Hochzeitsreise - Patrick Modiano - E-Book

Hochzeitsreise E-Book

Patrick Modiano

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Beschreibung

Der erfolgreiche Dokumentarfilmer Jean reist nach Paris. Freunde und Familie läßt er in dem Glauben, er sei nach Brasilien aufgebrochen. Doch in Wahrheit beginnt er eine Recherche. In Wohnungen, Cafés und Straßen sucht er nach Indizien und Relikten einer Frau, die ihn nie losgelassen hat. Jahre zuvor war er ihr sowie ihrem Ehemann Rigaud zum ersten Mal an der Côte d’Azur begegnet. Später trafen sie sich in Paris wieder, und wieder ein paar Jahre später erfuhr Jean in einem Mailänder Hotel von ihrem Selbstmord. In Paris nun bezieht er eine Wohnung, von der er glaubt, Ingrid habe sie mit Rigaud bewohnt. Er beginnt, anhand von winzigen Details Ingrids Geschichte niederzuschreiben, in all ihren »disparaten Einzelheiten, die von einem unsichtbaren Faden zusammengehalten werden, einem Faden, der zu reißen droht und den man den Lauf eines Lebens nennt«.

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Der erfolgreiche Dokumentarfilmer Jean reist nach Paris. Freunde und Familie läßt er in dem Glauben, er sei nach Brasilien aufgebrochen. Doch in Wahrheit beginnt er eine Recherche. In Wohnungen, Cafés und Straßen sucht er nach Indizien und Relikten einer Frau, die ihn nie losgelassen hat. Jahre zuvor war er ihr sowie ihrem Ehemann Rigaud zum ersten Mal an der Côte d'Azur begegnet. Später trafen sie sich in Paris wieder, und wieder ein paar Jahre später erfuhr Jean in einem Mailänder Hotel von ihrem Selbstmord.

 In Paris nun bezieht er eine Wohnung, von der er glaubt, Ingrid habe sie mit Rigaud bewohnt. Er beginnt, anhand von winzigen Details Ingrids Geschichte niederzuschreiben, in all ihren »disparaten Einzelheiten, die von einem unsichtbaren Faden zusammengehalten werden, einem Faden, der zu reißen droht und den man den Lauf eines Lebens nennt«.

Patrick Modiano, geboren 1945 bei Paris als Sohn einer Schauspielerin und eines jüdischen Emigranten, publizierte bereits im Alter von 22 Jahren seinen ersten Roman. 1978 erhielt er für Die Gasse der dunklen Läden den Prix Goncourt. 2014 wurde Modiano der Nobelpreis verliehen.

 Im Suhrkamp Verlag sind von ihm u. ‌a. erschienen: Eine Jugend (st 4615), Villa Triste (st 4616), Die Gasse der dunklen Läden (st 4617), Pariser Trilogie (st 4618), Straferlaß (st 4619) sowie Sonntage im August

Patrick ModianoHochzeitsreise

Roman

Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel

Voyage de noces

bei Gallimard.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4621

© Suhrkamp Verlag Berlin 1991

© Éditions Gallimard, 1990

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: IMAGNO/Franz Hubmann

FÜR ROBERT GALLIMARD

Die Sommertage werden wiederkehren, aber die Hitze wird nie mehr so drückend sein und die Straßen nie mehr so leer wie an jenem Dienstag in Mailand. Es war der Tag nach dem 15. August. Ich hatte meinen Koffer zur Aufbewahrung gegeben, und als ich aus dem Bahnhof trat, hatte ich einen Augenblick gezögert: unter dieser bleiernen Sonne konnte man nicht durch die Stadt gehen. Fünf Uhr nachmittags. Vier Stunden Warten auf den Zug nach Paris. Ich mußte eine Zuflucht finden, und meine Schritte haben mich einige hundert Meter über eine Straße am Bahnhof entlang hinaus geführt bis zu einem Hotel, dessen imposante Fassade mir aufgefallen war.

Die Wandelgänge aus hellem Marmor boten Schutz vor der Sonne, und in der Kühle und im Dämmerlicht der Bar war man wie auf dem Grund eines Brunnens. Heute erinnert mich die Bar an einen Brunnen und das Hotel an einen riesigen Bunker, doch damals gab ich mich damit zufrieden, mit einem Strohhalm eine Mischung aus Grenadine und Orangensaft zu trinken. Ich hörte dem Barmann zu, dessen Gesicht meinem Gedächtnis entschwunden ist. Er sprach mit einem anderen Gast, und ich wäre außerstande, das Aussehen und die Kleidung dieses Mannes zu beschreiben. Nur eines hat in meiner Erinnerung von ihm überdauert: seine Art, die Unterhaltung durch ein »Mah« zu interpunktieren, das klang wie ein trauriges Bellen.

Zwei Tage zuvor, am Vorabend des 15. August, hatte sich in einem Zimmer des Hotels eine Frau umgebracht. Der Barmann erklärte, ein Krankenwagen sei gerufen worden, aber es habe nichts genützt. Am Nachmittag hatte er die Frau gesehen. Sie war an die Bar gekommen. Sie war allein. Nach dem Selbstmord hatte die Polizei ihn, den Barmann, verhört. Er hatte ihnen nicht viele Einzelheiten liefern können. Eine Brünette. Der Hoteldirektor hatte eine gewisse Erleichterung empfunden, denn die Sache war dank der zu dieser Jahreszeit wenig zahlreichen Gäste unbemerkt geblieben. Im Corriere hatte an diesem Morgen eine Meldung gestanden. Eine Französin. Was wollte sie im August in Mailand? Sie hatten sich zu mir umgedreht, als erwarteten sie, daß ich ihnen die Antwort gebe. Dann hatte der Barmann auf französisch zu mir gesagt:

»Im August darf man nicht hierher kommen. Im August ist in Mailand alles geschlossen.«

Der Andere hatte mit seinem traurigen »Mah« beigepflichtet. Und beide hatten mich mit mißbilligendem Blick betrachtet, um mich auch recht spüren zu lassen, daß ich eine Ungeschicklichkeit, ja, mehr als eine Ungeschicklichkeit, einen ziemlich schweren Fehler begangen hatte, indem ich im August in Mailand gestrandet war.

»Sie können es überprüfen«, hatte der Barmann zu mir gesagt. »Nicht ein einziges Geschäft offen heute in Mailand.«

Ich habe mich in einem der gelben Taxis wiedergefunden, die vor dem Hotel standen. Der Chauffeur, der das Zögern des Touristen bemerkte, hat vorgeschlagen, mich zum Domplatz zu fahren.

Die Straßen waren leer und alle Geschäfte geschlossen. Ich habe mich gefragt, ob die Frau, von der sie vorhin sprachen, auch in einem gelben Taxi durch Mailand gefahren war, bevor sie ins Hotel zurückgekehrt war und sich umgebracht hatte. Ich glaube nicht, daß ich damals gedacht habe, das Schauspiel der ausgestorbenen Stadt könnte sie dazu gebracht haben, ihren Entschluß zu fassen. Im Gegenteil, wenn ich einen Begriff suche, der den Eindruck wiedergibt, den Mailand an diesem 16. August auf mich machte, dann fällt mir sofort ein: Offene Stadt. Die Stadt, so schien mir, gönnte sich eine Pause, und die Bewegung und der Lärm würden von neuem beginnen, da war ich sicher.

Auf dem Domplatz zu Füßen der Kathedrale irrten Touristen mit Mützen umher, und eine große Buchhandlung am Eingang zur Galleria Vittorio Emmanuele war erleuchtet. Ich war der einzige Kunde und blätterte unterm elektrischen Licht in den Büchern. War sie am Tag vor dem 15. August in diese Buchhandlung gekommen? Ich hatte Lust, den Mann zu fragen, der im Hintergrund der Buchhandlung beim Regal mit den Kunstbänden an einem Schreibtisch saß. Aber ich wußte fast nichts über sie, außer daß sie brünett und Französin war.

Ich bin die Galleria Vittorio Emmanuele entlanggegangen. Alles, was es in Mailand an Lebendigem gab, hatte sich dorthin geflüchtet, um den mörderischen Sonnenstrahlen zu entkommen: Kinder um einen Eisverkäufer herum, Japaner und Deutsche, Süditaliener, die die Stadt zum ersten Mal besuchten. Drei Tage zuvor wären wir uns vielleicht in der Galleria begegnet, diese Frau und ich, und da wir beide Franzosen waren, hätten wir ein Gespräch angeknüpft.

Noch zwei Stunden bis zum Zug nach Paris. Erneut bin ich in eins der gelben Taxis gestiegen, die in einer Reihe auf dem Domplatz warteten, und habe dem Fahrer den Namen des Hotels genannt. Es wurde Abend. Die Straßen, die Gärten, die Trambahnen dieser fremden Stadt und die Hitze, die einen noch mehr isoliert, all das stimmt heute für mich mit dem Selbstmord dieser Frau überein. Doch damals im Taxi sagte ich mir, daß es ein unglücklicher Zufall gewesen sei.

Der Barmann war allein. Wieder hat er mir eine Mischung aus Grenadine und Orangensaft serviert.

»Na, haben Sie's gesehen … Die Geschäfte in Mailand sind geschlossen …«

Ich habe ihn gefragt, ob die Frau, von der er vorhin gesprochen hatte und von der er respektvoll und hochtrabend sagte, sie habe »ihrem Leben ein Ende bereitet«, schon lange vorher ins Hotel gekommen sei.

»Nein, nein … Drei Tage, bevor sie ihrem Leben ein Ende bereitet hat …«

»Woher kam sie?«

»Aus Paris. Sie wollte Freunde treffen, die in Ferien im Süden waren. Auf Capri … Die Polizei hat das gesagt … Morgen soll jemand von Capri kommen, um all die Angelegenheiten zu regeln.«

All die Angelegenheiten regeln. Was hatten diese trostlosen Worte mit dem blauen Himmel, den Meeresgrotten, der sommerlichen Leichtigkeit gemein, die Capri beschwor?

»Eine sehr hübsche Frau … Hier hat sie gesessen …« Er zeigte auf einen Tisch ganz hinten.

»Ich habe ihr das gleiche serviert wie Ihnen …«

Mein Zug nach Paris fuhr jetzt ab. Draußen war es dunkel, doch die Hitze war noch genauso erstickend wie mitten am Nachmittag. Ich überquerte die Straße, den Blick auf die monumentale Fassade des Bahnhofs gerichtet. In der riesigen Halle der Gepäckaufbewahrung habe ich alle meine Taschen nach dem Zettel durchsucht, der mich wieder in den Besitz meines Koffers bringen sollte.

Ich hatte den Corriere della Sera gekauft. Ich wollte die der Frau gewidmete Meldung lesen. Diese Frau war sicher auf dem Bahnsteig, auf dem ich mich jetzt befand, aus Paris eingetroffen, und ich würde den umgekehrten Weg zurücklegen, fünf Tage später … Welch sonderbare Idee, hierher zu kommen und sich umzubringen, wenn Freunde auf Capri warteten … Es gab vielleicht ein Motiv für diese Handlung, das mir für immer verborgen bleiben würde.

Mailand, ich bin letzte Woche wieder dort gewesen, aber ich habe den Flughafen nicht verlassen. Es war nicht mehr wie vor achtzehn Jahren. Ja: achtzehn Jahre, ich habe die Jahre an den Fingern abgezählt. Diesmal habe ich kein gelbes Taxi genommen, um mich zum Domplatz und zur Galleria Vittorio Emmanuele fahren zu lassen. Es regnete, ein schwerer Juniregen. Kaum eine Stunde Wartezeit, und ich würde in ein Flugzeug steigen, das mich nach Paris zurückbrächte.

Ich war Transitreisender und saß in einer großen verglasten Halle des Mailänder Flughafens. Ich habe an jenen Tag vor achtzehn Jahren gedacht, und zum ersten Mal seit dieser ganzen Zeit hat die Frau, die »ihrem Leben ein Ende bereitet hat« – wie der Barmann sagte –, wirklich angefangen, mich zu beschäftigen.

Die Flugkarte nach Mailand, hin und zurück, hatte ich am Vortag aufs Geratewohl in einem Reisebüro der Rue Jouffroy gekauft. Zu Hause hatte ich sie ganz unten in einem meiner Koffer versteckt, wegen Annette, meiner Frau. Mailand. Ich hatte die Stadt auf gut Glück unter drei anderen gewählt: Wien, Athen und Lissabon. Das Ziel spielte keine Rolle. Das einzige Problem war, ein Flugzeug zu wählen, das zur selben Zeit abfliegen würde wie das, mit dem ich nach Rio de Janeiro fliegen sollte.

Sie hatten mich zum Flughafen begleitet: Annette, Wetzel und Cavanaugh. Sie legten diese falsche Munterkeit an den Tag, die ich zu Beginn unserer Expeditionen oft bemerkt hatte. Ich bin nie gern verreist, und an diesem Tag noch weniger als sonst. Ich hatte Lust, ihnen zu sagen, daß wir über das Alter hinaus seien, in dem man diesen Beruf ausübt, der mit dem altmodischen Namen »Forschungsreisender« bezeichnet werden muß. Würden wir noch lange unsere Dokumentarfilme im Pleyel-Saal oder in immer seltener werdenden Provinzkinos vorführen? Wir hatten, als wir sehr jung waren, dem Beispiel unserer Vorfahren folgen wollen, doch es war schon zu spät für uns. Es gab kein unberührtes Land mehr zu erforschen.

»Ruf uns an, sobald du in Rio bist …«, hat Wetzel gesagt.

Es handelte sich um eine Routineexpedition: ein neuer Dokumentarfilm, den ich drehen sollte und der wie so viele andere Auf den Spuren von Colonel Fawcett heißen würde, ein Vorwand, um einige Dörfer am Rand des Mato Grosso zu filmen. Diesmal hatte ich beschlossen, daß man mich in Brasilien nicht zu sehen bekäme, aber ich wagte nicht, es Annette und den anderen zu gestehen. Sie hätten nichts begriffen. Und außerdem wartete Annette auf meine Abreise, um mit Cavanaugh allein zu sein.

»Umarme die brasilianischen Freunde«, hat Cavanaugh gesagt.

Er spielte auf das Technikerteam an, das schon abgereist war und mich auf der anderen Seite des Ozeans im Hotel Souza in Rio de Janeiro erwartete. Nun, sie könnten lange auf mich warten … Nach achtundvierzig Stunden käme allmählich eine leichte Unruhe über sie. Sie würden in Paris anrufen. Annette würde das Telefon abheben, Cavanaugh nähme den Hörer. Verschwunden, ja, ich war verschwunden. Wie Colonel Fawcett. Doch mit dem Unterschied: ich hatte mich schon zu Beginn der Expedition verflüchtigt, was sie noch mehr beunruhigte, denn sie würden feststellen, daß mein Platz im Flugzeug nach Rio leer geblieben war.

Ich hatte ihnen gesagt, daß es mir lieber wäre, wenn sie mich nicht bis zum Abflug begleiteten, und ich hatte mich zu der kleinen Gruppe umgedreht mit dem Gedanken, daß ich sie nie mehr im Leben wiedersehen würde. Wetzel und Cavanaugh gaben sich frohgemut wegen unseres Berufs, der nicht wirklich einer war, sondern eine Weise, den Kindheitsträumen nachzujagen. Würden wir noch lange alte junge Leute bleiben? Sie schwenkten die Arme zum Zeichen des Abschieds. Annette hatte mich gerührt. Sie und ich, wir waren genau gleich alt, und sie war eine dieser etwas verblühten Däninnen geworden, die mich anzogen, als ich zwanzig war. Damals waren sie älter als ich, und ich liebte ihre beschützende Sanftmut.

Ich wartete, bis sie die Halle verlassen hatten, um zum Abflug nach Mailand zu gehen. Ich hätte sofort heimlich nach Paris zurückkehren können. Doch ich verspürte das Bedürfnis, zunächst einen Abstand zwischen sie und mich zu bringen.

Einen Augenblick lang war ich in dieser Wartehalle für Transitreisende versucht, aus dem Flughafen hinauszugehen und dem gleichen Weg durch die Straßen Mailands zu folgen wie damals. Doch es war unnötig. Sie war nur zufällig zum Sterben hierhergekommen. Ich mußte ihre Spuren in Paris finden.

Auf dem Rückflug überließ ich mich einem Gefühl der Euphorie, wie ich es seit meiner ersten Reise mit fünfundzwanzig Jahren zu den pazifischen Inseln nicht mehr erlebt hatte. Danach hatte es noch viele andere Reisen gegeben. Das Beispiel von Stanley, Savorgnan, Brazza und Alain Gerbault, von deren Taten ich in meiner Kindheit gelesen hatte? Vor allem das Bedürfnis zu fliehen. Ich fühlte es in mir, heftiger denn je. Hier, in diesem Flugzeug, das mich nach Paris zurückbrachte, hatte ich den Eindruck, weiter noch zu fliehen, als wenn ich, wie ich es hätte sollen, in das Flugzeug nach Rio gestiegen wäre.

Ich kenne zahlreiche Hotels in den Randbezirken von Paris, und ich hatte beschlossen, sie regelmäßig zu wechseln. Das erste, in dem ich ein Zimmer gemietet habe, war das Hotel Dodds an der Porte Dorée. Dort lief ich keine Gefahr, Annette zu begegnen. Nach meiner Abreise hatte Cavanaugh sie sicherlich mit in seine Wohnung in der Avenue Duquesne genommen. Vielleicht hatte sie von meinem Verschwinden nicht gleich erfahren, denn niemand – nicht einmal Wetzel – wußte, daß sie die Geliebte von Cavanaugh war, und das Telefon wird bei uns, in der Cité Véron, vergebens geläutet haben. Und dann, nach einigen Tagen ihres Honigmondes, war sie schließlich doch auf einen Sprung in die Cité Véron gegangen, wo sie – wie ich vermute – ein Telegramm erwartete: »Team Rio sehr besorgt. Jean nicht im Flugzeug vom 18. Dringend Hotel Souza anrufen.« Und Cavanaugh war zu ihr in die Cité Véron gekommen, um ihre Beklommenheit zu teilen.

Ich fühle mich nicht im geringsten beklommen. Sondern leicht, sehr leicht. Und ich lehne es ab, daß all dies eine dramatische Färbung annimmt: ich bin jetzt zu alt. Sobald mir das Bargeld ausgeht, werde ich versuchen, mich mit Annette zu verständigen. Ein Anruf in der Cité Véron wäre unklug wegen Cavanaughs Anwesenheit. Doch ich werde schon eine Möglichkeit finden, mich insgeheim mit Annette zu verabreden. Und ich werde mich ihres Schweigens versichern. Dann ist es an ihr, die zu entmutigen, die sich gern auf die Suche nach mir machen würden. Sie ist recht geschickt darin, Spuren zu verwischen und sie so gut zu verwischen, daß es sein wird, als hätte es mich nie gegeben.

Das Wetter ist heute schön an der Porte Dorée. Doch die Hitze ist nicht so drückend, und die Straßen sind nicht so leer wie in Mailand, an jenem Tag vor achtzehn Jahren. Dort drüben, auf der anderen Seite des Boulevard Soult und des Platzes mit dem Springbrunnen drängen sich Gruppen von Touristen am Eingang des Zoos, und andere steigen die Stufen des ehemaligen Kolonialmuseums hinauf. Es hat eine Rolle gespielt in unserem Leben, dieses Museum, das wir als Kinder besuchten, Cavanaugh, Wetzel und ich, und auch dieser Zoo. Wir haben dort von fernen Ländern und Expeditionen ohne Wiederkehr geträumt.

Nun bin ich an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Auch ich werde gleich eine Eintrittskarte kaufen, um den Zoo zu besuchen. Bis in ein paar Wochen wird bestimmt in irgendeiner Zeitung ein kleiner Artikel erscheinen, der das Verschwinden von Jean B. bekanntgeben wird. Annette wird meinen Anweisungen folgen und die Leute glauben machen, daß ich mich auf meiner letzten Brasilienreise in nichts aufgelöst habe. Die Zeit wird vergehen, und ich werde auf der Liste der verlorengegangenen Forschungsreisenden stehen, nach Fawcett und Mauffrais. Niemand wird je erraten, daß ich an den Toren von Paris gestrandet bin und daß dies das Ziel meiner Reise war.

Sie bilden sich ein, in ihren Nachrufen den Lauf eines Lebens nachzeichnen zu können. Aber sie wissen nichts. Vor achtzehn Jahren lag ich in meinem Liegewagenabteil, als ich die Meldung im Corriere della Sera las. Es gab mir einen Stich ins Herz: diese Frau, um die es ging und die ihrem Leben ein Ende bereitet hatte – wie der Barmann sich ausdrückte –, ich hatte sie gekannt. Der Zug stand lange im Bahnhof von Mailand, und ich war so aufgewühlt, daß ich mich fragte, ob ich nicht den Wagen verlassen und zum Hotel zurückkehren sollte, als hätte ich noch eine Chance, sie wiederzusehen.

Im Corriere della Sera hatten sie sich in ihrem Alter geirrt. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Sie nannten sie bei ihrem Mädchennamen, obwohl sie immer noch mit Rigaud verheiratet war. Doch auch das, wer wußte es schon, außer Rigaud, mir und den Standesbeamten? Durfte man ihnen diesen Irrtum wirklich vorwerfen und war es nicht schließlich doch richtiger, ihr den Mädchennamen gegeben zu haben, den Namen, den sie die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens trug?

Der Barmann des Hotels hatte gesagt, daß jemand käme, um »all die Angelegenheiten zu regeln«. War es Rigaud? Im Augenblick, als der Zug anfuhr, habe ich mich in Gegenwart eines Rigaud gesehen, der durch die Umstände nicht mehr der gleiche gewesen wäre, wie der vor sechs Jahren. Hätte er mich wiedererkannt? Ich hatte ihn nicht wiedergesehen, seit sie, Ingrid und er, vor sechs Jahren meinen Weg gekreuzt hatten.

Ingrid hatte ich einmal in Paris wiedergesehen. Ohne Rigaud.

Vor dem Fenster zog langsam ein stiller Vorstadtbezirk unter dem Mond vorüber. Ich war allein im Abteil. Ich hatte nur das Nachtlicht über meiner Liege angeschaltet. Es hätte genügt, wenn ich drei Tage früher nach Mailand gekommen wäre, um Ingrid in der Hotelhalle zu begegnen. Am Nachmittag, als das Taxi mich zum Domplatz fuhr, hatte ich das gleiche gedacht, doch ich wußte noch nicht, daß sie es war.

Worüber hätten wir gesprochen? Und wenn sie getan hätte, als erkenne sie mich nicht? So tun? Aber sie mußte sich schon so weit weg von allem fühlen, daß sie mich nicht einmal bemerkt hätte. Oder sie hätte vielleicht ein paar Worte aus reiner Höflichkeit mit mir gewechselt, um mich dann für immer zu verlassen.

Man kann nicht mehr über die Innentreppe den großen Felsen im Zoo erklimmen, der »Felsen der Gemsen« heißt. Er droht einzustürzen und ist in eine Art Haarnetz gehüllt. Der Beton hat stellenweise Risse, und die verrosteten Eisenstangen der Armierung kommen zum Vorschein. Doch ich war glücklich, die Giraffen und die Elefanten wiederzusehen. Samstag. Zahlreiche Touristen machten Fotos. Und Familien, die noch nicht in Ferien gefahren waren oder die nicht wegfahren würden, kamen in den Zoo von Vincennes wie zu einem Ort der Sommerfrische.

Jetzt setze ich mich auf eine Bank gegenüber dem Daumesnil-See. Später werde ich ins Hotel Dodds zurückgehen, ganz in der Nähe, zwischen diesen Mietshäusern, die an das ehemalige Kolonialmuseum angrenzen. Vom Fenster meines Zimmers aus werde ich auf den Platz und die Wasserspiele des Springbrunnens schauen. Hätte ich mir damals, als ich Ingrid und Rigaud begegnet bin, vorstellen können, daß ich nach über zwanzig Jahren Reisen in ferne Länder hier, an der Porte Dorée, stranden würde?

Bei meiner Rückkehr von Mailand in jenem Sommer wollte ich mehr über Ingrids Selbstmord wissen. Unter der Telefonnummer, die sie mir gegeben hatte,