Ein Stammbaum - Patrick Modiano - E-Book

Ein Stammbaum E-Book

Patrick Modiano

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Beschreibung

Patrick Modiano erzählt von seiner unglücklichen Kindheit: Von seiner Mutter, die 1942 nach Paris kommt um eine Schauspielkarriere zu beginnen. Von seinem Vater, der während der Okkupation als Jude verfolgt wird, ein Lebemann ist und bei zwielichtigen Geschäften immer wieder Geld verliert. Und von der Ehe der Eltern, einer einzigen Fehlentscheidung. Patrick wird in Internate abgeschoben, flieht, wird wieder eingesperrt und bricht schließlich mit seinem Vater. Er schlägt sich mit kleinen Diebstählen durch, bis er ein Buch schreibt, das auf Anhieb ein Erfolg wird. Atemlos und unsentimental legt Modiano mit dieser autobiographischen Erzählung Zeugnis ab - ein erschütterndes Buch, frei von Pathos und Selbstmitleid.

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Hanser E-Book

Patrick Modiano

Ein Stammbaum

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl

Carl Hanser Verlag

Die französische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Un pedigree bei Gallimard in Paris

ISBN978-3-446-24881-6

© 2005 Éditions Gallimard Paris, 2005

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2007/2014

Cover: Peter-Andreas Hassiepen, München unter der Verwendung eines Fotos © Gallimard

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ich wurde am 30. Juli 1945 geboren, in Boulogne-Billancourt, Allée Marguerite Nr. 11, als Kind eines Juden und einer Flämin, die sich im Paris der Okkupationszeit kennengelernt hatten. Ich schreibe Jude, ohne zu wissen, was das Wort für meinen Vater wirklich bedeutete, und weil es damals in den Personalausweisen vermerkt war. Bewegte Zeiten führen oft riskante Begegnungen herbei, so daß ich mich niemals als legitimer Sohn gefühlt habe und noch weniger als Erbe.

Meine Mutter wurde 1918 in Antwerpen geboren. Sie hat ihre Kindheit in einem Vorort dieser Stadt verbracht, zwischen Kiel und Hoboken. Ihr Vater war Arbeiter, später Landvermessergehilfe. Ihr Großvater mütterlicherseits, Louis Bogaerts, Docker. Er hat für die Statue des Dockers von Constantin Meunier, die vor dem Rathaus von Antwerpen zu sehen ist, Modell gestanden. Ich habe sein loonboek aus dem Jahr 1913 aufbewahrt, in dem er alle Schiffe verzeichnete, die er entlud: die Michigan, die Elisabethville, die Santa Anna... Er ist bei der Arbeit ums Leben gekommen, mit etwa fünfundsechzig Jahren, durch einen Sturz.

Als junges Mädchen ist meine Mutter Mitglied der Roten Falken. Sie arbeitet bei der Gasgesellschaft. Abends nimmt sie Schauspielunterricht. 1938 wird sie von dem Filmemacher und Produzenten Jan Vanderheyden engagiert, um in seinen flämischen »Komödien« mitzuspielen. Vier Filme zwischen 1938 und 1941. Sie wurde Revuegirl in Varietétheatern in Antwerpen und Brüssel, unter den Tänzerinnen und Künstlern waren viele Flüchtlinge aus Deutschland. In Antwerpen teilt sie sich mit zwei Freunden ein kleines Haus an der Horenstraat: mit einem Tänzer, Joppie Van Allen, und mit Leon Lemmens, der mehr oder weniger Sekretär und Zutreiber eines reichen Homosexuellen ist, des Barons Jean L., und während eines Bombardements in Ostende im Mai 1940 umkommt. Ihr bester Freund ist ein junger Dekorateur, Lon Landau, den sie 1942 in Brüssel wiedersehen wird, mit gelbem Stern.

Da mir andere Orientierungspunkte fehlen, versuche ich mich an die Chronologie zu halten. 1940, nach der Besetzung Belgiens, lebt sie in Brüssel. Sie ist mit einem gewissen Georges Niels verlobt, der im Alter von zwanzig Jahren ein Hotel leitet, das Canterbury. Ein Teil des Hotelrestaurants ist von den Offizieren der Propaganda-Staffel requiriert. Meine Mutter wohnt im Canterbury und begegnet dort den verschiedensten Leuten. Von all diesen Leuten weiß ich nichts. Sie arbeitet beim Radio, für das flämische Programm. Sie bekommt ein Engagement im Theater von Gent. Sie nimmt im Juni 1940 an einer Tournee durch die Häfen am Atlantik und am Ärmelkanal teil, um vor den flämischen Arbeitern der Organisation Todt zu spielen, und weiter im Norden, in Hazebrouck, vor deutschen Fliegern.

Sie war ein hübsches Mädchen mit einem harten Herzen. Ihr Verlobter hatte ihr einen Chow-Chow geschenkt, aber sie kümmerte sich nicht um ihn und überließ ihn anderen Leuten, wie sie es später auch mit mir tat. Der Chow-Chow hat sich umgebracht, indem er aus dem Fenster sprang. Dieser Hund ist auf zwei oder drei Photos zu sehen, und ich muß zugeben, daß er mich unendlich rührt und daß ich mich ihm sehr nahe fühle.

Die Eltern von Georges Niels, reiche Hoteliers aus Brüssel, wollen nicht, daß sie ihren Sohn heiratet. Sie beschließt, Belgien zu verlassen. Die Deutschen wollen sie in eine Filmschule nach Berlin schicken, doch ein junger Offizier der Propaganda-Staffel, den sie im Hôtel Canterbury kennengelernt hat, hilft ihr, den Kopf aus dieser Schlinge zu ziehen, und schickt sie nach Paris, in die Produktionsfirma Continental, die von Alfred Greven geleitet wird.

Im Juni 1942 kommt sie nach Paris. Greven läßt sie in den Studios von Billancourt vorsprechen, aber die Probe ist nicht überzeugend. Sie arbeitet in der Abteilung »Synchronisation« der Continental, schreibt niederländische Untertitel für die französischen Filme, die von dieser Gesellschaft produziert werden. Sie ist die Freundin von Aurel Bischoff, einem der Stellvertreter Grevens.

In Paris bewohnt sie ein Zimmer am Quai de Conti Nr. 15, in der Wohnung, die ein Antiquitätenhändler aus Brüssel und sein Freund Jean de B. gemietet haben, den ich mir als Jüngling vorstelle, mit einer Mutter und Schwestern in einem Schloß im tiefsten Poitou, und heimlich leidenschaftliche Briefe an Cocteau schreibend. Über Jean de B. lernt meine Mutter einen jungen Deutschen kennen, Klaus Valentiner, der einen Druckposten in einer Verwaltungsbehörde hat. Er bewohnt ein Atelier am Quai Voltaire und liest in seinen Mußestunden die letzten Romane von Evelyn Waugh. Später wurde er an die russische Front geschickt, wo er starb.

Andere Gäste in der Wohnung am Quai de Conti: ein junger Russe, Georges d’Ismaïloff, der an Tuberkulose litt, aber in den eiskalten Wintern der Okkupationszeit immer ohne Mantel aus dem Haus ging. Ein Grieche, Christos Bellos. Er hatte das letzte Passagierschiff nach Amerika verpaßt, wo er einen Freund treffen sollte. Ein Mädchen im selben Alter, Geneviève Vaudoyer. Von ihnen sind nur die Namen übriggeblieben. Die erste bürgerliche und französische Familie, in die meine Mutter eingeladen wird: die Familie von Geneviève Vaudoyer und ihrem Vater Jean-Louis Vaudoyer. Geneviève Vaudoyer machte meine Mutter mit Arletty bekannt, die am Quai de Conti im Nachbarhaus der Nr. 15 wohnt. Arletty nimmt meine Mutter unter ihre Fittiche.

Man möge mir all diese Namen nachsehen und andere, die noch folgen werden. Ich bin ein Hund, der so tut, als habe er einen Stammbaum. Meine Mutter und mein Vater gehören zu keinem bestimmten Milieu. So wackelig, so ungewiß sind sie, daß ich mich bemühen muß, ein paar Spuren und Markierungen in diesem Treibsand zu finden, so wie man sich bemüht, mittels halb verwischter Briefe ein Formular zum Personenstand oder einen amtlichen Fragebogen auszufüllen.

Mein Vater wurde 1912 in Paris geboren, am Square Pétrelle, wo das 9. in das 10. Arrondissement übergeht. Sein Vater stammte aus Saloniki und gehörte zu einer jüdischen Familie aus der Toskana, die im ottomanischen Reich ansässig geworden war. Cousins in London, in Alexandria, in Mailand, in Budapest. Vier Cousins meines Vaters, Carlo, Grazia, Giacomo und seine Frau Mary, wurden in Italien von SS-Leuten ermordet, in Arona am Lago Maggiore, im September 1943. Mein Großvater hat Saloniki in seiner Kindheit verlassen und kam nach Alexandria. Doch ein paar Jahre später ging er nach Venezuela. Ich glaube, er hatte mit seiner Herkunft und seiner Familie gebrochen. Er hat sich für den Perlenhandel auf der Insel Margarita interessiert, dann einen Basar in Caracas geleitet. Nach Venezuela hat er sich 1903 in Paris niedergelassen. Er führte einen Antiquitätenladen in der Rue de Châteaudun Nr. 5, wo er Kunstgegenstände aus China und Japan verkaufte. Er besaß einen spanischen Paß, und bis zu seinem Tod war er im spanischen Konsulat in Paris gemeldet, während seine Vorfahren unter dem Schutz der Konsulate Frankreichs, Englands, später Österreichs standen, als »Bürger der Toskana«. Ich habe einige seiner Reisepässe aufbewahrt, einer davon ausgestellt im spanischen Konsulat in Alexandria. Und einen Schein, ausgefertigt in Caracas, der bestätigt, daß er Mitglied des Tierschutzvereins war. Meine Großmutter wurde im Pas-de-Calais geboren. Ihr Vater wohnte 1916 in einem Vorort von Nottingham. Aber nach ihrer Heirat nahm sie die spanische Staatsbürgerschaft an.

Mein Vater hat seinen Vater mit vier Jahren verloren. Kindheit im 10. Arrondissement, Cité d’Hauteville. Collège Chaptal, wo er im Internat war, auch an Samstagen und Sonntagen, sagte er mir. Und im Schlafsaal hörte er die Musik vom Jahrmarkt auf dem Grünstreifen des Boulevard des Batignolles. Er macht kein Abitur. Als Halbwüchsiger und in seiner Jugend ist er sich selbst überlassen. Schon mit sechzehn besucht er mit seinen Freunden regelmäßig das Hôtel Bohy-Lafayette, die Bars am Faubourg Montmartre, das Cadet, den Luna Park. Sein Vorname ist Alberto, doch alle rufen ihn Aldo. Mit achtzehn treibt er Schleichhandel mit Benzin, schmuggelt es durch den Pariser Stadtzoll. Mit neunzehn bittet er einen Direktor der Banque Saint-Phalle mit solcher Überzeugungskraft, ihn bei »Finanzgeschäften« zu unterstützen, daß dieser ihm sein Vertrauen schenkt. Aber die Sache geht schief, denn mein Vater ist minderjährig, und die Justiz schaltet sich ein. Mit vierundzwanzig mietet er ein Zimmer in der Avenue Montaigne Nr. 33, und verschiedenen Unterlagen zufolge, die ich behalten habe, reist er häufig nach London, wo er am Aufbau einer Gesellschaft, der Bravisco Ltd., beteiligt ist. Seine Mutter stirbt 1937 in einer Familienpension in der Rue Roquépine, wo er eine Zeitlang mit seinem Bruder Ralph logiert hatte. Dann hatte er ein Zimmer im Hôtel Terminus unweit der Gare Saint-Lazare bewohnt, aus dem er ausgezogen war, ohne die Rechnung zu bezahlen. Kurz vor dem Krieg nahm er einen Strumpf- und Parfümladen in Pacht, Boulevard Malesherbes Nr. 71. Damals soll er in der Rue Frédéric-Bastiat (8. Arrondissement) gewohnt haben.

Und der Krieg bricht aus, als er keinerlei materielle Grundlage hat und sich bereits irgendwie durchschlägt. 1940 ließ er sich seine Post ins Hôtel Victor-Emmanuel III schicken, Rue de Ponthieu Nr. 24. In einem Brief von 1940 an seinen Bruder Ralph, aufgegeben in Angoulême, wo er zu einem Artillerieregiment eingezogen worden ist, erwähnt er einen Lüster, den sie im Pfandhaus versetzt haben. In einem anderen Brief bittet er, man möge ihm den Courrier des pétroles nach Angoulême schicken. 1937–1939 hat er sich mit einem gewissen Enriquez um »Erdölgeschäfte« gekümmert: Société Royalieu, rumänisches Erdöl.

Der Zusammenbruch vom Juni 1940 überrascht ihn in seiner Kaserne in Angoulême. Er wird nicht mit der Masse von Kriegsgefangenen fortgespült, die Deutschen kommen erst nach Angoulême, als der Waffenstillstand schon unterzeichnet ist. Er sucht in Les Sables d’Olonne Zuflucht, wo er bis September bleibt. Hier trifft er auch seinen Freund Henri Lagroua und zwei ihrer gemeinsamen Freundinnen wieder, eine gewisse Suzanne und Gysèle Hollerich, die Tänzerin im Tabarin ist.

Zurück in Paris, läßt er sich nicht als Jude registrieren. Er wohnt mit seinem Bruder Ralph bei dessen Freundin, einer Mauritierin, die einen englischen Paß besitzt. Die Wohnung liegt in der Rue des Saussaies Nr. 5, neben der Gestapo. Die Mauritierin muß sich jede Woche im Kommissariat melden, wegen ihres englischen Passes. Später war sie mehrere Monate in Besançon und Vittel als »Engländerin« interniert. Mein Vater hat eine Freundin, Hela H., eine deutsche Jüdin, die in Berlin mit Billy Wilder verlobt gewesen ist. Eines Abends, im Februar 1942, werden sie in einem Restaurant in der Rue de Marignan bei einer Ausweiskontrolle geschnappt, in jenem Monat wird häufig kontrolliert, wegen der gerade erlassenen Verordnung, die es Juden verbietet, sich nach acht Uhr abends auf der Straße und an öffentlichen Orten aufzuhalten. Mein Vater und seine Freundin haben keine Papiere bei sich. Sie werden von Polizeibeamten in eine grüne Minna verfrachtet und zur »Überprüfung« in die Rue Greffulhe gebracht, vor einen gewissen Kommissar Schweblin. Mein Vater muß seine Personalien angeben. Er wird durch die Polizisten von seiner Freundin getrennt, und als man ihn schon ins Dépôt, das Gewahrsam der Polizeipräfektur, überstellen will, gelingt es ihm zu entwischen, weil das automatische Treppenhauslicht erlischt. Hela H. wird am nächsten Tag aus dem Dépôt entlassen, wahrscheinlich nach der Intervention eines Freundes von meinem Vater. Wer? Das habe ich mich oft gefragt. Nach seiner Flucht versteckt sich mein Vater im Treppenverschlag eines Wohnhauses in der Rue des Mathurins und gibt sich Mühe, nicht die Aufmerksamkeit des Concierge auf sich zu lenken. Hier verbringt er die Nacht, wegen der Ausgangssperre. Am Morgen kehrt er in die Rue des Saussaies Nr. 5 zurück. Dann sucht er mit der Mauritierin und seinem Bruder Ralph in einem Hotel Zuflucht, im Alcyon de Breteuil, dessen Wirtin die Mutter eines gemeinsamen Freundes ist. Später wohnt er mit Hela H. in einem möblierten Zimmer am Square Villaret-de-Joyeuse und im Marronniers, Rue de Chazelles.

Die Personen, die ich unter all jenen, mit denen er damals verkehrte, identifiziert habe, sind Henri Lagroua, Sacha Gordine, Freddie McEvoy, ein australischer Bobchampion und Autorennfahrer, mit dem er sich kurz nach dem Krieg ein »Büro« auf den Champs-Élysées teilte, aber den Firmennamen habe ich nie herausgefunden; ein gewisser Jean Koporindé (Rue de la Pompe Nr. 189), Geza Pellmont, Toddie Werner (die sich »Madame Sahuque« nennen ließ) und ihre Freundin Hessien (Liselotte), Kissa Kuprin, eine Russin, Tochter des Schriftstellers Kuprin. Sie hatte in ein paar Filmen mitgespielt und in einem Stück von Roger Vitrac, Junge Damen auf hoher See. Flory Francken, die Nardus genannt wurde und die mein Vater »Flo« rief, war die Tochter eines holländischen Malers, und sie hatte ihre Kindheit und Jugend in Tunesien verbracht. Dann war sie nach Paris gekommen und verkehrte in Montparnasse. 1938 war sie in einen Kriminalfall verwickelt gewesen und mußte sich vor Gericht verantworten, und 1940 hatte sie den japanischen Schauspieler Sessue Hayakawa geheiratet. Während der Okkupation war sie mit der Frau befreundet, die in Atalante die Heldin gespielt hat, Dita Parlo, und mit deren Liebhaber Doktor Fuchs, einem der Leiter der Dienststelle »Otto«, der wichtigsten Einkaufszentrale auf dem Schwarzmarkt, Rue Adolphe-Yvon Nr. 6 (16. Arrondissement).

Das war ungefähr die Welt, in der mein Vater sich bewegte. Halbwelt? Unterwelt? Bevor sie in die kalte Nacht des Vergessens entschwindet, möchte ich noch eine andere Russin erwähnen, die zu jener Zeit seine Freundin war, Galina, genannt »Gay« Orloff. Sie war in sehr jungen Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Mit zwanzig tanzte sie in Florida in einer Revue, und da hatte sie einen kleinen dunkelhaarigen, sehr gefühlvollen und sehr höflichen Mann kennengelernt, dessen Geliebte sie gewoden war: Lucky Luciano. Zurück in Paris, war sie Mannequin gewesen und hatte geheiratet, um die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Sie lebte zu Beginn der Okkupation mit einem Chilenen zusammen, Pedro Eyzaguirre, »Legationssekretär«, später dann allein im Hôtel Chateaubriand in der Rue du Cirque, wo mein Vater sie oft besuchte. Sie hat mir ein paar Monate nach meiner Geburt einen Teddybär geschenkt, den ich lange behalten habe wie einen Talisman und wie die einzige Erinnerung, die mir von einer verschollenen Mutter geblieben wäre. Sie hat sich am 12. Februar 1948 umgebracht, im Alter von vierunddreißig Jahren. Sie ist in Sainte-Geneviève-des-Bois begraben.

Während ich dieses Namensverzeichnis aufstelle und in einer leeren Kaserne zum Appell blase, beginnt sich mir der Kopf zu drehen, und ich gerate immer mehr außer Atem. Komische Leute. Komische Zeit im Dämmerlicht. Und meine Eltern begegnen einander in dieser Zeit, unter diesen Leuten, ihresgleichen. Zwei verirrte und leichtfertige Schmetterlinge mitten in einer Stadt ohne Blick. Die Stadt ohne Blick. Aber ich kann es nicht ändern, das ist der Humus – oder der Dung –, aus dem ich hervorgegangen bin. Die Bruchstücke aus ihrem Leben, die ich zusammengetragen habe, kenne ich zum Großteil von meiner Mutter. Viele Einzelheiten, meinen Vater betreffend, sind ihr entgangen, die zweifelhafte Welt des Untergrunds und des Schwarzmarktes, in der er sich unter dem Zwang der Verhältnisse bewegte. Sie wußte fast nichts. Und er hat seine Geheimnisse mit sich genommen.

Sie lernen einander an einem Abend im Oktober 1942