Die Nacht des großen Sturms - Unveröffentlichter Roman - Betsy Collins - E-Book

Die Nacht des großen Sturms - Unveröffentlichter Roman E-Book

Betsy Collins

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Beschreibung

Aus heiterem Himmel erfährt der junge Marquess of Meadowby, dass seine Familie wegen Percivals Spielschulden vor dem Ruin steht. Damit droht Vincent der Verlust seiner großen Liebe: Lady Helena. Als verarmter Adliger kann er ihr kein angemessenes Leben bieten. Ihr Vater, der Duke of Parbrooke, will sie mit dem Textilfabrikanten Frederick Chester verheiraten. Das ist die spannende, prekäre Situation, wie sie sich zu Beginn dieser großherrschaftlichen Familiensaga um einen herausragenden, außergewöhnlichen Lord darstellt. »Wie bitte? Sie wollen es mir nicht sagen, Peter? Ich höre wohl nicht recht!« Lady Mildred straffte die Schultern und bedachte den Diener mit ihrem strengsten Blick. Der junge Mann in Livree schwitzte Blut und Wasser. Auf einmal fühlte sich der zusammengerollte Teppich auf seiner Schulter zehnmal so schwer an. »Verzeihung, Mylady. Es ist wirklich nicht so, dass ich es Ihnen nicht sagen will. Ich darf nicht. Der Marquess hat es ausdrücklich verboten. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Lady Mildred raffte den weiten Rock ihres schwarzen Witwenkleides und rauschte hocherhobenen Kopfes am Diener vorbei. »Das ist ja wohl die Höhe«, stieß sie auf dem Weg zum Frühstückszimmer hervor. Solange ihr ältester Sohn noch nicht geheiratet hatte, war sie die Marchioness of Meadowby. Die Herrin von Renwood Hall. Selbstverständlich hatte das Personal ihr Rede und Antwort zu stehen, wann immer sie es wünschte! Der Diener vor dem Frühstückszimmer verbeugte sich respektvoll und hielt Lady Mildred die Tür auf. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, trat sie ein. Ihr Erstgeborener und seine Schwester saßen bereits an der langen Tafel.

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Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Der aufstrebende Fürst – 7 –Die Nacht des großen Sturms - Unveröffentlichter Roman

… bringt Lord Percival und Shannon zusammen

Betsy Collins

»Wie bitte? Sie wollen es mir nicht sagen, Peter? Ich höre wohl nicht recht!« Lady Mildred straffte die Schultern und bedachte den Diener mit ihrem strengsten Blick.

Der junge Mann in Livree schwitzte Blut und Wasser. Auf einmal fühlte sich der zusammengerollte Teppich auf seiner Schulter zehnmal so schwer an. »Verzeihung, Mylady. Es ist wirklich nicht so, dass ich es Ihnen nicht sagen will. Ich darf nicht. Der Marquess hat es ausdrücklich verboten. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«

Lady Mildred raffte den weiten Rock ihres schwarzen Witwenkleides und rauschte hocherhobenen Kopfes am Diener vorbei. »Das ist ja wohl die Höhe«, stieß sie auf dem Weg zum Frühstückszimmer hervor. Solange ihr ältester Sohn noch nicht geheiratet hatte, war sie die Marchioness of Meadowby. Die Herrin von Renwood Hall. Selbstverständlich hatte das Personal ihr Rede und Antwort zu stehen, wann immer sie es wünschte!

Der Diener vor dem Frühstückszimmer verbeugte sich respektvoll und hielt Lady Mildred die Tür auf. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, trat sie ein.

Ihr Erstgeborener und seine Schwester saßen bereits an der langen Tafel. Wilson, der Butler, stand am Sideboard mit den Speisen und vergewisserte sich, dass noch genügend knuspriger Bacon vorhanden war.

»Guten Morgen, Mutter«, grüßte Lord Vincent.

Lady Florence musste erst einen Bissen Honigtoast hinunterschlucken, bevor sie »Guten Morgen, Mama« sagen konnte.

»Guten Morgen, Mylady.« Wilson verbeugte sich. Dann rückte er den Stuhl seiner Herrin ein Stück vom Tisch zurück, damit sie bequem Platz nehmen konnte.

»Guten Morgen«, erwiderte Lady Mildred zuckersüß. Innerlich kochte sie. Ihr Sohn saß seelenruhig da und verspeiste ein Spiegelei mit Bacon, als könnte er kein Wässerchen trüben!

Und Lady Florence – wusste sie Bescheid? Jedenfalls hatte die Neunzehnjährige wieder mal viel zu viel Honig auf ihren gebutterten Toast gestrichen. Ein zäher goldfarbener Tropfen hing schon bedrohlich weit über eine Brotecke.

Die Marchioness nahm Platz. »Ich nehme Tee und Rührei mit gebratenen Pilzen.«

»Sehr wohl, Mylady.«

»Ist es heute eigentlich sehr kalt draußen, Wilson? Oder …« In gespieltem Entsetzen hielt sie sich eine Hand vor den Mund. »Dürfen Sie mir das womöglich gar nicht sagen? Ich möchte Sie auf keinen Fall in Verlegenheit bringen.«

Der Butler stockte verdutzt. »Mylady?«

»Ich meine ja nur.« Ärgerlich sah sie Lord Vincent an. »Auf dem Korridor bin ich eben Peter begegnet. Er trug einen zusammengerollten Teppich über der Schulter. Ich habe ihn gefragt, wohin er damit will. Er meinte, er dürfe es mir nicht sagen. Du hättest es ihm ausdrücklich verboten.«

Wilson zog sich diskret zum Sideboard zurück. Oje, dachte er.

»Vielleicht hast du ja das gesamte Personal angewiesen, Fragen von mir nicht mehr zu beantworten?«, schob Lady Mildred beleidigt hinterher. »Falls ja, kläre mich doch bitte auf. Dann spare ich mir meine ach so unwichtigen Fragen künftig.«

Der dunkelhaarige junge Fürst schüttelte den Kopf. »Darüber wollte ich ohnehin gleich mit dir sprechen. Florence und Wilson wissen schon Bescheid, denn …« Weiter kam er nicht.

»Aha. Mich braucht man wohl nicht mehr einzubeziehen. Ich werde das Regiment ja ohnehin bald an deine Verlobte übergeben. Du möchtest vermutlich, dass ich mich schon einmal an den Gedanken gewöhne.«

»… denn im Gegensatz zu dir waren sie gestern beim Dinner hier«, beendete Lord Vincent seinen Satz gelassen, als hätte seine Mutter ihn nicht unterbrochen. »Ich habe auf dich gewartet, aber der Liederabend bei Lady Dorothy war offenbar kurzweilig, und ich wollte heute mit den Arbeiten beginnen. Also habe ich entschieden, dich heute beim Frühstück zu informieren, und bin zu Bett gegangen.«

Der Liederabend … Ja, es war gestern tatsächlich spät geworden. Sehr spät sogar. Aber Lady Dorothy hatte den skandalösen Ehekrach zwischen den Everton-Palmers aus nächster Nähe mitbekommen. Und nach dem zweiten Gläschen Portwein war sie überaus gesprächig geworden. Aus dem Grund hatte die Marchioness of Meadowby erst kurz vor Mitternacht die Heimfahrt angetreten. Konnte man es ihr verdenken?

»Welche Arbeiten denn?«, fragte sie, um von ihrer späten Heimkehr abzulenken. Huldvoll nickte sie Wilson zu, der ihr jetzt das Frühstück servierte.

»Ich richte ein Zimmer für Lady Helena im zweiten Stock ein. Dafür ist unter anderem der Teppich bestimmt, den Peter getragen hat.«

Lady Mildred zog die Brauen hoch. »Ich bin davon ausgegangen, dass Lady Helena nach der Hochzeit die Suite neben deiner bezieht. Im ersten Stock.«

»Das wird sie auch tun. Darüber hinaus richte ich für sie ein Zimmer her. Das frühere Atelier von Großmutter Lydia.«

Atelier – wie das klang! Als hätte Lady Mildreds Schwiegermutter eine künstlerische Ader besessen. Was definitiv nicht der Fall war. Natürlich hatte die Marchioness die Kritzeleien ihrer Schwiegermutter stets wortreich bewundert. So gehörte es sich ja auch für eine pflichtbewusste Schwiegertochter.

»Tatsächlich?« Sie trank einen Schluck Tee. »Ich wusste gar nicht, dass deine Verlobte auch ein Faible für die Malerei hat.«

»Wie Lady Helena das Zimmer nutzt, bleibt ihr überlassen«, erwiderte Lord Vincent ausweichend. »Auf jeden Fall ist dieses Zimmer zu ihrer alleinigen Nutzung bestimmt. Sie soll sie sich dorthin zurückziehen können, wann immer sie es wünscht. Es soll eine Überraschung werden. Deshalb habe ich Florence genau wie das Personal um Stillschweigen gebeten. Und nun bitte ich auch dich darum, Mutter. Ich kann mich doch auf dich verlassen?«

»Selbstverständlich. Ich werde dein Geheimnis hüten. Nun weiß ich ja, was es damit auf sich hat, wenn unser Personal Möbel oder Teppiche durch das Haus trägt. Ich wünsche dir, dass Lady Helena deine Überraschung zu schätzen weiß.«

»Danke.« Lord Vincent aß ein Stück Bacon.

»Allerdings hoffe ich, deine zukünftige Gattin wird sich nicht genötigt sehen, sich in ein privates Zimmer zurückziehen zu müssen. Schließlich empfangen wir sie in Renwood Hall mit offenen Armen, nicht wahr? Sie dürfte keinen Grund haben, vor uns flüchten zu wollen.«

»Von Flucht kann keine Rede sein«, stellte der junge Fürst klar. »Ich finde es wichtig, dass man auch mal allein sein kann, wenn einem danach ist. Um in Ruhe nachzudenken, zum Beispiel. So, wie ich es in meinem Arbeitszimmer tun kann.«

»Und ich in meinem«, ergänzte Lady Florence. »Sehr praktisch. Wenn ich dort bin, platzt niemand mit dem Bedürfnis nach einem Schwatz herein. Ich kann mich ganz auf die Arbeit konzentrieren.«

»Du hast ein Arbeitszimmer?«, fragte Lady Mildred erstaunt. Sie spießte einen gebratenen Pilz auf ihre silberne Gabel.

Lady Florence seufzte leise. Nun unterstützte sie ihren Bruder schon seit Monaten bei der Verwaltung der Ländereien von Renwood Hall. Würde ihre Mutter das irgendwann zur Kenntnis nehmen?

Vermutlich nicht. Die Marchioness fand es ebenso überflüssig wie unangemessen für eine Aristokratin, sich mit Ackerbau und Viehzucht zu beschäftigen. Sie blendete das Thema einfach aus. »Ja, Mama«, antwortete Lady Florence resigniert. »Das ehemalige Ankleidezimmer, das an meine Suite grenzt.«

»So? Nun, Zimmer gibt es in unserem Haus zum Glück ja mehr als genug. Für jeden Zweck und jeden Geschmack, möchte ich behaupten. Ich persönlich habe es nie für nötig befunden, mir ein Zimmer für meine Arbeit einzurichten. Oder eins, das zu meiner alleinigen Nutzung bestimmt ist. Aber vielleicht sollte ich mit der Zeit gehen?«

Lady Florence und ihr Bruder wechselten rasch einen Blick. Die Marchioness of Meadowby registrierte ihn nicht. Sie war vollauf damit beschäftigt, sich zu bedauern. Leider wussten ihre Kinder ihre Anstrengungen für Renwood Hall nicht zu schätzen.

Es war keine Kleinigkeit, Dinnerpartys, Sommerfeste und Geburtstagsfeiern zu arrangieren. Dafür zu sorgen, dass mehrmals am Tag wohlschmeckende und abwechslungsreiche Speisen in ausreichender Menge auf dem Tisch standen. Mindestens einmal im Monat lange Gespräche mit der Schneiderin zu führen, damit die Damen des Hauses stets wie aus dem Ei gepellt waren. Dafür zu sorgen, dass sich Renwood Hall seinen Gästen von der besten Seite präsentierte.

Gastfreundschaft war kein Talent, das vom Himmel fiel. Es war eine Kunst, die man erlernen musste. Genau wie Konversation. Wenn das keine Arbeit war …

Lady Mildred hatte nicht übel Lust, ein Arbeitszimmer für sich selbst zu beanspruchen. Vielleicht merkten ihre Kinder dann endlich, was sie alles für die Familie leistete? Nicht, dass sie Dank für ihre Bemühungen erwartete. Als Adelige war sie in diese Aufgabe hineingeboren worden, und sie erfüllte sie nach bestem Wissen und Gewissen. Dennoch hätten ihr ein paar anerkennende Worte dann und wann gutgetan.

Percy würde mich verstehen, dachte sie wehmütig. Zwischen ihr und ihrem jüngeren Sohn hatte immer eine besondere Verbindung bestanden. Obwohl … Bei seinem Besuch an Weihnachten war er so anders gewesen. Sie hatte ihn nicht mehr Percy, sondern Percival nennen sollen. Er hatte sie Mutter statt Mama genannt. Hatte darauf beharrt, dass es ihm in dem irischen Internat gefiele und er auch künftig als Reit- und Fechtlehrer dort arbeiten wollte.

Arbeiten! Lady Mildred nippte an ihrem Tee. Erst ihre Tochter, und nun ihr jüngerer Sohn. Warum waren die jungen Leute auf einmal so darauf versessen zu arbeiten? Für Percival gäbe es in Renwood Hall mehr als genug zu tun. Und Florence sollte sich darauf vorbereiten, Ehefrau und Mutter zu sein. Wie jede junge Dame von Stand. Stattdessen spazierte sie über Felder oder las Abhandlungen über Saatgut …

Ich sollte mich mehr um mich selbst kümmern, dachte die Marchioness mit einem Anflug von Trotz. Wenn ihre drei Kinder nicht das taten, was sie von ihnen erwartete, war es ja wohl nur recht und billig, dass auch sie sich etwas mehr Freiraum herausnahm.

Nach Lord Vincents Hochzeit im Frühling würde sie einen Großteil ihrer Pflichten an Lady Helena abgeben. Dann hatte sie zwangsläufig mehr Zeit – und die gedachte sie sinnvoll zu füllen. Auf keinen Fall würde sie eine jener bedauernswerten Schwiegermütter sein, die nichts mit sich anzufangen wussten und ihren Schwiegertöchtern ins Handwerk pfuschten.

*

Rund 300 Meilen weiter westlich hielt Lord Percival vor der Tür zum Speisesaal inne. Er zwang sich zu einem Lächeln. Hoffentlich sieht es echter aus, als es sich anfühlt, dachte er resigniert.

Wenn er über diese Schwelle trat, war er nicht mehr Privatmann, sondern Lehrer. Souverän und gleichmütig musste er wirken. Seine Schüler konnten schließlich nichts dafür, dass Shannon O’Sullivan ihm seit dem Vorfall am Lagerfeuer die kalte Schulter zeigte. Er legte eine Hand auf die Klinke.

Hinter ihm ertönten schleppende Schritte. »Guten Tag, Sir.«

Die helle Stimme hörte sich ungefähr so an, wie Lord Percival zumute war. Er drehte sich um. »Guten Tag, Brendan. Na, hattest du schöne Weihnachtsferien?«

»Super«, antwortete der zwölfjährige Junge in der marineblauen Internatsuniform finster.

»Warum machst du dann ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«

»Weil die Ferien vorbei sind, Sir.« Brendan blickte seinen Reit- und Fechtlehrer argwöhnisch an. Wollte der englische Lord ihn mit seiner völlig überflüssigen Frage irgendwie hereinlegen?

Ein etwas jüngerer Schüler kam die Treppe herunter und schlurfte näher. »Guten Tag, Sir.«

»Guten Tag, Angus. Du bist ja ähnlich blendender Stimmung wie Brendan. Darf ich daraus schließen, dass auch du fantastische Ferien hattest?«

Der rothaarige Angus nickte verdattert.

Lord Percival legte jedem Schüler eine Hand auf die Schulter. »Männer, so geht das nicht. Alle Ferien haben irgendwann ein Ende. Übermorgen fängt die Schule wieder an, und ihr werdet noch besser im Reiten und Fechten, das verspreche ich euch. Wer weiß, vielleicht werden wir sogar Spaß haben, so wie im letzten Jahr? Könnte doch sein. Ich für meinen Teil freue mich jedenfalls auf den Unterricht. Und ich hoffe sehr, ihr beide zieht mit. Abgemacht?«

»Ja, Sir«, antworteten die Schüler nicht besonders enthusiastisch.

»Ich weiß, euer Schultag besteht nicht nur aus Reiten und Fechten. Ihr habt auch Rechnen und Erdkunde und Religion und so.«

Wieder sahen die beiden einander an. Kein anderer Lehrer hätte sich getraut, auch nur anzudeuten, Religion könnte nicht das faszinierendste Fach des gesamten Stundenplans sein. Im erzkatholischen Irland wagte niemand Kritik an der Kirche zu äußern. Aber Lord Percival kam ja aus England. Er war Anglikaner. Ob wohl alle Anglikaner so locker drauf waren? So anders als die übrigen Lehrer?

»Genau da liegt das Problem«, bestätigte Brendan.

Angus nickte ernst.

»Verstehe. Ganz im Vertrauen …« Lord Percival senkte die Stimme und sagte im Verschwörerton: »Ich war nicht der beste Schüler aller Zeiten, Männer. Aber sollte es bei euch mal mit dem Schulstoff ruckeln, sprecht mich einfach an. Es wäre doch gelacht, wenn wir der Sache zusammen nicht auf den Grund gehen könnten.«

»Das würden Sie tun, Sir?«, fragte Brendan hoffnungsvoll.

»Aber sicher. Versprochen. Ihr gebt euer Bestes, genau wie ich. Ganz einfach.« Wieder legte er eine Hand auf die Türklinke. »Und wenn wir jetzt zum Tee hineingehen, werden wir nicht schlurfen, als würde die Last der Welt auf unseren Schultern ruhen. Diese Aufgabe nimmt uns ja schon dieser Titan ab. Wie heißt er doch gleich …?« Lord Percival schnipste mit den Fingern.

»Atlas!«, riefen Angus und Brendan wie aus einem Munde.

»Ganz recht. Ich bin beeindruckt. Mir scheint, ihr seid während der Ferien noch gescheiter geworden. Weiter so, Männer.«

Als die beiden Schüler jetzt den Speisesaal betraten, hatten sie ihre Leichenbittermienen abgelegt. Auch Lord Percival sah unbeschwerter aus – bis er am Lehrertisch saß und ein Stück vom Brotpudding mit Rosinen und Muskatnuss abstach. Wie von selbst glitt sein Blick zum Damentisch. Dort saß sie. Shannon O’Sullivan.

Sie aß gedeckten Apfelkuchen mit Sahne. Jetzt trank sie einen Schluck Tee. Lord Percival konnte nicht in ihre Tasse sehen, doch er wusste Bescheid. Der Tee war hell, weil Miss O’Sullivan einen großzügigen Schuss Milch dazugegeben hatte. Und er war auch süß, dank eines gehäuften Löffels Zucker. So trank die Tochter des Direktors ihren Tee immer.

Irgendwie fand Lord Percival es beruhigend, das zu wissen. Der Tee war für ihn wie eine Konstante inmitten lauter verunsichernder Empfindungen.

Die Tochter des Direktors war keine Schönheit. Von vornehmer Blässe konnte keine Rede sein. Sie hatte ständig rote Wangen und überdies so viele Sommersprossen im ganzen Gesicht, dass man kaum Aussagen über ihren Teint treffen konnte.

Ihre starke Naturkrause ließ keine Frisur zu, die Lord Percival von Damen aus seinen Kreisen kannte. Vermutlich trug Miss O’Sullivan deshalb stets einen strengen Dutt im Nacken, weil sie ihre störrischen Haare nur so einigermaßen zügeln konnte.

Der Brotpudding zerging auf der Zunge, doch Lord Percival nahm es nicht wahr. Seine Gedanken kreisten um Shannon O‘Sullivan. Sie war nicht zierlich, sondern … Er zögerte, sich auf ein Wort festzulegen. Mollig? Korpulent? Üppig? Sämtliche Begriffe, die ihm in den Sinn kamen, hatten keinen schmeichelhaften Beigeschmack. Etwas Unschmeichelhaftes jedoch wollte er auf keinen Fall über diese Frau denken. Ihre Figur war – nun ja, nicht gerade gertenschlank.

Das ist auch in keiner Weise schlimm, stellte Lord Percival rasch in Gedanken klar. Shannon O’Sullivan war genau richtig. So, wie sie war. Und er hatte nicht den blassesten Schimmer, warum! Immerhin glich sie überhaupt nicht jenen Damen, die normalerweise sein Interesse weckten. Und man konnte nun wirklich nicht behaupten, dass sie diese Tatsache durch ein liebreizendes Wesen wettmachte. Sie war ernst. Sie redete nur, wenn es etwas zu sagen gab. Und seit dem Vorfall beim Weihnachtssingen war sie noch wortkarger. Jedenfalls Lord Percival gegenüber.

Er konnte es ihr nicht verübeln. Lady Isabella hatte ihn ja auch in ein denkbar ungünstiges Licht gerückt. Hätte ihr Kleid nicht Feuer gefangen, so wüsste jetzt garantiert das ganze Königreich von ihrer Liaison mit ihm. Einer kurzen, bedeutungslosen Liaison, die er, Lord Percival, zutiefst bereute.