Dreimal Hochzeit - Marie Louise Fischer - E-Book

Dreimal Hochzeit E-Book

Marie Louise Fischer

4,5

Beschreibung

Mit "Dreimal Hochzeit" legt Marie Louise Fischer einen großartigen Roman über Liebe, Leidenschaft und Stolz vor, dessen Handlung diesmal in der Zeit des Ersten Weltkriegs spielt. Vera ist nur eine Bürgerliche, doch das stört Großfürst Alexander, einen nahen Verwandten des Zaren, nicht im Mindesten. Er will sie heiraten und sorgt dafür, dass sie in den Grafenstand erhoben wird. Doch Vera spürt, dass sie von der Zarenfamilie nie akzeptiert werden wird. Aus Liebe zu Alexander und um ihm Schwierigkeiten zu ersparen, verlässt sie ihn am Tag der Hochzeit. 1919 treffen sich Vera und Alexander in Berlin wieder. Jetzt haben sich ihre Lebensverhältnisse umgekehrt. Sie ist inzwischen eine gefeierte Sängerin, er ein armer Emigrant, der sich als Taxifahrer durchs Leben schlägt. Fest steht nur, sie lieben sich immer noch.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Dreimal Hochzeit

Roman

Neufassung

SAGA Egmont

Dreimal Hochzeit

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1977 by Xenos Verlagsges, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718667

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Es war Frühling in Petersburg. Ein wolkenlos blauer Himmel wölbte sich über der Hauptstadt des alten Zarenreiches; Menschen in dichten Scharen bevölkerten die Ufer der Newa und erfreuten sich an den warmen Sonnenstrahlen, die sie sieben lange Wintermonate hatten entbehren müssen. Elegante Frauen, Offiziere in schmucken Uniformen und einfache Arbeiter, alle eilten zur Newa, um ein bißchen Frühling zu erhaschen.

Graf Strelenko, Hofkämmerer Seiner Majestät Nikolaus des Zweiten, war allerdings viel zu sehr erfüllt von der Wichtigkeit und Bedeutung seiner Arbeit, als daß er seine Blicke auch nur eine Sekunde lang über die knospenden Bäume vor dem kaiserlichen Schloß hätte gleiten lassen. Tiefgebeugt über seinen Arbeitstisch schrieb er sein Tagesprotokoll: »Den zwölften April neunzehnhundertundvierzehn, zehn Uhr vierzig vormittags: Großfürst Alexander Alexandrowitsch zum Zaren befohlen.«

Sein hohlwangiger, bleichsüchtiger Sekretär Nikoschka schaute ihm neugierig über die Schultern. »Wissen Euer Gnaden, warum der schöne Alexander zum Zaren befohlen wurde?«

Graf Strelenko drehte sich langsam um und antwortete, indem er sich der Tür näherte, die zu den Audienzräumen führte: »Weibergeschichten! Mit Alexander Alexandrowitsch haben wir immer Ärger; einmal sind es Zigeunerinnen, dann wieder Dorfmädchen, denen er den Kopf verdreht, nicht zu vergessen seine Skandale mit der Fürstin Breloff, der Gräfin Olga Pawlowna und der Jelena Dimitrowna. Eine hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, die andere ist ihrem Verlobten davongelaufen, und die dritte wollte sich das Leben nehmen. Fast alle Frauen in seinem Gouvernement sind wie toll hinter ihm her. Und warum? Warum?« Graf Strelenko nahm eine Zigarette aus seiner juwelengeschmückten Dose.

Nikoschka, der Sekretär, krümmte seinen Rücken noch tiefer. »Ich weiß nicht, Euer Gnaden.«

»Du weißt immer nichts!« stellte der Hofkämmerer fest. »Warum? Weil Alexander Alexandrowitsch mit Väterchen Zar verwandt, Großfürst, Gardekosakengeneral und sechsundzwanzig Jahre alt ist.« Der fettleibige, kurzbeinige Hofkämmerer packte seinen Sekretär an den Schultern und schüttelte ihn leicht. »Warst du einmal sechsundzwanzig Jahre? Oder warst du immer ein Stück Pergament? Sechsundzwanzig Jahre! Warum bin ich Hornochse in dieses kaiserliche Gefängnis gezogen? Weil mein Täubchen, meine gute Jenurschka, es wollte. Gott lass’ sie selig ruhen. Sie wollte unbedingt Frau Hofkämmerer werden.«

Strelenko drehte sich um. »Nikoschka, schau dir meinen Buckel genau an! Weißt du, wie so ein Buckel entsteht? Nein, du weißt es nicht. Weil du dumm bist. Hast du mich oft aufrecht stehen sehen? Selten, selten. Sprich nur die Wahrheit. Immer nur bücken und bükken und allen, die einen höheren Rang oder mehr Orden haben, Schmeicheleien sagen!«

Die Flügeltüren, die in den Audienzsaal führten, flogen auseinander. Zwei hochgewachsene kaiserliche Lakaien standen an den Türpfosten. Graf Strelenko wartete gesenkten Hauptes, hinter ihm, mit der Nase fast den Boden berührend, Nikoschka. Eine Flucht von Räumen, in allen Farben, mit den kostbarsten Möbeln ausgestattet, hatte sich aufgetan.

Die kaiserliche Audienz, zu der Großfürst Alexander Alexandrowitsch befohlen worden war, hatte im Papageiensaal stattgefunden. Der junge Kosakengeneral, den schweren Säbel im Armgelenk hochhaltend, die Pelzmütze in der anderen Hand, schritt durch die Säle und Korridore, die dicken Perserteppiche dämpften das Klirren der silbernen Sporen an seinen Stiefeln. Kein Zug seines straffen, schönen Gesichts verriet den Eindruck, den die Mitteilungen Seiner Majestät auf ihn gemacht hatten.

Geräuschlos schlossen sich die Türen hinter dem Großfürsten.

Er blieb vor Strelenko stehen: »Mischa, du wirst dir noch dein Rückgrat brechen, wenn du immer so gebückt stehst!«

»Oh nein, mein Rückgrat ist elastisch, muß sein im Dienste unserer höchsten Majestät des Zaren!«

»Bitte, Feuer!« Alexander Alexandrowitsch wandte sich an den Sekretär, der seinem Wunsch mit Übereifer nachkam.

Mit ausdruckslosem Gesicht lächelte Graf Strelenko; er wußte aus Erfahrung, daß die Besucher Seiner Majestät nach der Audienz sehr mitteilsam waren. Graf Strelenko hatte in den Jahren seines Dienstes bei Hofe zwei Dinge gelernt: Warten und schweigen.

»Schönes Wetter heute, Alexander Alexandrowitsch«, sagte er beiläufig.

»Laß den Alexandrowitsch«, unterbrach der Großfürst, »für mich bist du Onkel Mischa und ich dein Aljoscha. Oder hast du vergessen, daß du mich als Junge verprügelt hast, wenn ich in deinem Garten die schönsten Birnen gestohlen habe?«

Nachsichtig lächelnd erwiderte Graf Strelenko: »Was ist mit dir los, mein Sohn?«

»Ich soll heiraten. Väterchen will es. Er hat auch schon eine Prinzessin für mich. In liebevoller Weise teilte er mir mit, daß die Ehe das Schönste sei, was der liebe Herrgott gestiftet habe. Väterchen sei auch der glücklichste Ehemann geworden. Sollte ich aber seinen Wunsch nicht erfüllen, dann hätte er ein wunderbares Kommando für mich. Und weißt du wo, Onkelchen? An der sibirischen Grenze in Borska. Dort braucht man eine starke Hand. Auch gäbe es dort wenig Frauen, mit denen ich Dummheiten machen könnte. Sonst aber war Väterchen sehr gut zu mir. Er hat mir sogar ein Teilkommando für die Frühjahrsmanöver zugedacht. Hörst du, Mischa, ich stehe in der Gunst seiner Majestät!« Alexander Alexandrowitsch zerdrückte seine Zigarette in einer steinernen Schale und blickte vor sich hin.

Voll Neid und Bewunderung betrachtete der von Glück und Schönheit stark vernachlässigte Nikoschka die strahlende Erscheinung Alexandrowitschs. Er verstand, warum die Frauen diesem Mann ihre Gunst schenkten. Aus dem regelmäßig geschnittenen Gesicht strahlten braune, gute Augen, Alexanders spöttisch lächelnder Mund überschattete ein schwarzes Schnurrbärtchen. Die kerzengerade gewachsene, kraftvolle schlanke Gestalt steckte in der romantischen Uniform eines Gardekosaken.

Nach einer kleinen Pause sprach Alexander weiter: »Ich werde mir die Prinzessin anschauen. Eines sage ich dir heute schon, Onkelchen: Wenn sie mir nicht gefällt, werde ich sie nicht heiraten. Dann schon lieber nach Sibirien! Am schönsten ist es, daß Väterchen mir Weibergeschichten in die Schuhe schiebt, die andere in den Stiefeln haben. Du bist auch so ein alter Sünder. Stimmt es, daß du mit der kleinen Französin Loupé vom Zentraltheater zusammenkommst? Meinen Segen hast du.«

Bevor der verblüffte Onkel seinem Neffen antworten konnte, hatte der junge Herr das Zimmer verlassen. Über die breiten Treppen des Zarenschlosses eilte Alexandrowitsch an den stramm salutierenden Wachen vorbei dem Ausgang zu.

Kommandorufe ertönten, Trommelwirbel klangen auf und verebbten.

Großfürst Alexander bestieg seine Equipage, im flotten Trab fuhr er davon; mit liebenswürdigem Lächeln dankte er den vielen Spaziergängern, die ihn grüßten.

»Ich und heiraten«, überlegte er, »mein liebes Väterchen ich tauge zur Ehe wie der Elefant zum Klavierspiel. Aber, bitte, wenn die Prinzessin kein Ausbund von Häßlichkeit ist, opfere ich mich. Befehl ist Befehl!«

Im Palais Golgonskoj-Lichtenberg, das am Südrand der Stadt mit dem Blick auf die Kronländer Bucht lag, wurde Familienrat abgehalten. Großfürstin Tatjana hatte ihre beiden Neffen, die Kosakenobersten Fürst Gregor Iwanowitsch und Fürst Paul Pawlowitsch, zu sich gebeten, um mit ihnen über das Sorgenkind, ihren Großneffen Alexander Alexandrowitsch, zu beraten. Sie war der Ansicht, daß dem tollen Treiben des jungen Offiziers ein Ende bereitet werden müßte; es wäre höchste Zeit, daß er in den sicheren Hafen der Ehe segelte. In diesem Punkt teilten die beiden Neffen ihre Ansicht. Einig wurde man sich nur darin nicht, wie man die Frauen von ihm fernhalten konnte.

Fürst Iwanowitsch machte sich erbötig: »Ich bin gern bereit, zur Lösung dieses Problems alles beizutragen!«

Großfürstin Tatjana hatte sich von ihrem Sessel erhoben; sie war eine hochgewachsene, gutmütig aussehende, aber sehr energische Frau; drei Männer hatte sie überlebt.

Lächelnd musterte sie ihre auch nicht mehr jugendlichen Neffen; beide hatten das fünfzigste Lebensjahr überschritten. »Na, Gregor, nimmst du dir da nicht zuviel vor? Hast du nicht Angst vor deiner Aufgabe? Willst du Aljoschas Frauen übernehmen? Laß das, du wirst dich dabei ruinieren. Mein Vorschlag ist besser. Ihr seid beim Manöver dem Großfürsten als Regimentskommandeure zugeteilt. Ihr müßt darauf achten, daß nur dort Quartier genommen wird, wo es keine Frauen gibt. Adelsschlösser, Zigeunerdörfer, wandernde Komödiantengruppen, Tänzerinnen, Sängerinnen sind zu meiden! Aljoscha muß sich für die Ehe vorbereiten.«

Tatjana hielt im Sprechen inne, klingelte nach einem der Bediensteten und ließ den beiden Herren süßen, französischen Liqueur reichen.

»Alexander von den Frauen fernzuhalten, ist keine freudige oder leichte Aufgabe«, fuhr sie fort, »ihr, als seine Onkel, sollt ihm aber diesen Dienst erweisen. Er muß auf allerhöchsten Wunsch Prinzessin Militza heiraten. Sie ist nicht jung, nicht alt, aber zahllose Güter und ein Viertel der Krim gehören ihr. Geld in Hülle und Fülle. Wenn auch Aljoscha selber großes Vermögen besitzt, so schadet’s bestimmt nicht, wenn noch welches dazukommt. Wir wollen auf diese Verbindung anstoßen!«

Zart, kaum hörbar, klangen die Gläser. »Auf Aljoschas Ehe!«

Von der Kreisstadt Urzum zwanzig Werst entfernt, lag in der unendlichen Tiefebene das kleine Dörfchen Krischnow. Armselige Holzfällerhütten und strohgedeckte Bauernhäuser standen um das einfache, weißgetünchte Dorfkirchlein. Gläubig waren die Menschen in diesem Landstrich. Mit gottergebenem Herzen trugen sie ihre grenzenlose Armut und hatten nur eine Hoffnung: die Seligkeit nach ihrem Tode, von der ihnen der Pope sonntags und feiertags predigte.

In einiger Entfernung vom Dorf lag, von hohen Bäumen umgeben, das Gut der Familie Andronow. Der letzte männliche Besitzer war der Kosakenataman Boris Andreas Andronow gewesen. Vor fünfzehn Jahren war er bei einem Reitturnier tödlich verunglückt. Seine Frau war schon früher bei der Geburt ihres Töchterchens gestorben. Die elternlose Vera war unter der Obhut ihrer drei Tanten auf dem väterlichen Besitz herangewachsen, ohne die vielen Abwechslungen, die das Leben in der Großstadt einem jungen Mädchen bietet, kennenzulernen.

Von Jahr zu Jahr hatte sich das Vermögen der jungen Vera verringert. Das Bestreben der drei Tanten war darauf gerichtet, den drohenden wirtschaftlichen Ruin so lange wie möglich hinauszuschieben. Die Dienerschaft war zum großen Teil entlassen worden. Nur der alte treue Peter versah noch ebenso still und bescheiden wie vor zwanzig Jahren seine Arbeit; umständlicher und reifer war er freilich geworden. Die Erinnerung an eine bessere, glänzende Vergangenheit seiner Herrschaften begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Er trug immer noch Handschuhe beim Servieren, nur waren sie nicht mehr aus Zwirn, sondern aus grober Wolle. Auch die Speisen, die er auf silbernen Schüsseln reichte, waren bedeutend einfacher als die köstlichen Gerichte, die er seiner Herrschaft einst vorsetzte.

Die alten Damen und der Diener litten unter dem allmählichen, aber unaufhaltsamen Verfall. Die achtzehnjährige Vera tat es nicht. Sie hatte die großen Zeiten des Hauses gar nicht bewußt erlebt und nahm alle Dinge im Leben als selbstverständlich entgegen. Für sie gab es viel Schönes in ihrer bescheidenen kleinen Welt. Im Winter konnte sie auf dem Hang hinter dem Haus Schlitten fahren oder auf dem zugefrorenen Weiher eislaufen, in der warmen Jahreszeit unternahm sie weite Spaziergänge und Ausritte. Sie freute sich über jede aufspringende Knospe, über jedes Lämmchen oder Kälbchen, das auf dem Gut geboren wurde. Ihre eigene strahlende Gesundheit, ihre Jugend und ihre Lebenserwartung erfüllten sie mit Glück, und sie liebte es, zu singen; sie verfügte über eine warme, klare Sopranstimme und traf jeden Ton genau, ohne Unsicherheit und ohne Schwanken. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte sie Gesangsunterricht gehabt. Dann hatte sie es aufgeben müssen, weil das Geld dazu fehlte. Das war der größte Schmerz in ihrem bisherigen Leben gewesen, denn als ihr Vater verunglückt war, war sie noch zu klein gewesen, um die Bedeutung dieses Verlustes recht zu erfassen.

Auch in Andronowa war wieder einmal der Frühling eingezogen. Geschmolzen war die dicke Schneedecke. Überall sproß junges Grün aus dem Boden. An den Bächen und Teichen knospten Palmkätzchen. Die Wiesen prangten im leuchtenden Gelb der Schlüsselblumen.

Vera hatte ihr Pferd aus dem Stall geholt und ritt hinaus in die Frühlingspracht. Tief atmete sie den Duft der braunen Ackerschollen ein. Ihr Herz war reich. Mit einem Jubelschrei begrüßte sie die erwachende Natur. Sie wollte lachen, singen und all die Herrlichkeit ringsum an ihr stürmisch klopfendes Herz drücken. Freude und Sehnsucht erfüllten sie. Sehnsucht nach etwas, das sie nicht bezeichnen konnte.

Am Fluß stieg Vera vom Pferd und ließ es weiden; sie brauchte es nicht festzubinden, denn es war lammfromm. Am Ufer nahm Vera die flachen Steine, die ungezählt herumlagen, und warf einen nach dem anderen in das träge fließende Wasser. Ihre Augen leuchteten. Sie freute sich, wenn die Steine ein-, zwei-, drei-, viermal hochsprangen. Diese Kunst hatte sie von den beiden Bauernburschen Iwan und Wassily gelernt. Aber das lag schon weit zurück. Die beiden Burschen waren seit Jahren in Ustjuk Weliki bei den Soldaten.

Von weit her trug der Wind die Klänge der Kirchturmuhr. Vera hielt mit dem Steinewerfen inne, spitzte die Lippen und pfiff. Gehorsam trottete das Pferd zu seiner Herrin.

Sie tätschelte ihm die Nase. »Wir müssen heim. Und weil ich Hunger habe, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du deine Beine schneller als gewöhnlich in Bewegung setztest. Hoppla!« Mit einem kühnen Schwung saß sie im Sattel.

Zum Schrecken ihrer drei Tanten, die den Reitsport für Damen verabscheuten, ritt Vera sogar im Herrensitz – eine Ungeheuerlichkeit zu damaliger Zeit. Wenn Damen schon ritten, dahn nur, wie sie es gelernt hatten: mit Reitkostüm und Zylinder im Damensitz.

Vera würde gerne ein Reitkleid tragen, doch auf Andronowa war dafür kein Geld vorhanden. So blieb es bei Reithosen, Stiefeln, Lederweste und Lederhütchen.

Viel zu langsam für Veras Hunger näherte sich das Pferd dem Gutshof. ›Einen richtigen Renner zu haben, wäre herrlich‹, dachte Vera. Vor Jahren, als eine Kavallerieschwadron durchs Dorf geritten war, hatte Vera prächtige Pferde gesehen.

In der guten Stube saßen die drei Tanten Nastenka, Olga und Marja und warteten mit Ungeduld auf Veras Heimkehr. Die Einrichtung des Zimmers verriet Tradition und guten Geschmack, wenn sie auch an vielen Stellen schadhaft war. Bilder und Bronzestatuen stellten Szenen aus dem Soldatenleben dar.

Vor einem altmodischen Sekretär saß Tante Nastenka und notierte Ausgaben in ein Haushaltungsbuch, während ihre Schwester Olga ein französisches Modejournal studierte; der einzige Luxus, den sie sich gönnte, und dabei bezog sie nur die älteren Ausgaben aus der nächsten Kreisstadt, weil sie bedeutend billiger waren. Marja, die jüngste der Tanten, huldigte einer anderen Leidenschaft: Sie war dem Alkohol nicht abhold. Stets führte sie ein kleines Likörfläschchen bei sich, das sie gerne vor den anderen versteckte.

Mit roten Wangen und blitzenden Augen betrat Vera die Stube. Sie hatte ihr Reitkostüm mit einem schon etwas zu knapp gewordenen einfachen Baumwollkleid vertauscht. »Ich hab’ einen Riesenhunger! Gibt’s was Gutes zu Essen?« rief sie vergnügt.

Die Tanten wechselten mißbilligende Blicke; sie waren über Veras jungenhafte Ausdrucksweise nicht glücklich. Warum war Vera nicht so still und zurückhaltend, wie sie es in ihrer Jugend gewesen waren? Damals hätte ein junges Mädchen keinen ›Riesenhunger‹ gehabt.

Tante Nastenka seufzte, unterdrückte aber eine Ermahnung. Sie wollte das Kind nicht immer tadeln und dadurch kopfscheu machen.

»Möchtest du vor dem Essen nicht musizieren?« fragte sie, ihrer Nichte freundlich zunickend.

Widerspruchslos setzte sich Vera an das Klavier. Wenn sie nur einmal vor dem Essen nicht musizieren müßte! Als ob ihr Appetit davon kleiner würde. Doch kaum erklangen die ersten Akkorde, fand Vera Freude an ihrem Spiel.

Tante Nastenka legte seufzend ihr Haushaltungsbuch weg. »Das Dach im Kuhstall müßte dringend repariert werden«, bemerkte sie nachdrücklich.

»Warum? Wir haben kaum noch Kühe«, erwiderte Olga, ohne von ihrem Modejournal aufzublicken.

Nastenka, als die älteste von den dreien, liebte es nicht, wenn ihre Autorität durch Widerspruch untergraben wurde, deshalb fuhr sie unbeirrt fort: »Der Brunnen gibt auch schon weniger Wasser.«

Tante Marja lächelte verschmitzt; ihr war ein Schlückchen aus ihrer Likörflasche viel lieber als das klarste Brunnenwasser. Geräuschlos versteckte sie ihr geliebtes Fläschchen in ihrem Täschchen.

Aufsehend bemerkte Vera es und lächelte; Tante Marjas kleine Schwäche für Likör war ihr kein Geheimnis.

Nastenka erhob sich umständlich aus ihrem Sessel. »Meine Lieben, man kann das Gut nicht verkommen lassen!«

»Ganz meiner Meinung.« Tante Marja breitete ihre Spielkarten aus. »Was sagst du, liebe Olga?«

»Ich bin derselben Ansicht«, antwortete die Modebeflissene, ohne von ihrer Zeitschrift aufzusehen.

»Was soll geschehen?« fragte abschließend mit Nachdruck die Älteste.

»Ich hab’s!« rief Marja aus. »Vera muß endlich heiraten!«

Vera erkühnte sich, belustigt zu fragen: »Damit der Kuhstall ein Dach bekommt, der Brunnen tiefer gebohrt und Wasser gefunden werden kann, und weil in deinen Karten von Zeit zu Zeit ein schwarzer Mahn erscheint, muß ich heiraten?«

Ein ärgerlicher Blick von Marja strafte die vorlaute Vera.

»Mein liebes Kind, Tante Marja hat mit ihrem Vorschlag nicht unrecht«, stellte Olga fest, »nicht wegen des Kuhstalls und nicht wegen des Brunnens sollst du heiraten, sondern weil wir alle das dringende Bedürfnis haben, wieder einmal standesgemäß zu leben.«

Vera unterbrach ihr Klavierspiel und drehte sich auf dem Rundsessel ihren Tanten zu. »Ach so? ihr wollt standesgemäß leben? Warum habt ihr denn nie ans Heiraten gedacht?«

»Wir!?« kam es wie aus einem Mund.

»Ja, ihr! Ich will nicht, daß ihr jetzt noch heiraten sollt. Aber warum habt ihr früher nicht geheiratet?«

Nastenka streichelte Vera zart übers Haar. »Wir haben in unserer Jugend auch ans Heiraten gedacht. Wir haben aber leider auf den Märchenprinz gewartet. Uns war keiner gut genug, stimmt’s?« Fragend blickte sie Olga und Marja an. »Stimmt’s, meine Lieben?«

Marja sah nicht von ihren Karten auf. »Wenn du es sagst, wird’s schon stimmen. Vor allem ist der Prinz nie nach Androwna gekommen, obwohl ich ihn uns hundertmal aus meinen Karten prophezeit habe.«

Vera blickte verträumt durchs Fenster auf die uralten, knospenden Bäume im Hof. »Für mich braucht kein Märchenprinz zu kommen. Ich warte auf einen Mann, der mir gefällt, der mich liebt und den ich liebe.«

»Recht hast du, Veruschka«, pflichtete ihr Tante Nastenka bei, »recht hast du.«

Das Thema ›heiraten‹ beunruhigte Vera nicht; es war von ihren Tanten nicht zum ersten Mal angeschnitten worden. »Jetzt könnte Peter uns aber endlich servieren«, meinte sie.

Marja sprang plötzlich erregt auf. »Kinder, heute passiert’s! Die Karten lügen nicht! Ein schwarzer Mann steht ins Haus, und ein großer Schreck in der Abendstunde.«

In den fast ausgestorbenen Gutshof von Androwna ritt ein Kosakenoffizier, hinter ihm ein Dutzend Kosaken; einige Dorfköter waren der Kavalkade gefolgt und bellten die Pferde an.

»He, he!« rief der Offizier laut. »Ist jemand hier?«

Die Soldaten sprangen von den Pferden und riefen mit lauten Stimmen nach Mägden und Knechten. Lachend zog der Offizier eine Pistole und schoß in die Luft. Ein Kosak klopfte mit seinem Säbel an eine halb verfallene Holztür, die plötzlich aufgestoßen wurde.

Überrascht trat der Soldat zurück; mit einer riesigen Holzkelle in der Hand tauchte eine Magd vor ihm auf, die aber beim Anblick der vielen Uniformen nur stammeln konnte: »Heilige Muttergottes von Kasan!« Die Holzkelle entfiel ihren Händen.

Rasch lief sie über den Hof dem Gutshaus zu. Ohne anzuklopfen polterte Marfa, die Magd, in die gute Stube. »Kosaken sind da!« Sie zeigte zu dem Fenster, von dem man in den Hof schauen konnte.

Olga stürzte hin, öffnete es umständlich, drehte sich um und schaute Nastenka und Marja erschrocken an. »Ja, Kosaken sind bei uns.«

Marfa stotterte: »Ein Offizier ist auch dabei … « Sie konnte ihren Bericht nicht fortsetzen; im Türrahmen stand ein Kosak.

Die Absätze seiner Stiefel zusammenklappend, die Hände an der Hosennaht, meldete er: »Rittmeister von Liwers wünscht seine Aufwartung zu machen.«

Nastenka war überrascht. Da die Tanten ihre Entschlüsse immer gemeinsam faßten, suchte sie in Olgas und Marjas Blicken Rat.

Marja schob die Karten auf dem Tisch zusammen. »Wir können niemanden empfangen«, entschied sie.

Olga schloß das Fenster, richtete im Vorbeigehen beim Spiegel die Rüschen an ihrem Halskragen und zupfte die Bluse zurecht. »Sagen Sie dem Herrn Rittmeister, daß wir auf Besuch nicht eingerichtet sind.«

Der Kosak wollte umkehren.

Vera, die sich bis jetzt still verhalten hatte, rief ihn zurück. »Bleiben Sie!« Zu Tante Nastenka sagte sie: »Liebe Tante, ich bin überzeugt, daß der Herr Rittmeister dich nicht zu sprechen wünschte, wenn es nicht dringend wäre.« Ohne die Antwort der verblüfften Tanten abzuwarten, gab Vera dem Soldaten den Auftrag: »Melden Sie dem Herrn Rittmeister, wir lassen bitten.«

Kaum hatte der Soldat das Zimmer verlassen, stellten die Tanten mit Besorgnis fest, daß sie für diesen Anlaß nicht schön genug gekleidet waren, und in aller Eile suchten sie ihre Zimmer auf, um sich umzuziehen.

Vera stand am offenen Fenster und starrte in den Hof. Dort war inzwischen eine halbe Schwadron Gardekösaken eingeritten. Männerstimmen klangen zu ihr herauf, Worte, die für keines Mädchens Ohr bestimmt waren.

Vera sann: Was würde ihr wohl das Leben bringen? Sie war kaum achtzehn Jahre alt. Ausreiten, Klavier spielen, singen, plaudern – das konnte doch nicht das Leben sein! Wie würde ihre Zukunft aussehen? Die Mauern von Andronowa würden eines Tages zusammenfallen. Die lieben, guten Tanten würden nicht immer bei ihr bleiben.

Sie dachte an ihren Vetter Felix Bogatschew. Er hatte es zum Entsetzen der Tanten vorgezogen, in Petersburg zu arbeiten, statt von ihrer Gnade zu leben. Manchmal bekam Vera Post von ihm. Felix war in einem großen eleganten Damenbekleidungshaus in St. Petersburg Geschäftsführer.

St. Petersburg! Vera kannte die Hauptstadt nur aus Erzählungen und Berichten aus der Zeitung. Schön mußte es dort sein! Väterchen Zar residierte in einem prächtigen Schloß. Bälle wurden dort abgehalten, Feste gefeiert; dazu das Ballett, die Theater, die Oper…

Bei diesen Gedanken verweilte Vera besonders gern. Seit langem wollte sie zur Oper. Sogar die Tanten hatten befriedigt festgestellt, daß sie eine besonders schöne Stimme besaß. Vera hätte gerne mehr Menschen als die Tanten und die Dienerschaft mit ihren Liedern beglückt. Aber der Beruf einer Sängerin, einer Opernsängerin gar, kam für Vera Petrowna Andronowa, Tochter eines Kosakenatamans, nicht in Frage.

»Gestatten, Rittmeister Liwers!«

Vera drehte sich erschrocken um. Im Zimmer stand ein Offizier, und wie auf Kommando traten in diesem Augenblick die drei Tanten von nebenan herein. Vorschriftsmäßig, aber liebenswürdig grüßte der Rittmeister. Die drei älteren Damen dankten mit einem Kopfnicken. Vera deutete einen Knicks an.

»Verzeihen Sie die Störung, meine Damen. Ich habe einige Fragen an Sie zu richten.« Aus dem Ärmelaufschlag seines Mantels zog Rittmeister von Liwers ein zusammengefaltetes Papier. »Sie haben einen Stall für zwanzig Pferde?«

Tante Nastenka nickte zustimmend. »Einen Stall haben wir, aber nur drei Pferde.«

»Das wissen wir. Im Gutshaus sind elf Räume vorhanden, stimmt’s?«

Tante Nastenka bejahte. »Was wollen Sie damit sagen, Herr Rittmeister?«

Rittmeister Liwers ließ sich nicht beirren. »Im Verwaltungsgebäude sind drei bewohnbare Zimmer?«

Nastenka wechselte mit den übrigen fragende Blicke. »Kommen Sie vom Grundstücksamt, Herr Rittmeister?«

Der Rittmeister steckte das Papier wieder in seinen Ärmelaufschlag und trat einen Schritt näher. »Als Quartiermeister des Dritten Manöverstabes requiriere ich Gutshaus, Wirtschaftsgebäude und Stall für die Dauer des Manövers.«

Die Tanten und Vera waren bestürzt.

»Wie kommen Sie dazu? Das ist ja unerhört!« Marja war die erste, die Worte fand. »Wo sollen wir denn wohnen?«

Rittmeister Liwers zuckte die Schultern. »Im Verwaltungsgebäude. Selbstverständlich erhalten Sie für unseren Aufenthalt vom Zahlmeister die übliche Entschädigung.«

Nastenka versuchte ruhig und eindringlich Einspruch zu erheben. »Herr Rittmeister! Niemand kann von uns verlangen, daß wir in das Verwaltungsgebäude ziehen.«

»Doch, gnädige Frau. Wir sind im Manöver. Wir können es verlangen. Außerdem haben Sie die Ehre, dem Großfürsten Alexander Alexandrowitsch und seinem Stab Ihr Haus zur Verfügung zu stellen.«

Die Mienen der drei erschrockenen Tanten veränderten sich.

»Seine Hoheit, der schöne …« stotterte Marja. Von den anderen Tanten durch mißbilligende Blicke zurechtgewiesen, verbesserte sie ihre Rede: »Für Seine Hoheit, den Großfürsten Alexander Alexandrowitsch soll hier Quartier gemacht werden?«

Durch den Stimmungsumschwung bei den Damen in gute Laune versetzt, zwirbelte Rittmeister Liwers seinen schwarzen Schnurrbart. »Außer Seiner Hoheit werden auch Fürst Pawlowitsch und Fürst Gregor Iwanowitsch, Kommandeure zweier Kosakenregimenter, hier wohnen.«

Tante Nastenka, die an die nicht unerheblichen Quartiergelder dachte, entschloß sich: »Bitte, melden Sie dem Großfürsten, er wird das Haus in Ordnung vorfinden. Mich entschuldigen Sie jetzt.« Während ihres Abgangs flüsterte sie Marja zu: »Laß den Tisch abräumen. Wir haben jetzt keine Zeit zum Essen. Marfa soll aus dem Keller ein paar Flaschen Wein holen, und zwar von denen, die im Lehmboden eingegraben sind. Laß frische Tücher in die Badestube legen.«

Auf Vera machte die Mitteilung, daß Fürstlichkeiten in ihrem Haus Quartier nehmen sollten, keinen Eindruck. Ganz ruhig half sie der aufgeregten Tante Olga den Schlüssel zum Wäscheschrank suchen.

»Warum bist du so nervös, liebe Tante?« Vera konnte nicht begreifen, warum die Tante wie ein scheuer Vogel im Zimmer hin- und herflatterte.

»Entschuldige, ich soll nicht aufgeregt sein? Endlich gibt es Gäste, mit denen man sich unterhalten kann«, flüsterte sie, damit der anwesende Offizier ihre Worte nicht hörte.

Sie hatte aber nicht leise genug gesprochen, denn mit besonderem Nachdruck erklärte der Rittmeister: »Verzeihen Sie, meine Damen, beinahe hätte ich die Hauptsache vergessen: Ich muß die Damen ersuchen, sobald der Großfürst auf dem Gut eintrifft, sich nur im Verwaltungsgebäude aufzuhalten. Seine Hoheit Alexander Alexandrowitsch will … « Rittmeister Liwers hielt verlegen inne, nach kurzem Erwägen fuhr er fort: »Mit einem Wort, der Großfürst wünscht keine Damen vorzufinden.«

Tante Olga nickte zustimmend. »Natürlich, wie Seine Hoheit der Großfürst befiehlt! Selbstverständlich!«

Vera jedoch fühlte sich durch des Rittmeisters Verbot tief gekränkt; offen ließ sie ihrer Empörung freien Lauf. »Herr Rittmeister, Sie waren über die Anzahl der Zimmer, über Pferdestall und Wirtschaftsgebäude orientiert, bevor Sie auf unser Gut kamen. Wissen Sie auch, wer der Besitzer dieses Gutes, mein verstorbener Vater, war?«

Die Tanten erschraken über Veras vorlaute Rede und versuchten, ohne daß es der Rittmeister, der sich dem Mädchen näherte, sehen konnte, ihr Einhalt zu gebieten.

Vera sprach unbeirrt weiter: »Mein Vater war Oberst Andronow, Kommandeur eines Regiments der Uralkosaken und hatte die große Ehre, Seine Majestät den Zaren im Japanfeldzug zu begleiten. Mein Vater wäre stolz darauf gewesen, Seine Hoheit den Großfürsten in diesem bescheidenen Haus zu beherbergen. Niemals aber hätte er sich Vorschriften machen lassen, wer von seiner Familie sich im Haus aufhalten darf oder, wie Sie es so schön ausdrücken, sich zeigen dürfte.«

Rittmeister Liwers war peinlich berührt; er nahm dienstliche Haltung an. ›Donnerwetter‹, dachte er bei sich, ›die Kleine nimmt kein Blatt vor den Mund. Und diese feurigen Augen! Und recht hat sie mit allem, was sie sagt. Schade, daß der Großfürst seinen Offizieren die Frauen verboten hat.‹

»Gnädiges Fräulein«, sagte er, »wenn ich Sie durch meine Mitteilung beleidigt haben sollte – Sie wissen wir Soldaten überbringen ja nur Befehle –, so entschuldigen Sie vielmals. Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu kränken. Ich entledigte mich eines Auftrages, den mir mein Kommandeur Fürst Iwanowitsch erteilte. Befehl ist Befehl! Ihr Herr Vater als Offizier würde mich bestimmt verstanden haben.«

Mit einer Wendung nach rechts beendete Liwers seine Ansprache an Vera; dann verabschiedete er sich: »Ich bitte die verehrten Damen, den Befehl, den ich überbracht habe, zur Kenntnis zu nehmen. Ich bitte auch, alles, was Sie für die nächsten Tage brauchen, unverzüglich in das Verwaltungsgebäude schaffen zu lassen. Seine Hoheit, der Großfürst, wird in einer Stunde hier eintreffen.«

Vera war vorgetreten und stand knapp vor dem Offizier. »Sagen Sie dem Großfürsten, ich hätte ihm mehr Mut zugetraut. Ansonsten werden wir bemüht sein, ihm nie unter die Augen zu kommen. Richten Sie ihm das aus. Sagen Sie ihm bitte auch, daß ich für meinen Teil keine Lust habe, mit ihm zu sprechen.«

Liwers starrte Vera mit offenem Mund an. Sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Zimmer.

Die Tanten näherten sich dem Offizier. Sie wollten sich für Veras Äußerung entschuldigen. Liwers aber hatte keine Zeit. Außerdem interessierten ihn die alten Damen nicht. Vera wollte er gerne einholen und ihr sagen, daß er anders als der Großfürst von den Frauen dachte. Er wollte sie bitten, ihr später von seinem Standquartier schreiben zu dürfen.

»Ich danke, meine Damen.« Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sich Rittmeister Liwers.

»Was sagt ihr zu Vera?« Olga schlug die Hände zusammen. »Dem Großfürsten ausrichten zu lassen, sie lege keinen Wert darauf, ihn zu sehen!«

»Das ist deine Erziehung!« Marja goß zur Stärkung ein Gläschen aus der Likörflasche voll.

»Meine Erziehung, sagst du? Immer, wenn Vera das Enfant terrible ist, bin ich schuld. Wenn sie sich vor dem Popen oder dem Kreishauptmann gut benimmt, dann sind es die Früchte deiner Erziehung. Im übrigen möchte ich feststellen, daß meine Karten nicht gelogen haben; Schreck in der Abendstunde. Das ist der Großfürst, der schöne Aljoscha, wie sie alle sagen!« Marja nahm einen Handspiegel und hielt ihn Olga vors Gesicht. »Für dich wird er wohl zu schön sein.«

Eine stockfinstere Nacht war hereingebrochen. Hier und da flimmerte ein Licht durch die offenstehende Tür eines der Wirtschaftsgebäude von Andronowa. In den Ställen rieben Soldaten noch schweißbedeckte Pferde ab oder reinigten das Sattelzeug. Es war ein anstrengender Ritt gewesen. Großfürst Alexander Alexandrowna brachte berittene Offiziere nach Andronowa.

Alexander Alexandrowna hatte ein Teilkommando der Dritten Armee, hauptsächlich die Aufklärung, vom Oberstkommandierenden übertragen bekommen.