Unterwegs nach Chevreuse - Patrick Modiano - E-Book

Unterwegs nach Chevreuse E-Book

Patrick Modiano

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Beschreibung

Der neue Roman des Literaturnobelpreisträgers: Patrick Modiano „vervollständigt seine traumwandlerische Suche nach der verlorenen Zeit“. La Croix

Bei einem seiner Streifzüge durch das Paris der sechziger Jahre lernt Jean die undurchsichtige Camille kennen, die den Spitznamen „Totenkopf“ trägt. Schnell freunden sie sich an, und sie führt ihn in ihre Kreise ein: eine Gruppe fragwürdiger Gestalten, die sich regelmäßig in einer Wohnung in Auteuil trifft. Als sie Jean eines Tages ins Chevreuse-Tal und anschließend in ein verschlafenes Dorf mitnehmen, dämmert ihm, dass nichts an dem Ausflug zufällig ist. Denn er kennt diesen Ort aus früheren Zeiten. Und er weiß, dass er ein wertvolles Geheimnis birgt. In flirrend leichter Sprache schreibt der Nobelpreisträger Patrick Modiano sein großes Werk über die schwebende Unzuverlässigkeit der Erinnerung weiter.

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Über das Buch

Der neue Roman des Literaturnobelpreisträgers: Patrick Modiano »vervollständigt seine traumwandlerische Suche nach der verlorenen Zeit«. La CroixBei einem seiner Streifzüge durch das Paris der sechziger Jahre lernt Jean die undurchsichtige Camille kennen, die den Spitznamen »Totenkopf« trägt. Schnell freunden sie sich an, und sie führt ihn in ihre Kreise ein: eine Gruppe fragwürdiger Gestalten, die sich regelmäßig in einer Wohnung in Auteuil trifft. Als sie Jean eines Tages ins Chevreuse-Tal und anschließend in ein verschlafenes Dorf mitnehmen, dämmert ihm, dass nichts an dem Ausflug zufällig ist. Denn er kennt diesen Ort aus früheren Zeiten. Und er weiß, dass er ein wertvolles Geheimnis birgt. In flirrend leichter Sprache schreibt der Nobelpreisträger Patrick Modiano sein großes Werk über die schwebende Unzuverlässigkeit der Erinnerung weiter.

Patrick Modiano

Unterwegs nach Chevreuse

Roman

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl

Hanser

Für Dominique

Was hab ich mir für Namen eingeprägt

und Hund und Kuh und Elephant

nun schon so lang und ganz von weit erkannt,

und dann das Zebra —, ach, wozu?

RAINER MARIA RILKE

Bosmans hatte sich erinnert, dass ein Wort, Chevreuse, in der Unterhaltung immer wiederkehrte. Und in jenem Herbst lief im Radio oft ein Lied, gesungen von einem gewissen Serge Latour. Er hatte es in dem kleinen, leeren vietnamesischen Restaurant gehört, eines Abends, als er dort saß, in Gesellschaft jenes Mädchens mit dem Spitznamen »Totenkopf«.

Douce dame

Je rêve souvent de vous …

Süße Dame, ich träume oft von dir … An jenem Abend hatte »Totenkopf« die Augen geschlossen, offenbar aufgewühlt durch die Stimme des Sängers und den Liedtext. Dieses Restaurant mit dem stets eingeschalteten Radio am Tresen lag in einer der Straßen zwischen Maubert und Seine.

Andere Worte, andere Gesichter und selbst Verse, die er damals gelesen hatte, schwirrten ihm durch den Kopf — so viele Verse, dass er sie nicht alle aufschreiben konnte:

»Die Locke von kastanienbraunem Haar …« »… Der Boulevard de la Chapelle, das hübsche Montmartre und Auteuil …«

Auteuil. Der Name klang merkwürdig. Auteuil. Doch wie Ordnung bringen in all diese Signale und diese Morsezeichen, herübergekommen aus einer Entfernung von mehr als fünfzig Jahren, und wie einen roten Faden dafür finden?

Er notierte nach und nach die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen. Zumeist morgens oder am späten Nachmittag. Es genügte ein Detail, das jedem anderen lächerlich erschienen wäre. Das war’s: ein Detail. Das Wort »Gedanke« passte überhaupt nicht. Es war allzu feierlich. Eine Unmenge von Details füllte schließlich die Seiten seines blauen Hefts, und auf den ersten Blick bestand zwischen ihnen keinerlei Zusammenhang, und in ihrer Kürze wären sie unverständlich gewesen für einen zufälligen Leser.

Je mehr Details sich anhäuften auf den weißen Seiten, selbst wenn sie konfus wirkten, desto größer wäre für ihn nachher die Aussicht — davon war er überzeugt —, Klarheit in die Sache zu bringen. Und der scheinbar nichtige Charakter all dessen durfte ihn nicht entmutigen.

Sein Philosophielehrer hatte ihm einst erklärt, dass die verschiedenen Abschnitte eines Lebens — Kindheit, Jugend, reifes Alter, Greisentum — auch mehreren aufeinanderfolgenden Toden entsprechen. Dasselbe galt für die Erinnerungssplitter, die er so rasch wie möglich aufzuschreiben versuchte: Bilder aus einem Abschnitt seines Lebens, die er im Zeitraffer vorüberziehen sah, bevor sie endgültig ins Vergessen sanken.

Chevreuse. Der Name würde vielleicht andere Namen anziehen, wie ein Magnet. Bosmans sagte leise »Chevreuse« vor sich hin. Und wenn er den Faden in der Hand hielt, der ihm erlaubte, eine ganze Spule voll zu kriegen? Doch warum Chevreuse? Es gab natürlich die Herzogin von Chevreuse, die in den Memoiren des Kardinal de Retz auftauchte, lange Zeit eines seiner Lieblingsbücher. An einem Januarsonntag, in jenen fernen Jahren, als er aus einem überfüllten Zug gestiegen war, der aus der Normandie kam, da hatte er auf der Sitzbank im Abteil den Band aus Bibelpapier und mit weißem Umschlag liegenlassen, und er wusste, über diesen Verlust würde er sich nie hinwegtrösten. Am nächsten Morgen hatte er sich aufgemacht zur Gare Saint-Lazare und war durch die Schalterhalle geirrt, durch die Ladenpassage, und schließlich hatte er das Fundbüro entdeckt. Der Mann hinterm Tresen hatte ihm sofort den Band mit den Memoiren des Kardinal de Retz ausgehändigt, unversehrt, mit dem gut sichtbaren roten Lesezeichen an der Stelle, wo er seine Lektüre unterbrochen hatte, tags zuvor im Zug.

Beim Verlassen des Bahnhofs hatte er das Buch tief in eine seiner Manteltaschen gestopft, aus Furcht, er könnte es noch einmal verlieren. Ein sonniger Januarmorgen. Die Erde drehte sich weiter, und die Passanten ringsherum gingen ihrer Wege mit ruhigem Schritt — wenigstens in seiner Erinnerung. Hinter der Église de la Trinité kam er zu den von ihm so genannten »ersten Steigungen«. Jetzt musste er nur noch den gewohnten Straßen folgen, hinauf in Richtung Pigalle und Montmartre.

*

In einer der Gassen des Montmartre jener Jahre war ihm eines Nachmittags Serge Latour über den Weg gelaufen, der Sänger von Douce dame. Diese Begegnung — kaum ein paar Sekunden — war in seinem Leben ein so winziges Detail, dass Bosmans sich wunderte, wieso es ihm in den Sinn kam.

Warum bloß Serge Latour? Er hatte ihn nicht angesprochen, und was hätte er ihm auch sagen sollen? Dass eine Freundin, »Totenkopf«, sein Lied Douce dame oft vor sich hin trällerte? Und ihn fragen, ob er sich beim Titel des Liedes nicht hatte anregen lassen von einem Dichter und Komponisten des Mittelalters namens Guillaume de Machaut? Drei Singles bei Polydor im selben Jahr. Er wusste nicht, was später aus Serge Latour geworden war. Kurz nach dieser flüchtigen Begegnung hatte er von irgendwem in Montmartre gehört, Serge Latour »reise durch Marokko, Spanien und Ibiza«, wie es damals ganz üblich war. Und diese Bemerkung, im Gewirr irgendwelcher Unterhaltungen, war für alle Ewigkeit in der Schwebe geblieben, und er hörte sie heute, nach fünfzig Jahren, noch immer so deutlich wie an jenem Abend, ausgesprochen von einer Stimme, die für alle Zeit anonym bleiben würde. Ja, was mochte wohl geworden sein aus Serge Latour? Und aus dieser seltsamen Freundin mit dem Spitznamen »Totenkopf«? Dachte er an diese zwei Menschen, dann spürte er sofort den Staub — oder vielmehr den Geruch der Zeit.

Gleich hinter Chevreuse eine Biegung, dann eine gerade Straße, von Bäumen gesäumt. Nach wenigen Kilometern ein Dorf, und kurz darauf fuhr man an Bahngleisen entlang. Doch es kamen nur ganz wenig Züge hier durch. Einer frühmorgens gegen fünf, der hieß »Rosenzug«, weil er diese Blumensorte aus den Gärtnereien der Umgebung nach Paris beförderte; der andere Zug pünktlich um einundzwanzig Uhr fünfzehn. Der kleine Bahnhof wirkte verlassen. Rechts, gegenüber vom Bahnhof, führte eine leicht abschüssige Allee entlang einer Brache bis zur Rue du Docteur-Kurzenne. Ein Stückchen weiter links in dieser Straße die Fassade des Hauses.

Die Entfernungen auf der alten Generalstabskarte stimmten nicht überein mit den Erinnerungen, die Bosmans sich bewahrt hatte. In diesen Erinnerungen war Chevreuse nicht so weit weg von der Rue du Docteur-Kurzenne wie auf der Karte. Hinter dem Haus in der Rue du Docteur-Kurzenne drei terrassenförmige Gärten. In der Umfassungsmauer des höchstgelegenen Gartens eine rostige Eisentür, die hinausführte auf eine Lichtung, dahinter Ländereien, von denen es hieß, sie gehörten zum Schloss Mauvières, ein paar Kilometer entfernt. Und oft war Bosmans ziemlich weit vorgedrungen, über Waldpfade, ohne freilich das Schloss jemals zu erreichen.

Wenn die Generalstabskarte seiner Erinnerung von den Örtlichkeiten widersprach, lag es wahrscheinlich daran, dass er sich mehrmals in der Gegend aufgehalten hatte, in verschiedenen Abschnitten seines Lebens, und die Zeit hatte schließlich die Entfernungen verkürzt. Außerdem hieß es, der Jagdaufseher von Schloss Mauvières habe einstmals in dem Haus der Rue du Docteur-Kurzenne gewohnt. Und darum war dieses Haus immer schon für ihn so etwas gewesen wie ein Grenzposten, und die Rue du Docteur-Kurzenne bildete den Saum eines Landguts oder vielmehr eines Fürstentums aus Wäldern, Teichen, Hainen, Parkanlagen namens: Chevreuse. Er versuchte auf seine Art etwas zu rekonstruieren wie eine Generalstabskarte, jedoch mit Lücken, Leerstellen, Dörfern und kleinen Straßen, die es nicht mehr gab. Lang zurückliegende Fahrten kamen ihm allmählich wieder ins Gedächtnis. Besonders eine davon stand ihm recht deutlich vor Augen. Eine Fahrt im Auto, deren Ausgangspunkt eine Wohnung unweit der Porte d’Auteuil war. Ein paar Leute trafen sich dort regelmäßig am späten Nachmittag und oft auch in der Nacht. Ständig wohnten dort offenbar nur ein Mann um die vierzig, ein kleiner Junge, der wohl sein Sohn war, und ein junges Mädchen, das als Gouvernante arbeitete. Sie und das Kind hatten das Zimmer ganz hinten in der Wohnung.

Rund fünfzehn Jahre später hatte Bosmans geglaubt, diesen Mann wiederzuerkennen, etwas gealtert, allein, durch die Scheibe eines Wimpy-Restaurants an den Champs-Élysées. Er hatte das Restaurant betreten und sich neben ihn gesetzt, wie man das in Selbstbedienungsketten oft machte. Er hätte ihn gern um die eine oder andere Erklärung gebeten, doch plötzlich ließ ihn sein Gedächtnis im Stich: Er wusste den Namen nicht mehr. Außerdem war eine Anspielung auf die Wohnung in Auteuil und die Leute, denen Bosmans dort einstmals begegnet war, diesem Mann womöglich unangenehm. Und der Junge, was war aus ihm geworden? Und das Mädchen mit dem Namen Kim? An jenem Abend im Wimpy hatte ein Detail seine Aufmerksamkeit geweckt: Der Mann trug am Handgelenk eine große Uhr mit vielen Zifferblättern, von denen Bosmans seinen Blick nicht losreißen konnte. Der andere merkte es und drückte einen Knopf, unten an der Uhr, was ein leises Klingeln auslöste, wahrscheinlich ein Wecksignal. Er lächelte ihn an, und sein Lächeln, diese Uhr und das Klingeln riefen in ihm eine Kindheitserinnerung wach.

Es war »Totenkopf«, die ihn eines Abends mitgeschleppt hatte zu der Wohnung in Auteuil. Diesen Spitznamen, den sie schon trug, bevor er sie kennenlernte, hatte sie wegen ihrer Kaltblütigkeit bekommen und weil sie oft einsilbig war und verschlossen.

Mit ihrer sanften Stimme sagte sie manchmal, wenn sie sich vorstellte: »Sie dürfen ›Totenkopf‹ zu mir sagen.« Ihr richtiger Vorname war Camille. Und jedes Mal, wenn er an sie dachte, zögerte Bosmans, ob er Camille schreiben sollte oder »Totenkopf«. Camille war ihm lieber.

Anfangs durchschaute er nicht ganz, was all die Leute, die er in der Wohnung in Auteuil sah, miteinander verband. Fanden sie dort zusammen über das »Netz«, eine stillgelegte Telefonnummer, durch die verschiedene Stimmen unter Pseudonym Verabredungen trafen? Camille, genannt »Totenkopf«, hatte ihm von diesem »Netz« erzählt und von der stillgelegten Telefonnummer AUTEUIL15.28, und dank eines merkwürdigen Zufalls, hatte sie gesagt, war es die ehemalige Nummer der Wohnung. Und diese schien, trotz der verstohlenen Gegenwart des Kindes und des jungen Mädchens in dem hinteren Zimmer, nicht richtig bewohnt, sondern vielmehr als Treffpunkt zu dienen und als Ort für kurze Begegnungen.

Unter den im Salon versammelten Personen, einem Raum mit drei großen, sehr niedrigen Diwanen, von dem eine Doppeltür seltsamerweise in ein Badezimmer führte, unter diesen Personen, die nur noch Schatten waren in seiner Erinnerung, wegen des immer viel zu schwachen Lichts in der Wohnung, hatte Camille, genannt »Totenkopf«, ihm eine Freundin vorgestellt, eine gewisse Martine Hayward, die sie offenbar seit langem kannte.

Ein sommerlicher Spätnachmittag, und der Tag würde andauern bis abends um zehn. Sie hatten alle drei die Wohnung verlassen. Ein Wagen stand ein Stück weiter oben in der Straße geparkt, der Wagen von Martine Hayward. »Totenkopf« hatte sich ans Steuer gesetzt. Dieser Spitzname passte nicht wirklich zu ihr, doch sie wollte ihn gern behalten, denn sie hatte Sinn für schwarzen Humor.

»Es stört Sie doch nicht, wenn wir ins Chevreuse-Tal fahren?«, hatte Martine Hayward zu ihm gesagt, die auf der Rückbank neben ihm saß. »Nur einmal hin und zurück.«

Während der Fahrt hatte Camille die meiste Zeit geschwiegen.

»Wir sind jetzt im Chevreuse-Tal«, hatte Camille gesagt, an jenem Spätnachmittag, und sich zu ihm umgedreht. Die Landschaft war hier ganz anders, als hätte man eine Grenze passiert. Und später verspürte er jedes Mal, wenn er dieselbe Strecke zurücklegte, von Paris und der Porte d’Auteuil kommend, dasselbe Gefühl: nämlich hineinzugleiten in eine kühle Zone, vom Laub der Bäume geschützt vor der Sonne. Und im Winter glaubte man, denn im Chevreuse-Tal lag mehr Schnee als anderswo, man folge kleinen Bergstraßen.

Ein paar Kilometer vor Chevreuse war Camille, genannt »Totenkopf«, in einen Waldweg gebogen, an dessen Zufahrt ein Holzschild stand mit halb verwaschener Aufschrift: »Auberge du Moulin-de-Vert-Cœur«. Ein Pfeil zeigte die Richtung.

Sie hatte das Auto vor einem großen Fachwerkhaus geparkt. Seitlich der Speisesaal eines Restaurants mit Panoramafenstern. Martine Hayward war ausgestiegen.

»Ich brauche nur einen Augenblick.«

Sie waren eine Weile sitzen geblieben, er und Camille. Und als Martine Hayward nicht gleich wiederkam, waren sie ebenfalls ausgestiegen.

Camille hatte ihm erklärt, Martine Haywards Ehemann habe diesen Landgasthof geführt, die Auberge du Moulin-de-Vert-Cœur, aber der Laden sei eingegangen — zu viele bürokratische Schikanen und Instandhaltungskosten, Schulden, nicht genug Gäste, und sowieso habe Martine Haywards Mann nichts von einem Hotelier oder professionellen Gastwirt. Zuerst musste man das Hotel schließen, wenig später auch das Restaurant. Nur noch ein baufälliges Haus, das aussah wie eine normannische Villa, verloren im tiefsten Chevreuse-Tal. Eine Scheibe fehlte in einem der Panoramafenster des Restaurants.

Bosmans hatte Camille ausgefragt nach diesem Monsieur Hayward, doch sie antwortete nur ausweichend. Zurzeit sei er im Ausland, komme aber bald zurück nach Frankreich. Während seiner Abwesenheit sei es schwierig für Martine Hayward, allein in diesem großen, verlassenen Haus zu leben. Camille hatte angeboten, sie könnte zu ihr ziehen in eins der fünfzehn leerstehenden Zimmer, bis zur Rückkehr ihres Mannes, doch inzwischen hatte Martine Hayward ein Häuschen zur Miete gefunden, ganz in der Nähe.

Sie erschien wieder, in der Hand einen schwarzen Lederkoffer, und sie stellte den Koffer auf die Außentreppe, um die Eingangstür aus massivem Holz abzuschließen, als wäre sie der letzte Gast, mit dem Auftrag, die Auberge du Moulin-de-Vert-Cœur für immer dichtzumachen.

*

Camille setzte sich wieder ans Steuer. Und Martine Hayward auf die Rückbank, neben ihn.

»Jetzt zeige ich dir den Weg«, hatte sie gesagt.

Sie mussten zurück auf die Straße und in östlicher Richtung weiterfahren bis nach Toussus-le-Noble. Plötzlich schien Bosmans dieser Name vertraut, ohne dass er recht wusste warum. Als sie am Flugplatz vorbeikamen, erhellte sich alles. Der Name »Toussus-le-Noble« rief ihm eine Flugschau ins Gedächtnis, die er eines Sonntags erlebt hatte, in seiner Kindheit. Oder war es in Villacoublay gewesen, dem anderen Flugplatz, ganz in der Nähe? Er hatte keine genaue Karte der Region im Kopf, aber diese beiden Flugplätze bildeten für ihn die Grenze des Chevreuse-Tals. Außerdem war nach Toussus-le-Noble das Licht nicht mehr dasselbe, man gelangte in eine andere Region, und das Chevreuse-Tal war ihr Hinterland.

»Noch ein kleiner Umweg, und dann fahren wir zurück nach Paris«, hatte Martine Hayward gesagt, wie um sich bei ihm zu entschuldigen.

Sie kamen nach Buc. Bosmans spürte einen Stich im Herzen. Dieser Name, den er vergessen hatte, dieser so kurze und so helle Name, man hätte meinen können, er reiße ihn jäh aus einem langen Schlaf. Er war versucht, ihnen zu gestehen, dass er hier in der Gegend gelebt hatte, aber das ging sie nichts an.

Bei der Einfahrt ins nächste Dorf erkannte Bosmans sofort das Rathaus und den Bahnübergang. »Totenkopf« passierte den Bahnübergang und nahm die große Straße bis zum Kirchplatz. Sie hielt vor der Kirche, wo er Chorknabe gewesen war, in einer Weihnachtsnacht. Martine Hayward sagte, es sei besser, umzukehren und den Gleisen zu folgen. Dann würde man den Bahnhof schon finden und auch den Weg gegenüber, wie man es ihr erklärt hatte.

Der öffentliche Park zog sich an den Schienen entlang. Die Betonabsperrungen und das Gebüsch, die ihn von der Straße trennten, hatten sich nicht verändert. Bosmans fühlte sich fünfzehn Jahre zurückversetzt, als würde eine bestimmte Zeit seiner Kindheit von neuem beginnen. Allerdings war der öffentliche Park viel kleiner als der in seiner Erinnerung, wo er zum Spielen hingebracht wurde während der Ferien, im Sommer, bei Einbruch der Nacht. Auch der Bahnhof erschien ihm winzig, und die bröcklige Fassade machte ihm deutlich, wie viel Zeit vergangen war.

Camille lenkte den Wagen in die leicht abschüssige Allee. Jetzt spürte er sein Herz pochen. Die Brache linker Hand verdiente noch immer, dass man sie »Urwald« nannte, wie damals, als er sich mit seinen Kameraden von der Jeanne-d’Arc-Schule so tief hineinwagte, bis alle sich verirrten. Die Vegetation war inzwischen noch üppiger.

Sie parkte den Wagen an der Ecke Rue du Docteur-Kurzenne. Eine Frau in schwarzer Bluse wartete vor der Eisentür und dem Gartenzaun der Nummer 38. Martine Hayward winkte und ging zu ihr. Die Frau hatte eine Mappe unterm Arm. Camille stieg nun ebenfalls aus dem Wagen, er dagegen blieb auf der Rückbank sitzen. Als er jedoch sah, dass die Frau einen Schlüsselbund aus ihrer Handtasche holte und die Eisentür aufschloss, gab er sich einen Ruck. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Er wiederholte insgeheim diesen Ausdruck, »sich Gewissheit verschaffen«, um zu verstehen, was er wirklich bedeutete, und vielleicht auch, um sich Mut zu machen.

Martine Hayward stellte ihn der Frau in schwarzer Bluse vor: »Ein Freund, Jean Bosmans«, und Camille drehte sich lächelnd zu ihm: »Das ist die Dame vom Maklerbüro.« Aber nach so vielen Jahren vor diesem Haus zu stehen verursachte ihm ein leichtes Schwindelgefühl.