DUNKLE ERNTE (Project 4) - Alex Lukeman - E-Book + Hörbuch

DUNKLE ERNTE (Project 4) E-Book und Hörbuch

Alex Lukeman

5,0

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Beschreibung

Nachdem drei führende Experten auf dem Gebiet der Erforschung seltener Pflanzenkrankheiten auf ein Geheimnis aus der Zeit Alexanders des Großen stoßen, werden sie in kurzer Folge tot aufgefunden. Die Inschriften auf ein paar alten Tontafeln berichten von dem Fluch einer alten griechischen Göttin, der die Nahrungsmittelversorgung der gesamten Welt vernichten könnte – das ideale Werkzeug, um die Weltherrschaft zu erlangen. Nun muss das PROJECT-Team um Nick Carter und Selena Connor alles daran setzen, den Ursprung des Fluches zu finden, einen Verräter in den eigenen Reihen aufzuspüren und eine globale Katastrophe zu verhindern. Auf ihrer Jagd von Griechenland nach Bulgarien und bis in ein geheimes Forschungsgebiet in Texas müssen die beiden Geheimagenten dafür sogar eine höchst ungewöhnliche Allianz eingehen, um den jahrhundertealten Fluch aufzuhalten, denn ihre Gegner sind mächtiger, als es anfänglich den Anschein hat.

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Seitenzahl: 319

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Zeit:9 Std. 3 min

Sprecher:Michael Schrodt

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Dunkle Ernte

Alex Lukeman

übersetzt von Peter Mehler

Copyright © 2014 by Alex Lukeman

Dieses Werk ist Fiktion. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Veröffentlichung darf in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen werden, außer nach vorheriger und ausdrücklicher Genehmigung des Autors. (Dieses Werk ist Fiktion.) Namen, Charaktere, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder vom Autor frei erfunden oder als fiktives Element verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: BLACK HARVEST Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-457-9

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Dunkle Ernte
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Danksagung
Über den Autor

Kapitel 1

Manchmal ist es besser, nicht zu finden, wonach man sucht.

In einem letzten verzweifelten Aufbäumen umklammerte der raue Winter Neuenglands den Campus des Dartmouth Colleges mit arktischer Kälte, doch in der Rauner Library war es warm und behaglich. Durch ein Vergrößerungsglas spähte James Campbell gerade auf seine jüngste Entdeckung hinab.

Neun rötlich-braune Tontafeln aus dem alten Persien, komplett mit Schriftzeichen bedeckt. Die Einkerbungen waren noch so klar und deutlich zu erkennen wie an jenem Tag, als man sie in den frischen Ton gepresst hatte, vor über 2400 Jahren. Campbell tippte eine letzte Notiz in seinen Laptop, dann klappte er den Computer zu.

Campbell war ein untersetzter Mann um die sechzig. Sein graues, lichter werdendes Haar zog sich in der Form von Geheimratsecken aus einem Gesicht zurück, das in all den Jahren, in denen es durch ein Mikroskop auf winzige Lebensformen gestarrt hatte, die von Tod und Zerstörung kündeten, faltig geworden war. In dieser Nacht fand sich jedoch nichts Lebendiges unter seinem Vergrößerungsglas. Nur die Tafeln, die er tief in den Archiven vergraben gefunden hatte. Sie enthielten den Hinweis auf die Erfüllung eines Traums … oder vielleicht auch eines Albtraums.

Das könnte der Schlüssel sein, dachte er bei sich.

Campbell fotografierte die Tafeln mit seinem Handy und verfasste zwei Nachrichten. Mit einem Fingerdruck auf das Display schickte er die E-Mails mit den Bildern auf die Reise. Dann packte er das Handy zusammen mit einer Kopie der Inschriften in die Tasche seines Laptops. Die Tafeln verschwanden wieder in ihren Schubladen im Archiv. Er warf sich seinen schweren Mantel über, nahm seinen Laptop und lief zum Ausgang. Es war schon spät, aber Campbells Position erlaubte es ihm, zu jeder Tages- und Nachtzeit Zutritt zum Gebäude zu haben. Ein müder Wachmann erhob sich von seinem Stuhl und entriegelte die Tür. Ein schwacher Hauch von Bourbon umwehte ihn. Campbell trat in die eisige Nacht hinaus.

Der Boden knirschte unter seinen Füßen. Der Himmel war ein Ozean aus zerbrechlich wirkenden Sternen. Wenn er einatmete, fühlte sich die Luft wie der Kuss einer Rasierklinge an, messerscharf und schmerzhaft. Er lief zu seinem Wagen, der allein auf einem verlassenen Parkplatz stand. Die Fensterscheiben waren beschlagen. Seltsam, dachte er, besonders bei dieser Kälte.

Der gemietete Volvo startete nur unter Protest. Campbell wartete, bis sich der Motor warmgelaufen hatte, und dachte währenddessen über die Tontafeln nach.

Dann wurde plötzlich etwas Scharfes gegen seine Kehle gepresst. Adrenalin durchflutete seinen Körper.

»Keine Bewegung.« Im Rückspiegel erblickte Campbell nun ein dunkles Gesicht. Der Schädel war schmal, die Augen tief in ihren Höhlen liegend und dunkel.

»Was …?«

»Sie reden nur dann, wenn ich es Ihnen erlaube. Verstanden?«

»Ja.«

»Sie forschen derzeit an etwas. Antworten Sie … ja oder nein?«

Campbell schluckte. Die Klinge erzeugte einen schmalen Streifen des Schmerzes an seinem Adamsapfel.

»Forschungen, ja.«

»Was haben Sie herausgefunden? Ich merke, wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen. Wenn Sie lügen, schneide ich Ihnen Ihr Ohr ab. Glauben Sie mir das?«

»Ja.« Ein sehr ursprüngliches Gefühl kroch ihm jetzt die Wirbelsäule hinab, aus einer Zeit, als die Menschen noch in Höhlen gelebt hatten: Pure unverfälschte Angst.

»Was haben Sie gefunden?«

»Aufzeichnungen über Alexanders Eroberung des persischen Königreiches, nach seinem Einmarsch in Babylon. Berichte über seine Reichtümer.«

»Sonst nichts?«

»Nein.« Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.

Campbell schrie, als sein Ohr auf den Boden fiel. Blut rann ihm am Hals hinunter. Bevor er sich auch nur bewegen konnte, befand sich das Messer schon wieder an seiner Kehle, nass von seinem eigenen Blut.

»Sie sind kein Historiker. Sie haben gelogen. Tun Sie das nie wieder. Sagen Sie mir, was ich wissen will, und Sie können gehen.«

Der Mann hatte sein Gesicht nicht verborgen, daher wusste Campbell ganz genau, dass er sterben würde. Er dachte an seine Frau, die krank zu Hause lag. Ein plötzlicher Anflug tiefer Traurigkeit trieb ihm die Tränen in die Augen. Was sollte sie denn nur ohne ihn tun?

Unausgegorene Gedanken über eine mögliche Flucht rasten ihm durch den Kopf. Vielleicht könnte er sich ja herauswinden. Den Laptop oder seine Autoschlüssel als Waffe verwenden. Das Messer von seinem Hals ziehen, bevor es ihm die Kehle durchschneiden konnte. Schreien … die Autotür öffnen … sich hinauswerfen.

Aber es war sinnlos.

Schmerzen durchzuckten die Seite seines Kopfes. Das Blut lief ihm unter seinen Kragen. Er fühlte sich benommen. »Ich frage Sie jetzt noch einmal: Was haben Sie gefunden?«, hörte er die ruhige Stimme hinter sich.

Halte ihn hin. Vielleicht schaffe ich es ja, rechtzeitig den Arm zu heben.

»Ich schwöre, es war nur eine Liste der Reichtümer, die sich vor der Eroberung, in den Schatzkammern befanden. Aufzeichnungen, die von Alexander in Auftrag gegeben worden sind.« Dieser Teil entsprach der Wahrheit. »Nichts Wichtiges. Nicht, was uns nicht schon längst bekannt gewesen wäre.«

»Haben Sie die Tafeln bei sich?«

»Nein, sie liegen in der Bibliothek.«

»In der Bibliothek?«

»Ja.«

Weißes Feuer schlitzte ihm den Hals auf, durchtrennte Fleisch, Arterien und Knochen. Blut spritzte gegen die Windschutzscheibe. Campbell fuhr sich mit beiden Händen an die Kehle und versuchte, die Sturzbäche aufzuhalten, mit denen das Leben aus ihm entwich. Er zuckte, gurgelte, fiel nach vorn und starb innerhalb kürzester Zeit.

Der Mann stieg aus dem Auto, ohne das über dem Lenkrad zusammengesunkene Bündel noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Er lief um das Auto herum, öffnete die Beifahrertür, nahm den Laptop vom Sitz und verschwand in der eisigen Nacht.

Kapitel 2

Nick Carter konnte nicht mehr schlafen. Wieder hatte er von dieser Granate geträumt. Nun war es fünf Uhr morgens. Er wartete darauf, dass die Sonne aufging, und trank bereits seine dritte Tasse Kaffee. Er saß am Küchentresen in seinem Apartment und fragte sich, wieso der Traum schon wieder zurückgekehrt war. Nicht, dass er nicht verstand, wieso er diesen Traum ständig hatte.

Nick war der Director of Special Operations für PROJECT, einer verdeckt arbeitenden Geheimdienstorganisation, die direkt dem Präsidenten unterstand. Sein Titel war aber nur eine hochtrabende Umschreibung dafür, dass er sämtliche Missionen planen musste und im Einsatz das Sagen hatte. Wieso oder wann die Leute auf ihn schossen, darüber hatte er jedoch nicht zu entscheiden. Die wirkliche Leiterin von PROJECT war nämlich Elizabeth Harker.

Bevor Harker ihn für das PROJECT rekrutiert hatte, damals, als er sich von den Verletzungen einer Granate erholte, die ihm beinahe das Leben gekostet hatte, erzählte ihm ein Seelenklempner, dass die Träume nur der Versuch seines Unterbewusstseins wären, einen unlösbaren inneren Konflikt zu bewältigen. Das half ihm ungefähr so viel, als wenn man ihm gesagt hätte, die Träume kämen, weil die Träume eben einfach kamen. Der Seelenklempner hatte sogar eine Bezeichnung dafür gehabt: kognitive Dissonanz. Etwas, das passierte, wenn die Realität mit dem Kopf voran gegen die eigenen Vorstellungen prallte und gewann. Psychiater hatten offenbar für alles ein Fachwort parat.

Er wusste nur allzu gut, warum er diese Träume hatte. Aber wenn er es wusste, wieso verschwanden sie dann nicht endlich? Er war schon öfter an diesem Punkt angekommen, eine Endlosschleife, die in seinem Kopf ablief, und aus der es anscheinend keinen Ausweg zu geben schien.

Zur Hölle damit.

Er stand auf, holte ein paar Eier aus dem Kühlschrank und Brot aus der Speisekammer. Dann nahm er eine Pfanne aus dem Schrank, schaltete den Herd an und gab etwas Butter hinein. Anschließend steckte er zwei Scheiben Brot in den Toaster, schlug die Eier auf und ließ ihren Inhalt in die Pfanne laufen.

Beim Essen dachte er noch einmal an seinen Traum.

Sie kommen sehr schnell über die Brücke, das wummernde Fop-fop-fop der Rotoren über ihnen, mit Kurs auf ein erbärmliches kleines Dorf, das in der grellen afghanischen Sonne liegt. Zwischen den Häusern führt ein grober Feldweg hindurch.

Er springt als Erster hinaus und stürmt, sein M4 fest an seine Wange gepresst, die Straße hinunter. Hinter ihm folgen seine Marines, kampfbereit und in Formation. Häuser säumen beide Seiten der Straße, deren Wände von längst vergessenen Feuergefechten durchlöchert sind. Links von ihm befindet sich der Markt, eine notdürftig zusammengeschusterte Ansammlung klappriger Kisten und herabhängender Stoffbahnen. Fliegen belagern den Stall des Metzgers.

Er befindet jetzt auf dem Markt. In seinem adrenalingeschwängerten Schweiß kann er seine eigene Angst riechen. Von den Wänden hält er Abstand. Irgendwo schreit ein Baby. Die Straße ist leer. Wo sind alle geblieben?

Dann tauchen auf den Dächern plötzlich bärtige Männer auf, bewaffnet mit AKs. Die Marktstände explodieren in einem Wirbelsturm aus Holzsplittern, Putz und Steinbrocken aus den angrenzenden Gebäuden.

Ein Kind rennt auf ihn zu, schreit irgendetwas über Allah. In seiner Hand hält es eine Granate. Carter zögert, denn es ist doch nur ein Kind. Der Junge ist gerade mal zehn Jahre alt, vielleicht zwölf. Er reißt den Arm zurück … wirft … und Nick erschießt ihn. Der Kopf des Jungen explodiert in einer Wolke aus Blut und Knochen. Wie in Zeitlupe fliegt die Granate auf ihn zu … und dann wird alles weiß …

Nick kam in der Küche wieder zu sich. Er schwitzte. Er blickte auf seine Hand hinunter, die seine Tasse so fest umklammerte, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine Eier waren mittlerweile kalt geworden. Der Kaffee ebenso. In Gedanken war er wieder in jenes Dorf zurückgekehrt. Das war ihm schon länger nicht mehr passiert; nicht seit Pakistan, kurz bevor Selena angeschossen worden war.

Sie hatten einfach Pech gehabt, während eines Schneesturms nach einer blutigen Auseinandersetzung im Hochland des Hindukusch ausgerechnet einer Einheit der Taliban in die Arme zu laufen. Ihre Schutzweste hatte ihr das Leben gerettet. Noch gerade so. Er hatte sie zur Landezone zurückgetragen und dabei die ganze Zeit gehofft, dass sie es schaffen würde. Sie überlebte. Das war das Einzige, was zählte.

Selena! Seine Gefühle für sie verwirrten ihn, und er war es leid, darüber nachzudenken. Deshalb beschloss er, heute zeitiger zur Arbeit zu gehen und das Fitnessstudio aufzusuchen, bevor der Verkehr so richtig schlimm wurde.

Der Fitnessraum im Keller des PROJECT-Hauptquartiers roch nach Schweiß, Anstrengung und der trockenen Luft aus der Klimaanlage. Das Training war kein Spaß mehr, denn seine alten Wunden lauerten nur darauf, ihre Chance zu bekommen. Doch wenn er nicht mehr trainierte, würde er seine Form einbüßen. Außerdem bedurfte das Training im Fitnessstudio keiner Selbstbeobachtung. Körperliche Ertüchtigung war etwas, das er verstand.

Nach einer Stunde an den Geräten begann er mit Seilspringen. In den großen Spiegeln erhaschte er einen Blick auf sich. Ein hart wirkendes Äußeres, ein Meter Achtzig hohe Anspannung, zweihundert Pfund. Während er sich im Spiegel betrachtete, dachte er, dass er sich selbst womöglich eine Höllenangst eingejagt hätte, wenn er sich nicht kennen würde. Einen Schönheitspreis würde er in diesem Leben wohl nicht mehr gewinnen, so viel stand fest.

Er nahm den Blick von dem Spiegel. Sein Schweiß hatte dunkle Flecken auf seiner Kleidung gebildet und er hatte einiges an Kalorien verbrannt. Sein Rücken schmerzte, aber damit würde er klarkommen. Kein Grund, an etwas anderes zu denken als an den einfachen Rhythmus seines Körpers und an das verschwommene Surren des Springseils.

Es tat gut, einmal nicht nachdenken zu müssen.

Selena Connor betrat nun den Raum. Einen Moment lang betrachtete sie Nick. Ein großer, zäher Mann. Nicht sonderlich hübsch, aber auch nicht hässlich. Graue Augen mit einem seltsam wirkenden goldenen Tupfer darin. Sein Gesicht wirkte angespannt und konzentriert. Die Narbe an seinem linken Ohr trat rot hervor. Das tat sie immer, wenn er trainierte … und auch im Schlafzimmer. Sie stellte ihre Sporttasche auf einer Bank ab und begann dann, sich zu dehnen. Er beobachtete sie dabei, während er das Seil in Form einer Acht um seinen Körper kreisen ließ.

»Hey«, sagte sie.

»Selber hey. Bin gleich fertig.« Er zog das Tempo an. Selena sah gut aus, selbst in einer dunkelblauen Jogginghose. Nick beneidete sie um ihre athletische Anmut, die sie stets ausstrahlte. Sie beendete ihre Aufwärm-Übungen und kam dann zu ihm herüber. Eine Locke ihres rotblonden Haares fiel ihr in die Stirn. In ihren purpurnen Augen blitzte ein wenig der Schalk auf. Nick wurde langsamer, dann hielt er ganz an.

Sie sah zu ihm auf. »Lust, ein paar Tricks zu lernen? Die Kenntnisse ein wenig aufzufrischen?«

Nick bemerkte die Herausforderung in ihrem Tonfall. Er war nicht schlecht im unbewaffneten Nahkampf, aber Selena war um Klassen besser.

»Wenn du meinst, dass du es verkraftest.«

»Ich oder du?«

Nick überragte Selena um gute fünf Zentimeter und brachte wenigstens dreißig Kilogramm mehr auf die Waage. Doch nachdem sie ihn zum sechsten oder siebten Mal auf die Matte befördert hatte, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht ein wenig zu alt für diese Form der Auffrischung wurde. Von den Schlägen, die er einstecken musste, tat ihm schon alles weh.

»Okay, ich gebe auf. Das reicht.«

»Willst du nicht noch mal den Handgelenksgriff durchgehen?«

»Wenn ich noch weiter trainiere, habe ich bald keine Handgelenke für irgendwelche Griffe mehr.«

Sie lächelte. Ihre Mundwinkel kräuselten sich dabei. Ein schönes Lächeln. Sie nahm ein Handtuch und trocknete sich das Gesicht ab. Sie war kaum ins Schwitzen geraten.

»Du wirst immer besser. Einmal hättest du mich fast gehabt.« Das Telefon in ihrer Tasche signalisierte eine Nachricht. Sie lief zur Bank, kramte ihr Handy hervor und hörte die Nachricht ab. Nach einer Minute steckte sie es wieder in ihre Tasche zurück.

»Das war ein Freund von mir aus Georgetown, Kevin McCullough. Er will, dass ich ihm bei der Übersetzung von ein paar Keilschriften helfe.«

Selena hatte sich einen weltweiten Ruf als Expertin für alte Sprachen erworben. Es gab nicht viele Leute, die Beowulf auf Angelsächsisch zitieren konnten. Oder es wollten. Aber Selena war schließlich nicht wie die meisten anderen Leute.

»Hätte ich mir denken können, dass du auch Keilschriften lesen kannst. Irgendwelche interessanten Bücher von damals, die du mir empfehlen kannst?«

»Keine Bücher, aber gute Geschichten. Eigentlich genau dein Fall. Du würdest sie mögen, denn sie sind äußerst blutig und voller Mord und Totschlag.« Sie nahm ihre Tasche hoch. »Ich werde zu ihm fahren, nachdem ich geduscht habe. Kommst du mit?«

»In die Dusche?«

»Witzbold. Nein, nach Georgetown.«

»Klar. Harker wird uns schon anrufen, falls sie uns braucht.«

In Selenas Mercedes fuhren sie den Memorial Parkway hinunter, überquerten die Key Bridge nach Washington und begaben sich von dort aus zur Georgetown Universität. Den Wagen parkten sie in der Nähe der Healy Hall, wo Selenas Freund ein Büro besaß.

Die imposante Healy Hall sah wie ein Gebäude aus, das sich genauso auch in London hätte befinden können, in den glorreichen Tagen des Empires. Sie war riesig, fünf Stockwerke hoch und aus grauen Steinblöcken errichtet. Zwei hohe Türme schmückten den ehrwürdigen Bau, zusammen mit ein paar kleineren Mauertürmen. Lange Fensterreihen zierten die Fassade.

»Das nenne ich mal ein Bauwerk.« Carter sah zu dem Turm in der Mitte des Gebäudes auf. Wahrscheinlich gab es darin auch ein paar Glocken. »Quasimodo würde es hier sicher gefallen.«

»Beeindruckend, oder?«

»Die kleinen Türmchen verleihen ihm noch eine nette Note. Gibt ihm einen zeitgenössischen Look.«

McCulloughs Büro befand sich im vierten Stockwerk. Sobald sie das Büro betreten hatten, wusste Nick, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Professor McCullough war Ende fünfzig, vielleicht auch Anfang sechzig. Er war ein kleiner Mann, etwa einen Meter fünfundsiebzig groß, mit lichtem rötlichem Haar und einem sanft wirkenden, blassen Gesicht. Er trug ein braunes Jackett aus feinster Wolle. Mit wässrigen Augen sah er sie durch seine Gleitsichtbrille hindurch an.

»Selena, danke, dass du kommen konntest.«

»Hallo Kevin. Das ist Nick Carter. Wir arbeiten zusammen.«

McCulloughs Hand fühlte sich unangenehm feucht an, als Nick sie schüttelte. Der Raum war bis oben hin vollgestopft und stickig. Ein großes Fenster zeigte zur Vorderseite des Gebäudes hinaus, doch es war geschlossen. Überall lagen Dokumente in Aktenordnern oder in Kisten. Ein Bücherregal, das bis zur Decke reichte, nahm eine der Wände ein und ächzte unter viel zu vielen Büchern. Der Raum roch nach Staub und trockenem Papier. Sich das Chaos hier auch nur ansehen zu müssen genügte schon, dass Nick die Augen wehtaten. McCullough deutete auf zwei abgenutzte Sessel.

»Bitte, setzt euch doch.«

Er selbst nahm in dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch Platz und ordnete kurz seine Gedanken.

»Selena, die Polizei hat mich angerufen.« Er verschränkte seine Finger.

»Was ist denn los, Kevin?«

»Die Bilder, die du dir ansehen sollst, stammen von einem Freund, Jim Campbell. Er wurde vergangene Nacht ermordet, nachdem er mir diese Bilder geschickt hatte. Also, natürlich danach. Die Polizei rief daraufhin all seine Kollegen an.«

Selena und Nick tauschten einen Blick aus.

»Das tut mir leid, Kevin.«

»Jim war ein guter Freund von mir. Wir arbeiteten auf dem gleichen Gebiet.«

»Welches Fachgebiet ist das denn, Professor?« Nick kratzte sich am Ohr.

»Mikrobiologie. Ich habe mich auf Getreide-Viren spezialisiert. Jim war einer der führenden Autoritäten auf diesem Gebiet. Er war gerade dabei, eine Sammlung von Artefakten am Dartmouth College zu studieren.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihn jemand umgebracht hat. Wieso sollte jemand so etwas tun?«

»Woran genau forschte er denn?«, fragte Selena.

»An Keilschrift-Tafeln, die im Irak gefunden worden sind. Er suchte nach Hinweisen für altertümliche Hungersnöte und Missernten. Einige von ihnen kosteten Hunderttausenden von Menschen das Leben. Jim arbeitete für das Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention in Atlanta. Er war wirklich ein brillanter Kopf. Er verbrachte mehrere Jahre damit, die alten Sprachen zu studieren, um direkt mit den alten Quellen arbeiten zu können.«

Selena nickte. »Das verstehe ich. Enthielten die Bilder denn eine bestimmte Nachricht?«

»Nun ja, in der Tat. Es ist sehr seltsam. Jim sagte mir, dass er etwas auf die Spur gekommen sei. Er meinte, ich solle die Inschriften übersetzen lassen, dabei aber sehr vorsichtig sein.«

»Wieso diese Warnung?«

»Ich habe keine Ahnung. Deshalb habe ich dich ja, gleich nachdem ich die Nachricht von der Polizei erhalten hatte, angerufen, um herauszufinden, was auf diesen Tafeln geschrieben steht.« McCullough wirkte aufgewühlt.

»Kann ich mir die Bilder einmal ansehen?«

»Ich habe sie für dich ausgedruckt.« McCullough wühlte sich durch einige Blätter auf seinem Schreibtisch und reichte ihr dann die Ausdrucke. Sie waren Schwarz-weiß und auf billigem Kopierpapier gedruckt. Nick warf einen Blick darauf. Die Schriftzeichen erinnerten ihn an gerade angeordnete Hühnerspuren.

Sie betrachtete die erste Seite. »Der Schriftstil stammt aus dem vierten Jahrhundert vor Christus.«

»Das würde sie in die Zeit der Eroberung des persischen Reiches durch Alexander einordnen.«

»Für eine akkurate Übersetzung werde ich etwas Zeit brauchen, aber sie sehen für mich wie Fragmente aus einem der großen Epen aus.« Sie nahm ein anderes Blatt zur Hand. »Dieser Teil hier ist allerdings anders. Er stammt aus Babylon, aus der Schatzkammer von Darius dem III.«

Mit ihren Fingern fuhr sie die Gravierungen ab. »Es handelt sich dabei um eine Art Buchführung oder eine Inventarliste. Darius besaß unglaubliche Reichtümer. Alexander bezahlte seine Truppen damit.«

»Was wäre das heute wert?« Nick war neugierig.

»Eine Menge.« Sie blätterte weiter. »Mal sehen … 100.000 Talent in Gold und Silber.«

»Was ist ein Talent?«

»So bestimmten sie damals den Wert ihrer Münzen. Nach Gewicht. Ein Talent sind etwa fünfundzwanzig Liter.«

Sie betrachtete eine andere Seite. »Wer immer diese Aufzeichnungen verfasst hat, ging dabei sehr detailliert zu Werke. Das hier ist wirklich interessant. Ein goldenes Gefäß oder eine Urne, zwei Ellen hoch, versiegelt, verziert mit der Gravur eines schwarzen Pferdes und einer Inschrift, die besagt, dass diese Urne Demeter Erinnys Fluch enthält.«

Nick öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber Selena kam ihm zuvor.

»Eine Elle ist etwas über einen Meter lang.«

»Das war es nicht, was ich wissen wollte. Wer ist Demeter?«

»Demeter ist die Göttin der Fruchtbarkeit und der Ernte.«

Sie war jetzt an der letzten Seite angelangt. »Ich muss diese Ausdrucke näher studieren, aber es hat den Anschein, als hätte Alexander die Urne von jemandem nach Griechenland bringen lassen, zusammen mit einigen Schätzen. Ich frage mich, ob davon noch etwas existiert.«

»Zweieinhalb Millionen Liter an Gold und Silber und dazu noch ein großer goldener Pott?« Nick sah sie an. »Wenn es diese Dinge noch irgendwo gibt und Campbell davon wusste, ist das bestimmt ein Grund, für den einige Leute töten würden.«

McCullough schien sich bei diesem Thema äußerst unwohl zu fühlen. Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach sie. Ein Student öffnete die Tür.

»Entschuldigen Sie bitte, Professor, aber das hier wurde soeben für Sie abgegeben.« In seiner Hand hielt er eine Eilsendung.

»Danke, William.« McCullough nahm das Paket entgegen und stellte es zu dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch.

»Selena, würdest du diese Kopien bitte mitnehmen und sie für mich übersetzen? Und es aufschreiben?«

»Es wäre mir eine Freude.« Sie schob die Ausdrucke in die Tasche ihres Jacketts. Dabei fiel McCullough die Glock in dem Holster unter ihrem maßgeschneiderten Jackett auf.

»Du trägst eine Waffe?« Die bloße Tatsache schien ihn zu schockieren.

»Ich bin jetzt so eine Art Bundesagentin, Kevin. Ich übersetze gewisse Dinge für die Regierung, und sie bestehen nun mal darauf, dass ich sie trage. Ich bin mir aber nicht sicher, was ich damit tun soll.«

Nick versuchte, ernst zu bleiben.

»Nun …«, begann McCullough und stand auf. »Ich muss mich jetzt für meine Nachmittagsvorlesung vorbereiten. Es war schön, dich wiedergesehen zu haben.«

»Ich sollte die Übersetzung in ein oder zwei Tagen fertig haben. Wir werden aber viel Kaffee brauchen.« Sie machte eine kurze Pause. »Kevin, ich denke, es wäre klug, wenn du diese Sache vorerst für dich behältst. Nick hat recht. Es könnte etwas damit zu tun haben, weshalb dein Freund ermordet wurde.«

»Ja, ich verstehe. Auf Wiedersehen, Mr. Carter.«

Als sie gingen, warf Nick noch einen letzten Blick zurück. McCullough wirkte wie benommen, schob die Unterlagen auf seinem Tisch planlos hin und her und suchte nach den Notizen für seine Vorlesung.

Gemeinsam traten sie jetzt aus der Healy Hall und blieben vor einem großen Springbrunnen stehen. Nach Tagen voller grauer Wolken und Nieselregen war der Himmel über ihnen endlich mal wieder klar und blau.

»Es schien McCullough nicht zu gefallen, dass ich erwähnt habe, dass jemand für diesen Schatz auch töten würde.«

»Er ist ein Akademiker, Nick.«

»Wie kriegt er bei dem Durcheinander da oben denn eigentlich überhaupt irgendetwas auf die Reihe?«

Selena wollte gerade etwas darauf antworten, als der Himmel über ihnen plötzlich mit einem Donnerschlag detonierte. Die Druckwelle warf sie zu Boden. Donner grollte über sie hinweg, auf den Potomac zu. Trümmer, Gesteinsbrocken, schwelendes Holz und Teile des Mauerwerks regneten auf den Rasen, den Parkplatz und die abgestellten Fahrzeuge hinunter. Ein Schwarm loser Blätter flatterte zu ihnen hinab.

»Grundgütiger.« Nick stand auf und half Selena auf die Beine. Ihre Knie waren zerschrammt und bluteten. Schreie und Rufe drangen aus dem Gebäude.

Ein großer Teil der Außenwand im vierten Stock fehlte plötzlich. Schwarzer Rauch quoll aus dem Loch. Dahinter, in der Finsternis, sah man gelbe und orangefarbene Flammen züngeln.

»Genau dort befindet sich Kevins Büro!«

»Jetzt nicht mehr.« Nick sog tief die Luft ein. »Riechst du das? Der typische Geruch von Semtex. Das Päckchen, das er gerade bekam, war eine Bombe.«

»Wieso?«

»Vielleicht wegen der Nachricht, von der er uns erzählt hat. Irgendjemand tötete seinen Freund, und nun haben sie auch ihn umgebracht. Was sollte sonst der Grund sein?«

Sie tastete nach ihrer Jackentasche und den Kopien darin. »Um ein Haar hätte es uns auch erwischt.«

»Ja, hat es aber nicht.«

Sie wirkte auf einmal untröstlich. »Nick, Kevin hatte eine Frau und drei erwachsene Kinder. Er war ein netter Mann. Ich kann es nicht glauben. Was ist an diesen verdammten Tafeln denn bloß so wichtig, dass ihn jemand dafür umbringen würde?«

»Ich denke, das werden wir herausfinden, wenn du sie übersetzt hast. Das mit deinem Freund tut mir sehr leid.«

Selena sah zu den Rauchwolken hinauf, die aus dem vierten Stockwerk emporstiegen. Menschen strömten in Panik aus dem Gebäude. In der Ferne waren Sirenen zu hören.

»Was jetzt?«, fragte sie.

»Wir kehren zum PROJECT zurück, bevor die Cops hier eintrudeln.«

»Sollten wir ihnen denn nicht von dem Paket erzählen?«

»Die brauchen uns nicht, um das herauszufinden. Aber wir müssen uns dringend mit Harker unterhalten.«

Sie stiegen in Selenas Mercedes. Ein Mann in einem verbeulten weißen Pick-up, der zwei Reihen hinter ihnen parkte, sah ihnen hinterher. Er notierte sich die Zeit und griff dann nach seinem Handy.

Kapitel 3

PROJECT-Direktorin Elizabeth Harker war eine kleine Frau. Sie war stets in Schwarz und Weiß gekleidet. Heute trug sie einen komplett schwarzen Leinenanzug mit einem weißen Schal um ihren Hals. Ihr Anzug passte farblich zu ihrem rabenschwarzen Haar, das kunstfertig geschnitten war, um ihre feinen Gesichtszüge geschickt zu umrahmen. Ihre smaragdgrünen Augen waren groß und katzenartig. Sie besaß milchig-weiße Haut, kleine Ohren und eine schlanke Figur, was sie wie eine Elfe oder eine Fee aus einem Shakespeare-Drama wirken ließ. Ihr Aussehen war nicht selten der Grund dafür, dass besonders aufgeblasene Menschen sie hin und wieder übergehen wollten. Ein Fehler, den keiner ein zweites Mal beging, denn Harker war alles andere als eine gute Fee.

Harkers Schreibtisch war groß und aufgeräumt. Auf dem Tisch lag eine grüne Schreibtischunterlage mit ledernen Eckenschonern. Davor befanden sich ein antikes Tintenfass und ein silberner Füller, die einmal Franklin D. Roosevelt gehört hatten. Etwas abseits stand ein Foto der Twin-Towers vor dem elften September, in einem silbernen Rahmen. Eine Mahnung.

Stephanie Willits saß zwischen Nick und Selena. Sie besaß ein großes, attraktives Gesicht mit dunklen Augen. An diesem Morgen hatte sie sich für ein rotes Kleid, eine weiße Bluse und herabhängende goldene Ohrringe entscheiden. An ihrem linken Handgelenk funkelten drei goldene Armreifen. Steph war bei PROJECT für die Computertechnik zuständig. Sie sprach mit ihren Computern, als wären es ihre Familienmitglieder und brachte die riesigen CRAYS eine Etage tiefer dazu, Dinge zu tun, die niemand sonst für möglich hielt.

Nick wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas an ihr schien an diesem Tag verändert zu sein. Sie trug ihre Haare anders, aber das war es nicht. Sie wirkte irgendwie erleichterter, seit Elizabeth wieder zurückgekehrt war, aber auch das war es nicht. Vielmehr schien sie lebendiger und beinahe glücklich zu sein.

Harker spielte mit ihrem Füller herum. »Selena, halten Sie es für möglich, dass McCullough wegen der Nachricht seines Freundes umgebracht worden ist?«

»Für einen Zufall scheint mir das alles zu auffällig zu sein.«

»Ich frage mich, ob die Bombe nicht vielleicht eher Ihnen und Nick galt?«

Nick rieb sich die Wunde an seinem linken Ohr. Eine chinesische Kugel hatte ihn an jenem verhängnisvollen Tag das Ohrläppchen abgerissen, als er Selena das erste Mal getroffen hatte. Manchmal, wenn die Dinge zu sehr in die Hose zu gehen drohten, brannte sie wie Feuer. Dieses Mal verspürte er aber nur ein Jucken.

»Die war nicht für uns bestimmt. Niemand wusste, dass wir ihn besuchen würden. Außerdem gibt es einfachere Wege, uns auszuschalten, als dafür gleich eine ganze Universität in die Luft zu jagen. Die Bombe bestand aus Semtex, und das bedeutet, dass wir es hier mit jemandem mit ernst zu nehmenden Ressourcen zu tun haben; einer Terrorgruppe vielleicht.«

»Sind Sie denn sicher, dass es Semtex war?«

»Ganz sicher.«

»Steph, versuchen Sie, herauszufinden, was die Polizei von New Hampshire über den Mord weiß.«

»Ich kümmere mich sofort darum.« Sie stand auf und verließ das Büro.

»Ich würde nicht darauf wetten, dass die örtlichen Polizisten viel herausbekommen haben«, sagte Nick. »Wer immer diese Bombe geschickt hat, wusste genau, was er tat. Wenn es die gleichen Leute waren, die auch Campbell auf dem Gewissen haben, werden sie keine Spuren hinterlassen haben.«

»Wieso sollte es jemand auf diese Männer abgesehen haben? Selena, ich brauche so schnell wie möglich eine vollständige Übersetzung der Kopien, die McCullough Ihnen gegeben hat.«

»Ich sollte heute noch damit fertig werden.«

Harker spielte mit ihrem Stift herum und legte ihn ab. Kurze Zeit später nahm sie ihn wieder zur Hand, tippte damit auf ihre Unterlage und dachte nach. Carter sah ihr dabei zu.

»Da es sich um einen Sprengstoffanschlag handelte, wird sich das Bureau garantiert für die ganze Sache interessieren.«

»Sollen wir mit ihnen zusammenarbeiten?«

»Nicht, wenn wir es verhindern können. Sie wissen ja, wie die sind. Die werden versuchen, alles zu kontrollieren. Sie sind gut in dem, was sie tun, das muss ich ihnen lassen. Wenn sie einen Anhaltspunkt finden, nehme ich den gerne auf, aber sie wissen nichts davon, dass Sie und Selena am Ort des Geschehens waren. Deshalb dürfte es für sie keinen Grund geben, anzunehmen, dass es sich um mehr als eine Routineuntersuchung handelt.«

Stephanie kehrte nun in das Büro zurück.

»Das ging ja schnell. Was haben Sie?«

»Ich habe direkt mit dem Polizeichef gesprochen. Es ist nur ein kleines Revier. Sie wissen nicht viel. McCulloughs Freund arbeitete für das CDC in Atlanta. Der Mörder schnitt Campbell ein Ohr ab, bevor er ihm die Kehle durchtrennte.«

»Dafür gibt es nur eine Erklärung.« Gedankenverloren tastete Carter nach seinem Ohr. Es befand sich noch immer an seinem Kopf. »Folter. Sie haben versucht, etwas aus ihm herauszubekommen.«

»Bargeld und Kreditkarten befanden sich noch in seiner Brieftasche«, erklärte Stephanie und setzte sich. »Sein Laptop aber fehlt, und sein Telefon ebenfalls. Jemand brach kurz danach in die Bibliothek ein, in der Campbell arbeitete, und durchsuchte dort die Archive, zu denen nur ein beschränkter Zutritt besteht. Bis jetzt kann deshalb noch niemand sagen, ob dort etwas fehlt.«

»Gab es denn keine Nachtwächter vor Ort?«

»Nur einen. Er trinkt sich gern mal einen und war deshalb eingeschlafen.«

»Glück für ihn, sonst wäre er jetzt sicher auch tot.«

Harker dachte einen Moment lang nach. »Stephanie, besorgen Sie mir bitte eine Liste der Personen, mit denen Campbell zuvor telefoniert hat. Schauen wir doch einmal, ob er noch jemand anderen angerufen hat. Vielleicht hat er seine Nachricht ja auch an mehr als nur eine Person geschickt.«

Stephanie lief zu einer Computerkonsole an der Seite von Harkers Schreibtisch. Die Konsole war direkt mit den gewaltigen CRAY-Computern unter ihnen verbunden. Die CRAYS wiederum waren mit der Datenbank der NSA verknüpft. Die meisten Nachrichten, die auf digitalem Weg über ein Mobiltelefon verschickt wurden, waren irgendwo in dieser Datenbank zu finden. Mit Sicherheit aber alle Nachrichten, die im Inland versendet wurden. Campbells Anrufe würden sich deshalb garantiert dort aufspüren lassen. Steph tippte eine Reihe von Befehlen in die Konsole.

»Ich hab ihn. Mehrere Anrufe nach Atlanta in den Tagen vor seiner Ermordung. Zwei pro Tag an seine Privatnummer. Ein längeres Gespräch mit einem gewissen Arnold Weinstein bei der CDC, einen Tag vor seinem Tod, und zwei Anrufe in der Mordnacht. Einer an Kevin McCullough, ein anderer an Weinstein. Beide Nachrichten wurden zeitgleich verschickt, um 22:09 Uhr.«

Sie begann, weitere Befehle in die Tastatur einzugeben. »Sehen wir uns diesen Weinstein mal genauer an.«

Nick knetete sein Ohr. »Wir müssen uns persönlich mit ihm unterhalten.«

»Dafür werden Sie aber eine verdammt starke Verbindung brauchen.« Steph starrte auf ihren Monitor.

»Wie meinen Sie das?«

»Weinstein ist heute Morgen in seinen Wagen gestiegen, um zur Arbeit zu fahren. Als er den Zündschlüssel umdrehte, flog der Wagen in die Luft.«

»Eine Autobombe? Steph, können Sie die Nachricht von Campbell an Weinstein abrufen? Legen Sie sie auf die Lautsprecher.«

»Dauert nur eine Minute. Moment.« Sie warteten. »Jetzt.«

Campbells Stimme erklang. Eine Stimme aus dem Grab.

»Arnold? Ich bin es, James.«

»Jim. Genießt du das Wetter bei euch dort oben? Hier waren es heute angenehme fünfundzwanzig Grad.«

»Arnie, ich habe etwas entdeckt.« Campbell klang aufgeregt.

»Oh?«

»Ich habe Aufzeichnungen aus dem alten Persien erforscht und bin dabei auf etwas aus der Zeit Alexanders des Großen gestoßen. Damals gab es in Persien eine verheerende Missernte, kurz nachdem Xerxes der Erste aus Griechenland zurückkehrte. Die Hungersnot, die darauf folgte, hätte beinahe sein gesamtes Reich zu Fall gebracht. Diese Tafeln, die ich gefunden habe, enthalten womöglich einen Hinweis auf die Ursache dieser Missernte.«

»Gab es eine Dürre?«

»Das dachte ich zuerst auch, aber fehlendes Wasser war nicht das Problem. Ich denke, es handelte sich vielmehr um eine unbekannte Form von Fusarium Graminearum.«

»Ah. Das würde es erklären.«

»Es besteht die Möglichkeit, dass eine Probe der Fusarium-Sporen von damals überlebt hat.«

»Das ist nicht dein Ernst!« Weinstein klang erschrocken.

»Doch, ist es. Eine der Tafeln beschreibt ein versiegeltes Gefäß … eine goldene Urne. Angeblich enthält diese den Fluch einer Göttin.«

»Jetzt hör schon auf, Jim. Ein Fluch?«

»Natürlich kein Zauber, sondern etwas Reales. Xerxes brachte es um 490 vor Christus aus Griechenland mit. Ich glaube, es enthielt Sporen von infiziertem Getreide. Vielleicht war das sogar der Grund für die Hungersnot. Den Griechen ist es womöglich gelungen, die Ursache zu isolieren, ohne wirklich zu verstehen, wie das Ganze funktionierte. Sie haben es vielleicht als etwas angesehen, was sie gegen ihre Feinde verwenden könnten. Der Mythos um die Urne dreht sich um die Göttin der Ernte.«

»Du meinst Demeter?«

»Ja. Die Urne wurde in der königlichen Schatzkammer aufbewahrt. Dort befand sie sich auch noch, als Alexander Darius den III. bezwang.«

»Was geschah dann mit ihr?«

»Alexander schickte sie nach Griechenland zurück, zusammen mit den restlichen Reichtümern.«

»Und danach ist sie verschwunden.«

»Und wenn nicht? Was wäre, wenn wir sie finden könnten? Die Urne könnte genau das sein, wonach das Pentagon sucht, und wenn dem so ist, will ich nicht, dass sie in deren Hände fällt.«

Weinstein seufzte.

»Jim, das ist keine abhörsichere Leitung.«

»Das interessiert mich einen Dreck. Ich habe mich nicht für dieses Fachgebiet entschieden, um eines Tages meine Forschung dafür zu benutzen, Menschen umzubringen.«

»Jim, bitte.«

»Wenn wir diese Urne finden können und sie sich als das entpuppt, wofür ich sie halte, finden wir womöglich einen Weg, das Fusarium ein für alle Male auszurotten. Denk doch nur mal darüber nach, Arnie! Neues genetisches Material, noch nicht verunreinigt. Wir haben noch nie mit etwas derart Altem arbeiten können.«

»Vielleicht unterscheidet es sich ja auch kaum von dem, was wir kennen.«

»Richtig. Aber wenn doch …«

»Und wie sollen wir diese Urne deiner Meinung nach finden? Wenn sie denn überhaupt existiert?«

»Ich denke, ich weiß wie, oder zumindest, wo wir mit der Suche beginnen können.«

»Wann kommst du zurück?«

»Morgen.«

»Sei vorsichtig, Jim.«

»Sie werden es nicht wagen, mir ein Haar zu krümmen, Arnie. Das gilt auch für dich. Sie brauchen uns. Wir sehen uns morgen.«

Der Anruf endete.

»Was ist dieses Fusarium Soundso?«, erkundigte sich Nick.

»Finden wir es heraus.« Stephs Finger flogen über die Tastatur. Ein Bild erschien daraufhin. »Es handelt sich dabei um eine Form von Getreidefäule. Hat in der Vergangenheit für einige Probleme gesorgt. Breitet sich rasch aus, lässt sich nur schwer aufhalten und zerstört Getreidesorten wie Weizen und Gerste. Es reproduziert sich über Sporen. Ziemlich fieses Zeug.«

Elizabeth studierte das Bild auf dem Monitor. Ein Weizenfeld, schwarz, verdorben und verfault war darauf zu sehen.

»Campbell und Weinstein arbeiteten an einem Projekt für das Pentagon, worüber Campbell nicht sonderlich glücklich war. Die beiden waren Virenforscher. Es muss sich also um eine Art Biowaffe gehandelt haben.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Campbell schien allerdings nicht davon auszugehen, sich in echter Gefahr zu befinden.«

Kapitel 4

Zviad Gelashvili war gerade damit beschäftigt, eine lange Stahlklinge zu schärfen, die er normalerweise um seinen linken Unterschenkel geschnallt trug. Er hob sie ins Licht, inspizierte sie und fuhr dann damit fort, die Klinge weiter über den Schleifstein zu ziehen.

Er war ein großer Mann. Sein Kopf wurde langsam kahl, war aber fast immer unter der Arbeitermütze verborgen, die er trug, um die anderen Menschen in seiner Umgebung an seine bäuerlichen Wurzeln zu erinnern. Er sah aus wie ein bösartiges Ei und wurde deshalb oft nur das Ei genannt. Aber nicht nur wegen seines Aussehens, sondern weil er dazu neigte, jeden, der ihn belästigte oder ihm feindlich gesinnt war, in ein unappetitliches Omelett zu verwandeln.

Das dicke Fleisch in Zviads Gesicht war von Aknenarben und jovialer Bösartigkeit gezeichnet. Er besaß eine große Nase und schwarze Augen, die kalt schimmerten. Seine Lippen waren wulstig und bläulich gefärbt, sein Körper muskelbepackt. Die maßgeschneiderten Hemden, die er trug, fielen über einen wuchtigen Bauch, außerdem besaß er zwei so riesige Pobacken, dass er dafür eigens angefertigte Stühle brauchte. Seine Schuhe waren aus feinstem Leder, hergestellt von den exklusivsten Schuhmachern Londons.