Dora Bruder - Patrick Modiano - E-Book

Dora Bruder E-Book

Patrick Modiano

4,6

Beschreibung

Wer war Dora Bruder? Eine Zeitungsanzeige im Paris Soir vom 31. Dezember 1941 läßt Patrick Modiano nicht mehr los: »Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, ovales Gesicht, graubraune Augen... « Seit diesem Tag folgt er den Spuren der jungen Jüdin im Paris während der deutschen Besatzung. Von der Flucht aus einem katholischen Mädchenpensionat, über ihre Verhaftung und Deportation nach Drancy bis nach Auschwitz, rekonstruiert Modiano ein zerstörtes Leben. »In seiner moralischen und künstlerischen Eindringlichkeit ist Dora Bruder nicht nur große Literatur, sondern auch ein wichtiges Buch, eine Parabel gegen den Terror damals wie heute.« Günther Freitag, DER STANDARD

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Hanser E-Book

Patrick Modiano

Dora Bruder

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel

Dora Bruder bei Gallimard, Paris

Wir danken dem französischen Außenministerium,

vertreten durch die Französische Botschaft in Berlin,

für die Förderung der Übersetzung.

ISBN 978-3-446-24877-9

© Editions Gallimard, Paris 1997

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 1998/2014

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vor acht Jahren stieß ich in einer alten Zeitung, dem Paris-Soir vom 31. Dezember 1941, auf Seite drei zufällig auf eine Rubrik »Zwischen gestern und heute«. Ganz unten las ich:

»PARIS

Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.«

Dieses Viertel um den Boulevard Ornano herum kannte ich schon lange. In meiner Kindheit begleitete ich meine Mutter zum Flohmarkt von Saint-Ouen. Wir stiegen an der Porte de Clignancourt aus dem Bus und manchmal auch vor dem Rathaus des achtzehnten Arrondissements. Das war immer am Samstag oder am Sonntag nachmittag.

Im Winter stand auf dem Gehsteig der Avenue vor der Clignancourt-Kaserne im Strom der Passanten der dicke Photograph mit der körnigen Nase und der runden Brille, der hinter seiner Stativkamera ein »Erinnerungsphoto« anbot. Im Sommer postierte er sich auf der Strandpromenade von Deauville, vor der Bar du Soleil. Dort fand er auch Kundschaft. Aber hier, an der Porte de Clignancourt, schienen sich die Passanten nicht photographieren lassen zu wollen. Er trug einen alten Mantel, und einer seiner Schuhe hatte ein Loch.

Ich erinnere mich an die menschenleeren Boulevards Barbès und Ornano an einem strahlenden Sonntagnachmittag, im Mai 1958. An jeder Straßenkreuzung Gruppen der Bereitschaftspolizei, der Ereignisse in Algerien wegen.

Den Winter 1965 verbrachte ich in diesem Viertel. Ich hatte eine Freundin, die in der Rue Championnet wohnte. Ornano 49 - 20.

Bestimmt hatte der Strom der Passanten entlang der Kaserne schon damals den dicken Photographen mit sich fortgerissen, doch ich bin nie hingegangen, um es nachzuprüfen. Wozu hatte diese Kaserne gedient? Mir war gesagt worden, daß sie Kolonialtruppen beherberge.

Januar 1965. Gegen sechs Uhr zog die Nacht über der Kreuzung des Boulevard Ornano und der Rue Championnet herauf. Ich war nichts, ich verschmolz mit diesem Dämmerlicht, diesen Straßen.

Das letzte Café am Ende des Boulevard Ornano auf der Seite mit den geraden Hausnummern hieß »Verse Toujours«. Weiter links, an der Ecke des Boulevard Ney, gab es noch ein anderes, mit einer Jukebox. An der Kreuzung Ornano-Championnet eine Apotheke, zwei Cafés, eines davon schon älter, an der Ecke zur Rue Duhesme.

Wie oft ich in diesen Cafés gewartet habe... Sehr früh am Morgen, wenn es noch dunkel war. Gegen Ende des Nachmittags, bei Einbruch der Nacht. Später, wenn die Sperrstunde kam...

Am Sonntagabend parkte ein alter schwarzer Sportwagen – ein Jaguar, glaube ich – in der Rue Championnet, auf der Höhe des Kindergartens. Hinten war ein Schild angebracht: »G.I.G.« Grand Invalide de Guerre – Schwerkriegsbeschädigter. Ich hatte mich über dieses Auto hier im Viertel gewundert. Ich fragte mich, was für ein Gesicht sein Besitzer wohl haben mochte.

Ab neun Uhr abends war der Boulevard wie ausgestorben. Ich sehe noch das Licht der Metrostation Simplon vor mir und, fast gegenüber, den Eingang zum Kino Ornano 43. Das Haus Nummer 41, das vor dem Kino kam, war mir nie aufgefallen, und doch bin ich monatelang, jahrelang an ihm vorübergegangen. Von 1965 bis 1968. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.

Zwischen gestern und heute. Mit dem Abstand der Jahre verwirren sich die Perspektiven für mich, die Winter geraten durcheinander. Der von 1965 und der von 1942.

1965 wußte ich nichts von Dora Bruder. Doch heute, dreißig Jahre später, scheint mir, dieses lange Warten in den Cafés an der Kreuzung Ornano, diese immer gleichen Wege – ich folgte der Rue du Mont-Cenis, um zu den Hotels auf dem Montmartre zu gelangen: zum Hotel Roma, dem Alsina oder dem Terrass in der Rue Caulaincourt – und diese flüchtigen Eindrücke, die ich im Gedächtnis behalten habe: eine Frühlingsnacht, als unter den Bäumen des Square Clignancourt laute Stimmen zu vernehmen waren, und dann noch einmal im Winter, während man zur Metrostation Simplon und dem Boulevard Ornano hinunterging – heute scheint mir, all das konnte nicht bloßer Zufall sein. Vielleicht war ich, ohne freilich ein klares Bewußtsein davon zu haben, Dora Bruder und ihren Eltern auf der Spur. Sie waren bereits da, im Hintergrund.

Ich versuche, Anhaltspunkte zu finden, die möglichst weit zurückliegen. Als ich mit ungefähr zwölf Jahren meine Mutter zum Flohmarkt von Clignancourt begleitete, verkaufte ein polnischer Jude Koffer, gleich rechts, am Anfang einer jener von Ständen gesäumten Alleen, Marché Malik, Marché Vernaison... Luxuriöse Koffer, aus Leder, aus Krokodilleder, und andere aus hartem Pappkarton, Reisetaschen, Kabinenkoffer, auf denen die Etiketten überseeischer Schiffahrtsgesellschaften klebten – alles übereinandergestapelt. Sein Stand lag unter freiem Himmel. Im Mundwinkel hatte er immer eine Zigarette, und eines Nachmittags hatte er mir eine geschenkt.

Manchmal bin ich am Boulevard Ornano ins Kino gegangen. Ins Clignancourt Palace, am Ende des Boulevards, neben dem »Verse Toujours«. Und ins Ornano 43.

Später habe ich erfahren, daß das Ornano 43 ein sehr altes Kino war. Man hatte es in den dreißiger Jahren wiederaufgebaut und ihm dabei das Aussehen eines Ozeandampfers verpaßt. Im Mai 1996 bin ich wieder in diese Gegend gekommen. Das Kino ist einem Geschäft gewichen. Man überquert die Rue Hermel und steht vor dem Haus Nummer 41 des Boulevard Ornano, jener Adresse, die in der Vermißtenanzeige für Dora Bruder angegeben war.

Ein fünfstöckiges Gebäude aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Es bildet mit der Nummer 39 einen Block, der vom Boulevard umgeben ist, von den Einmündungen der Rue Hermel und der Rue du Simplon, die hinter den beiden Häusern vorbeiführt. Sie gleichen einander. Die Nummer 39 trägt eine Inschrift, die den Namen ihres Architekten nennt, ein gewisser Richefeu, sowie das Datum der Erbauung: 1881. Für das Haus Nummer 41 gilt bestimmt das gleiche.

Vor dem Krieg und bis Anfang der fünfziger Jahre war die Nummer 41 des Boulevard Ornano ein Hotel, genau wie die 39, die Hôtel du Lion d’Or hieß. In der Nummer 39 befand sich vor dem Krieg auch noch ein Café-Restaurant, das von einem gewissen Gazal betrieben wurde. Den Namen des Hotels in der Hausnummer 41 habe ich nicht herausgefunden. Zu Beginn der fünfziger Jahre ist unter dieser Adresse eine Société Hôtel et Studios Ornano, Montmartre 12-54, verzeichnet. Und so wie vor dem Krieg auch ein Café, dessen Wirt Marchal hieß. Das Café existiert nicht mehr. Befand es sich rechts oder links vom Eingangstor?

Dieses Tor führt zu einem ziemlich langen Korridor. Ganz hinten rechts geht die Treppe hoch.

Es dauert lange, bis das, was ausgelöscht worden ist, wieder ans Licht kommt. Spuren bestehen noch in Registern fort, und man weiß nicht, wo sie versteckt sind und welche Hüter über sie wachen und ob diese bereit sein werden, sie einem zu zeigen. Oder vielleicht haben die Hüter ganz einfach vergessen, daß es diese Register einmal gab.

Es genügt ein wenig Geduld.

So habe ich schließlich herausgefunden, daß Dora Bruder und ihre Eltern schon in den Jahren 1937 und 1938 im Hotel am Boulevard Ornano lebten. Sie bewohnten ein Zimmer mit Küche im fünften Stock, dort, wo ein eisernes Balkongeländer um die beiden Häuser herumführt. Etwa zehn Fenster, in diesem fünften Stockwerk. Zwei oder drei gehen auf den Boulevard und die anderen auf das Ende der Rue Hermel und hinten auf die Rue du Simplon.

An jenem Tag im Mai 1996, als ich wieder in dieses Viertel kam, waren die rostigen Läden der ersten zwei Fenster im fünften Stock, die auf die Rue du Simplon gingen, geschlossen, und auf dem Balkon vor diesen Fenstern habe ich einen ganzen Haufen bunt zusammengewürfelter Gegenstände bemerkt, die aussahen, als seien sie schon vor langer Zeit hier zurückgelassen worden.

Während der zwei oder drei Jahre, die dem Krieg vorausgegangen sind, muß Dora Bruder eine der städtischen Schulen des Viertels besucht haben. Ich habe dem Direktor jeder einzelnen Schule einen Brief geschrieben und ihn gefragt, ob er ihren Namen in den Registern finden könne:

8 Rue Ferdinand-Flocon

20 Rue Hermel

7 Rue Championnet

61 Rue de Clignancourt.

Sie haben mir freundlich geantwortet. Keiner hatte diesen Namen in der Schülerliste der Vorkriegsklassen wiedergefunden. Aber wenigstens hat mir der Direktor der ehemaligen Mädchenschule in der Rue Championnet Nr. 69 angeboten, ich könne vorbeikommen und die Register selbst durchsehen. Eines Tages werde ich hingehen. Doch ich zögere. Ich möchte weiter hoffen, daß ihr Name dort aufgeführt ist. Diese Schule lag ihrem Wohnsitz am nächsten.

Ich habe vier Jahre gebraucht, um ihr genaues Geburtsdatum ausfindig zu machen: der 25. Februar 1926. Und zwei weitere Jahre waren notwendig, um den Ort dieser Geburt zu erfahren: Paris, zwölftes Arrondissement. Doch ich bin geduldig. Ich kann stundenlang im Regen warten.

An einem Freitagnachmittag im Februar 1996 bin ich ins Rathaus des zwölften Arrondissements gegangen, Abteilung Standesamt. Der Beamte in dieser Abteilung – ein junger Mann – reichte mir ein Formular, das ich ausfüllen sollte:

»Bei Ersuchen um Auskunft am Schalter sind anzugeben:

Name

Vorname

Adresse

Ich bitte um das vollständige Duplikat der Geburtsurkunde von:

Name BRUDER Vorname DORA

Geburtsdatum 25. Februar 1926.

Sie sind (Zutreffendes bitte ankreuzen):

Der/die um Auskunft ersuchende Betroffene

Vater oder Mutter

Großvater oder Großmutter

Sohn oder Tochter

Ehegatte oder Ehegattin

Der gesetzliche Vertreter

Sie verfügen über eine Vollmacht sowie einen Personalausweis des/der Betroffenen

Duplikate von Geburtsurkunden werden ausschließlich diesen Personen ausgefertigt.«

Ich habe das Formular unterschrieben und es ihm hingestreckt. Nach einem Blick darauf sagte er, daß er mir kein vollständiges Duplikat der Geburtsurkunde geben könne: Es bestünde kein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dieser Person und mir.

Einen Augenblick lang dachte ich, er sei eine jener Schildwachen des Vergessens, die den Auftrag haben, ein schändliches Geheimnis zu wahren und sich allen entgegenzustellen, die auch nur die kleinste Spur vom Leben einer bestimmten Person wiederzufinden hofften. Aber er sah gutmütig aus. Er gab mir den Rat, im Justizpalast, 2 Boulevard du Palais, dritte standesamtliche Abteilung, fünfter Stock, Treppe 5, Büro 501, um eine Sondergenehmigung anzusuchen. Von Montag bis Freitag, 14 bis 16 Uhr.

Am Boulevard du Palais Nr. 2 wollte ich gerade den Weg durch die hohen Gitter und den Haupthof einschlagen, als mich ein Wachtposten auf einen anderen Eingang etwas weiter unten verwies: jener, der zur Sainte-Chapelle führt. Eine Schlange von Touristen wartete zwischen den Absperrungen, und ich wollte geradewegs unter dem Eingangsportal hindurchgehen, doch ein zweiter Wachtposten bedeutete mir mit einer groben Geste, mich hinter den anderen in die Schlange zu stellen.

Am Ende eines Flurs verlangten die Vorschriften, daß man alle Metallgegenstände aus den Taschen nahm. Ich hatte nur einen Schlüsselbund bei mir. Ich sollte ihn auf eine Art Fließband legen und auf der anderen Seite einer Glasscheibe wieder an mich nehmen, doch im ersten Augenblick begriff ich einfach nicht, was man von mir wollte. Weil ich zögerte, bin ich von einem weiteren Wachtposten ein wenig angeschnauzt worden. War er ein Gendarm? Ein Polizist? Mußte ich ihm, wie beim Eintritt in ein Gefängnis, auch meine Schnürsenkel, meinen Gürtel, meine Brieftasche geben?

Ich habe einen Hof durchquert, bin in einen Korridor eingebogen, bin in eine sehr weitläufige Halle gekommen, wo Männer und Frauen umhergingen, die schwarze Aktentaschen in der Hand hielten und von denen einige Anwaltsroben trugen. Ich wagte nicht, sie zu fragen, wie man zur Treppe 5 gelangte.

Ein Aufseher, der hinter einem Tisch saß, verwies mich an das äußerste Ende der Halle. Und dort betrat ich einen menschenleeren Saal, dessen vorspringende Fenster ein gräuliches Licht einfallen ließen. Sooft ich in diesem Saal auch auf und ab ging, die Treppe 5 fand ich nicht. Ich wurde von jener panischen Angst und jenem Schwindelgefühl gepackt, die man in bösen Träumen verspürt, wenn es einem nicht gelingt, den Bahnhof zu erreichen, und wenn die Zeit verrinnt und man den Zug versäumen wird.

Etwas Ähnliches hatte ich zwanzig Jahre zuvor erlebt. Ich hatte erfahren, daß mein Vater im Krankenhaus Pitié-Salpêtrière lag. Seit dem Ende meiner Jugendzeit war ich ihm nicht mehr begegnet. Und da hatte ich den Entschluß gefaßt, ihn überraschend zu besuchen.

Ich erinnere mich, daß ich stundenlang durch die unendliche Weite dieses Krankenhauses geirrt bin, auf der Suche nach ihm. Ich betrat uralte Gebäude, Gemeinschaftssäle, in denen sich die Betten aneinanderreihten, ich befragte Krankenschwestern, die mir widersprüchliche Auskünfte gaben. Am Ende zweifelte ich an der Existenz meines Vaters, während ich immer wieder an jener majestätischen Kirche und jenen irrealen Gebäudetrakten vorüberging, die seit dem achtzehnten Jahrhundert unversehrt dastanden und mir Manon Lescaut und die Zeit ins Gedächtnis riefen, als dieser Ort ein Gefängnis für leichte Mädchen war, unter dem sinisteren Namen Hôpital Général, bevor man sie nach Louisiana deportierte. Ich bin in den gepflasterten Höfen auf und ab gegangen, bis es dunkel wurde. Unmöglich, meinen Vater zu finden. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Aber die Treppe 5 habe ich schließlich doch entdeckt. Ich stieg die Stockwerke hinauf. Eine Reihe von Büros. Jemand zeigte mir das mit der Nummer 501. Eine Frau mit kurzem Haar und gleichgültiger Miene fragte mich, was ich wolle.

In schroffem Tonfall erklärte sie mir, um diesen Auszug aus dem Geburtsregister zu bekommen, müsse ich an den Procureur de la République schreiben, Parquet de grande instance de Paris, 14 Quai des Orfèvres, dritte Abteilung B.

Nach drei Wochen erhielt ich eine Antwort.

»Am fünfundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um einundzwanzig Uhr zehn, wurde in der Rue Santerre Nr. 15 Dora, weiblichen Geschlechts, geboren. Eltern: Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich), am einundzwanzigsten Mai eintausendachthundertneunundneunzig, Hilfsarbeiter, und seine Ehefrau Cécile Burdej, geboren in Budapest (Ungarn), am siebzehnten April eintausendneunhundertsieben, ohne Beruf, beide wohnhaft in Sevran (Seine-et-Oise), Avenue Liégeard Nr. 2. Ausgefertigt am siebenundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um fünfzehn Uhr dreißig, gemäß der Erklärung von Gaspard Meyer, dreiundsiebzig Jahre, beschäftigt und wohnhaft in der Rue de Picpus Nr. 76, welcher bei der Geburt zugegen war und nach der Verlesung in unserem Beisein unterzeichnet hat, Auguste Guillaume Rosi, stellvertretender Bürgermeister des zwölften Arrondissements von Paris.«

Die Nummer 15 in der Rue Santerre ist die Adresse des Hôpital Rothschild. In der Entbindungsstation dieses Krankenhauses wurden zur selben Zeit wie Dora zahlreiche Kinder armer jüdischer Familien geboren, die erst vor kurzem nach Frankreich eingewandert waren. Anscheinend konnte Ernest Bruder seinen Arbeitsplatz nicht verlassen, um selbst die Geburt seiner Tochter an jenem 25. Februar 1926 im Rathaus des zwölften Arrondissements anzumelden. Vielleicht würde man in einem Register weitere Angaben zu Gaspard Meyer finden, der die Geburtsurkunde unterzeichnet hat. Die Nummer 76 in der Rue de Picpus, wo er »beschäftigt und wohnhaft« gewesen ist, war die Adresse des Hospice de Rothschild, eingerichtet für Alte und Notleidende.

In jenem Winter 1926 verlieren sich die Spuren von Dora Bruder und ihren Eltern in der nordöstlichen Vorstadt, am Ufer des Canal de l’Ourcq. Eines Tages werde ich nach Sevran fahren, aber ich fürchte, daß auch dort die Häuser und Straßen ihr Gesicht verändert haben, wie in allen Vorstädten. Ich kenne die Namen einiger Betriebe, einiger Bewohner der Rue Liégeard aus jener Zeit: Nummer 24 war das Trianon de Freinville. Ein Café? Ein Kino? In der Nummer 31 lagen die Caves de l’Ile de France. Ein Doktor Jorand belegte die Nummer 9, ein Apotheker, Platel, die 30.