Dunkle Erleuchtung - Carolin Schairer - E-Book

Dunkle Erleuchtung E-Book

Carolin Schairer

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Beschreibung

Im Park von Schloss Dipolding wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie ist kahlgeschoren und abgemagert, auf der Schulter trägt sie eine tätowierte Zahl. Das Obduktionsergebnis besagt: Herzversagen. Doch die niederbayerische Landärztin Gesine Hofmann wird plötzlich allerorts mit Hexerei, Esoterik und faulem Zauber konfrontiert …

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Seitenzahl: 493

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Carolin Schairer

DUNKLEERLEUCHTUNG

Kriminalroman

ISBN (eBook) 978-3-89741-957-5ISBN (Print) 978-3-89741-423-5

© 2018 Originalausgabe in CRiMiNAOriginalausgabe in CRiMiNACRiMiNA ist ein Imprint des Ulrike Helmer Verlages,Roßdorf b. Darmstadt© 2018 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. DarmstadtAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Atelier KatarinaS / NLunter Verwendung des Fotos »Gedankenspiel«© Flügelfrei / photocase.de

www.ulrike-helmer-verlag.de

Inhalt

Prolog

Einige Tage zuvor …

Alkohol, Amore und Avancen

Kernseife, Kohlsuppe und klare Regeln

Vermisst, geküsst, beschenkt

Eine Tote, eine Entzückte und eine Besorgte

Basilikum, Tropfen und Drogen

Feierlichkeiten, Feuer und Funk

Gewissensbisse, Geschenke und gelebte Leidenschaft

Ein General, Geisterstimmen und unerwünschte Gäste

Laborergebnisse, Launen und eine Lieferantin

Südtiroler Speck, Schlamperei und ein Stück Stoff

Hunger, Habgier und ein Handy

Eine Spermaprobe, ein Purpurmantel und eine Verrückte

Kräuter, Licht und Feuer

Ein Film, ein Fehler und Franziska

Dubiose Studien, rätselhafte Ziffern und magische Pilze

Viele Fragen, keine Antworten und ein Sturz

Ein Rattenbiss, ein Angebot und ein Verrat

Joghurtsoße und ein gestohlener Computer

Ein Einzelzimmer, Speis und Trank

Sinnestäuschungen, Tiere und Tränen

Recherche, Zusammenhänge und offene Fragen

Ungeliebt, zurückgelassen, vergessen

Rätsel, Familienthemen und ein Hundebiss

Erhellende Aspekte, Drohungen und ein Anruf

Patientin, Zeugin und Journalistin

Lügen, lausige Fotos und geheime Sehnsüchte

Ein nächtlicher Ausflug und eine Entdeckung

Unzuverlässige Partner und gepackte Koffer

Pizza, Blut und Alkohol

Über den Autor

Prolog

Die Dämonen kamen näher. Das heisere, bedrohliche Schnaufen wurde lauter und ging ihr unter die Haut.

Das untrügliche Zeichen der Macht an sich gepresst, flüchtete sie durch die Dunkelheit. Längst hatte sie die Orientierung verloren. Regen peitschte ihr ins Gesicht und brannte in den Augen. Der heftige Wind, der ständig die Richtung zu wechseln schien, machte ein Vorwärtskommen beschwerlich.

Eine leise innere Stimme befahl ihr, stehen zu bleiben und sich zu sammeln. Ihre kopflose Flucht führte zu nichts Gutem. Wo war der Ausgang, wo die stählernen Gitter, die das Grundstück umschlossen wie eine Festung? Keine Chance, es sich in Erinnerung zurufen; jetzt, wo die Dämonen auf sie losgelassen worden waren, gab es keine Zeit für rationale Überlegungen.

Verlier nicht dein Ziel aus den Augen! Es gibt keine Dämonen! Es gibt keinen Zauber, mit dem man dich bestrafen könnte! Es ist eine Welt voller Lügen, in der du lange gefangen warst – zu lange. Und nun hast du dich von allem befreit!

Die Stimme, die so beruhigend zu ihr sprach, gab ihr neue Zuversicht. Sie hielt inne. Mit klopfendem Herzen lauschte sie in die Nacht.

Nichts.

Nur ihr schneller, lauter Atem durchbrach die Stille, die sie umgab.

Sie beschirmte die Augen mit der Hand, um sich vor den wie spitze Nadeln auf ihr Gesicht prasselnden Regentropfen zu schützen, und versuchte sich zu orientieren. In einiger Entfernung glaubte sie die Umrisse des Tores zu erkennen, durch das sie zuvor hindurchgefahren worden war.

Zaghaft trat sie einen Schritt nach vorn, blieb aber sogleich wieder stehen. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Die Regentropfen begannen vor ihren Augen zu tanzen, auf und ab. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf.

Und plötzlich waren sie da, die Dämonen. Es gab sie doch!

Das grauenvolle Aufheulen hinter ihrem Rücken ließ ihren Puls nach oben schnellen. Sie glaubte, durch den Stoff der Hose hindurch heißen Atem zu spüren, rechnete jeden Moment damit, dass sich die Zähne der nach Blut lechzenden Bestien in ihr Fleisch schlugen. Ohne sich umzusehen, begann sie zu laufen, so schnell es der unwegsame Untergrund zuließ.

Wenn es aber die Dämonen gab, existierte auch alles andere! Dann waren sie doch mächtig, diejenigen, an deren Allmacht sie zuletzt gezweifelt hatte! Sie würden sie finden und bestrafen, vielleicht selbst dann, wenn sie sich in die Welt der Unwissenden rettete.

Gib nicht auf!, befahl die Stimme in ihrem Inneren. Lauf! – Nichts davon ist wahr! Sie sind machtlos. –

Noch glaubte sie zu wissen, wo sich das Tor befand. Doch dann war es plötzlich verschwunden. Ihr Blick wurde unscharf; selbst die Konturen ihrer eigenen Füße konnte sie nicht mehr klar erkennen. Den rasselnden Atem der Dämonen hörte sie dagegen umso deutlicher. Sie scherte nach rechts aus, versank in weichem Erdreich, wollte weiter – doch ihr Fuß steckte fest. Von heller Panik ergriffen, zappelte sie sich frei. Erst nach ein paar Metern fiel ihr auf, dass sie den rechten Schuh verloren hatte.

Umkehr war keine Option. Sie hastete weiter, hinein ins unbekannte Dunkel. Tannenzweige peitschten ihr ins Gesicht. Die Schnalle ihres Umhangs verhedderte sich im Geäst und hielt sie Bruchteile von Sekunden lang fest. Sie hörte den Stoff reißen, als sie sich gewaltsam befreite.

Sie kam nur mühsam vorwärts. Bei jedem Schritt gab der morastige Untergrund unter ihr nach. Am rechten Fuß drang Feuchtigkeit kalt durch ihre wollene Socke. Dann jedoch spürte sie wieder festen Boden unter sich und konnte schneller laufen. Die Erleichterung darüber war nur von kurzer Dauer. Der Erdboden wurde schmierig, brachte sie ins Rutschen. Sie versuchte das Gleichgewicht wiederzufinden und ihren Sturz aufzuhalten, doch stattdessen vollführte ihr Körper wie von selbst eine abenteuerliche Drehung.

Und plötzlich umschloss eisiges Wasser Beine, Corpus, Arme und Kopf. Wie von einem mächtigen Sog wurde sie in die Tiefe gerissen.

Der Schock ließ sie einen Moment lang klar denken. Wasser! Ein See! Das Adrenalin schoss ihr durch die Adern. Sie begann zu strampeln, kam an die Oberfläche, schnappte nach Luft. Zu wissen, dass sie nicht schwimmen konnte, steigerte ihre Panik. Wie wild ruderte sie mit den Armen. Eiskaltes, modriges Wasser strömte in ihren Mund, ließ sie spucken und würgen. Sie strampelte, tauchte auf, rang verzweifelt nach Atem. Dann spürte sie Grund unter ihren Füßen. Keuchend und unter größter Anstrengung schaffte sie es, sich ans Ufer zu schleppen.

Erschöpft blieb sie am Boden liegen, die Wange gegen den schlammigen Untergrund gepresst. War ihr kalt? – Sie wusste es nicht. Sie spürte nichts, schmeckte aber das Salz der Tränen, die sich mit den Rinnsalen mischten, die von ihren klatschnassen Haaren aufs Gesicht tropften. Als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, war da Blut. Ihr Brustkorb schmerzte bei jedem Atemzug.

Ich kann hier nicht liegen bleiben.

Der Satz fraß sich in ihr Bewusstsein. Gleichzeitig zogen Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei. Das Feuer. Die tanzenden Gestalten. Die dunkle Kammer. Müdigkeit ergriff von ihr Besitz. Obwohl sie flach dalag, schien sich um sie herum alles zu drehen.

Mit letzter Kraft rappelte sie sich auf. Sie wollte nicht sterben! Wozu sonst die Flucht?!

Doch der Schwindel zwang sie erneut in die Knie. Auf allen vieren robbte sie weiter, ohne sich sicher zu sein, wohin eigentlich, begleitet von der Gewissheit, dass sie jederzeit entdeckt werden konnte.

Und dann flammten sie plötzlich auf: zwei Lichter am Horizont, die sich näherten. Die glühenden Augen eines Dämons, größer als jene, deren rasselnden Atem sie ganz in der Nähe hören konnte.

Da begriff sie, dass es kein Entkommen gab.

Sie würde sie holen kommen, ihre Flucht als Verrat werten und sie dafür bestrafen.

Einige Tage zuvor …

Alkohol, Amore und Avancen

»… seit fünfzig Jahren eine gesunde, stabile Partnerschaft, die zahlreiche Höhepunkte zu verzeichnen weiß – kultureller, aber auch sportlicher Art. An Wettkämpfe und Begegnungen, die ganze Generationen geprägt haben, erinnern zahlreiche gerahmte Fotos an den Wänden unseres Rathauses.«

Liese Brauninger, Aichendorfs Erste Bürgermeisterin, stand auf der Tribüne der Begegnungshalle, einer zum Festsaal umgebauten Fabrikanlage hinter dem Bahnhof, und hielt seit zwanzig Minuten eine flammende Jubiläumsrede auf die Verbindung unserer niederbayerischen Marktgemeinde zu San Rosario, dem umbrischen Pendant. Dass allein die Begrüßung aller anwesenden Honoratioren ganze zehn Minuten gekostet hatte, ließ nicht auf ein baldiges Ende des offiziellen Teiles hoffen. Eine Dolmetscherin, die mit der achtzigköpfigen Delegation aus San Rosario angereist war, übersetzte zudem jedes Wort ins Italienische. Keine Frage, das auf der Einladungskarte angekündigte italienische Buffet würde ich mir hart verdient haben.

»Beginnen wir mit dem ersten Fußballturnier zwischen dem FC Aichendorf und dem SA Calcio Secondo im Jahre 1969. Damals gab es ja unseren tollen Sportplatz noch nicht, sodass diese legendäre sportliche Begegnung auf der Wiese vom Hinterdorfer Adi stattfand.«

Ein begeistertes Johlen erklang aus der hinteren Ecke des Saals, wo der örtliche Fußballverein an zwei großen Tischen Platz gefunden hatte. Während Liese Brauninger, die 1969 vielleicht eingeschult worden war, nun so lebhaft von dem Turnier berichtete, als wäre sie dabei gewesen, fragte ich mich zum wiederholten Male, wieso ich mich von ihr dazu hatte breitschlagen lassen, hier herumzusitzen. An den selbstgebackenen Keksen, die sie mir samt Einladungskarte in die Praxis geschleppt hatte, lag es jedenfalls nicht. Laut gesetzlicher Auflagen war bei Großveranstaltungen die Anwesenheit einer ausgebildeten notärztlichen Kraft verpflichtend, und Liese Brauninger sah in mir als niedergelassener Ärztin dieser Marktgemeinde dafür die optimale Besetzung.

Zufällig hatte ich dieses Notarztdiplom, frischte es auch regelmäßig auf – in erster Linie deshalb, weil die damit verbundenen Kurse immer besonders viele Fortbildungspunkte einbrachten. Genau die musste ich regelmäßig bei der Ärztekammer einreichen, um meinen Kassenvertrag zu behalten.

»Sie werden sich bestimmt amüsieren!«, hatte sie mir noch prophezeit, ehe sie glückselig aus meiner Praxis getanzt war. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich von eifrigen Saaldienern an einen Tisch in den Weiten der Begegnungshalle platziert worden war, hatte ich das tatsächlich auch noch vage gehofft.

Hinter mir lagen wenig erbauliche Monate. Vor rund einem Jahr hatte meine Ex-Partnerin Holly mit mir Schluss gemacht. Seither fühlte ich mich, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Zwar gelang es mir, das vor den Patienten gut zu verbergen, doch wer mich besser kannte, wusste inzwischen, wie es um mich stand.

Mein Onkel Gustav beispielsweise. Da wir uns sein Haus teilten und uns ständig über den Weg liefen, wurde er immer wieder Zeuge davon, dass ich meine Abende mit stumpfsinnigen US-Krimiserien verbrachte, anstatt unter Leute zu gehen. Selbst meinen besten Freund Jörg, Kriminaloberkommissar bei der Kripo im nahen Straubing, sah ich kaum noch.

Dafür legte ich Tabea in ausufernden abendlichen Telefongesprächen mein bis auf die Grundfeste zerrüttetes Seelenleben dar. Das kostete mich wahre Unsummen, da meine Schwester beruflich oft wochenlang in London, New York oder Singapur unterwegs war. Stress war Tabeas ständiger Begleiter, und wahrscheinlich lag darin auch der Grund, weshalb sie unsere Telefonate in letzter Zeit immer früher abbrach.

So blieb mir nichts anderes übrig, als mit meinen Emotionen alleine fertigzuwerden. Sport hätte mir vielleicht geholfen, aber ausgelaugt vom Praxisalltag, empfand ich zu Hause den Aufstieg in den zweiten Stock schon als anstrengend genug. Ein seit der Trennung erwachter Heißhunger hatte mir ein paar Kilo mehr auf die Rippen gebracht. Mittlerweile gab es in meinem Kleiderschrank kaum mehr eine Hose, die nicht spannte. Die elegante schwarze, die ich an diesem Abend trug, fühlte sich besonders eng an – und zwar noch vor dem Buffet.

Während Liese Brauninger jetzt zu den Leichtathletikwettkämpfen wechselte, die in den zurückliegenden Jahrzehnten zwischen den beiden Partnergemeinden ausgetragen worden waren, fühlte ich mich also fett und unglücklich. Obendrein missfiel mir die Anwesenheit einer schlanken brünetten Frau mit Kurzhaarschnitt. Dr. Katharina Habler, Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Scheidungs- und Familienrecht, war der Grund, weshalb Holly mir den Laufpass gegeben hatte.

Sehr erfolgreich war ich ihr in all den Monaten aus dem Weg gegangen. Und jetzt hockte sie da und flirtete ungeniert mit dem gutaussehenden Italiener im Maßanzug, dessen Tischkärtchen – welch ein Zufall – genau neben dem ihren platziert worden war.

Sie hatte mich nicht einmal begrüßt. Auch ich ignorierte sie – nachdem ich mich dabei erwischt hatte, hastig meine naturblonden, schulterlangen Haare glattzustreichen. Über sie hinwegzusehen war nicht leicht, denn ich saß ihr quasi gegenüber. Zum Glück sorgten die Ausmaße des Tisches, an dem insgesamt zwölf Leute Platz fanden, für etwas Distanz. Doch wann immer ich meinen Kopf nicht konsequent in die Richtung der Tribüne drehte, fiel mein Blick auf die schlanke Person, die mit diesem Mann herumschäkerte, als wären sie alleine auf der Welt. Immer wieder ließ sie sich von ihm großzügig Wein nachschenken.

»… und inzwischen insgesamt fünfundzwanzig Schüleraustausche mit dem Instituto Belgran di San Rosario, an denen bisher insgesamt rund dreihundert Schülerinnen und Schüler beider Gymnasien teilgenommen haben.«

Immerhin, die Sportveranstaltungen waren inzwischen abgehakt. Ich sah auf die Uhr. Halb neun. Seit eineinhalb Stunden saß ich bereits hier und musste Katharina in diesem körperbetonten schwarzen Cocktailkleid ignorieren, das für eine Veranstaltung dieser Art sowieso vollkommen übertrieben war.

Irgendwann spielte die örtliche Blaskapelle zum Prosit auf. Alle hoben ihr Glas – auch ich, obwohl ich mit Mineralwasser anzustoßen lächerlich fand. Aber was blieb mir übrig; ich war schließlich dienstlich hier.

Dann sprach Liese Brauninger salbungsvoll jene Worte, auf die offenbar der ganze Saal bereits begierig gewartet hatte, mich eingeschlossen: »Das Buffet ist eröffnet!«

Als hätte sie den Startschuss für ein Sprintduell zwischen Niederbayern und Norditalienern gegeben, stürzten nun alle in Richtung Tafel. Die jungen Leute vom Catering-Team, das extra aus Regensburg bestellt worden war, wurden ganz blass um die Nasen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Allein der Anblick von Karl Weller, unserem Ortssheriff, der sich wie ein ausgehungerter Stier einen Weg durch die Menge bahnte und dabei die Gemeinderätin der Grünen über den Haufen rannte, war verstörend.

Die Frauenbund-Vorsitzende und ein paar andere, die eingeklemmt auf der Bank gesessen hatten, erhoben sich und drängten an mir vorbei. Unser Tisch leerte sich, der italienische Maßanzug ließ seine Angebetete in Stich. Ich blieb sitzen. War man nicht bei den Allerersten, wartete man lieber, anstatt sich würdelos ins Getümmel zu stürzen. Die Leute standen inzwischen Schlange – von zwei Seiten. Mir war klar, dass es dauern würde, bis alle mit Essen versorgt waren. Im Saal herrschte ein ohrenbetäubender Geräuschpegel. Die Niederbayern standen den Italienern an Lautstärke um nichts nach. Zu allem Überfluss hatte jemand die Musikanlage aktiviert. Über Lautsprecher plärrte Adriano Celentano »Il tempo se ne va« in den Saal … inzwischen vergeht die Zeit. Wie treffend.

Für mich verging sie noch immer zu langsam. Ich angelte mir die Speisekarte vom Tisch. So konnte ich mich zumindest schon einmal einlesen, was für Köstlichkeiten mich erwarteten.

Auf dem Deckblatt prangten die bayerische und die italienische Fahne. Gespannt rückte ich meine schwarze Hornbrille zurecht und überflog die im Innenteil aufgeführten Speisen. Mein Magen begann zu knurren. Ich klappte die Karte energisch zusammen, schob sie zurück in die Mitte des Tisches – und hob dabei den Kopf. Sekundenlang starrte ich in Katharinas Gesicht. Ihr Mund formte sich zu einem amüsierten Lächeln, ihre grünen Augen blitzten belustigt. Zu allem Überfluss griff sie auch noch nach ihrem Weinglas und prostete mir zu.

Mein Vorsatz verpuffte. Ich sprang so schwungvoll auf, dass mein Stuhl fast umkippte, und flüchtete zum Buffet. Dort stellte ich mich ans Ende der Schlange, setzte ein betont gleichgültiges Gesicht auf und ärgerte mich im Stillen über die Frau, deren Anwesenheit mich noch mehr aus dem inneren Gleichgewicht brachte, als ich es derzeit ohnehin schon war.

Wie konnte sie das alles so unberührt lassen? – Ich gab mir die Antwort selbst: Zum einen, weil mein Seitensprung für sie keinerlei Folgen gehabt hatte. Katharina war Single. Sie amüsierte sich – sofern den Gerüchten im Dorf Glauben zu schenken war – mal mit diesem, mal mit jenem. Zum anderen, weil ihr die Beziehungen und Probleme anderer Leute völlig egal waren. Die Männer, mit denen sie Affären hatte oder zumindest gehabt hatte, waren allesamt verheiratet. Sie störte sich offenbar nicht daran. Dass Holly und ich wegen ihr getrennt waren, musste sie erfahren haben. Ich hätte mir gewünscht, dass sie zumindest einmal das Gespräch mit mir gesucht hätte … und einen Hauch von Reue zeigte, immerhin war meine Beziehung durch ihr Mitwirken kaputtgegangen, anstatt mich jetzt so provokant anzugrinsen.

»Hallo, Frau Doktor Hofmann! Schön, Sie zu treffen!«

Eine der beiden Teenies, die vor mir in der Schlange standen, streckte mir artig die Hand entgegen.

Vom Regen in die Traufe!, kam mir unweigerlich in den Sinn, während ich das junge Mädchen mit dem rotblonden Haar begrüßte. Vor mir stand niemand anderes als Anna Gärtner, Katharinas Tochter.

»Oh, hallo, was machst du denn hier?«

Das klang nicht sehr geistreich und fast schon ein bisschen unhöflich. Was hätte ich sagen sollen? Anna war meine Patientin, aber so selten krank, dass wir uns fast nie sahen.

»Ich bin doch Schülersprecherin. Außerdem haben wir einen italienischen Gast bei uns aufgenommen.« Sie zupfte ihre Begleiterin, die mir bisher noch den Rücken zugewandt hatte, am Arm. »Das ist Chiara Chiavelli aus San Rosario.«

Chiara Chiavelli war schlank und zierlich, aber, wie sich zeigte, kein Teenager mehr. Ihren Gesichtszügen und den kleinen Lachfältchen nach zu urteilen, ging sie schon auf die dreißig zu. Sie hatte lebhafte dunkle Augen und den Kopf voller Locken. Lediglich ihr für das schmale Gesicht viel zu großer Mund zerstörte das Bild einer italienischen Schönheit.

»Guten Tag.« Chiara reichte mir nun ebenfalls die Hand, während wir wieder einige Trippelschritte zum Buffet hin machten. »Oder Grüß Gott, wie man in Bayern sagt.« Sie hatte einen süßen italienischen Akzent, ihr Deutsch klang jedoch flüssig.

»Die Frau Doktor Hofmann ist auch mit Guten Tag einverstanden, sie ist nämlich nicht von hier«, wurde sie prompt von Anna aufgeklärt. »Deshalb spricht sie auch Hochdeutsch.«

Ich kam mir in diesem Moment vor wie eine Art Alien.

»Oh, Sie kommen aus dem Norden«, schlussfolgerte Chiara.

»Nein, aus München«, stellte ich trocken klar. »Aber für die hiesigen Eingeborenen ist alles, was nicht urbayerisch klingt, automatisch preußisch.«

Anna machte einen Moment lang ein Gesicht, als würde sie mir am liebsten den Hals umdrehen. Dass meine Worte sie unter der intellektuellen Gürtellinie trafen, lag auf der Hand. Wer Anna kannte und ihren Werdegang verfolgte – sie engagierte sich politisch, kulturell und wo immer sich Gelegenheit bot –, wusste schließlich, dass sie sich dem Provinziellen entwachsen fühlte und ihre Zukunft auf internationalem Parkett sah.

Chiara lachte nur – aus Höflichkeit, wie mir schien.

Irgendwann standen wir vor den Speiseplatten. Von den verheißungsvoll angekündigten Antipasti hatte uns die Meute etwas Mozzarella übrig gelassen, der in scharfem Balsamico-Essig lag, und ein paar Scheiben ölgetränkte gegrillte Auberginen. Die Spaghetti sahen so lasch aus, wie sie dann auch schmeckten, und aus den Fischresten, die es noch gab, spickten unzählige Gräten. Die Salatschüsseln waren allesamt leer. Lediglich bei den Desserts hatten wir noch volle Auswahl.

Mit einem mager befüllten Teller in der Hand plus zwei Bechern Tiramisu und einem Stück Torta di Mandorle begab ich mich zurück an meinen Platz. Während ich meiner Figur den Rest gab, war ich vor allem erleichtert, dass sich jetzt wieder alle am Tisch eingefunden hatten und ich zumindest nicht länger mit Katharina alleine dasitzen musste.

Gegen 22 Uhr begann sich der Saal zu leeren. Einige waren bereits nach Hause gegangen. Die meisten, die ihren Sitzplatz aufgegeben hatten, tummelten sich nun aber im Foyer, wo auf Pinnwänden eine Fotoausstellung zu »Fünfzig Jahre Partnerschaft Aichendorf & San Rosario« aufgebaut war. Einige weitere Attraktionen sorgten für Unterhaltung: Der lokale Schützenverein ließ Leute mit einem Tennisball auf Dosen werfen – das Schießen wie am Jahrmarkt war ihnen in der Halle nicht genehmigt worden. Eine Italienerin saß vor einer Töpferscheibe und zog aus einem Tonklumpen eine Vase nach oben; wer wollte, konnte es ihr gleichtun. Ein Imker aus dem Dorf verkaufte Honig und Kerzen. Aichendorfs einzige hauptberufliche Künstlerin bot Landschaftsaquarelle feil.

»Frau Doktor, Frau Doktor, Sie müssen unbedingt mitkommen, wir haben eine Hexe entdeckt!«

»Ja, und sie weiß alles! Sie kann in die Zukunft sehen.«

Liana und Luena Ionescu drängten sich um mich. Sie waren Zwillinge, dreizehn Jahre alt, und wegen ihrem Typ-1-Diabetes regelmäßige Besucherinnen meiner Praxis.

»Habt ihr auch italienische Gäste bei euch aufgenommen?«

Anders konnte ich mir ihre Anwesenheit nicht erklären. Ihnen bei dieser Partnerschaftsfeier zu begegnen, überraschte mich weit mehr als irgendeine angeblich hellsichtige Hexe.

»Nein, dafür ist doch unsere Wohnung zu klein«, belehrte mich Liana. »Und der Papa will das nicht«, ergänzte ihre Schwester. »Mama verkauft hier Lose, für die Tombola«, fuhr Liana fort. »Papa hat heute Schichtdienst, und weil wir nicht alleine zu Hause sein dürfen, mussten wir mitkommen.« Ein Blick in ihre leuchtenden Augen sagte mir, dass sich der Leidensdruck diesbezüglich in Grenzen hielt.

»Und jetzt kommen Sie mit uns zu der Hellseherin!« Luena zupfte erneut an meinem Ärmel. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.

Ich gab mich geschlagen und ließ mich von den beiden vorbei an der Garderobe in die hinterste Ecke des Saals entführen, wo eine Frau, in eine Art Sari gehüllt, mit buntem Turban auf dem Kopf saß und mit gedämpfter Stimme auf Rita Wagner, die Vorsitzende des Turnvereins, einredete. Der Tisch war mit einer grünen, langen Tischdecke überzogen; rote und blaue Lampen säumten die Szenerie. Es roch intensiv nach irgendeinem Duft, den ich bisher nur in orientalisch angehauchten Läden in München wahrgenommen hatte, wo sie Räucherwerk, bunte Kleider und Tarot-Karten verkauften.

Ich stellte mich neben zwei Frauen, die gebannt an den Lippen der Wahrsagerin hingen, die Rita Wagner eine neue Liebe, mindestens ein Kind und ein eigenes Haus in Aussicht stellte. Dass die Wahrsagerin sich über die Vergangenheit der Turnverein-Vorsitzenden bestens informiert zeigte, war für mich keine Überraschung. Jeder im Dorf wusste, dass Rita Wagner sich vor Kurzem hatte scheiden lassen, sich sehnlichst Kinder wünschte und von einem verstorbenen Onkel einen Baugrund geerbt hatte. So viel also zum Thema Hellsehen. Rita und die Zuhörerinnen hatten trotzdem ihren Spaß. Als die Wahrsagerin nun in ihre Glaskugel starrte und darin den künftigen Ehemann der Wagner zu erkennen glaubte, war das Gekicher und Gejohle der Umstehenden groß. Allerdings war die Beschreibung so gehalten, dass sie auf jeden zweiten Mann im Saal gepasst hätte …

Trotzdem bedankte sich Rita überschwänglich bei der angeblichen Hellseherin, ehe sie den Platz frei machte.

»Jetzt kommt die Frau Doktor dran!«, rief Luena, und ehe ich mich weigern konnte, saß ich auch schon auf dem Stuhl und schaute in ein dunkel geschminktes Gesicht. Weder die Makeup-Schicht noch der schwarze Kajal konnten verbergen, wer hier vor mir saß: Veleda, Aichendorfs »Gegen-alles«-Aktivistin, die den von ihren Eltern geerbten Bauernhof in einen Esoterik-Tempel umgewandelt hatte und seither Selbstfindungsseminare für Frauen veranstaltete. Als dort im vergangenen Frühling ein schlimmer Magen-Darm-Virus einige Teilnehmerinnen niederstreckte, hatte ich das Vergnügen, sowohl die Hausherrin als auch den Hof kennenzulernen. Seither druckte sie meinen Namen auf die Esoterik-Folder, mit denen sie in München auf Kundenfang ging – unter der Rubrik behandelnde Ärztin im Krankheitsfall. Vermutlich sollte das mögliche Seminarteilnehmerinnen beruhigen. Bei mir hatte es den gegenteiligen Effekt: Ich war höchst beunruhigt von der Vorstellung, dadurch mit einem Haufen verwirrter Sinnsucherinnen in einen Topf geworfen zu werden. Allerdings hatte sie sich seither nicht mehr bei mir gemeldet, und ich brachte es nicht über mich, darum zu bitten, meinen Namen aus den Werbeflyern zu nehmen.

Minutenlang starrte mich Veleda nur aus großen, dunklen Augen an, ohne eine Miene zu verziehen. Ich hielt dem Blick stand, indem ich mich auf ihre eindrucksvolle Nase konzentrierte. Aichendorfs Esoteriktante hatte tatsächlich etwas Mystisches an sich. Dann machte sie eine ausschweifende Geste mit beiden Armen, murmelte Unverständliches vor sich hin – und riss plötzlich die Augen auf, als hätte sie den Teufel persönlich erspäht.

»Ich sehe … sehe große Aufregung, die bevorsteht!«

Ihre Stimme klang wie ein bedrohliches Donnergrollen. Die Glaskugel vor ihr begann rot zu leuchten.

Gebannt wartete ich ab, was da wohl noch kommen würde. Ihre Performance war wirklich beeindruckend.

»Ein Streit«, stieß sie hervor und vollführte wieder ein paar abenteuerliche Bewegungen mit ihren Händen. »Vielleicht auch … körperliche Auseinandersetzung! … Ich sehe Blut. Aber …« Sie machte eine vielsagende Pause und ergänzte in sachlicher Tonlage: »Sie werden es überleben.«

Na, da war ich ja beruhigt. Die bissige Frage, ob es dem anderen Part bei der körperlichen Auseinandersetzung auch so ergehen würde, lag mir auf der Zunge, doch Veleda hatte wieder in ihre Geisterstimme zurückgefunden und fuhr fort: »Ich sehe … eine Liebe. Noch ist sie zart wie ein Keimling, der gerade den Kopf aus der Erde streckt, doch sie wird größer … immer größer … wenn Sie es zulassen.«

Damit rutschte sie jetzt endgültig ins Reich der Fantasterei ab. Einen Streit hatte ich mir noch vorstellen können. Onkel Gustav und ich gerieten fast täglich aneinander, wenn es darum ging, die Küche sauber zu halten. Sein Ordnungssinn war noch weniger ausgeprägt als der meine.

»Sie können dieser Liebe auch nachhelfen.« Veleda näherte sich über ihre jetzt blau leuchtende Glaskugel hinweg meinem Ohr. Im Flüsterton, aber laut genug, damit das Publikum weiter mithören konnte, klärte sie mich auf: »Kleben Sie das Bild eines Drachens auf ein einfaches Holzstück. Zünden Sie eine Kerze an. Ritzen Sie zuvor den Namen Ihrer Liebe ins Wachs. Dann reiben Sie das Holzstück mit Patschuli-Öl ein und zünden Sie ein Räucherstäbchen an. Halten Sie das Holzstück über die Kerzenflamme und singen Sie zwölfmal den Namen der Person, nach der Sie sich sehnen. Und dann gehen Sie zu Bett.« Sie nickte, als würde sie sich ihre Worte selbst bestätigen müssen, und richtete sich wieder auf. Dann legte sie ihre Hand auf die Kugel. Das Licht im Inneren erlosch.

»Das war es.«

Die Hellseherin klang nun wieder ganz wie Veleda. Die Zuhörerschaft klatschte begeistert, allen voran die Zwillinge. Verdattert blieb ich auf meinem Sessel sitzen.

»Das war’s?«, wiederholte ich amüsiert. »Ich singe den Namen, gehe zu Bett … und dann? Fehlt da nicht das Happy End?«

Ein paar der Frauen, die sich um uns herum versammelt hatten, kicherten. Veleda machte eine Geste, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen.

»Sie gehen zu Bett, und am nächsten Tag steht sie vor Ihrer Tür.« Sie sprach es aus, als läge die Lösung klar auf der Hand.

»So einfach ist das also«, erwiderte ich mit einem Schmunzeln. Und wie selbstverständlich sie von einer Frau sprach. Nun, meine Beziehung mit Holly, deren Mutter im Ort einen Teeladen führte, hatte ich niemals verheimlicht. Angefeindet war ich wegen meiner Homosexualität nicht geworden. Trotzdem taten sich einige im Dorf schwer zu akzeptieren, dass ihre Hausärztin nun einmal auf Frauen stand – auch wenn sie es nicht direkt aussprachen. Veleda gehörte eindeutig nicht dazu.

»Natürlich, was hatten Sie denn gedacht?«, konterte sie nun trocken. »Dass sie schon in Ihrem Bett liegt?« Sie schüttelte todernst den Kopf. »Nein, nein, der Zauber muss ja erst wirken!«

Veledas schauspielerisches Talent war wirklich beeindruckend. Die Frau war wie geschaffen für einen Auftritt auf dem Jahrmarkt. Ich grinste, räumte den Platz für die nächste, die über ihre Zukunft Bescheid wissen wollte, und suchte die Toiletten auf. Mit einem leisen Seufzer reihte ich mich in die Schlange, die sich vor den Kabinen gebildet hatte, als draußen am Gang lautes Geschrei erklang.

Es war ein heftiger Wortwechsel zwischen zwei Frauen. Die Wartenden vor mir tauschten bedeutungsvolle Blicke; eine, die am Waschbecken stand, kicherte verhalten. Als sie die Türe öffnete, um sich wieder ins Festgeschehen zu stürzen, drangen Wortfetzen an mein Ohr: »… peinlich!« – »… nichts an!«

Nun wusste ich, zu wem diese beiden Stimmen gehörten, und hastete nach draußen. Gegenüber der Toilettentüre lehnte eine leichenblasse Katharina an der Wand und starrte finster ihre Tochter an, die mit in die Taille gestützten Händen ein paar Schritte vor ihr stand. Eine Traube sensationslüsterner Menschen hatte sich vor den beiden gebildet, die stetig wuchs.

»Schau dich doch nur mal an«, giftete Anna, die völlig ausgeblendet zu haben schien, dass sie sich an einem öffentlichen Ort befand. Es war nicht ihre Art, sich derart zu exponieren; gewöhnlich gab sie sich überlegt und kontrolliert. »Du läufst hier herum wie ein Flittchen, und du bist schon wieder betrunken! Das ist widerlich!«

Tatsächlich waren die Träger von Katharinas Cocktailkleid über ihre Schultern herabgerutscht und hatten das luftige schwarze Kleidungsstück etwas tiefer sinken lassen. Der Ansatz eines dunklen Spitzen-BHs kam damit zum Vorschein. Am linken Unterschenkel breitete sich eine gewaltige Laufmasche aus. Der rote Lippenstift war verschmiert, genauso wie die Wimperntusche.

In gewisser Weise konnte ich Anna verstehen, trotzdem widerstrebte es mir, dass sie ihre Mutter hier so bloßstellte.

»Lass mich in Ruhe«, murmelte Katharina ohne Nachdruck und machte eine wegwerfende Handbewegung. Ihre Aussprache klang leicht verwaschen. Anders als Anna schien sie sich plötzlich ihres Umfelds bewusst zu werden. Sie richtete sich auf, zupfte ihr Kleid zurecht und sah sich suchend um, bis sie unter den Leuten einen Rettungsanker entdeckte.

»Giovanni, andiamo a ballare!«

Sie hakte sich bei dem Italiener unter, der bereits am Tisch an ihrer Seite gesessen war, und zog ihn in Richtung Saal, in dem die örtliche Blaskapelle jetzt Schunkellieder spielte.

»Cos’è stato?«, hörte ich den Italiener fragen. Was sie ihm zur Antwort gab, war nicht mehr zu verstehen.

Anna schaute den beiden nach. Ihre Nasenflügel bebten, die Unterlippe zitterte. Sie war sichtlich aufgebracht, doch in ihren Augen las ich weniger Wut als Enttäuschung und Schmerz.

»Anna, was ist denn los?«

Aus der Zuschauermenge löste sich ein bärtiger Mann mittleren Alters – ein Lehrer vom Aichendorfer Gymnasium, der sich allem Anschein nach um sie sorgte. Doch Anna winkte ab, ironischerweise mit der gleichen Geste, mit der zuvor Katharina Distanz geschaffen hatte. Dann hastete sie Richtung Garderoben davon. Die Zuschauertraube löste sich auf. Ich sah in ratlose, aber auch neugierige Gesichter. Die Aichendorfer versuchten sich auf das, was sie da erlebt hatten, einen Reim zu machen.

Ein paar schienen besser informiert als andere, wie mir ihr Getuschel verriet.

»Es heißt ja, dass die Anna adoptiert ist …«

»Ja, angeblich ist sie die Tochter von der Habler, aber die war wohl drogensüchtig, und da hat das Jugendamt ihr das Kind weggenommen.«

»Tragische Geschichte. Man kann nur hoffen, dass sie nicht nach der Mutter kommt.«

»Die Gärtners werden das schon verhindern. Haben sich ja immer gut gekümmert. Aber das gerade eben …«

Ich wandte mich ab. Schließlich kannte ich die ganze Wahrheit, hatte sie von Katharina persönlich gehört, und Drogen und das Jugendamt kamen in ihr nicht vor. Katharina war in einem Kinderheim aufgewachsen. Da sie selbst nur für eine kurze Zeit ihres Lebens Mutterliebe erfahren hatte, war sie überzeugt davon gewesen, nicht fähig zu sein, ihr eigenes Kind liebevoll zu umsorgen. Anna unmittelbar nach ihrer Geburt in die Hände ihrer besten Freunde zu geben, entsprach vor diesem Hintergrund der wohlüberlegten Handlung einer intelligenten Frau, die für ihr Kind das Beste wollte und wusste, dass sie es ihm selbst nicht würde bieten können. Das Geschwätz der Leute brachte mich daher nur auf. Ihre ehemals besten Freunde, korrigierte ich mich in Gedanken. Denn seit Anna von ihrer wahren Abstammung wusste, hatte es zwischen den Gärtners und der leiblichen Mutter einige Turbulenzen gegeben.

Im Foyer war Hellseherin Veleda dabei, ihr Equipment in einem großen Rollkoffer zu verstauen. Sie hatte den Turban abgelegt. Braunes, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar fiel über ihre hageren Schultern.

»Na, für heute ist wohl Schluss«, stellte ich plauderlaunig fest. »Wann geht es weiter? Am Volksfest?«

Veleda schloss den Koffer und blickte zu mir herauf.

»Sie können jederzeit kommen. Sie wissen ja, wo ich wohne. Dann kostet es halt ein bisschen was. Schließlich ist das alles sehr anstrengend für mich.«

Ihr Tonfall war so ernst, dass mir das Grinsen verging. Wovon sprach die Frau da eigentlich? Es war doch alles nur Spaß gewesen, oder etwa nicht?

»Was genau ist denn daran anstrengend?«, hakte ich irritiert nach.

Da richtete sie sich auf und bedachte mich mit einem kurzen, prüfenden Blick. »Ich muss mich jedes Mal auf die Aura des Menschen einlassen, der vor mir sitzt, seine energetischen Schwingungen auffangen und analysieren. Das kostet Kraft.«

Ich nickte benommen, während mir bewusst wurde: Veleda glaubte wirklich an den Unsinn, den sie da verzapfte!

»Und wie viel verlangen Sie üblicherweise für Ihre … äh … Dienste?«

»Zwischen achtzig und hundert Euro pro Sitzung. Wenn Sie besonders viele Detailfragen an die Zukunft haben, auch dreißig oder fünfzig mehr. Nach dem fünften Besuch bei mir gibt es aber Rabatt«, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich zog einen Vergleich zu dem, was ich als Ärztin für die Erstuntersuchung eines Kassenpatienten an Honorar bekam. Wahrsagen war eindeutig lukrativer als ein Medizinstudium.

»Irgendwie muss ich ja meine Ausbildung refinanzieren. Die Seminare waren wirklich nicht billig!«

Offenbar fühlte sie sich bemüßigt, ihre Preispolitik zu rechtfertigen. »Sie haben eine Ausbildung zur Wahrsagerin gemacht?« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Dass Veleda immer schon einen Esoterik-Faible gehabt hatte, war allgemein bekannt. Aber dies war wohl die nächste Stufe kompletter Verblendung.

»Selbstverständlich, woher sollte ich es denn sonst können? Ich bin zertifizierte Hellseherin und Aura-Beraterin. Und bald habe ich außerdem noch ein Diplom in spirituellem Coaching!« Ihre noch immer dunkel geschminkten Augen leuchteten. Es war eindeutig, dass ihre Qualifikationen sie mit Stolz erfülltem.

»Eigentlich dachte ich bisher, Sie bieten selbst Seminare an«, warf ich ein.

»Das eine schließt das andere ja nicht aus«, bekam ich zur Antwort. »Sie als Ärztin müssen sich ja auch regelmäßig weiterbilden, oder etwa nicht? Genauso verhält es sich bei mir. Wer rastet, der rostet!«

Der Punkt ging an sie.

Ich sah auf die Uhr. Es war inzwischen weit nach Mitternacht. In Anbetracht der Tatsache, dass die Blaskapelle zu spielen aufgehört hatte und nur noch wenige Mäntel in der Garderobe hingen, sah ich meine ärztliche Anwesenheitspflicht für beendet. Ich ging zum Saal zurück in dem Vorhaben, mich von der Bürgermeisterin zu verabschieden. Statt In München steht ein Hofbräuhaus füllte wieder Adriano Celentano den Saal – diesmal in erträglicher Lautstärke. Ein paar Leute hatten die Bühne zur Tanzfläche umgewandelt.

Suchend ließ ich meinen Blick über die geleerten Reihen wandern. Er blieb prompt an Katharina hängen.

Aichendorfs Scheidungsanwältin Nummer eins saß mit einigen anderen an einem Tisch in der Saalmitte – besser gesagt, sie hing dort auf einem Stuhl und wäre wohl längst abgerutscht, wenn nicht der italienische Kavalier ihren Arm umklammert hätte. Auch er machte keinen besonders stabilen Eindruck mehr. Seine wulstigen Lippen näherten sich soeben Katharinas Hals.

»Oans, zwoa, gsuffa!«, unterbrach Georg Reif, Landwirt und CSU-Gemeinderatsmitglied, das abstoßende Schauspiel und hob seinen Maßkrug in die Höhe. Mit ihrer freien Hand tastete Katharina nach ihrem Glas. Ehe sie es an den Mund führen konnte, verschüttete sie bereits die Hälfte, was die Trinkgenossen um sie herum mit grölendem Gelächter quittierten.

Kaum war das Glas wieder abgestellt, versuchte der Italiener erneut, den Körperkontakt zu intensivieren.

»Lass mich! Non voglio!« Ihr bissiges Fauchen übertönte sogar die Musik. Die Blicke der Anwesenden auf sich spürend, ließ der angetrunkene Mann sie abrupt los. Katharina rutschte vom Stuhl und krachte auf den gefliesten Boden.

Mit ein paar Schritten war ich drüben und kniete mich neben sie. Zwischen ihrem Kopf und dem nach oben gestreckten Arm hatte sich eine rote Pfütze gebildet – Wein, wie ich zu meiner Erleichterung feststellte. Zerborsten war zum Glück nur das Glas, dessen Splitter nun quer über den Boden verteilt lagen.

Katharina schlug die Augen auf. Ihr Blick war glasig.

»Lass mich«, wiederholte sie. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, fasste sie mitten in die Scherben.

»Ah …!« Ungläubig starrte sie auf ihre Handfläche, in der ein daumennagelgroßer Splitter steckte. Nach ein paar Schrecksekunden zog sie ihn heraus. Das Blut begann prompt zu fließen und lief den Arm entlang, von wo aus es auf ihr Kleid tropfte.

»Keine Sorge, Katl, die Frau Doktor ist schon zur Stelle!«, johlte der betrunkene Georg Reif unter beifälligem Grunzen der anderen Trinkgenossen, hob erneut sein Bierglas und schrie: »Ein Prosit! Ein Prosit … der Gemüüüütlichkeit!«

Der Italiener kniete nun auch am Boden und stammelte schuldbewusst: »Amore … amore … scusa…« Seine Alkoholfahne roch ich trotz des knappen Meters, der zwischen uns lag. Ich hatte genug.

»Wir gehen«, herrschte ich Katharina an und zog sie unsanft nach oben. Immerhin leistete sie keinen Widerstand, sondern ließ sich von mir stützen, während wir uns gemeinsam aus dem Saal bewegten. An der Garderobe stießen wir auf die Bürgermeisterin. In einen Pelzmantel gehüllt, der für Ende September etwas übertrieben war und sie älter aussehen ließ als die knapp sechzig Jahre, die sie zählen mochte, war sie gerade im Begriff zu gehen. Ihr Gatte hatte bereits den Autoschlüssel gezückt.

Als sie die blutende Katharina an meinem Arm erblickte, riss Liese Brauninger entsetzt die Augen auf. »Um Himmels willen, zum Glück sind Sie hier!«, rief sie theatralisch aus. »Siehst du, Helmut, wie gut, dass ich immer an alle Eventualitäten denke und zur Sicherheit eine Ärztin herbestellt habe.« Was sie ohne die gesetzliche Vorschrift wohl nie getan hätte, aber bitte.

»Bringen Sie sie ins Krankenhaus?«, erkundigte sie sich nun bei mir, während ihr Mann bereits unruhig auf der Stelle trat. Er sah hundemüde aus. »Sie muss doch sicher genäht werden!«

»Nicht ins … Krankenhaus!«, begehrte Katharina auf, wand sich aus meinem stützenden Arm und wäre beinahe wieder zu Boden gefallen, hätte ich sie nicht aufgefangen. Einen Moment lang standen wir Brust an Brust und sahen uns in die Augen.

Ein Kribbeln überzog meine Haut, und ein verheißungsvolles Ziehen in meinem Unterleib weckte Erinnerungen an die verhängnisvolle Nacht im Herbst vergangenen Jahres. Ich verstand mich selbst nicht: Katharina widerte mich in ihrem betrunkenen Zustand regelrecht an, dennoch reagierte mein Körper auf sie.

Ich trat einen kleinen Schritt zurück, stützte sie aber weiter.

»Ich bringe die Dame ins Bett«, erklärte ich spontan.

Katharina zog die Augenbrauen nach oben und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Doch erst das amüsierte Auflachen von Helmut Brauninger, der sein Kopfkino schließlich mit einem Hustenanfall tarnte, machte mir den Doppelsinn meiner Aussage bewusst. Aus rein ärztlichem Verantwortungsgefühl verzichtete ich darauf, die plötzlich wieder klar wirkende Katharina einfach ihrem Schicksal zu überlassen.

Ich zog meine Softshelljacke über und half ihr in den Mantel. Am Parkplatz steuerte ich zielstrebig auf mein Auto zu. Katharina strebte in die andere Richtung.

»Mein W…wagen steht um die … Ecke …«

»In deinem Zustand fährst du keinen Meter!«, schnauzte ich sie an. Mein autoritärer Tonfall verfehlte auch diesmal nicht seine Wirkung. Wenig später saß sie auf meinem Beifahrersitz.

Das Blut tropfte noch immer aus ihrer Hand. Ich opferte das Halstuch, mit dem ich mein dunkles Abendoutfit aufgehübscht hatte, um ihr einen Notverband anzulegen. Und um die hellen Sitze meines nagelneuen Skoda Octavia zu retten.

»Ich muss jetzt erst einmal eine rauchen«, informierte mich meine Patientin, kaum dass wir ihr Heim betreten hatten. Inzwischen wirkte sie verhältnismäßig nüchtern – wozu vielleicht auch die Kälte beitrug, die hier herrschte. In dem alten Gebäude, einem sogenannten Krüppelwalmdachhaus, gab es nur Ölöfen. Da offenbar nicht angeheizt war, behielt ich die Jacke an. Ohnehin hatte ich nicht vor, länger zu bleiben als nötig.

»Erst werde ich deine Hand verarzten, dann kannst du rauchen. Setz dich jetzt.«

Sie ließ sich tatsächlich auf ihrem extravaganten Sofa nieder und grinste anzüglich. Wieder fühlte ich mich unweigerlich an die Nacht erinnert, die meine Beziehung zu Holly beendete. Ein Brieföffner, Feuerzeug, ein Post-it-Block und diverse geöffnete Kuverts wurden mit großer Geste auf den Boden geschubst. Ordnung war nicht Katharinas Stärke. Auf ihrem Couchtisch zeugten zwei benutzte Weingläser und eine leere Flasche Merlot davon, dass sie Besuch gehabt hatte.

Wer da wohl wieder in die Gunst ihrer Freizügigkeit gekommen sein mochte, fragte ich mich und ärgerte mich gleichzeitig, weil mich das überhaupt beschäftigte. Ich trug großzügig Desinfektionsmittel auf, als ich die Wunde mit einem Wattebausch reinigte und mich vergewisserte, dass keine weiteren Glassplitter darin steckten. Dann legte ich einen Verband an.

»So. Fertig. Gute Nacht.«

Ich verstaute die Utensilien in meinem Arztkoffer und wollte gehen, doch sie griff nach meiner Hand und hielt mich zurück.

»Was?«, entfuhr es mir unwirsch, doch ein Blick in ihre erwartungsvollen Augen brachte mich zum Verstummen.

»Komm. Bleib noch. Lass uns noch was trinken.«

Ich entzog ihr die Hand.

»Du hattest für heute wahrhaftig genug, Katharina.«

»Dann lass uns eben nichts trinken, einfach nur reden …«

»Ich finde nicht, dass wir das tun sollten.« Meine Stimme klang sogar in meinen eigenen Ohren lahm.

»Ich fühl mich einsam, Gesine. Ich weiß nicht, wen ich sonst bitten könnte, mir zuzuhören.«

Mit hängenden Schultern saß sie vor mir. Die coole, leicht überhebliche Anwältin, als die sie sich sonst so gerne präsentierte, war verschwunden. Zu meinem Entsetzen löste sich nun eine kleine Träne aus ihrem Augenwinkel und rollte ihr über die Wange.

Damit hatte sie mich endgültig. Seufzend stellte ich den Arztkoffer ab.

»Na gut. Aber nur, wenn du den Ofen anzündest. Hier ist es eiskalt.«

Ein vages Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Im Schlafzimmer ist es warm.«

Mein Gesicht verfinsterte sich schlagartig.

»Danke, kein Bedarf.« Natürlich, ich hätte es wissen können! Menschen änderten sich eben nie. Ich griff nach meinem Koffer.

»Nein – du hast das missverstanden!« Katharina nahm ihn mir aus der Hand und stellte ihn außerhalb meiner Reichweite auf den Boden. »Ich will wirklich reden. Der Ofen hier funktioniert momentan nicht richtig; irgendetwas am Ölregler ist defekt … das Schlafzimmer ist der einzig warme Raum.« Als spürte sie, dass meine Skepsis noch immer nicht verflogen war, fügte sie hinzu: »Kein Sex … keine Sorge.«

Ich schüttelte resigniert den Kopf.

Im Schlafzimmer hatte sich seit meinem letzten Aufenthalt nicht wirklich viel verändert. Wie immer waren im ganzen Zimmer Klamotten verstreut. Der Schrank zeigte offen, dass kein Platz mehr darin war.

Katharina schälte sich aus ihrem Mantel. Als hätte sie meine Anwesenheit vergessen, legte sie Stück für Stück ihre komplette Kleidung ab und zog sich ein weites, bis zu den Knien reichendes Shirt über. Dann schlüpfte sie unter die Bettdecke. Den Kopf auf das Kissen gebettet, sah sie mich aus müden Augen an.

Die Luft war warm, aber auch stickig, ich verspürte Durst.

»Hättest du vielleicht doch ein Glas Wasser?«

»Mineralwasser ist im Kühlschrank.«

Da sie keine Anstalten machte, sich zu erheben, begab ich mich selbst in die Küche. Im Gegensatz zum Rest der Wohnung war sie aufgeräumt – nein, unbenutzt. Lediglich ein paar schmutzige Gläser standen auf der Arbeitsplatte zwischen Spülbecken und Herdplatte. Im Kühlschrank fand ich einen Joghurt, ein Päckchen Schafskäse und ein Glas Oliven, daneben Weißwein, Sekt und Champagner. Kein Mineralwasser.

Ein Schluck aus der Leitung täte es auch. Auf der Suche nach einem Glas öffnete ich den Küchenschrank. Sorgfältig gestapeltes Geschirr. Überrascht nahm ich den obersten Teller in die Hand. Bisher hatte ich Katharina nicht als eine Frau kennengelernt, die auf Tischkultur achtete. Ich wollte den Teller gerade wieder zurücklegen, als ich das Foto entdeckte, das unter ihm lag. Es zeigte eine etwas jüngere Anna mit längerem rotblonden Haar auf einem Fahrrad.

Neugierig hob ich auch den zweiten Teller an. Auch darunter lag wieder ein Foto – Anna mit schätzungsweise zwölf, dreizehn Jahren auf Inlineskates. Unter jeden Teller hatte Katharina ein Foto ihrer Tochter gelegt: Anna am Schreibtisch sitzend. Anna auf einem Klassenfoto. Anna mit einer Urkunde in der Hand. Anna vor einem Rednerpult.

Mit der Beklommenheit von jemandem, der in die Intimsphäre eines anderen Menschen eingedrungen war, schichtete ich alles wieder zurück. Hinter der nächsten Schranktür fand ich Gläser, füllte eines mit Leitungswasser und ging zurück ins Schlafzimmer.

Katharina hatte sich auf den Bauch gedreht. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Ich betrachtete die Schlafende eine ganze Weile und fragte mich, wie es dieser rätselhaften Person gelang, innerhalb weniger Stunden sämtliche Gefühle wachzurufen, die ich nur irgendwie zu fühlen fähig war: Wut, Ärger, Ekel, Mitleid, Sorge, Verbundenheit, Begierde – um nur einige davon zu nennen.

Gut, dass sie jetzt schlief. Miteinander zu reden, hätte eine gefährliche Vertrautheit geschaffen. Denn diese kaputte Frau war schlecht für mein Seelenleben. Sie rauchte, soff und stieg mit jedem ins Bett, der es darauf anlegte. Jede einzelne dieser Tatsachen stieß mich ab.

Erleichtert ließ ich schließlich die Wohnungstüre hinter mir ins Schloss fallen.

Kernseife, Kohlsuppe und klare Regeln

Noch ehe die Dämmerung hereinbrach, erfüllte ein dumpfer, metallener Ton den Saal und riss die Frauen aus dem Schlaf. Iris, die schon seit rund einer Stunde wach lag und den Beginn des Tages erwartete, beobachtete von ihrer Matratze aus, wie sich die anderen müde aus dem Bettzeug kämpften, sich steckten und den Schlaf aus den Augen wischten.

Iris. Der Name kam ihr inzwischen selbst fremd vor. Seit sie hier war, galt sie als Nummer eins. Noch nie war sie irgendwo die Nummer eins gewesen. Eins, das hörte sich wichtig an, nach jemandem, der an der Spitze der Reihe stand, einem, der bevorzugt wurde, der besser war als die anderen.

Die Meisterin und ihr Gefolge sprachen sie und die anderen Frauen mit Nummern an, bevor sie neue Namen erhielten. Sie waren angehalten, die Nummern auch untereinander zu benutzen – eigentlich. So ganz daran halten konnte sich keine, weshalb sie die Vornamen der anderen durchaus kannte.

Für Gespräche war es an diesem Morgen allerdings noch zu früh. Zudem sollten sie diese Woche mit Worten sparen. Unterhaltungen waren nicht ausdrücklich verboten, aber auch nicht erwünscht. Mit ihrer Energie zu haushalten, sei für ihre Ausbildung essenziell, hieß es.

Iris schloss sich den anderen Frauen an, die in ihren dünnen weißen Nachtgewändern schweigend durch das nur spärlich erleuchtete Treppenhaus ins Kellergewölbe schlichen. Die Kälte und die Düsternis im Untergeschoss des großen Hauses waren etwas, woran sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte, genauso wenig wie an das eiskalte Wasser, das aus den alten Leitungen kam. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, das morgendliche Duschen einfach auszulassen, so zuwider war es ihr, sich splitternackt hinzustellen und zu warten, dass aus den rostigen Düsen an der Decke des weiß gekachelten Raumes das kalte Nass auf sie niederprasselte wie Starkregen.

Sie wusste, dass die Meisterin eine Weigerung nicht akzeptieren würde. Kaltes Wasser reinige die Seele und aktiviere ihre noch immer von der Ratio zurückgehaltenen Energien, würde sie sie erinnern. Wenn sie die Prinzipien zu ihrer Selbstheilung nicht befolgen wolle, könne sie auch gleich gehen.

Genau das wollte Iris auf keinen Fall, genauso wenig wie die anderen Frauen, von denen jede ihre eigene Geschichte hatte. Von einigen wusste sie, welche Schicksalsschläge sie ereilt hatten: Irmas Kinder waren bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen, während sie selbst nur kurz einkaufen gewesen war. Doro, mit ihren neunzehn Jahren die Jüngste hier, hatte vier Jahre lang auf der Straße gelebt. Gelegentlich erwähnte sie ihren gewalttätigen Ex-Freund. Ob er immer noch nach ihr suchte, wusste sie nicht genau. Sicher war sie sich aber darin, dass ihr derzeitiger Aufenthaltsort inmitten der niederbayerischen Felder und Wiesen ein super Versteck bot. Den Hof und den zugehörigen Grund umgab ein großer Stacheldrahtzaun, niemand konnte in ihre friedvolle Welt eindringen.

Im Vergleich zu ihren Mitschwestern – so lautete die offizielle Bezeichnung der Lernenden untereinander – hielt sich Iris mit ihrer eigenen Geschichte schon fast für privilegiert. Letztendlich war ihr ja nie etwas Schreckliches widerfahren. Die Probleme, mit denen sie sich herumschlug, entsprangen durchweg ihr selbst. In den Einzelsitzungen, in denen sie regelmäßig über ihr bisheriges Leben berichten musste, hatte die Meisterin ihr das klar vor Augen gestellt. Während sie sich mit Kernseife und Naturschwamm abschrubbte, bemüht, nicht mit den Zähnen zu klappern, sagte sie sich, dass es ihr im Gegensatz zu früher doch wirklich gut ging. Das Dasein, das sie hier führte, bot einen geregelten Tagesablauf und Beschäftigung. Beim Studium war sie schon an der Zusammenstellung eines sinnvollen Stundenplans gescheitert; hier umfing sie alles klar und strukturiert.

Das begann schon bei der Aufteilung der Räume. Im Parterre lagen der große Saal, in dem sie einerseits meditierten, andererseits die Mahlzeiten einnahmen, die Küche und das Büro der Meisterin. Iris und die fünf anderen, die noch in der Grundausbildung waren, teilten sich den Schlafsaal im ersten Stock. Im zweiten wohnten die Erleuchteten: vier Frauen, die bereits die höchste Stufe und damit die Macht erlangt hatten, »die Geschicke der Organisation zu steuern«, wie es die Meisterin erklärt hatte. Was das genau bedeutete, hatte Iris noch nicht durchschaut. Sie kannte die Erleuchteten bisher nur als spirituelle Lehrerinnen.

Die Spiritualität, die hier vermittelt wurde und sie nahezu bei jedem Atemzug umfloss, tat ihr jedenfalls gut. Erstmals fühlte sie sich von ihrem Umfeld akzeptiert. In der Welt der Unwissenden – so wurde das Leben fernab des entlegenen Hofes genannt – hatte sie sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, was andere wohl über sie dachten, was sie über sie reden mochten, ob sie sie sympathisch fanden oder nicht. Hinter jedem ausbleibenden Gruß und bei jedem verzogenen Mundwinkel vermutete sie einen Affront. Im Laufe der Jahre war sie mehr und mehr überzeugt davon, dass fast jeder negativ über sie dachte. Ihre Beziehungen zu Männern waren daran stets gescheitert. Selbst platonischen Freundschaften hatte sie aus Angst vor Ablehnung irgendwann keine Chance mehr gegeben.

Hier am Hof von Lumenaria dagegen lebte sie in einer anderen, besseren Welt. Das leichte Lispeln, über das sich die Kommilitonen bei Referaten oft lustig gemacht hatten, ihre unreine Haut, ihre Schüchternheit spielten hier keine Rolle. Niemand hackte auf ihren Fehlern herum. Die Frauen, mit denen sie den Schlafsaal teilte, waren vollauf mit sich befasst.

Ihr selbst ging es nicht anders. Meistens war sie zu müde, um sich noch mit den anderen beschäftigen zu können. Der frühe Tagesbeginn, die viele Arbeit und die Lehrinhalte, in die sie sich vertiefen musste, erschöpften sie. Wenn gegen 22.30 Uhr nach der Großen Versammlung die Nachtruhe eingeläutet wurde, fielen ihr die Augen zu, kaum dass sie sich auf der Matratze ausgestreckt hatte. Trotzdem war sie vor dem Gong wach. Seit sie vor vier Monaten in den Schlafsaal eingezogen war, schlief sie nicht mehr als fünf, fünfeinhalb Stunden. Zu wenig, um sich zu erholen. Aber es war, als stünde ihr Körper unter Strom.

Das Wasser wurde abgedreht. Kathleen, die Norddeutsche, die die erst vor einem Monat zu ihnen gestoßen war, stieß einen leisen Fluch aus. Ihr halblanges, blondes Haar war noch mit Seifenschaum bedeckt. Iris wusste, was ihr nun blühte: Sie würde den ganzen Tag mit der Seife im Haar herumlaufen müssen. Der eingetrocknete Schaum juckte entsetzlich. Nachts brannte die Kopfhaut, dass man den nächsten Morgen, an dem die Duschen wieder aktiviert würden, kaum erwarten konnte.

Zwei-, dreimal war es ihr auch passiert. Inzwischen wusste sie, wie lange das Wasser floss. Dass Kathleen es immer noch nicht im Gespür hatte, war für Iris nicht nachvollziehbar, wie so vieles andere an dem Neuzugang nicht.

Angeblich hatte Kathleen Biologie studiert – aber hier konnte sie sich nicht einmal die Zusammensetzung eines einfachen Kräutertees auswendig merken. Außerdem fragte die Dreißigjährige ständig, neugierig wie ein Kind. Oft waren es sehr persönliche Fragen. Wie hast du vorher gelebt, was hast du gemacht, glaubst du an Gott, hattest du schon früher Kontakt zu übersinnlichen Kräften … Iris hasste es, so ausgefragt zu werden, und antwortete nur ausweichend. Allerdings hatte sie es Kathleens Hartnäckigkeit zur verdanken, dass sie inzwischen doch so einiges über ihre eher wortkargen Mitbewohnerinnen wusste. Außer über Kathleen. Die Vielfragerin hielt sich, was ihr eigenes früheres Leben anging, erstaunlich bedeckt und verriet nur, dass sie vor ein paar Jahren wegen eines Freundes aus Norddeutschland nach München gekommen war.

Das steife Handtuch kratzte auf der Haut, als Iris ihren Körper damit trocken rieb. Sie konnte fühlen, wie das Blut ihr heiß in die Adern schoss. Kurz musste sie sich an der felsigen Mauer abstützen. Neuerdings machte ihr der Kreislauf zu schaffen. Als sich das Schwindelgefühl gelegt hatte, schlüpfte sie in Hemd und Hose und warf den olivgrünen Umhang über, der zur Einheitskleidung der Frauen gehörte. Eilig band sie ihr noch feuchtes Haar nach hinten, legte das Kopftuch an und folgte den anderen in den Frühstückssaal.

Diesmal gab es Kohlsuppe – einen Schöpflöffel für jede. Dass Kathleen so auffällig das Gesicht verzog, ärgerte Iris. Wieso war sie hier, wenn sie allein schon die auf ihre Aura abgestimmte Ernährung ablehnte? Die Meisterin hatte ihnen doch genau erklärt, wie wichtig es war, ein ganzheitliches System zu befolgen, um die Energien in die richtigen Bahnen zu lenken.

Die Suppe schmeckte leicht versalzen, wie die meisten Speisen, die ihnen gereicht wurden. Doch Fylla, die hagere ältere Frau, die die Küche leitete, wirkte eher verhärmt als verliebt. Schweigend hantierte sie an den Töpfen. Möglich, dass die Frau ein Schweigegelübde abgelegt hatte.

Iris hatte die Schüssel kaum geleert, als erneut ein Gong ertönte. Es ging an die Arbeit.

Jeden Vorabend bekamen sie ihre Aufgaben zugewiesen. Iris würde gemeinsam mit Kathleen unter Fyllas Aufsicht Birnen einkochen. Insgeheim war sie froh, dass sie nach der gestrigen kräftezehrenden Pflückerei mit Irma und Doro in der warmen Küche arbeiten durfte. Zugegeben hätte sie dies jedoch nie – aus Angst, sich den Unmut der Meisterin zuzuziehen. Wenn sie sich jetzt nicht bewährte, würde sie vielleicht nie auserwählt werden.

Stunden später, als sie neben Kathleen auf einem Hocker saß und eine Birne nach der anderen schälte, beneidete sie all jene, die etwas anderes tun durften, beispielsweise Doro, die beim Zusammenstellen der Kräutermischungen half, und selbst Ruth, die ehemalige Vorstandssekretärin mit dem stumpfen Blick, die Böden schrubbte, abstaubte und die Betten im Schlafsaal frisch bezog. Iris’ Hände waren inzwischen rau, fleckig und mit kleinen Schnitten übersät. Zudem schienen die Birnen nicht weniger zu werden. Kaum hatten sie einen Korb geleert, schleppte Fylla bereits den nächsten an.

Anfangs hatte sie immer wieder ein Schnitzchen genascht, sobald Fylla mit einer Wanne geschälter Früchte nach nebenan in die Küche verschwand. Vermutlich wurde die Nascherei von den Erleuchteten nicht gern gesehen, weil es ihre Energien stören konnte. Allerdings waren die Mahlzeiten sehr knapp bemessen. Und sosehr sie sich auch Mühe gab, dem vorgesetzten Ernährungsplan zu folgen, so vehement knurrte ihr Magen.

Jetzt drückten die Birnen, ihr Magen gurgelte beunruhigend. Von der vielen Fruchtsäure war ihr ganz flau. Sie fragte sich, ob es Kathleen wohl ähnlich ging wie ihr, mied aber deren Blick. Anfangs hatte sie noch gelegentlich zu ihr hinübergeschaut, doch Kathleen hatte immer wieder provokativ die Augen verdreht und Gesichter in Fyllas Richtung geschnitten. Iris fürchtete, dass der Küchenfrau dies nicht auf Dauer verborgen bliebe, und wollte sich nicht deren Ärger zuziehen.

»Na, noch immer nicht fertig?«

Bryndis, die Meisterin, stand vor ihnen und bedachte sie mit einem stechenden Blick, nachdem sie mit Stirnrunzeln die vier prallvollen Körbe wahrgenommen hatte, die noch zum Schälen bereitstanden. Die kleine, drahtige Frau mit dem bis zu den Schultern reichenden Haar besaß keine besonders freundliche Ausstrahlung. Im April, als Iris sie kennengelernt hatte, war ihr Urteil noch anders ausgefallen. Damals war sie von der aufmerksamen Art und Weise, mit der die ältere Frau auf sie einging und ihr zuhörte, sogar recht angetan gewesen. Der Schritt, sich für immer Lumenaria anzuschließen, war auch deshalb nur ein winziger gewesen. Ohne Job, ohne Wohnung und mit dem irgendwie versandeten Studium hatte sie sowieso nichts zu verlieren.

Mittlerweile wusste sie, wie hart und unerbittlich die Meisterin auf Verfehlungen reagieren konnte – beispielsweise, wenn jemand die Zehn Gesetze zur Erleuchtung nicht flüssig aufsagen konnte oder gegen die Hausordnung verstieß. Iris war dennoch bereit, alles zu ertragen, denn jeder Tag brachte sie ihrem Ziel näher: Als Erleuchtete würde sie endlich über den Dingen stehen, mit sich im Einklang sein. Nie mehr einen Gedanken darüber verlieren, ob andere sie mochten oder akzeptierten.

»Beeilt euch«, fuhr die Meisterin sie jetzt in ihrer unerbittlichen Art an, die sie an den Tag legte, seit Iris ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte – jenen Vertrag, mit dem sie bestätigte, sich an die Anweisungen und Regeln der Organisation zu halten. »In einer Stunde beginnt die Meditation. Ich wünsche nicht, dass ihr zu spät kommt.«

Die Meisterin ging in die Küche. Iris hörte sie etwas zu Fylla sagen. Dann schloss sich die Tür, die von der Küche aus auf den Gang führte. Weder das Klappern von Töpfen noch das leise Quietschen des Wasserhahns am Spülbecken drang noch zu ihnen. Offenbar waren Fylla und Bryndis gegangen.

Obwohl ihr Magen noch immer rebellierte, schob Iris sich ein weiteres Stück Birne in den Mund. Die Kohlsuppe am frühen Morgen hatte nicht lange vorgehalten, aber nie würde sie sich das anmerken lassen. Es stand zu viel auf dem Spiel.

»Mach du alleine weiter.« Kathleen legte das Messer zur Seite. »Ich muss diesen Seifenschaum loswerden. Das fängt allmählich an zu jucken.«

Iris warf ihr einen ängstlichen Blick zu. Nicht nur, dass Kathleen gegen die Regeln verstieß – wie sollte sie alleine bis in einer Stunde die restlichen Birnen bewältigen?

»Ich glaube nicht, dass das im Sinne der Meisterin ist«, wandte sie vorsichtig ein. »Das Wasser beim Duschen ist begrenzt, weil wir was lernen sollen. Du hintergehst die Lehre, wenn du eigenmächtig handelst.«

Dass Kathleen sie quasi zwang, das aufgetragene Schweigen zu durchbrechen, war ein weiterer Punkt, der ihr missfiel. Wenn die Meisterin davon erfuhr, würde sie womöglich denken, dass sie auf Kathleens Seite stand und ebenfalls bereit war, gegen die Regeln zu verstoßen. Das durfte nicht sein.

»Die gute Bryndis dreht das Wasser ab, weil sie eine Sadistin ist, nicht, weil wir dadurch etwas lernen sollen. Ich wüsste zudem nicht, was.« Kathleen schnaubte. »Und überhaupt – wenn du die Klappe hältst, wird niemand mitkriegen, dass ich kurz mein Haar nebenan im Spülbecken auswasche. Zum ersten Mal macht dieses entsetzliche Kopftuch für mich Sinn.«

»Aber Kathleen! Die Meisterin weiß doch sowieso alles.« Iris konnte nur den Kopf schütteln über die Neue. Unglaublich, wie naiv diese Frau nach vier Wochen noch war! Sie wirkte rebellisch und brauchte ewig, um sich in die Gemeinschaft einzufinden. »Auch, was wir tun, wenn sie nicht anwesend ist.«

Kathleen stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »In deinen Gedanken vielleicht. – Himmel, Iris, wir beide sitzen hier mutterseelenallein im Zimmer. Woher bitte soll Bryndis wissen, was wir tun? Du hast selbst gesehen, dass sie gerade gegangen ist!«

»Sie muss nicht räumlich anwesend sein, um zu sehen, wenn wir gegen Regeln verstoßen.« Iris wusste nicht, was sie mehr störte: dass Kathleen die Meisterin beim Vornamen nannte, was nur den Erleuchteten erlaubt war, oder ihre frevelhaften Worte. »Sie weiß auch so, was in uns vorgeht!«

»Klar, Bryndis ist omnipräsent«, unüberhörbarer Sarkasmus schwang in Kathleens Stimme. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck fügte sie hinzu: »Sag mal – du glaubst doch den Unsinn, der uns hier erzählt wird, nicht wirklich?«

»Als Meisterin empfängt sie ihr Wissen vom Lichtwesen«, erläuterte Iris. »Und das Lichtwesen sieht zu jeder Minute, was wir tun.« Sie zog es vor, nicht auf Kathleens Lästerei einzugehen. Das Lichtwesen sollte keinen Grund haben, Schlechtes von ihr zu berichten.

»Wie auch immer.« Kathleen erhob sich. »Glaub, was du willst. Ich bin dann mal weg.«

»Aber das Lichtwesen wird es der Meisterin erzählen und dich … uns beide … bestrafen«, warf Iris ein in der Hoffnung, die Gefährtin doch noch umstimmen zu können. Ein Blick in Kathleens amüsiertes Gesicht verriet ihr, wie wenig ernst die hochgewachsene Blondine sie nahm. »Erinnere dich, als jemand neulich in der Nacht Irmas Umhang zerschnitten hat«, mühte sie sich weiter. »Die Meisterin wusste sofort, dass Gitti dahinter steckt! Und warum? Weil das Lichtwesen es ihr berichtet hat!«

Kathleen schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wenn das Lichtwesen und Bryndis nichts anderes zu bereden haben als das, was wir den lieben langen Tag tun, bezweifle ich stark, dass die beiden selbst an das glauben, was sie hier verzapfen. Man sollte ja meinen, sie hätten hoch Spirituelles zu bereden, nicht all diesen irdischen Kram«, bemerkte sie bissig. »Außerdem: Wie blöd bist du eigentlich? – Dass Gitti dahinter steckte, war uns doch allen klar! Erstens konnte sie Irma nicht ausstehen, zweitens war die doch irgendwie … gaga, im pathologischen Sinn! – Warum, meinst du, wurde sie danach wohl weggeschickt? Weil die Frauen vom Inneren Kreis erkannt haben, dass sie mit ihrer psychischen Erkrankung überfordert sind! Weil sie gemerkt haben, dass Gitti nur Ärger macht!«