E-Book 231-240 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 231-240 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Gib mir eine Heimat E-Book 2: Clara und der Brummbär E-Book 3: Einmal wird alles gut E-Book 4: Wein, Liebe und Millionen E-Book 5: Maria und der Strolch E-Book 6: Liebe meines Lebens E-Book 7: Johannisfeuer E-Book 8: Und wieder nur Tränen? E-Book 9: Sie waren wie Brüder E-Book 10: Wer hat das viele Geld?

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Inhalt

Gib mir eine Heimat

Clara und der Brummbär

Einmal wird alles gut

Wein, Liebe und Millionen

Maria und der Strolch

Liebe meines Lebens

Johannisfeuer

Und wieder nur Tränen?

Sie waren wie Brüder

Wer hat das viele Geld?

Der Bergpfarrer – Staffel 24 –

E-Book 231-240

Toni Waidacher

Gib mir eine Heimat

Endlich auf der Sonnenseite des Lebens?

Roman von Waidacher, Toni

»Herr Pfarrer Trenker, bitte«, ertönte die Stimme aus dem Lautsprecher über der Tür zum Gerichtssaal.

Sebastian, der auf der Bank wartete, die auf dem Flur des Gerichtsgebäudes stand, erhob sich und nickte dem Justizbeamten, der ihm die Tür geöffnet hatte, freundlich zu und trat ein.

Mit schnellem Blick erfasste er den Verhandlungsraum. Auf den Zuschauerbänken saßen kaum Leute, am Richtertisch hatte Dr. Wehler Platz genommen, an den Tischen rechts und links davon saßen der Staatsanwalt, Dr. Gerhard, sowie der Verteidiger Rechtsanwalt Nissen. Neben ihm die Angeklagte. Eben hatte Konrad Wiltinger ausgesagt und sich anschließend auf die Zeugenbank gesetzt.

»Grüß Gott«, sagte der Geistliche und blickte Dr. Wehler an.

Der Jugendrichter lächelte und deutete auf einen Stuhl vor seinem Tisch.

»Grüß Gott, Hochwürden«, erwiderte er. »Nehmen S’ doch bitte Platz. Schön, Sie mal wieder zu sehen, wenngleich ich mir auch einen anderen Anlass für dieses Wiedersehen gewünscht hätt’.«

»Geht mir net anders«, schmunzelte der gute Hirte von St. Johann und setzte sich.

Er sah zu dem jungen Madel, das, im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung, heute eher ein wenig kleinlaut wirkte. Ganz eingesunken saß Carolin Gerres neben ihrem Verteidiger und harrte der Dinge, die da wohl oder übel kommen mochten.

»Hochwürden, Sie sind als Zeuge geladen«, wandte sich der Richter an den Geistlichen. »Wie Sie wissen, verhandeln wir hier einen Fall von Ladendiebstahl. Bitte schildern Sie dem Gericht, was Sie am Sechs­ten diesen Monats in der Marktstraße beobachtet haben.«

Sebastian nickte. Er lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen.

»Ich hatte eines meiner Pfarrkinder im Krankenhaus besucht«, erzählte er dann. »Da ich noch ein paar Besorgungen zu erledigen hatte, bin ich zu Fuß durch die Stadt gebummelt und war in verschiedenen Geschäften.

Auf dem Weg zurück zum Parkhaus kam ich durch die Marktstraße. Es war so gegen fünfzehn Uhr. An der Ecke Marktstraße/Brauergasse hörte ich plötzlich laute Stimmen. Jemand rief so etwas wie: Halt stehen bleiben! Polizei! Haltet den Dieb!«

Im nächsten Moment stürzte eine Gestalt aus der Tür eines Bekleidungsgeschäftes, direkt in die Arme des Bergpfarrers.

»Hoppla«, sagte Sebastian und griff geistesgegenwärtig zu.

Glücklicherweise, denn ansons­ten wäre die sehr junge Frau böse aufs Pflaster geschlagen und hätte sich bestimmt arg verletzt.

Gleich darauf kam ein Mann aus dem Geschäft gelaufen. »Festhalten!«, brüllte er. »Ja, net loslassen!«

Sebastian brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um die Situation zu erfassen. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem Teenager um eine Ladendiebin, die Beute, ein dunkles T-Shirt, hielt es noch in der zusammengekrallten Hand.

»Gott sei Dank, Sie haben das kleine Biest!«, japste der Mann erleichtert und versuchte, der Diebin das Kleidungsstück aus der Hand zu zerren. »Los, gib her!«

Sebastian hielt das Mädchen immer noch fest.

»Stimmt das?«, fragte er, obgleich alles dafür sprach, »hast du das T-Shirt gestohlen?«

Die junge Frau schwieg und starrte ihn nur aus dunklen Augen finster an.

Es war ein an sich hübsches Gesicht, wenn auch vielleicht durch ein bissel zu viel Schminke entstellt. Dazu passten indes die Haare, die blond und grün gefärbt in wilden Strähnen vom Kopf abstanden.

»Freilich hat sie’s gestohlen«, ereiferte sich der Ladenbesitzer. »Und getreten hat sie mich obendrein!«

Er rieb sie die Stelle am rechten Schienbein, als bemerke er erst jetzt wieder den Schmerz.

»Aber wart’ nur ab«, setzte der Mann drohend hinzu, »die Polizei ist jeden Moment da!«

Im selben Augenblick bog auch schon der Streifenwagen um die Ecke, und zwei Beamte stiegen aus.

»Na, na, na, Hochwürden«, scherzte Wolfgang Gremser, der schon öfter in St. Johann Max vertreten hatte, »Sie werden doch wohl hoffentlich net vom Pfad der Tugend abgewichen sein?«

»Sicher net«, schmunzelte der Bergpfarrer und reichte den Kollegen seines Bruders die Hand. »Das Madel hier scheint die Übeltäterin zu sein.«

»Ach, Caro!«

Dem Ausruf war zu entnehmen, dass Wolfgang die Ladendiebin nicht nur beiläufig kannte, er hatte wohl schon öfter mit ihr zu tun gehabt.

Der Beamte ließ sich den Tathergang von dem Besitzer des Geschäftes schildern, dann sah er das Madel mit hochgezogener Augenbraue und geschürzten Lippen an.

»Tja, Caro, diesmal wirst’ wohl net um ein paar Monate Jugendarrest herumkommen«, sagte er. »Wiederholter Ladendiebstahl, und heut’ kommt auch noch Körperverletzung hinzu … Da ist die Bewährung schnell dahin.«

Sebastian nahm den Beamten beiseite, während dessen Kollege die Diebin bereits in den Streifenwagen sperrte und anschließend die Schaulustigen vertrieb, die sich, wie immer wenn etwas geschehen war, rasch angesammelt hatten.

»Du kennst das Madel?«, fragte der Geistliche.

Wolfgang Gremser nickte.

»Ja, und es ist eine traurige Geschichte, muss ich dazu sagen.«

Er deutete mit dem Kopf zum Polizeiauto hinter dessen hinteren Seitenscheibe das Gesicht des Mädchens zu sehen war. »Das ist Carolin Gerres, genannt ›Caro‹«, fuhr der Polizist fort. »Ihre Eltern starben, als sie gerade mal drei Jahre alt war. Eine Verwandte, die mit dem Kind nicht fertig wurde, ließ Carolin durch das Jugendamt in ein Heim einweisen. Vor fünf Jahren wurde sie zum ersten Mal auffällig, lief aus dem Heim fort und wurde beim Ladendiebstahl erwischt. Damals war sie ja noch net strafmündig, aber vermutlich wurd’ sie im Heim bestraft.«

Carolin Gerres lief noch viele Male fort, wurde aber meist nach kurzer Zeit wieder aufgegriffen und ins Heim zurückgebracht. Inzwischen strafmündig geworden, erhielt sie vor einigen Monaten eine Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

»Hat leider net bewirkt, dass sie einsichtig wurde«, schloss Wolfgang Gremser. »Die Fahndung nach ihr läuft seit zwei Wochen. Da ist sie wieder mal aus dem Heim davongelaufen. Und diesmal wird der Richter wohl keine Milde walten lassen.«

*

»Ja, vielen Dank, Herr Pfarrer«, sagte der Jugendrichter, nachdem der Geistliche seine Aussage gemacht hatte. »Das deckt sich im Wesentlichen auch mit der Schilderung des Herrn Wiltinger, dem Geschädigten.«

Lorenz Nissen räusperte sich.

»Darf ich einen Einwand machen, Hohes Gericht«, fragte der junge Rechtsanwalt und sprach weiter, ohne eine Antwort des Richters abzuwarten. »Von einem Geschädigten würd’ ich in diesem Fall net sprechen wollen. Schließlich hat der Herr Wiltinger sein Eigentum ja zurück erhalten.«

Sebastian Trenker lächelte. Der Verteidiger legte sich für seine Mandantin wirklich ins Zeug. Dabei stand fest, dass er an diesem Prozess nicht viel verdienen konnte.

Dr. Wehler sah den Anwalt über den Rand seiner Brille hinweg tadelnd an.

»Und der Schmerz, der dem Herrn Wiltinger zugefügt wurde, zählt net?«

Der Ladenbesitzer nickte nachdrücklich. Der Richter schlug die Mappe zu und verkündete, dass die Beweisaufnahme abgeschlossen sei. Der Staatsanwalt und Anwalt Nissen mögen ihre Plädoyers halten.

Wie nicht anders erwartet, forderte Dr. Gerhard, man möge Carolin Gerres wegen Ladendiebstahls im Wiederholungsfall mit acht Wochen Jugendarrest bestrafen, mit an­schließender Einweisung in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, bis sie das achtzehnte Lebensjahr vollendet habe.

Lorenz Nissen wies auf die schwere Jugend seiner Mandantin hin und bat, das Gericht möge noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Der Richter hörte sich alles an und erklärte, das Urteil in einer halben Stunde verkünden zu wollen.

Sebastian Trenker hatte wieder auf der Bank im Flur Platz genommen. Eigentlich hätte er wieder nach St. Johann fahren können, doch er wollte noch abwarten, wie das Urteil ausfiel. Der Geistliche sah erstaunt auf, als der Rechtsanwalt ihn ansprach.

»Entschuldigen S’, Hochwürden. Hätten S’ vielleicht ein paar Minuten für mich?«

»Freilich«, nickte der Bergpfarrer und rutschte zur Seite. »Nehmen S’ nur Platz. Was glauben S’ denn, wie der Richter urteilen wird?«

»Deswegen wollt’ ich mit Ihnen sprechen«, antwortete Lorenz Nissen und setzte sich. »Dr. Wehler wird dem Antrag des Staatsanwalts folgen. Er hat gar keine andre Wahl. Caro ist dem Gericht hinlänglich bekannt. Als ich für sie um Milde bat, war mir schon klar, dass ich das Herz des Richters net erweichen kann. Und jetzt kommen Sie ins Spiel …«

Sebastian zog erstaunt die Brauen hoch.

»Ich?«

Der Anwalt nickte.

»Sehen Sie, Caro ist kein schlechter Mensch«, sagte er. »Das einzige Vergehen, das man ihr zu Last legen kann, ist, schon früh die Eltern verloren zu haben und im Heim groß geworden zu sein.«

Er hob beschwichtigend die Hand, als Sebastian zu einer Erwiderung ansetzte.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, net alle Heime sind schlecht. Manche sind ein wahrer Segen für die armen Kinder, die ohne Familie durchs Leben gehen müssen, zweifellos, und dennoch ist es Caros Schicksal, dass sie genau dort, wo sie auf das Leben vorbereitet werden sollte, stattdessen das lernte, was man wissen muss, um am Rande der Legalität zu leben. Diebstähle, Schlösser aufbrechen, kleine Unterschlagungen – die Liste ist lang, und die großen Kinder sind dabei die Lehrmeister der kleinen. Die Erzieherinnen sind überfordert und unterbezahlt, das Dilemma in den Heimen ist ja allgemein bekannt.«

»Und was denken Sie, was ich da tun kann?«

Lorenz Nissen lächelte.

»Ich hab’ mir da was überlegt, Hochwürden, wenn ich jemanden finden könnt’, der sich des Madels annimmt, dann wird auch sicher Dr. Wehler noch einmal ein Auge zudrücken…«

Sebastian neigte den Kopf.

»Und dieser Jemand sollte ich sein, meinen Sie?«

Der Rechtsanwalt nickte.

»Ja, Hochwürden, werden Sie Caros Vormund. Bei Ihnen in St. Johann ist sie doch weit genug von all den Verlockungen der Stadt entfernt und sie wär’ dem Einfluss der anderen Jugendlichen entzogen, die sie immer wieder zu solchen Schandtaten aufstacheln. Sie müsst’ net in den Arrest und net ins Heim. Bei Ihnen hätt’ das Madel die Chance, ein neuer Mensch zu werden und einen andren Lebensweg zu beschreiten, als den, den es jetzt eingeschlagen hat.«

»Wie stellen S’ sich das vor? Was denken S’ wohl, was der Richter dazu sagen wird?«

Der Anwalt lächelte siegessicher.

»Sie sprechen net von den andren Leuten, den Dörflern, net von Ihrem Bischof«, sagte er. »Das ist gut, zeigt es doch, dass Sie zumindest darüber nachdenken, ob es möglich ist oder net.«

Jetzt lächelte auch der Bergpfarrer. Lorenz Nissen verfügte mindes­tens über genauso viel Menschenkenntnis und vermochte in den Mienen seines Gegenübers zu lesen, wie er selbst.

»Auf das Gerede der Leute geb’ ich ohnehin nix«, erwiderte er. »Und was den Bischof betrifft, da wird mir schon noch was einfallen.«

»Sie machen also mit?«, rief der Anwalt begeistert. »Wunderbar! Also, Caro wird in zehn Monaten achtzehn, dann ist sie volljährig, und Ihre Vormundschaft würd’ wieder enden.«

»Nun mal langsam«, wiegelte Sebastian ab. »Wir wollen erst einmal hören, was der Richter dazu sagt …«

*

»Ich hab’ schon mit dem Herrn Reisinger Rücksprache gehalten«, sagte der Bergpfarrer, als er ein paar Tage später Carolin Gerres aus dem Waisenhaus abholte. »Das ist der Inhaber des Hotels, in dem du arbeiten wirst. Der Sepp und seine Frau, das sind zwei wirklich nette Leute. Sie haben sich bereit erklärt, es mit dir zu versuchen. Du bekommst eine eigne Kammer und kannst, wenn es sich zeigt, dass du die Eignung dazu hast, eine Ausbildung zur Hotelfachfrau machen. Ist das was?«

Caro saß stumm neben ihm und erwiderte auch jetzt nichts. Sebastian zuckte die Schultern und fuhr weiter. Noch immer konnte er es gar nicht glauben, dass der Richter sich auf diesen Handel eingelassen hatte. Dr. Wehler war denn auch mehr als erstaunt gewesen, als er hörte, was Lorenz Nissen sich ausgedacht hatte.

Noch vor der Urteilsverkündung war der Rechtsanwalt zum Zimmer des Richters gegangen. Dr. Wehler hatte zunächst recht ungehalten auf die Störung reagiert. Er saß an einem Tisch, Kaffee vor sich, und blätterte in einem dicken Gesetzbuch.

»Na, Sie haben vielleicht Nerven!«, sagte er, nachdem der junge Anwalt sein Anliegen vorgebracht hatte.

Er klappte das Buch zu und rieb sich nachdenklich über die Nase. Schließlich nahm er seine Brille ab, klappte die Bügel zusammen und wedelte spielerisch damit herum.

»An und für sich keine schlechte Idee«, gab er zu. »Was sagt denn Pfarrer Trenker dazu?«

Lorenz Nissen öffnete die Tür, hinter der Sebastian wartete.

»Hochwürden …«

Der Geistliche trat ein. Dr. Wehler stand auf und ging vor dem Fenster mit den verblichenen Gardinen auf und ab.

»Tja, Hochwürden«, begann er umständlich, »da hat der Herr Kollege ja einen interessanten Vorschlag gemacht. Wären Sie denn damit einverstanden, die Vormundschaft über Carolin Gerres zu übernehmen?«

»Ja, Euer Ehren, das kann ich mir sehr gut vorstellen«, antwortete der gute Hirte von St. Johann. »Auch wenn’s vielleicht net ganz einfach sein wird …«

Sebastian Trenker erklärte, was er sich gerade überlegt hatte. Das Madel musste aus dem Heim raus, das war ganz klar. Wenn man Carolin Gerres tatsächlich, nach Verbüßung der Strafe, in ein Heim für schwererziehbare Jugendliche steckte, dann würde sie vom Regen in die Traufe kommen.

Was also tun?

An eine Berufsausbildung zu denken, war im Moment noch verfrüht. Erst einmal musste sich Carolin an eine neue Umgebung gewöhnen. Der Bergpfarrer hatte bereits einige Möglichkeiten durchgespielt. Am sinnvollsten erschien es ihm, Sepp Reisinger zu fragen, ob er nicht noch eine Kraft für das Hotel benötige. Sicher konnte Carolin auch im ›Löwen‹ eines der Angestelltenzimmer beziehen.

»Gut«, gab Dr. Wehler sein Einverständnis, »wenn der Herr Reisinger bereit ist, dem Madel eine Chance zu geben, dann will ich net hintan steh’n. Bleibt uns nur noch, die Sache dem Staatsanwalt schmackhaft zu machen.«

Überraschenderweise war Dr. Gerhard von dieser Idee ganz angetan.

»Wenn Pfarrer Trenker die Vormundschaft übernimmt, dann hab’ ich keine Bedenken.«

Zurück im Verhandlungsraum wurde der Beschluss verkündet. Sebastian sah davon ab, Carolin Gerres sogleich als Vormund gegenüber zu treten.

»Dein Anwalt wird dir alles erklären«, sagte er nur.

Zuhause angekommen sprach er sogleich den Wirt und Inhaber des Hotels ›Zum Löwen‹ an und brachte sein Anliegen vor. Im ersten Moment schien Sepp Reisinger wenig begeistert zu sein.

»Hoffentlich macht das Madel keinen Ärger«, meinte er, nachdem der Geistliche ihn schließlich doch überredet hatte. »Ich kann’s mir net leisten, dass die Gäste sich beschweren. Es ist ohnehin irgendwie der Wurm drinn’.«

»Wie meinst’ denn das?«, erkundigte sich der Bergpfarrer.

Sepp hob hilflos die Hände und ließ sie wieder fallen.

»Ich weiß net, was los ist«, erzählte er, »aber seit einer guten Woche hagelt es Stornierungen. Es ist grad so, als wenn die Leut’ St. Johann meiden wie die Pest.«

Sebastian runzelte die Stirn.

»So schlimm?«

Der Hotelier nickte bekümmert.

»So schlimm! Erst heut’ Mittag kam ein Anruf aus Frankfurt. Ein durchaus gut betuchtes Ehepaar, das im letzten Jahr sechs Wochen bei uns gewohnt hat. Angeblich ist der Mann krank geworden, indes hörte seine Frau sich net sehr glaubhaft an, als sie die Suite absagte.«

»Das ist wirklich seltsam«, murmelte Sebastian.

Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch auf der Kandereralm vor ein paar Tagen. Da hatte der Senner ähnlich geklagt. Es kämen kaum noch Wanderer herauf, erzählte Franz Thurecker, und ob im Dorf drunten die Touristen ausblieben, wollte er wissen.

Sebastian bedankte sich bei Sepp Reisinger und ging zum Pfarrhaus hinüber. Er musste unbedingt mit seinem Cousin und dessen Frau sprechen, die eine der beiden Pensionen im Ort betrieben, und natürlich musste er auch Ria Stubler befragen, ob ihr Betrieb auch unter diesem merkwürdigen Gästeschwund litt.

Mit Erleichterung hatte der Bergpfarrer registriert, dass Carolin Gerres’ Haare nicht mehr so bunt gefärbt waren.

Ob das Blond nun die Naturfarbe war, wusste er freilich nicht, indes stand es dem Teenager sehr gut. Überhaupt war die Siebzehnjährige gar nicht wieder zu erkennen. Sie trug nicht mehr die zerschlissene

Jeans, sondern eine leichte Leinenhose, mit passender Bluse und einem Blazer dazu.

Nach der Urteilsverkündung hatte man sie in das Waisenhaus zurückgebracht, aus dem sie schon einige Male fortgelaufen war.

»Mach’ diesmal keine Dummheiten, Caro!«, hatte Lorenz Nissen seiner Mandantin eingeschärft. »Noch ein krummes Ding kannst’ dir net leisten. Dein Bewährung aus dem letzten Prozess ist ohnehin flöten. Du hast es einzig Pfarrer Trenker zu verdanken, dass du net ins Gefängnis musst. Also, benimm dich entsprechend, wenn er dich in ein paar Tagen abholt.«

Vermutlich hatte es gewirkt, jedenfalls saß Carolin stumm neben dem Geistlichen. Im Heim hatte Caro ihm die Hand gereicht und guten Tag gesagt, seither aber kein Wort mehr gesprochen.

*

Irma und Sepp Reisinger empfingen den Bergpfarrer und das Madel mit einem freundlichen Lächeln.

»Herzlich willkommen«, sagte die Wirtin. »Wir hoffen, dass du dich bei uns wohl fühlen wirst.«

Sebastian reichte Sepp einen Pappkarton, in dem sich die Habseligkeiten des Madels befanden. Caro hatte den Wirtsleuten die Hand gegeben – und schwieg weiter.

»Das wird schon werden«, meinte der Hotelier, als er wenig später den Geistlichen nach draußen begleitete. »Sie wird sich erst einmal eingewöhnen müssen.«

»Ich glaub’ auch, dass es bloß ein bissel Zeit braucht«, nickte Sebastian und sprach etwas anderes an, das ihm auf dem Herzen lag. »Wie geht’s denn jetzt so im Geschäft, Sepp. Immer noch Stornierungen?«

Der Wirt verdrehte entnervt die Augen.

»Stornierungen net«, antwortete er. »Aber dafür gibt’s kaum Buchungen. Sonst können wir uns in der Saison net vor Gästen retten, und jetzt ist abends der Biergarten kaum zur Hälfte gefüllt. Ganz abgesehen von den Zimmern, die leer stehen!«

Sebastian Trenker holte tief Luft.

»Es ist wirklich beängstigend«, sagte er. »Ich hab’ mit dem Andreas und der Marion gesprochen, bei ihnen ist es ähnlich. Für die nächsten drei Wochen haben s’ noch keine Zimmerbuchungen, und bei der Ria drüben ist’s ganz genauso. Sie hat zwar noch Reservierungen, doch das sind Gäste, die auch in den vergangenen Jahren schon bei ihr gewohnt haben. Die haben gleich beim letzten Urlaub für dieses Jahr wieder bei ihr gebucht. Ich möcht’ bloß wissen, was dahintersteckt.«

Sepp Reisinger seufzte.

»Man könnt’ fast denken, irgendjemand boykottiert uns«, meinte er. »Jedenfalls will ich die Sache net auf sich beruhen lassen. Morgen fahr’ ich nach München, dort sitzen mehrere Reiseveranstalter, mit denen ich bisher immer gut zusammen gearbeitet hab’. Mal seh’n, ob ich da herausfinden kann, was hinter dieser mysteriösen Angelegenheit steckt.«

»Gut, Sepp, dann lass mich wissen, was du in Erfahrung gebracht hast«, verabschiedete sich der Bergpfarrer und ging nachdenklich zur Kirche hinüber.

Eine Bemerkung Sepp Reisingers hatte ihn stutzig gemacht. Der Wirt hatte gemeint, irgendwer übe einen Boykott aus, und ob er wollte oder nicht – Sebastian musste unwillkürlich an Patricia Vangaalen denken …

Diese überaus attraktive Frau war die Chefin einer Investmentgesellschaft, mit Sitz in Stuttgart. Zusammen mit Markus Bruckner, dem rührigen Bürgermeister von St. Johann, hatte sie das Projekt ›Wachnertaler Ferienwelt‹ aus dem Boden gestampft. Gegen den entschiedenen Widerstand Pfarrer Trenkers und einer Gruppe von Umweltschützern hatte die Gesellschaft mehrere Bauernhöfe aufgekauft und bereits die ersten Baumaßnahmen ergriffen. Durch die Hilfe eines befreundeten Journalisten war es dem Geistlichen jedoch gelungen, dieses Projekt, das einen nie wieder gutzumachenden Umweltschaden angerichtet hätte, zu verhindern.

Vorerst zumindest, denn Patricia Vangaalen hatte Sebastian bittere Rache geschworen, und er wartete eigentlich jeden Tag auf eine neue Hiobsbotschaft.

Die Frau war genauso reich wie skrupellos und hatte gedroht, Sebas­tians Lebenstraum, die Jugendbegegnungsstätte auf ›Hubertusbrunn‹, einem alten Jagdschloss, das dem Geistlichen geschenkt worden war, zu zerstören. Zwar hatte er keine Ahnung, wie Patricia Vangaalen das anstellen wollte, indes war ihm klar, dass sie Mittel und Wege finden würde, um ihm zu schaden.

Schließlich ließ sich mit Geld so ziemlich alles erreichen …

Immerhin erwartete den guten Hirten von St. Johann auch eine gute Nachricht, als er ins Pfarrhaus kam.

»Die Frau Hofmeister hat angerufen«, erzählte Sophie Tappert. »Anna-Lena hat die Operation gut überstanden, und der Doktor ist ganz zuversichtlich.«

»Wirklich? Das ist aber schön!«, freute sich Sebastian. »Da hat sich der Einsatz ja doch gelohnt.«

Die Rede war von Anna-Lena Hofmeister, einer begnadeten, jungen Tänzerin aus Berlin. Dort war sie auf der Probebühne unglücklich gestürzt und hatte sich einen komplizierten Bruch des Fußgelenks zugezogen. Wie es schien, war damit eine hoffnungsvolle Karriere vorzeitig beendet.

Der Bergpfarrer lernte das Madel und deren Mutter kennen, als die beiden in St. Johann Urlaub machten. Für Anna-Lena bedeutete der Aufenthalt in dem Bergdorf in erster Linie, sich Gedanken darüber zu machen, wie es in ihrem Leben weiter gehen sollte. Im Grunde hatte sie jedoch zu gar nichts Lust. Das Tanzen war ihr Leben gewesen, doch dieser Traum war nun geplatzt.

Immerhin gab es doch einen kleinen Lichtblick in dieser grauen Zeit, als das Madel Tobias Leitner kennen lernte, einen Studenten aus München, der auch in der Pension Stubler wohnte.

Die beiden jungen Leute verliebten sich ineinander, und für Tobias spielte die kleine körperliche Behinderung Anna-Lenas keine Rolle.

Indes wollte sich Sebastian nicht damit abfinden, dass es für Anna-Lena keine Hilfe geben sollte. Dr. Wiesinger erzählte ihm von einem Münchner Kollegen, der schon mehrfach mit Erfolg eine aus Amerika kommende Methode ausprobiert hatte, bei der ein neuartiges Gewebe implantiert wurde. Ganze Knochen konnten aus diesem Stoff geformt und eingesetzt werden. Als der Geistliche davon hörte, war er wie elektrisiert. Sebastian bat den Dorfarzt, mit dem Kollegen in München Kontakt aufzunehmen, und schon kurze Zeit später, wurde eine erste Diagnose gestellt.

Danach besaß Anna-Lena Hofmeister gute Chancen, nach einer Operation das Bein wieder so gebrauchen zu können, wie vorher. Indes gab es einen kleinen Wermutstropfen, denn die Behandlung würde etliche tausend Euro kosten. Geld, das nicht da war, und das die Krankenversicherung nicht zahlen wollte.

Indes wäre Pfarrer Trenker nicht der gute Hirte von St. Johann gewesen, wenn ihm da nicht eine Lösung eingefallen wäre.

Erst am vergangenen Freitagabend hatte die berühmte Sängerin Maria Devei ein Konzert zugunsten von Anna-Lena in der Kirche ihres Heimatortes gegeben, und der benötigte Betrag war ganz schnell zusammen gekommen.

»In einer Woche geht’s von München nach Bad Pyrmont«, erzählte die Haushälterin weiter. »Da macht Anna-Lena eine Kur, bei der dann auch gleich die Reha-Maßnahmen eingeleitet werden.«

»Und die Mutter kann die ganze Zeit bei ihrer Tochter bleiben«, lächelte der Bergpfarrer erfreut. »Ach, hoffentlich find’ ich noch Zeit, die zwei in München zu besuchen, bevor sie abfahren. Im Moment schaut’s ja ganz gut aus. Wenn da net überraschend Termine dazu kommen.«

»Ach ja, Pater Antonius hat auch angerufen«, sagte Sophie Tappert. »Sie möchten dringend das bischöflichen, Ordinariat zurückrufen.«

Sebastian nickte.

»Gut, das mach’ ich am besten gleich.«

Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Dabei dachte er an den letzten Anruf, der ihn zum Bischof beordert hatte.

Hoffentlich gab es aus dieser Richtung keine neuen Probleme!

*

Caro Gerres schaute sich in der Kammer um. Sie musterte die Tapete mit den bunten Blumen, die etwas karge Einrichtung, die aus Bett, Schrank und einem Tisch mit Stuhl bestand. Dazu ein Waschbecken, mit einem kleinen Spiegel darüber.

Nicht gerade toll, aber immerhin besser, als das Zimmer mit sieben anderen Madeln zu teilen. Das hatte sie nämlich die vergangenen Jahre tun müssen. Nicht eine einzige Nacht hatte Caro alleine geschlafen, immer waren die anderen um sie herum. Zwar war es ein Waisenheim gewesen, dennoch kam es ihr wie ein Aufenthalt im Gefängnis vor.

Und nun war sie also frei – na ja, was man so frei nannte, wenn man unter Vormundschaft stand. Immerhin schien dieser Pfarrer Trenker ja ganz okay zu sein. Er hatte zumindest eine recht freundliche Art und hielt ihr nicht vor, was sie angestellt hatte, so wie die Erzieherinnen im Heim es ständig getan hatten.

Trotzdem überlegte sie, seit der Geistliche sie aus dem Heim geholt hatte, wie sie am besten wieder fortlaufen konnte. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich Caro an ihren ersten Tag im Waisenhaus. Voller Hass hatte sie die Verwandte angeschaut, die sie dort hatte einweisen lassen, und voller Wut war sie auf die Heimleiterin losgegangen und geschrieen, sie wolle wieder fort.

Dass die Eltern tot waren und nicht wiederkommen würden, das hatte sie begriffen, so jung sie auch noch war. Was sie nicht begreifen konnte war, dass man sie dafür bestrafte und einsperrte. Seit jenem Tag war das Mädchen von einem unbändigen Freiheitsdrang erfüllt und setzte immer wieder alles daran, aus dem Heim zu entkommen.

Nun war sie also hier gelandet.

Caro stellte den Karton in die Ecke neben den Schrank. Sie hatte nicht die Absicht, ihn auszupacken. Schließlich würde sie nicht lange hier bleiben …

Sie sollte sich erst einmal einrichten, hatte die Frau Reisinger gesagt. Caro grinste bei dem Gedanken, wie sie die braven Wirtsleute schocken würde. So ein Edelschuppen wie dieses Hotel hatte ihr gerade noch gefehlt. Da war es schon besser, bei der nächsten Gelegenheit wieder abzuhauen, und sie wusste auch schon, wie sie das anstellen würden.

In der Innentasche ihrer Jacke verbarg Caro zwei kleine Tuben, deren Inhalte verschiedene Farben hatten, einmal rot und einmal

grün …

Das Madel nahm die Tuben heraus und legte sie auf den Rand des Waschbeckens. Die Gebrauchsanweisung musste sie nicht lesen, es war nicht das erste Mal, dass Caro sich die Haare färbte. Während sie Wasser einlaufen ließ, dachte sie kurz an die anderen Madeln im Heim. Mit den meisten hatte sie sich gut verstanden. Vor allem mit den Älteren. Die hatten ihr auch beigebracht, was sie wissen musste, um draußen, außerhalb des Heimes zu überleben. Caro konnte in Sekunden ein Türschloss knacken, jemandem unbemerkt die Geldbörse aus der Tasche stehlen oder im Kaufhaus und Supermarkt Sachen mitgehen lassen, die sie sonst niemals würde kaufen können, solange sie im Heim war. Auf diese Weise war sie auch an die beiden Tuben Haarfärbemittel gekommen, und als sie eine Stunde später grinsend in den Spiegel schaute, da sah ihr die alte Caro entgegen, ein Teil der Haare rot gefärbt, der andere grün.

Es klopfte an die Tür. Das war neu für sie. Im Heim kamen die Erzieherinnen in die Zimmer, wann immer es ihnen passte, und sie klopften vorher nie an.

Caro öffnete. Vor ihr stand eine junge Frau in der Tracht der Hotel­angestellten und blickte sie erst verblüfft, dann lachend an.

»Ja, mei, du traust dich was!«, sagte Christel Hofer, eine der Haus­töchter, »Glaubst’ etwa, dass die Chefin dir das durchgeh’n lässt?«

Caro schaute Christel feindselig an.

»Das ist mir völlig wurscht. Von mir aus kann die Frau Reisinger mich ja gleich wieder hinauswerfen.«

Die Angestellte zuckte die Schultern.

»Du musst es ja wissen«, meinte Christel. »Ich soll dich jedenfalls holen und zu ihr bringen. Sie will dir den Betrieb zeigen und mit dir beraten, wo sie dich am besten einsetzen kann. Also komm mit.«

Irma Reisinger hatte nie Kinder gehabt, wenngleich der Wunsch immer da gewesen war. Aber die Arbeit, erst in der Gastwirtschaft, und später, nach dem großen Umbau, im Hotel, hatte ihr nie wirklich Zeit gelassen, den Kinderwunsch auch Realität werden zu lassen. Inzwischen betrachtete sie die Angestellten, von denen schon viele lange Jahre im Hotel arbeiteten, als ihre Familie, und aus diesem Grund zeigte sie auch für Caro Gerres viel Verständnis. Es war in erster Linie ihr zu verdanken, dass Pfarrer Trenker mit seinem Anliegen nicht auf taube Ohren gestoßen war, und als sie jetzt das Madel mit den bunten Haaren ansah, da hielt sie sich mit einer kritischen Äußerung zurück.

»Ein bissel ungewöhnlich«, meinte sie nur.

Caro war enttäuscht. Sie war sicher gewesen, die Wirtin würde sie sofort feuern, wenn sie ihr so unter die Augen trat.

»Am besten kommst’ die erste Zeit zu mir in die Küche«, sagte Irma Reisinger. »Du wirst seh’n, Kochen ist etwas ganz Wunderbares. Es ist unglaublich, was man mit ein bissel Gewürz und Liebe aus einem einfachen Stückl Fleisch alles machen kann. Manchmal wird’s auch ein bissel stressig, aber da gewöhnst’ dich schnell dran. Was meinst, hättest’ da Lust zu?«

Caro nickte stumm und ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Wenn es ihr so nicht gelang, dass man sie wieder entließ, dann würde sie es eben auf andere Weise schaffen.

In so einem vornehmen Laden musste es doch genug Gelegenheiten geben, irgendwie unangenehm aufzufallen …

*

Während er darauf wartete, dass sich der Sekretär des Bischofs meldete, dachte Sebastian kurz an das letzte Zusammentreffen mit seinem Vorgesetzten.

»Grüß dich, Ottfried«, hatte er gesagt, als er in das Büro eingetreten war.

Ottfried Meerbauer war nicht wie gewöhnlich aufgestanden, um ihn zu begrüßen, sondern hinter seinem Schreibtisch sitzen geblieben.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte er, ohne auf das übliche ›Gelobt sei Jesus Christus‹ einzugehen.

Dabei klopfte er mit dem rechten Zeigefinger auf einen Umschlag, der vor ihm lag.

»Was meinst du?«

Ottfried Meerbauer entnahm dem Umschlag mehrere Fotografien, die er dem Bergpfarrer reichte. Ungläubig schaute Sebastian sie an.

Die Fotos zeigten eindeutig ihn selbst und Patricia Vangaalen. Sie umarmten sich innig, die Frau

schien ihn sogar zu küssen. Sebastian erkannte die Umgebung, in der die Bilder gemacht worden waren – damals, als er mit dieser Frau eine Bergtour unternommen hatte.

Patricia hatte sich an ihn gedrängt, ihm gesagt, dass sie ihn liebe – und dabei sich so in Pose gestellt, dass jemand, der offensichtlich von ihr beauftragt worden war, heimlich diese Fotos hatte machen können.

Vermutlich hatte sie damals schon gewusst, dass Sebastian sich nicht auf sie einlassen würde, und sie die Fotos noch einmal würde gebrauchen können. Jetzt benutzte sie sie, um ihn bei seinem Vorgesetzten in Misskredit zu bringen.

Sebastian musste dem unbekannten Fotografen Respekt zollen. Nicht nur, dass er den Mann seinerzeit nicht bemerkt hatte, die Aufnahmen waren wirklich erstklassig geworden.

Dennoch entstellten sie die Wirklichkeit und gaben nicht wieder, was seinerzeit wirklich geschehen war.

»Die hier sind ja noch harmlos«, meinte der gute Hirte von St. Johann und deutete auf einige Fotos, die ihn und Patricia Vangaalen beim Frühstück zeigten.

Dann kamen Aufnahmen, wo sie die Brücke über die Kachlachklamm überquerten. Schließlich jene Fotos, auf denen die Frau ihn so stürmisch bedrängte.

Sebastian Trenker sah den Bischof betrübt an.

»Eigentlich bin ich enttäuscht«, sagte er und sah den Bischof mit hochgezogener Augenbraue an. »Ich hatte gedacht, dass du mich besser kennen würdest …«

Ottfried Meerbauer breitete verlegen die Arme aus.

»Das tu’ ich ja auch, Sebastian«, erwiderte er, mit einer deutlich hörbaren Entschuldigung in der Stimme, »aber du musst zugeben, dass diese Fotos einen schon … nun nachdenklich machen können. Was steckt denn nun dahinter? Und wer in Gottes Namen ist diese Frau?«

Sebastian erklärte es ihm, und als er eine Stunde später das bischöfliche Ordinariat wieder verließ, gab es zwischen ihm und Ottfried keine Irritationen mehr.

»Ich bin’s, Pater Antonius«, sagte der Geistliche, als der Sekretär sich gemeldet hatte, »Pfarrer Trenker. Der Bischof wollte mich sprechen?«

Früher war Pater Antonius ihm stets seltsam ablehnend gegenüber getreten, gerade so, als neidete er Sebastian das gute Verhältnis zum Bischof. Das änderte sich erst, als der Bergpfarrer, mit Hilfe seiner Haushälterin, für den Pater, zu dessen Berufsjubiläum als Sekretär des Bischofs, eine kleine Feier, natürlich mit einem köstlichen Essen, im Pfarrhaus ausrichtete und den Jubilar mit auf eine Bergtour nahm. Seither hatte sich ihr Verhältnis deutlich gebessert.

»Ja, Hochwürden, ich stelle gleich durch.«

Es knackte kurz in der Leitung, dann vernahm Sebastian die Stimme seines Bischofs.

»Gut, dass du dich meldest«, sagte Ottfried Meerbauer.

»Worum geht’s denn? Es hörte sich recht dringend an, meinte die Frau Tappert.«

»Das ist es auch. Am liebsten wär’ ich selbst zu dir gekommen, aber ich bin gerade auf dem Sprung nach Regensburg; ein Treffen meiner alten Studiengruppe.«

»Verstehe. Also, was ist geschehen?«

Der Bischof räusperte sich.

»Tja, also ich hatte heut’ Morgen einen net gerade angenehmen Besuch … Eine Frau tauchte hier auf. Ich habe sie sofort wieder erkannt. Es ist dieselbe wie auf den Fotos … du weißt schon.«

»Patricia Vangaalen!«

»Richtig.«

»Und was wollte sie?«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, antwortete Ottfried. »Sie hatte ja auch gar keinen Termin, aber Pater Antonius wurde förmlich von ihr überrascht, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Also jedenfalls platzte sie in mein Arbeitszimmer und verlangte von mir eine Erklärung.«

»Was für eine Erklärung?«

»Nun, sie wollte wissen, ob es denn auch mit rechten Dingen zugehe, dass ein einfacher Landpfarrer, wie du es bist, Besitzer eines Schlosses sein kann …«

»Wie bitte?«

»Ja, du hast richtig gehört. Diese Frau Vangaalen zweifelt die Rechtmäßigkeit deines Besitzes an. Sie behauptet, ein Geistlicher könne niemals gleichzeitig Schlossherr sein. Schließlich gehöre sein privates Vermögen in der Regel der Mutter Kirche.«

Was auch zweifellos richtig war. Sebastian Trenker war seinerzeit unsicher gewesen, ob er diese Schenkung überhaupt annehmen dürfe oder den Besitz nicht gleich der Kirche übertragen müsse. Indes hatte Ottfried sich angehört, welche Absicht der Bergpfarrer mit ›Hubertusbrunn‹ verfolgte, und sozusagen seinen Segen für die Jugendbegegnungsstätte gegeben.

»Was bezweckt diese Frau nur?«, fragte der Bischof.

»Patricia Vangaalen ist mit allen Wassern gewaschen«, antwortete Sebastian. »Sie hat gedroht, alles zu unternehmen, um mir ›Hubertusbrunn‹ wegzunehmen, und so, wie ich sie kennen gelernt hab’, wird sie Mittel und Wege finden, ihren Plan umzusetzen.«

»Aber kann sie denn irgendwas in der Hand haben, um an das Schloss zu kommen?«

»Meines Wissens net. Es ist seinerzeit alles ganz nach dem Gesetz abgelaufen. Die Baroness hat mir das Jagdschloss überschrieben, und diese Schenkung wurde notariell beglaubigt.«

»Trotzdem bin ich, ehrlich gesagt, ein wenig besorgt, Sebastian. Es wäre doch furchtbar, wenn es ihr gelänge, diese segensreiche Einrichtung zu zerstören.«

»Sei ganz beruhigt, Ottfried«, antwortete der gute Hirte von St. Johann, »das werd’ ich zu verhindern wissen.«

Indes hatte er auch kein gutes Gefühl, wenn er an die intrigante Inhaberin der Schwäbischen Invest­mentfirma dachte …

*

»Grüß Gott und herzlich willkommen«, begrüßte Ria Stubler die neu angekommenen Gäste. »Wie geht’s euch, Birgit, Jürgen, hattet ihr eine gute Fahrt?«

Die Wirtin schaute das Madel an, das lächelnd neben seinen Eltern stand.

»Tina! Bist du’s wirklich? Himmel, was ist in einem Jahr aus dir geworden! Ein richtige junge Dame. Wie alt bist denn jetzt? Schon achtzehn Jahr’?«

Christina Engel nickte.

»Ja, vor zwei Monaten bin ich volljährig geworden.«

»Ja, meine Güte, wie die Zeit vergeht, wie die Zeit vergeht. Aber ich freu’ mich, dass ihr wieder da seid.«

Die Wirtin händigte ihnen die Schlüssel aus.

»Ihr wisst ja Bescheid. Nachher kommt ihr auf einen Kaffee in den Garten, gell?«

Birgit Engel nickte, während ihr Mann sich schon um das Gepäck kümmerte. Tina hatte sich ihre Reisetasche geschnappt und stieg schon die Treppe hinauf. Die Einzelzimmer lagen im ersten Stock der Pension.

Die Achtzehnjährige schloss auf, stellte die Tasche ab und öffnete die Balkontür. Die würzige Luft tief einatmend lehnte sie an der Brüstung und schaute zu den Bergen hinüber, die zum Greifen nahe schienen.

Ihr Blick suchten die Wiesen ab, bis sie eine Bank sah, die von hier aus kaum zu erkennen war. Dennoch wusste Tina ganz genau, dass sie dort stand, denn an diese Bank hatte sie nur schöne Erinnerungen aus dem letzten Urlaub vor einem Jahr …

Ob er auch wieder hier sein würde?

Wie aus dem Nichts tauchte das Gesicht des jungen Burschen vor ihr auf, denn sie, fast auf den Tag genau vor zwölf Monaten kennen gelernt hatte.

Xaver Brunnhöfer!

Tina holte tief Luft und seufzte. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht wieder sehen. Als sie damals abgereist war, hatten sie sich noch ewige Treue geschworen – doch schon nach sechs Wochen blieben die versprochenen Briefe aus, die Anrufe wurden weniger, und schließlich sah und hörte man nichts mehr von einander.

Sie lächelte; Urlaubsliebe eben!

Nachdem sie die Reisetasche ausgepackt hatte, lief Tina wieder nach unten. Birgit und Jürgen Engel saßen schon mit der Wirtin auf der Terrasse und tranken Kaffee. Ria Stubler hatte einen Marmorkuchen angeschnitten und forderte das Madel auf, sich zu bedienen.

»Irre ich mich, oder ist zur Zeit weniger los als sonst?«, erkundigte sich Jürgen bei der Wirtin.

Er war ein großer, schlanker Mann, Anfang der Fünfzig, Birgit wirkte neben ihm fast zierlich, klein.

»Ja, genau«, nickte sie, »schon auf der Fahrt durchs Dorf fiel uns auf, dass irgendwie weniger Urlauber herumzulaufen schienen.«

Ria Stubler nickte bekümmert.

»Da habt ihr ganz richtig vermutet«, antwortete sie. »In diesem Jahr sind’s tatsächlich viel weniger Gäs­te. Einige haben sogar schon reservierte Zimmer wieder abgesagt.«

»Ja, aber wie kommt denn das?« Jürgen Engel schüttelte den Kopf. »St. Johann war doch immer ein Magnet für die Leute, die in Ruhe Urlaub machen wollten.«

Ria zuckte die Schultern.

»Vielleicht sind’s ja immer noch Auswirkungen der internationalen Finanzkrise«, vermutete sie. »Die Folgen scheinen noch lang’ net überstanden zu sein.«

Birgit Engel trank einen Schluck Kaffee.

»Das haben wir auch schon gespürt«, meinte sie. »Die Bestellungen für neue Bäder sind rapide zurückgegangen.«

»Na, immerhin sind da ja noch ein paar Großaufträge, die uns über Wasser halten«, bemerkte ihr Mann.

Tina hatte nur mit einem Ohr zugehört. Dass die Geschäfte nicht mehr so gut liefen, war beinahe jeden Abend Thema zuhause. Der Installationsbetrieb, in dem beide Eltern arbeiteten, war aber nicht unmittelbar von der Pleite bedroht.

»Ich geh’ mal ein bissel spazieren«, sagte sie und stand auf.

»Um acht im Biergarten, ja?«, rief ihre Mutter hinterher.

Tina hob die Hand und winkte, ohne sich dabei noch einmal umzudrehen.

»Ein hübsches Ding, eure Tochter«, meinte Ria lächelnd.

»Ja, aber auch ein gefährliches Alter«, nickte Jürgen Engel.

Seine Frau schmunzelte.

»Wenn’s nach dem Vater ginge, dann würde Tina jeden Abend um sechs daheim sein und das Haus nur unter Bewachung verlassen.«

»Geh, du übertreibst!«, wehrte ihr Mann ab.

»Komm, gib’s zu, du bist schon ganz schön eifersüchtig auf die jungen Burschen«, lachte Birgit.

»Tja, daran muss sich wohl jeder Vater gewöhnen, dass die Tochter eines Tags flügge wird und eigne Wege geht«, sagte Ria. »Ein Trost ist ja, dass man dann immerhin einen Schwiegersohn dazu bekommt.«

*

Sepp Reisinger runzelte die Stirn, als er in die Küche kam und Carolin Gerres sah. Sie stand an der Spüle und polierte die Silberplatten, auf denen das Essen angerichtet wurde.

Der Wirt winkte seine Frau beiseite.

»So kann sie aber net unter die Leut’«, sagte er mit einem verständnislosen Kopfschütteln. »Was soll’n denn die Gäste sagen? Was denkt sie sich überhaupt dabei? Was glaubt sie denn, wo sie hier ist?«

»Lass sie doch«, beschwichtigte Irma ihn. »Das gibt sich schon wieder.«

»Na, hoffentlich!«

Sepp schickte noch einen Blick zur Spüle und schüttelte noch einmal den Kopf.

»Warum ich überhaupt da bin«, setzte er dann hinzu, »in der Juniorsuite fehlt Duschgel. Der Herr Reinhard hat sich grad’ bös’ beschwert. Hast’ denn net kontrolliert, als die Gaby dort fertig war?«

»Ach herrje!«

Irma fuhr sich über das Gesicht.

»Das ist mir völlig durch die Lappen gegangen«, entschuldigte sie sich. »Weil doch Hochwürden das Madel gebracht hatte …«

»Siehst’, da geht der Ärger schon los!«, schimpfte Sepp reichlich miss­gestimmt.

»Ich bring’s ja gleich in Ordnung«, beruhigte seine Frau ihn. »Ist der Herr Reinhard denn jetzt oben?«

»Nein, ich glaub’, er ist in den Kaffeegarten gegangen.«

»Gut, dann wird’s sofort erledigt.«

Sepp Reisinger nickte und ging wieder nach draußen.

»Carolin, komm doch mal«, rief Irma.

Das Madel zog die Gummihandschuhe aus und kam zu ihr.

»Wir geh’n mal eben nach oben«, erklärte die Wirtin. »In einer der Suiten fehlt etwas im Bad. Und dann kann ich dir gleich mal die Zimmer zeigen.«

Sie gingen die Treppe hinauf, und Irma dankte im Stillen dem lieben Gott, dass ihnen keine Gäste begegneten …

Auf dem Flur befand sich ein kleiner Raum, in dem Putzmittel, Eimer und Besen aufbewahrt wurden. Außerdem lagerten in einem Regal Kartons, deren Inhalt Caro erstaunte.

Hunderte kleiner Plastikfläschchen mit Shampoo und Duschgel einer ganz besonders teuren Marke befanden sich in den Kartons. Irma Reisinger nahm ein paar davon und drückte die Tür ins Schloss.

»Das gehört einfach zum Service eines erstklassigen Hotels«, erklärte sie und schloss die Tür zur Juniorsuite auf.

Zuvor hatte sie selbstverständlich angeklopft und sich vergewissert, dass der Gast nicht anwesend war.

Caro staunte wieder. Die Suite verfügte über einen kleinen Flur, von dem die Zimmer abzweigten. Das eine war der Wohnbereich, sehr komfortabel ausgestattet, nicht weniger luxuriös war das Schlafzimmer, und in dem Badezimmer hätte die Kammer, in der Caro wohnen sollte, mindestens zweimal Platz gehabt. Eine Wanne lud zum Baden ein, die Armaturen waren verchromt und blitzen, auf der Ablage über dem Waschbecken standen die Fläschchen, zu denen jetzt noch welche mit Duschgel kamen. Daneben hing ein weißer Bademantel, mit dem Logo des Hotels auf der linken Brusttasche.

Offenbar wurden hier den Gästen auch die Bademäntel zur Verfügung gestellt!

Caro dachte mit Bitterkeit im Herzen daran, dass es im Heim nur Handtücher gab, und die waren auch noch hart und scheuerten auf der Haut. So einen Luxus wie Bademäntel kannte man dort nicht.

»Unsre Gäste legen Wert auf höchsten Komfort«, erklärte die Chefin. »Freilich hat dieser Luxus seinen Preis, aber den zahlen die Gäste gern’. Dafür bieten wir ihnen ja auch was.«

Sie verließen die Suite, und Irma Reisinger wollte gerade wieder zusperren, als ihr Handy klingelte.

»Wo bleibst’ denn?«, fragte ihr Mann ungeduldig. »Die Mestmachers sind da und wollen mit dir das Menü besprechen.«

»Bin ja schon unterwegs«, antwortete die Wirtin und winkte Caro mit sich.

Die Tür der Suite blieb unversperrt …

»Geh du wieder in die Küche«, wies die Chefin das Madel an. »Ich muss ins Restaurant.«

Sie eilte die Treppe hinunter und kümmerte sich nicht weiter um Caro Gerres. Die blieb zögernd stehen, dann machte sie kehrt und lief die Treppe wieder hinauf. Einen Moment stand sie mit klopfendem Herzen vor der Tür. Sie schaute sich has­tig um, es war keine Menschenseele zu sehen. Caro drückte die Klinke herunter und huschte in die Suite.

Was für ein Luxus!

Erst jetzt hatte sie Zeit, alles ganz genau anzusehen. Solche Möbel, wie sie hier standen, kannte sie nur aus den Schaufenstern teurer Geschäfte. Der Teppichboden war ganz weich und flauschig. Caro betrat das Badezimmer. Sie nahm eines der Fläschchen und öffnete es. Ein betörender Duft stieg ihr in die Nase, als sie daran schnupperte. Dann befühlte sie den Bademantel, steckte ihr Gesicht in den flauschigen Stoff, als wolle sie sich damit waschen.

Auf der Ablage über dem Waschbecken stand, neben anderen Utensilien, auch eine Flasche Rasierwasser, eine französische Marke, deren Name sie nicht aussprechen konnte. Sie hatte diese Sorte schon öfter in eine Parfümerie stehen sehen und wusste, dass diese kleine Flasche weit über hundert Euro kos­tete. Bestimmt war es ein stinkreicher Mann, der hier wohnte.

Caro öffnete die Flasche und roch auch an dem Rasierwasser. Dabei glitt ihr der Verschluss aus der Hand und fiel hinter den kleinen Eimer, der unter dem Becken stand. Sie drückte die Tür zu und bückte sich, um den verlorenen Gegenstand wieder aufzuheben. Im selben Moment wurde die Suite von außen aufgeschlossen.

*

»Was glaubst’ denn, was die Vangaalen ausrichten kann?«, fragte Max seinen Bruder.

Der junge Polizeibeamte war, wie fast jeden Nachmittag, zum Kaffee ins Pfarrhaus gekommen. Sebastian hatte ihm von dem Telefonat mit Ottfried Meerbauer erzählt.

»Wenn ich das bloß wüsste«, erwiderte der Bergpfarrer. »Dann wär’ mir ein ganzes Stück wohler. Irgendwas plant sie, aber ich kann beim besten Willen nix finden, wo sie ansetzen könnt’. Ich will nachher noch mal zum Anstetterhof hinauf und mit der Michaela sprechen.«

Michaela Anstetter war die junge Baronesse, die dem guten Hirten von St. Johann das alte Jagdschloss geschenkt hatte. Bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie keine Ahnung gehabt, dass sie nicht die Tochter der Frau ist, die sie bisher für ihre Mutter gehalten hatte. Maria Engler war die Kinderfrau der Baroness Michaela von Maybach gewesen, als deren Eltern tödlich verunglückten. Aus Furcht, man könne ihr das Kind fortnehmen und in eine Heim stecken, gab sie Micha­ela als ihr eigenes Kind aus, und da es sonst keine Verwandte in der Familie des Freiherrn mehr gab, erhob niemand Widerspruch.

Maria verdingte sich als Magd auf dem Anstetterhof, wo Michaela zusammen mit Markus, dem Sohn des Bauern, aufwuchs. Waren sie erst wie Bruder und Schwester, so spürten sie als junge Leute doch eine innige Liebe für einander, und nachdem Markus nach einem Aufenthalt im Ausland wieder nach Hause zurückgekehrt war, wollten die beiden heiraten.

Indes stießen sie auf den energischen Widerstand des Bauern, dem die Tochter seiner Magd nicht gut genug war, um die Frau seines Sohnes zu werden. Erst als Pfarrer Trenker sich einschaltete, wendete sich das Blatt, und als dann auch noch Maria Engler Michaelas wahre Identität preisgab, stand einem glücklichen Ende nichts mehr im Wege. Zum Dank für seine Hilfe schenkte die Baronesse Sebastian Trenker das alte Jagdschloss im Ainringer Wald. Sie wollte lieber als Bäuerin an der Seite ihres Liebsten glücklich werden, als auf einem Schloss zu wohnen, zu dem sie ohnehin keinerlei Beziehung mehr hatte.

»Aber wie ich schon sagte«, setzte der Bergpfarrer hinzu, »seinerzeit ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Die Schenkung wurde notariell beglaubigt, und in all den Jahren, die inzwischen vergangen sind, ist nie jemand gekommen und hat Anspruch auf ›Hubertusbrunn‹ erhoben.«

»Ich versteh’ net, dass Menschen mit so etwas immer wieder durchkommen«, schüttelte Max den Kopf. »Die bewegt sich doch am Rande der Legalität, die Vangaalen. Gibt’s denn niemanden, der diese Frau vor den Kadi zerrt?«

»Ich fürcht’, dass das net viel bewirken würd’. Sie ließe dann nämlich gleich eine ganze Armee von Anwälten aufmarschieren, die sie von jedem Verdacht reinwaschen würden.«

Max griff sich noch ein Stückchen von dem leckeren Haselnusskuchen, den die Haushälterin gebacken hatte, und verabschiedete sich. Sebastian blieb auf der Terrasse sitzen und grübelte über die ganze Angelegenheit nach. Seit dem Gespräch mit dem Bischof sah er tatsächlich etwas Dunkles, Bedrohliches auf sich zukommen.

Patricia Vangaalen tat nichts ohne Bedacht und sie hatte ihm bereits gedroht, das Jagdschloss abzujagen. Sebastian hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen wollte, aber dass sie nichts unversucht lassen würde, um an ihr Ziel zu kommen, das stand so fest, wie die Mauern seiner Kirche.

Und wenn ›Hubertusbrunn‹ in ihre Hände geriet, dann war es mit der Jugendbegegnungsstätte vorbei!

Sebastian verspürte unwillkürlich einen dicken Kloß im Hals, als er daran dachte.

Plötzlich gab er sich einen Ruck.

Nein, er konnte, er wollte es sich gar nicht vorstellen! Und zulassen schon gleich gar nicht! Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln würde er dagegen ankämpfen, dass diese rücksichtslose Frau sein Lebenswerk zerstörte!

Es klingelte an der Haustür. Einmal, zweimal, energisch. Sebastian stand auf, um zu öffnen, Sophie Tappert war zu ihrer Freundin gegangen. Der Bergpfarrer zog die Tür auf und schaute in das verärgerte Gesicht Sepp Reisingers.

Hinter dem Wirt stand Caro Gerres und grinste hämisch.

»Was ist denn los?«

»Was los ist?«, wetterte Sepp. »Ich bring’ Ihnen das Madel zurück, das ist los! Es tut mir furchtbar leid, Hochwürden, aber so Eine ist für unser Haus net tragbar. Da laufen mir ja die Gäste davon!«

»Komm doch erstmal herein«, sagte der Geistliche und deute auf das Madel, »und das ist net ›so Eine‹, sondern die Carolin.«

»Geht net, ich hab’ keine Zeit«, wehrte der Hotelier ab.

»Dann erklär’ mir wenigstens, was gescheh’n ist.«

Das war schnell erzählt. Karl-Heinz Reinhard, ein guter Gast des Hotels, hatte Caro im Badezimmer seiner Suite erwischt!

»Darf ich mal fragen, was du hier zu suchen hast?«, fragte eine Stimme, die Caro zusammenzucken ließ.

Sie ruckte hoch und stieß sich den Kopf an dem Waschbecken, unter dem sie gekniet und nach dem Schraubverschluss der Rasierwasserflasche gesucht hatte.

Dabei rutschte ihr die Flasche aus der Hand und zerschellte auf dem Boden. Sofort verbreitete sich der aufregende Duft im ganzen Bad.

Doch das stimmte den Gast keineswegs milde.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, tobte er. »Hast du eine Ahnung, wie teuer das ist?«

Caro hatte sich erhoben und stand vor ihm. Statt eine Antwort zu geben, wollte sie sich an dem Mann vorbei drängen, doch der hielt sie fest.

»Nix da, hiergeblieben! Jetzt rufen wir erstmal den Herrn Reisinger, und den Schaden ersetzt du mir!«

Caro gab ihm einen Tritt vors Schienbein.

Karl-Heinz Reinhard schrie vor Schreck und Schmerz auf, ließ das Madel aber nicht los. Im Gegenteil, mit festen Griff zog er Caro mit sich hinaus vor die Suite, wobei er lautstark um Hilfe rief.

»Der Herr Reinhard hat gedroht, auszuziehen«, klagte Sepp, »und das kann ich mir beim besten Willen net leisten, Hochwürden, das müssen S’ versteh’n.«

Sebastian Trenker nickte. Er nahm dem Wirt den Karton mit den Sachen des Madels ab und zog Caro ins Haus.

»Dank’ dir trotzdem für deinen guten Willen«, rief er dem zum Auto eilenden Hotelier nach.

Dann drehte er sich um und schaute Caro nachdenklich an.

»Und nun?«

*

»Die Familie Behringer, herzlich willkommen!«

Ria Stubler begrüßte die neu angekommenen Gäste mit der gewohnten Herzlichkeit.

»Zwei Jahr’ ist’s jetzt her«, fuhr sie fort. »Als ihr angerufen habt, da hab’ ich gleich nachgeschaut.«

»Ja«, lachte Hans Behringer, »und wir sind heilfroh, dass es geklappt hat, mit den Zimmern. Letztes Jahr an der See – die reinste Katastrophe! Nur Regen, die ganzen drei Wochen. Da haben wir uns geschworen, in diesem Jahr wieder in St. Johann Ferien zu machen und da sind wir!«

Er breitete die Arme aus und begrüßte die Wirtin mit einem freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Edith, seine Frau, war nicht weniger herzlich.

»Und das hier«, deutete sie anschließend auf den jungen hoch gewachsenen Burschen, »das ist unser Andreas.«

Ria reichte ihm die Hand.

»Ja grüß dich, Andreas. Schön, dass du diesmal mitgekommen bist. Vor zwei Jahren warst auf einer Freizeit, wenn ich mich recht erinnre, net wahr?«

Der Neunzehnjährige nickte.

»Ja, ich bis als Begleiter ins Ferienlager mitgefahren«, bestätigte er.

Die Wirtin hatte bereits mit der Ankunft der Familie gerechnet und die Schlüssel bereit gelegt.

»Für dich die Nummer zwölf im ersten Stock.«

Andreas nickte und nahm sein Gepäck auf.

»Was ist denn hier los?«, fragte Hans Behringer. »Es sind ja kaum Leute zu seh’n. Hast du etwa noch Zimmer frei?«

Ria Stubler winkte ab.

»In dieser Saison steckt wirklich der Wurm drin«, antwortete sie. »Ich erzähl’s euch später ausführlich.«

Hans und Edith bezogen ihr Zimmer, das im Erdgeschoss lag, während der Sohn sich im ersten Stock einrichtete.

»Cool!«, entfuhr es ihm, als er das Zimmer betreten hatte.

Auf den ersten Blick war ihm der Internetzugang aufgefallen, der am Schreibtisch eingerichtet war. An­dreas Behringer war zwar nicht süchtig danach, ins Internet zu flüchten, aber der junge Bursche unterhielt zahlreiche Kontakte mit anderen jungen Leuten, mit einer kleinen Gruppe spielte er sogar per Internet Schach.

Aber auch ansonsten gefiel ihm sein Zimmer. Die Einrichtung war typisch ländlich, und der Blick vom Balkon auf die Berge geradezu atemberaubend.

Kein Wunder, dass die Eltern sich nach dem verregneten Urlaub im letzten Jahr wieder hierher gesehnt hatten!

Eine Viertelstunde später spazierte die Familie durch das Dorf.

»Die Kirche musst’ dir unbedingt anseh’n«, sagte der Studienrat zu seinem Sohn. »Einmalig schön!«

»Ich kenn’ sie doch schon von deinen vielen Fotos«, lachte An­dreas.

»Aber in der Wirklichkeit ist sie noch viel schöner«, gab seine Mutter zu bedenken. »Außerdem musst’ unbedingt Pfarrer Trenker kennen lernen.«

»Ach ja. Wie habt ihr ihn noch genannt? Den Bergpfarrer, gell?«

»Pst!«, mahnte Edith. »Net so laut. Das sagen die Leut’ doch net zu ihm.«

»Aber über ihn.«

»Ja und mit Recht, denn die Wanderung, die wir damals mit ihm gemacht haben, ist unvergesslich gewesen.«

»Ich weiß«, frozzelte der Sohn. »Vor allem, weil ihr nach dem letzten Urlaub net andauernd die Fotos von der See angeschaut habt, sondern die vom Jahr davor …«

»Na und, siehst’ denn jetzt, wie schön es hier auch tatsächlich ist?«, fragte sein Vater.

»Freilich seh’ ich das«, grinste Andreas, »und ich bin ja auch froh, dass ich mitgekommen bin.«

Sie aßen im Biergarten zu Abend und kehrten bald darauf in die Pension zurück. Andreas verabschiedete sich schnell von den Eltern. In einer Viertelstunde begann die Schachpartie. Hans und Edith setzten sich zusammen mit Ria Stubler auf die Terrasse. Die Wirtin hatte eine Flasche Wein geöffnet und trank mit ihren Gästen. Bald darauf kam auch Familie Engel dazu, und es wurde rasch eine gemütliche Runde.

Tina hatte den Wein abgelehnt und wollte auf ihr Zimmer gehen. Immerhin blieb sie noch auf ein Glas Apfelschorle und erfuhr so, dass die Behringers noch einen Sohn hatten, der oben auf seinem Zimmer war.

Was das wohl für ein Typ war?

Tina leerte ihr Glas und wünschte eine gute Nacht. Als sie ihre Zimmertür aufschloss, hörte sie eine Stimme nebenan. Offenbar telefonierte dieser Andreas.

Mit seiner Freundin?

Falls er eine hatte, war sie jedenfalls nicht mitgekommen. Um so besser, wenn der Bursche gut ausschaute, dann versprach dieser Urlaub ja doch noch recht nett zu werden …

Tina Engel öffnete die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Unten auf der Terrasse hatte die Wirtin ein Windlicht angezündet, indes war es aber noch nicht richtig dunkel geworden. Tina stand eine ganze Weile dort und schaute zu den Bergen, hinter denen die Sonne verschwunden war, und ließ dabei ihre Gedanken wandern.

An die Liebe vom letzten Urlaub hatte sie nur noch kurz gedacht, Xaver spielte keine große Rolle mehr. Als sie mit den Eltern im Wirtshaus gesessen hatte, war ihr einer der Burschen, die am Tresen standen, ins Auge gestochen. Er hatte immer wieder zu ihr herübergesehen. Aber sie hatte nicht so richtig darauf reagiert, denn plötzlich hatte sie wieder an Stefan denken müssen, Stefan Brückner, den sie in der Fahrschule kennen gelernt hatte …

Zusammen hatten sie den Führerschein gemacht und waren sich dabei näher gekommen. Doch vor zwei Wochen war ihre Liebe merklich abgekühlt, und schließlich hatten sie sich nicht mehr getroffen.

Tina wusste gar nicht zu sagen, wie lange sie hier schon gedankenverloren auf dem Balkon stand. Jedenfalls zuckte sie zusammen, als eine Tür geöffnet wurde, und ein junger Bursche heraustrat.

Das musste dieser Andreas sein!

»Hallo«, grüßte er und trat an die Brüstung. »Na, da ist ja jemand wohl noch ziemlich lustig, da unten.«

»Unsre Eltern«, erwiderte sie. »Sie sitzen mit der Ria und trinken Wein. Ich bin übrigens Christina Engel.«

»Andreas Behringer«, stellte er sich vor.

Sie musterte ihn verstohlen und war ganz dankbar, dass es inzwischen nicht mehr so hell war, und er ihren musternden Blick nicht sehen konnte.

Ja, das war schon ein recht fescher Bursche! Mit dem ließ sich was anfangen.

»Woher kommt ihr denn?«, erkundigte sie sich.

»Regensburg.«

»Wirklich? Wir wohnen in Neustadt an der Donau. Das ist ja fast um die Ecke!«

»Allerdings studier’ ich in Ingolstadt.«

»Tatsächlich? Das habe ich nach dem Abi’ auch vor. Was studierst’ denn?«

»Lehramt, wie mein Vater«, schmunzelte er. »Ich will auch mal Pauker werden.«

»Du wirst es net glauben«, lachte Tina, »aber ich möcht’ wirklich und wahrhaftig Lehrerin werden.«

»Na, das ist ja ein Zufall!«

Aus einem der Zimmer erklang ein seltsames Geräusch.

»Das ist bei mir«, sagte Andreas, »da muss ich eben mal ran. Komm doch mit.«

Sie betrat hinter ihm das Zimmer. Auf dem Schreibtisch stand aufgeklappt ein tragbarer Computer. Der Bildschirm zeigte den Kopf eines jungen Mannes und aus dem Lautsprecher erklang eine Stimme mit einem deutlichen Akzent.

»Hi, Andy, du Schachgenie, ich gebe auf, du hast gewonnen.«

Andreas lachte und setzte sich an den Schreibtisch. Auf dem oberen Rand des Deckels war eine kleine Kamera befestigt, die sein Bild aufnahm.

»Tja, Benny, Pech gehabt. Mal sehen, ob die anderen auch bald aufgeben. Bis demnächst mal. Viele Grüße nach Jerusalem.«

»Von hier aus auch, Andy. Lass es dir gut gehen. Shalom.«

Tina schaute fasziniert zu An­dreas.

»Jerusalem, Shalom?«, fragte sie.

»Ja, das war Benjamin Weizmann«, nickte er. »Ein Schachpartner. Er ist Israeli und wohnt in Jerusalem.«

Sie musste zugeben, sie war beeindruckt. Vor allem als es hörte, dass es noch sechs andere Teilnehmer des simultanen Schachspieles gab, die über die ganze Welt verstreut waren, darunter ein Dreizehnjähriger aus China und eine junge Frau aus Sydney, Australien.

»Ich hab’ leider überhaupt keine Ahnung vom Schachspielen«, bedauerte Tina.

Andreas lächelte und nahm einen Kasten vom Schreibtisch auf.

»Ein Reiseschach«, erklärte er. »Wenn du magst, zeig’ ich dir, wie’s geht.«

Tina war sofort hellauf begeistert. Aber angesichts der fortgeschrittenen Stunde verzichteten sie darauf, noch jetzt eine Partie zu beginnen.

»Aber ich kann dir das hier mitgeben«, sagte Andreas und reichte Tina ein schmales Taschenbuch. »Da kannst’ schon mal ein bissel drin lesen.«

Sie nahm das Buch, es war eine Spielanleitung.

»Das lese ich noch heute Nacht durch«, versprach sie.

»Die ersten zwei Kapitel reichen«, lachte er. »Man lernt es ohnehin erst richtig beim Spielen.«

»Danke«, sagte Tina und sah ihn an. »Und schlaf gut.«

»Ja, du auch. Wir seh’n uns beim Frühstück.«

Über den Balkon gelangte sie in ihr Zimmer. Mit dem Buch in der Hand ging sie ins Bett. Doch so richtig konnte sie sich nicht auf das konzentrieren, was sie las. Immer wieder stahl sich Andreas’ Gesicht auf die Seiten, und die Buchstaben verschwammen.

Seufzend legte Tina das Buch aus der Hand und löschte das Licht. Sie lächelte verträumt, als sie die Augen schloss.

Es war so schön, verliebt zu sein!

*

Ria Stubler klopfte an die Tür der Dachkammer, und Caro öffnete sofort.

»Bist’ schon aufgestanden? Das ist schön. Dann komm gleich mit. Erst frühstücken wir zwei was, dann bereiten wir alles für die Gäste vor.«

Sie wartete, bis Carolin die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Hast’ denn gut schlafen können?«, erkundigte Ria sich.

Caro nickte. Es war erstaunlich, wie gut sie tatsächlich geschlafen hatte, nach all der Aufregung gestern …

»Ich tu’s wirklich net gern’«, hatte Pfarrer Trenker gesagt, »aber du lässt mir keine andre Wahl. Ich muss den Dr. Wehler anrufen, damit du wieder abgeholt wirst.«

Caro hockte wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl in der Pfarrküche. Ganz plötzlich hatte die Erkenntnis sie gepackt, dass sie nun endgültig jeglichen Kredit verspielt hatte.

»Bitte net«, flüsterte sie. »Ich hab’ nix gestohlen, wie dieser Mann behauptet. Ich kann doch nix dafür, dass mir die Flasche aus der Hand gefallen ist.«

»Du hattest gar nix in dem Zimmer zu suchen!«

Sebastian sagte es absichtlich in einem schärferen Ton. Er war so voller Hoffnung gewesen, es könne sich mit Carolin Gerres doch noch alles zum Guten wenden, als er sie im Hotel untergebracht hatte. Aber diese Hoffnung war schon nach ein paar Stunden wieder gestorben.

»Ich … ich wollt’ doch bloß mal dran riechen«, entschuldigte sie sich. »Wissen Sie, was so was kos­tet? Ich würd’s ja gern ersetzen.«

Sie ließ die Schultern hängen.

»Im Heim, da gibt’s ja nur so billige Seife«, setzte sie hinzu. »Da bekommt man auch keine so flauschigen Handtücher wie im Hotel und Bademäntel schon gar net.«

»Ich weiß«, nickte der Bergpfarrer.

Freilich hatte er nicht die Absicht, den Richter anzurufen und das Madel wieder abholen zu lassen.

Indes hoffte er, dass der Schock, den seine Worte auslösen würden, eine heilende Wirkung haben könne … Und in der Tat sah es auch so aus. Caro Gerres war nicht mehr das aufmüpfige Madel, wie es noch hinter Sepp Reisinger gestanden und sich eins gegrinst hatte. Jetzt wirkte sie ganz klein und schutzlos und rief den Beschützerinstinkt in Sebastian Trenker wach.

»Es tut mir wirklich leid«, beteuerte sie noch einmal. »Und wenn ich könnt’, würd’ ich alles tun, um das rückgängig zu machen, was ich angerichtet hab’ …«

Sebastian sah sie immer noch streng an.

»Nun, die Chance, zu zeigen, dass noch net alles mit dir verloren ist, die hast’ ja nun gründlich verspielt.«

»Aber wenn ich zurück muss und ins Gefängnis …«

Caro brach ab und weinte. Sie wunderte sich über sich selbst. Es war Jahre her, dass sie wirklich einmal geweint hatte. Das Leben im Heim hatte sie hart gemacht, wer dort in Tränen ausbrach, der zeigte, dass er nicht dafür geeignet war, durch diese Schule zu gehen. Darum hatte Caro sich früh das Weinen abgewöhnt.

Sebastian holte Milch aus dem Kühlschrank und schenkte ein Glas ein

»Trink erstmal«, sagte er sanft. »Und dann überlegen wir gemeinsam, was wir machen sollen.«

Sie hob das tränennasse Gesicht und sah ihn hoffnungsvoll an.

»Und Sie lassen mich net zurückbringen?«

Der Bergpfarrer schüttelte den Kopf.

»Ich will immer an das Gute im Menschen glauben«, antwortete er. »Und ich bin sicher, dass auch in dir was Gutes steckt. Schließlich kannst’ nix dafür, dass man dich in ein Heim gesteckt hat. Es sind die Umstände, die daran schuld sind, und um dein Leben zu ändern, muss man die Umstände ändern.«

Caro trank einen Schluck Milch. Sie war schön kalt und schmeckte ganz anders, als die im Heim. Die kam aus der Pappschachtel und war durch Erhitzen haltbar gemacht, wodurch sie einen ganz fürchterlichen Beigeschmack bekam.

»Solche Milch kenn’ ich gar net!«

»Siehst’, das meinte ich, als ich davon sprach, die Umstände zu ändern. Du wirst noch staunen, wie viele schöne Dinge es zu entdecken gibt. Aber jetzt erzähl’ mal, hat dir die Arbeit im Hotel denn sonst gefallen?«

Caro trank das Glas leer und stellte es auf dem Tisch ab. Dann zuckte sie die Schultern.

»Eigentlich schon«, antwortete sie. »In der Küche war’s ganz gut. Und in den nächsten Tagen wollt’ mich die Frau Reisinger den Hausmädchen zuteilen, die die Zimmer machen.«