringe tragen soll. Manche Gäste könnten Anstoß daran nehmen, wenn ich in der Trauerzeit meine kostbarsten Schmuckstücke anlege. Man könnte sagen, es sei unpassend.«
»Du würdest niemals etwas Unpassendes tun, Mutter.«
Lady Mildred lächelte schwach. »Danke, mein Sohn. Wie auch immer, ich habe mich aus zwei Gründen dafür entschieden. Erstens schulde ich es dir, mich heute Abend von meiner besten Seite zu zeigen. Schließlich trittst du heute als der neue Marquess of Meadowby in die Öffentlichkeit. Im selben Jahr, in dem Ihre Majestät, Königin Victoria, gekrönt wird! Zweitens stehen mir das Collier und die Ohrringe unvergleichlich gut, hat mein lieber Mann oft gesagt. Und nun enttäusche ich sowohl ihn als auch dich. Verzeih.«
»Aber ich bitte dich, Mutter«, protestierte Lord Vincent. »Gleichgültig, was für Schmuck du trägst oder nicht trägst: Du kannst mich gar nicht enttäuschen.«
»Ach, mein guter Junge. Du machst deinem Vater alle Ehre.« Sie legte eine Hand auf seine. »Falls der Schmuck nicht auftauchen sollte, gibt es nur eine Erklärung: Unter unserem Personal befindet sich ein Dieb.«
Lord Vincent runzelte die Stirn. »Lass uns nicht vorschnell urteilen, Mutter.«
»Wieso vorschnell? Seit ich als Braut nach Renwood Hall gekommen bin, bewahre ich meinen Schmuck am selben Ort auf. Außer unserer Familie wissen nur Edna und Wilson davon, und für die beiden lege ich meine Hand ins Feuer. Nein, es muss einer der anderen Dienstboten sein. Mit dem wir unter einem Dach leben. Dem wir unser Vertrauen geschenkt haben – und der es bitter enttäuscht hat. Wer wird uns noch besuchen wollen, wenn er fürchten muss, unter unserem Dach bestohlen zu werden? Man wird uns meiden!«
Es klopfte. Der Butler kam herein, gefolgt von einer niedergeschlagenen Edna. »Mylady, Mylord.« Wilson verbeugte sich. »Ich fürchte, das Smaragd-Collier und die Ohrringe sind in der Tat unauffindbar. Alle übrigen Schmuckstücke befinden sich wie gewohnt in der Kassette von Mylady.«
»Meine Befürchtung hat sich bestätigt«, sagte die Marchioness mit Grabesstimme.
Der Hauch von Triumph in ihrer Stimme entging Lord Vincent nicht. »Nach dem Ball kümmere ich mich um die Angelegenheit«, versprach er. »Vorläufig bleibt die Angelegenheit unter uns.«
»Sehr wohl, Mylord«, sagten Wilson und Edna wie aus einem Munde.
»In Ordnung.« Lady Mildred stand auf. »Wenngleich Lady Janet mich gewiss auf die Smaragde ansprechen wird. Sie ist in diesen Dingen bemerkenswert – modern. Ich denke, unter diesen Umständen trage ich das Collier mit den Rubinen, Edna.«
*
»Mein lieber Meadowby, ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen Weisheit bei all Ihren Entscheidungen.«
Lächelnd schüttelte Lord Vincent die Hand, die sein Gast ihm entgegenstreckte. Er bedankte sich höflich, wünschte einen schönen Abend und wandte sich dem nächsten Gast zu.
Seit einer Viertelstunde stand er im Ballsaal und begrüßte die Gäste. Niemand hätte vermutet, dass die Gedanken des jungen Fürsten immer wieder zum Smaragd-Collier seiner Mutter abdrifteten. Zu den Ohrringen. Zu den Zimmermädchen, Gärtnern, Kammerzofen, Hausdienern, Wäschemägden, Stallknechten, Küchenmädchen …
Ich kenne nicht alle namentlich, gestand er sich ein. Die Erkenntnis gefiel ihm ganz und gar nicht. Er wollte ein Marquess sein, der sich verantwortungsvoll um seine Angestellten kümmerte und ein offenes Ohr für sie hatte.
Vor dem Tod seines Vaters war Lord Vincent nicht oft in seinem Elternhaus gewesen. Die Schulzeit hatte er in Eton verbracht und später in Oxford studiert. Wie es sich für den ältesten Sohn eines Peers gehörte, der, wenn er den Titel erbte, einen Sitz im House of Lords bekam und die Geschicke des Landes mitbestimmte.
Sein Blick glitt kurz zu dem Diener, der mit Champagnergläsern auf einem Tablett von Gast zu Gast ging. Konzentriert und umsichtig wirkte der Mann. Konnte er der Dieb sein?
Vincent wollte sich nicht fragen, ob der Diener etwas über den Verbleib der Juwelen wusste. Er wollte ihm ohne Hintergedanken in die Augen sehen können. Jedem seiner Angestellten. Doch wie konnte er das jetzt noch tun? Soll es eine seiner ersten Taten als Marquess of Meadowby sein, einen Diebstahl anzuzeigen?
Er zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Vor ihm stand der Duke of Parbrooke. Der korpulente grauhaarige Mann mit den stets rosigen Wangen war ein enger Freund des verstorbenen Marquess gewesen. Zudem gehörte ihm das benachbarte Anwesen Axbury Manor.
»Ich gratuliere Ihnen auf das Herzlichste, mein lieber Meadowby«, sagte der Duke mit dröhnender Stimme und drückte Vincents Hand kräftig. »Viel Glück wünsche ich Ihnen. Obwohl Sie das natürlich gar nicht nötig haben. Sie werden eine Zierde des Hauses sein.«
»Vielen Dank, Euer Gnaden.«
»Sie und Lady Mildred und Ihre beiden Geschwister halten sich bewundernswert angesichts Ihres schweren Verlustes. Apropos Verwandte … Ich hatte ja angekündigt, in Begleitung zu erscheinen.« Stolz wandte sich der Duke of Parbrooke seiner Begleiterin zu.
Vincent hielt es für ein Gebot der Höflichkeit, dem jeweiligen Gegenüber seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Deshalb richtete er den Blick erst jetzt auf die Frau neben dem Duke.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Gleich darauf schien etwas in seinem Brustkorb zu schwanken. Zunächst ganz sacht, dann stärker. Als wollte sich ein Teil von ihm losreißen. Es tat regelrecht weh. Gleichzeitig fühlte es sich angenehm an. Überaus angenehm sogar.
»Auch wenn eure letzte Begegnung einige Jahre zurückliegt, erinnerst du dich bestimmt an Lord Vincent, Helena?«, fragte der Duke.
»Gewiss, Vater.« Die schlanke junge Frau sah ihren Gastgeber aus bernsteinfarbenen Augen an.
Dieser Blick … Der Marquess erkannte ihn auf Anhieb wieder. »Lady Helena.« Er neigte den Kopf und hoffte, seine Stimme möge nur in seinen eigenen Ohren rauer klingen als sonst. »Willkommen in Renwood Hall.«
Auch sie neigte höflich den Kopf. Ihre langen tizianroten Haare waren in der Mitte gescheitelt und auf dem Hinterkopf zu einem mit Blüten verzierten Dutt gesteckt. Ringellöckchen schmiegten sich rechts und links an ihre Schläfen.
»Vielen Dank, Lord Vincent. Wie mein Vater wünsche auch ich Ihnen alles Gute für Ihre künftigen Aufgaben.«
Ihre Stimme klang ein wenig tiefer als früher. Es war nicht mehr die Stimme eines Mädchens, sondern die einer Frau. Einer außergewöhnlich attraktiven Frau. »Ich danke Ihnen, Lady Helena.«
»Der Trauerfall in Ihrer Familie hat mir bewusst gemacht, wie jäh das Leben vorüber sein kann, Meadowby«, meinte der Duke of Parbrooke. »Deshalb hatte ich das dringende Bedürfnis, meine älteste Tochter zu sehen. Sie ist erst vorgestern aus Schottland eingetroffen.«
»Tatsächlich? Wie schön. Gewiss freuen Sie sich sehr über die gemeinsame Zeit. Wie lange werden Sie denn in Axbury Manor bleiben, Lady Helena?«
Zögernd sah die junge Frau ihren Vater an. »So lange meine Mutter mich entbehren kann.«
»Was hoffentlich lange der Fall sein wird«, meinte der Duke aufgeräumt. »Wir sollten den Marquess nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Helena. Es warten ja noch etliche andere Gratulanten.«
Die beiden gingen weiter, und Vincent nahm die nächsten Glückwünsche entgegen. Er wusste, dass er in seinem schwarzen Frack eine ausgezeichnete Figur machte. Auf einmal fühlte er sich allerdings nicht mehr hundertprozentig wohl in seiner Haut. War die schwarze Weste einen Hauch zu eng? Oder das gestärkte weiße Hemd?
Ausgeschlossen. Alles war erst kürzlich maßgeschneidert worden. Trotzdem konnte er nicht so tief einatmen, wie er eigentlich wollte. Vincent ertappte sich dabei, wie er die linke Hand hob, um die Fliege zurechtzuzupfen. Dabei hatte Wilson sie gebunden. Das bedeutete: Sie saß perfekt.
Rasch ließ der junge Fürst die Hand wieder sinken. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Es kam nicht infrage, an der Fliege zu nesteln, als wäre er nervös oder hätte für diesen wichtigen Abend keine einwandfrei passende Kleidung ausgewählt.
Wie lange hatte er Lady Helena nicht gesehen? Fünf Jahre? Sechs? Als Sprösslinge befreundeter Väter waren sie einander als Kinder immer mal wieder über den Weg gelaufen.
Vincent musste sich zwingen, den Blick nicht durch den Ballsaal schweifen zu lassen. Es war seine Pflicht, die Gäste zu begrüßen. Er durfte nicht nach Lady Helena Ausschau halten. Eigentlich wollte er es ja auch gar nicht tun.
*
Der Fasan war butterzart. Auch die vorangegangene Bouillon und der Fisch hatten ausgezeichnet geschmeckt. Am Kopfende der Festtafel beschloss Lord Vincent, Mrs. Jones ein paar anerkennende Worte zu sagen. Die Köchin hatte sich selbst übertroffen.
Meinen Obergärtner muss ich ebenfalls loben, dachte er, während Lord Amos zwei Stühle weiter von der Ausbeute seiner letzten Jagd schwadronierte. Der erlesene Tafelschmuck aus Früchten, Blumen und Blättern hätte sogar vor den kritischen Augen von Königin Victoria bestanden.
Die zartgelben Rosenblüten erinnerten Lord Vincent an etwas. Ein Ballkleid … Unwillkürlich glitt sein Blick zu Lady Helena an der rechten langen Tischseite. Der Farbton ihrer schulterfreien Robe passte genau zu dem dieser Blüten. Und zu dem der kleinen Knospen, die in ihren Haaren steckten.
Jetzt hob sie ihr Kristallglas, trank einen Schluck Wasser – und ihr Blick tauchte in seinen.
Zum zweiten Mal an diesem Abend ging ein Ruck durch Vincents Körper. Er wollte mit einem höflichen Lächeln nicken. Wie man es halt tat, wenn man zur selben Dinnergesellschaft gehörte, für eine Unterhaltung aber zu weit voneinander entfernt saß.
Doch bevor er dazu kam, wandte Lady Helena sich dem Diener zu, der ihr grüne Bohnen und geröstete Kartoffeln anbot.
Rasch schaute Vincent auf seinen Teller und schnitt noch ein Stück Fasan ab. Dabei ging er beherzter mit dem Messer zu Werke, als das zarte Fleisch es verdiente. Sein Puls schlug zu schnell für einen 23-Jährigen, dessen einzige körperliche Anstrengung im Moment darin bestand, Silberbesteck zu halten oder ein Glas zum Mund zu führen.
Warum hatte er nicht höflich lächeln und nicken können? Wie er es unzählige Male zuvor in seinem Leben geschafft hatte? Wieso hatte er gestockt?
Er rang den Impuls nieder, noch einmal zu Lady Helena hinüberzusehen. Dabei hätte er nur zu gern herausgefunden, ob der Blickkontakt Zufall gewesen war. Das spielt doch überhaupt keine Rolle, schalt er sich irritiert und schmunzelte über einen Scherz von Lord Amos, den er nicht richtig mitbekommen hatte.
Der Marquess of Meadowby war ein Mann mit tadellosen Manieren. Selbstverständlich schenkte er jungen Damen die angemessene Aufmerksamkeit und Fürsorge. Darüber hinaus ging er allerdings nicht, und zwar aus gutem Grund: Er wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Weder bei den Damen selbst noch bei deren Eltern, die sich womöglich eine engere Verbindung zum Marquess wünschten.
Das Ziel jeder jungen Dame war nun mal eine Ehe. Deshalb achtete Vincent sorgfältig darauf, sich nicht als Ziel anzubieten. Jedenfalls noch nicht.
Natürlich musste er irgendwann heiraten, um den Fortbestand der Linie zu sichern. Er würde seine Pflicht tun, eine Familie gründen und einen Erben zeugen. Doch vorher wollte er noch einige Jahre Junggeselle bleiben.
Für den Marquess of Meadowby gab es genug zu tun. Leider hatte Vincents Vater jegliche Veränderungen auf seinem Grund und Boden rundweg abgelehnt. Dabei gab es heutzutage so viele Fortschritte, von denen sie profitieren konnten!
Fortschritte auf dem Gebiet der Technik. Des Ackerbaus. Der Viehzucht. Die Ländereien von Renwood Hall könnten wesentlich produktiver sein – und Vincent wollte sie dazu machen. Das war vorläufig Verantwortung genug. Für eine Ehefrau und Kinder blieb später noch genügend Zeit.
Erneut wanderte sein Blick wie von selbst zu Lady Helena. Sie saß zwischen ihrem Vater und einem Herrn, der gerade zu Besuch bei Lady Janet weilte. Wie hieß er doch gleich?
