E-Book 421-430 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 421-430 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Saskia sorgt für Aufregung E-Book 2: Nur mit Dir kann ich glücklich sein! E-Book 3: Schicksalstage am Achsteinsee E-Book 4: Nicht nur Lars träumt von der Liebe E-Book 5: Eine heimliche Liebe E-Book 6: Mit der Wahrheit leben? E-Book 7: Ein Mann zum Verlieben E-Book 8: Rendezvous mit einem Unbekannten E-Book 9: Was geschah auf dem Neumüller-Hof? E-Book 10: Happy End wie aus dem Drehbuch

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Inhalt

Saskia sorgt für Aufregung

Nur mit Dir kann ich glücklich sein!

Schicksalstage am Achsteinsee

Nicht nur Lars träumt von der Liebe

Eine heimliche Liebe

Mit der Wahrheit leben?

Ein Mann zum Verlieben

Rendezvous mit einem Unbekannten

Was geschah auf dem Neumüller-Hof?

Happy End wie aus dem Drehbuch

Der Bergpfarrer – Staffel 43 –

E-Book 421-430

Toni Waidacher

Saskia sorgt für Aufregung

Was lange währt, wird endlich gut …

Roman von Waidacher, Toni

»Ist das schön! Einfach wunderschön! Schau nur, Thomas! Das Dorf mit seinen schmucken Häusern, die sich um die Kirche mit dem Zwiebelturm gruppieren! Wie eine Herde, die sich um ihren Hirten schart! Und die Berge! Vor allem die beiden Gipfel, die aussehen, als wären sie Zwillinge! Phantastisch … Thomas, warum sagst du denn nichts? Das muss dir doch auch gefallen!«

Saskia Wenger tippte ihrem Partner auf die Schulter, doch Thomas ließ ein unwilliges Brummen vernehmen. »Lass mich! Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren! Oder willst du, dass ich einen Auffahrunfall verursache!«

Saskia versank unwillkürlich ein Stück tiefer im Beifahrersitz. »Natürlich nicht. Aber … aber du könntest seitlich ranfahren, Thomas. Dann hast du Zeit, dich ein wenig umzuschauen«, schlug sie beinahe schüchtern vor. »Es lohnt sich! Es ist wirklich schön hier!«

»Schön, schön, schön«, äffte Thomas Wolff sie nach. »Als ob ich mir nichts, dir nichts aus der Autokolonne ausscheren könnte! Wie soll ich mich dann wieder in die Blechlawine einreihen? Wir müssen nach Wien. Und zwar so schnell wie möglich. Schon vergessen? Ich habe keine Zeit, eine Ewigkeit zu warten, bis irgendjemand mich aus Gnad und Barmherzigkeit einfädeln lässt. «

Saskia sagte nichts mehr. Verträumt ließ sie ihre Blicke wieder durch die Gegend schweifen.

›St. Johann‹, las sie auf dem Ortsschild, an dem sie soeben im Schritttempo vorbeifuhren. Allein schon der Name gefiel ihr. Er hatte etwas Heimeliges, Vertrautes. Irgendwie klang er nach Tradition, nach Geborgenheit und nach einem Stück heiler Welt.

Der Ort selbst verstärkte, aus der Nähe besehen, Saskias Eindruck noch: Die Häuser waren mit Lüftlmalereien verziert, und an ihren Balkonen hingen Blumenkästen mit üppig blühenden Geranien. Auf den Gehwegen flanierten neben Touristen mit Fotoapparaten Einheimische, die Dirndl und Trachtenanzug trugen. Der Platz vor der Kirche war sauber und gepflegt, die Gardinen am Pfarrhaus blendend weiß …

»Schau, Thomas, der Biergarten da drüben! Ein richtiger bayerischer Biergarten unter wunderschönen Kastanienbäumen! Wir könnten da zu Mittag essen! Bestimmt gibt es Spezialitäten aus der Gegend! Und wenn nicht, dann zumindest einen echten bayerischen Schweinebraten mit Bierkruste! Und dazu Sauerkraut und Semmelknödel! Und Rettichsalat!«

»Was? Zu Mittag essen? Und eine Stunde oder länger zuerst auf das Essen und dann auf die Rechnung warten? Du siehst doch, was für ein Massenandrang in diesem Biergarten herrscht!«

Saskia seufzte. »Ja, schon. Aber vielleicht hat sich der Stau, in dem wir stehen, aufgelöst, bis wir mit dem Essen fertig sind. Dann bleibt sich der Zeitaufwand gleich!«

»Vielleicht, vielleicht. Und wenn nicht?«

Saskia unterdrückte einen weiteren Seufzer. »Ich habe Hunger, Thomas.« Sie wandte sich um zum Rücksitz, wo in der Hitze des engen Autos ein schwarz-weiß gefleckter Border-Collie-Mix vor sich hin hechelte. »Und der arme Tim! Er hat bestimmt Durst. Und ihm ist heiß. Wenigstens für ein Weilchen sollte er an ein schattiges Plätzchen im Freien dürfen.«

Thomas Wolffs Miene wurde noch verkniffener. »Ich habe dir davon abgeraten, Tim mitzunehmen. Erstens kann meine Mutter Hunde nicht ausstehen und zweitens …« Thomas trommelte nervös auf dem Lenkrad herum. » … wäre der Hund für die paar Tage, die wir in Wien bleiben, im Tierheim sowieso entschieden besser untergebracht gewesen. Dort hätte er jedenfalls weder schwitzen noch Durst leiden müssen.«

Saskia kraulte Tims Ohren. »Aber er hätte uns vermisst. Nicht wahr, Tim? Und er hätte geglaubt, wir hätten ihn wieder dorthin zurückgebracht, von wo wir ihn zu uns geholt haben. Er hätte sich im Stich gelassen gefühlt, er hätte gedacht, dass wir …«

»Dass du«, kam es barsch von Thomas.

Saskia runzelte die Stirn. »Ich? Wieso? Wie meinst du das?«

»Du … du hast Tim zu uns geholt. Du ganz allein. Nicht wir. Ich war an dieser Aktion nicht beteiligt«, präzisierte Thomas.

Mit einer resignierten Handbewegung strich Saskia sich ihren verschwitzten Pony aus der Stirn. In so einer miesen Laune hatte sie Thomas in den drei Jahren, die sie mit ihm zusammen war, noch nie erlebt. Wenn das bis Wien so weiterging … Sie warf einen traurigen Blick in den Rückspiegel, wo der Biergarten, in dem sie so gern eingekehrt wäre, aus ihrem Blickfeld verschwand …

»Wir müssen tanken, Saskia. Ich bin mir nicht sicher, ob der Sprit noch bis Salzburg reicht, wo wir, so Gott will, wieder auf die Autobahn fahren können. Dieser verdammte Umweg über Garmisch und all die Kleinstädte und Dörfer! Verflucht sei der Idiot, der den Unfall verursacht hat, dessentwegen die Autobahn hinter München gesperrt werden musste!«

»Thomas! Sei lieber dankbar, dass wir nicht in den Unfall verwickelt waren!«

»Das hätte uns gerade noch gefehlt«, knurrte Thomas. »Wenn ich mir vorstelle, dass wir …« Er brach ab und trat so abrupt auf die Bremse, dass Saskia unsanft in den Sicherheitsgurt geschleudert wurde und Tim mit einem erschrockenen Aufjaulen zwischen Rückbank und Vordersitze plumpstete.

»Was ist denn …«

»Endlich! Eine Tankstelle! In diesem Kaff gibt es doch tatsächlich eine Tankstelle!«, rief Thomas, Saskias vorwurfsvollen Blick und das Hupen hinter ihm geflissentlich ignorierend. Er manövrierte den Wagen neben eine der Zapfsäulen, während Tim wieder auf den Rücksitz krabbelte.

»Armer Hundeschatz! Hast du dir weh getan?«, fragte Saskia teilnahmsvoll.

»Unsinn! Er ist doch nur ein Hund!«, antwortete Thomas stellvertretend für das Tier. »Im Übrigen könntest du, während ich volltanke und bezahle, im Laden der Tankstelle ein paar Kleinigkeiten zum Essen und Trinken besorgen, Saskia. Allmählich fängt nämlich auch mein Magen an zu knurren. Wenn wir wieder auf der Autobahn sind, halten wir kurz an einem Rastplatz und picknicken.«

Saskia zuckte resigniert die Schultern. Mit der einen Hand griff sie nach ihrer Handtasche, mit der anderen öffnete sie die Autotür. »Soll ich Tim mitnehmen? Dann kann er im Laden vielleicht einen Schluck Wasser bekommen«, wandte sie sich noch einmal zu Thomas zurück.

»Tim kann genauso gut am Rastplatz trinken. Wenn du den Hund mitschleifst, dauert das viel zu lange.«

Saskia warf einen unschlüssigen Blick auf den Rücksitz, wo Tim lag und döste. Sie zuckte die Schultern. »Bin gleich wieder da, mein Hundeschatz«, sagte sie und klopfte leicht gegen die Scheibe, worauf Tim die Augen öffnete und sie mit seinem treuherzigen Hundeblick anschaute.

Saskia wurde ganz warm ums Herz. Wenigstens einer, der ihr ein bisschen Zuneigung entgegenbrachte! Mit eiligen Schritten trippelte sie davon.

Zu ihrer Erleichterung waren nur wenige Kunden im Laden, sodass sie kaum warten musste.

Trotzdem saß Thomas bereits wieder hinter dem Steuer, als sie, bepackt mit einer Tüte voller Wurst- und Käsesandwiches, Getränkedosen sowie ein paar Müsliriegeln, zurückkam.

»Eeendlich! Schmeiß die Sachen in den Kofferraum und steig ein«, rief er Saskia durch das heruntergekurbelte Seitenfenster zu. »Ich habe schon befürchtet, du kämst gar nicht mehr wieder! Wie lange brauchst du eigentlich, um ein paar Kleinigkeiten zum Essen zu kaufen! «

Saskia verdrehte verärgert die Augen, sparte sich aber jeden Kommentar. Sie wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Angesichts des warmen Wetters, verstaute sie ihre Einkäufe sorgsam in der Kühltasche.

»Saskia! Wird’s bald?«

»Ich komm ja schon! Ich kann doch nicht hexen!«

»Natürlich nicht. Aber Hexerei ist die eine Sache und stehend Schlafen die andere.«

Schon wieder diese üble Laune. Langsam, aber sicher lagen ihre Nerven blank. Mühsam die Tränen unterdrückend, ließ sie sich auf den Beifahrersitz fallen. »Schau, Thomas, der Stau löst sich auf«, sagte sie und wies in Richtung Landstraße. »Jedenfalls kommt die Kolonne schon zügiger voran.«

»Ja, sehr zügig. Schildkrötenzuckeltrab, statt Schneckentempo.«

»Und die Fahrerin des dunkelblauen Mercedes hat dir mit der Lichthupe ein Zeichen gegeben. Sie lässt dich rein, Thomas.«

»Hab’s gesehen. Hab schließlich keine Tomaten auf den Augen.« Ohne sich zu bedanken, quetschte Thomas sich in die Lücke.

*

Der Eistee in der Tasse neben Pfarrer Trenkers Computer wurde in der sommerlichen Hitze, die auch vor dem Arbeitszimmer des Bergpfarrers nicht Halt machte, allmählich warm. Sebastian merkte es nicht. Voll auf den Text konzentriert flogen seine Finger über die Computertastatur, fast in einem Zug hatte er die ganze Sonntagspredigt heruntergeschrieben. Jetzt noch der Schlusssatz, und dann …

Jäh riss der Heulton einer Alarmanlage den Bergpfarrer aus seiner Konzentration. Erschrocken hielt er den Atem an. Der Alarm … kam aus der Kirche. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Die Madonnenstatue! Diebe! Und das am helllichten Tag! Das durfte doch nicht wahr sein! Das …

Er kam nicht dazu, seinen Gedanken zu Ende zu führen, denn im selben Moment klingelte das Telefon.

Als Sebastian den Namen seines Bruders auf dem Display sah, rief er sofort in den Hörer: »Max, die Alarmanlage in der Kirche. Die Madonna!«

»Ich weiß«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Wir sind gleich da. Ich wollte dir nur sagen, dass du nichts auf eigene Faust unternehmen sollst. Hörst du? Nichts! Warte, bis unser Einsatzkommando da ist! Versprich es mir!«

»Aber ich kann doch nicht …« Sebastian verstummte, als ein Knacken in der Leitung ihm anzeigte, dass Max aufgelegt hatte. Einen Augenblick lang stand der Bergpfarrer unschlüssig da, dann wandte er sich zur Tür.

Er würde nicht warten, bis Max und seine Kollegen da waren. Er würde keine Zeit verlieren und sofort …

»Um Himmels Willen, Herr Pfarrer! Wo wollen S’ denn hin? Sie können doch net in die Kirche hinüber!« Im Türrahmen stand Sophie Tappert.

»Natürlich kann ich, Frau Tappert«, rief Sebastian, während er versuchte, sich an seiner Haushälterin vorbei zu drängen.

Sophie Tapperts Augen waren vor Angst und Sorge riesengroß. »Herr Pfarrer, bleiben S’ da! Ich fleh Sie an! Die Madonna ist zwar wunderschön und wertvoll, aber sie wiegt doch kein Menschenleben auf! Net auszudenken, wenn die Diebe Ihnen etwas antun würden!«

»Mir? Und was ist mit den Touristen, die drüben in der Kirche sind? Ich bin dafür verantwortlich, dass in meiner Kirche niemand zu Schaden kommt. Also nehmen S’ doch bitte Vernunft an Frau Tappert und …«

Mit einem resignierten Seufzer wich die Pfarrersköchin zur Seite und ließ Sebastian passieren.

Er stürmte aus dem Pfarrhaus und eilte den gekiesten Weg entlang zum Kirchenportal. Er hatte es fast erreicht, als es von innen aufgestoßen wurde und jemand herausstürmte. Der Zusammenstoß kam für den guten Hirten von St. Johann so überraschend und unvermittelt, dass er zu Boden ging und dabei mit dem Kopf unsanft gegen die steinerne Stufe am Kircheneingang prallte.

Sebastian spürte einen stechenden Schmerz an der Stirn, dann wurde ihm für ein paar Sekunden schwarz vor Augen.

Das Heulen des Martinshorns riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Er wollte sich gerade aufrappeln, als auch schon sein Bruder Max neben ihm stand und ihm aufhalf.

»Um Gottes Willen, Sebastian! Was ist geschehen? Du bist verletzt! Du blutest! Du hast eine Platzwunde an der Stirn!«

Der Bergpfarrer betastete seine Stirn und fühlte tatsächlich Blut zwischen seinen Fingern, schenkte der Wunde aber keine Beachtung. »Ich bin umgerannt worden. Jemand ist wie ein Verrückter aus der Kirche gerast und davongelaufen«, berichtete er seinem Bruder.

Wenn ihm auch ein wenig schummrig war, folgte er doch Max, der, eskortiert von einem Kollegen, mit entsicherter Pistole voranging, in den Kirchenraum.

Von Kirchendieben war nichts zu sehen.

Nur ein paar Touristen schauten verwundert auf die Polizisten, die ihre Dienstwaffen wieder wegsteckten, als sie feststellten, dass sich die Madonna unversehrt an ihrem angestammten Platz befand.

»Sollen wir die Verfolgung der Person aufnehmen, die deinen Bruder umgerannt hat?«, fragte Max’ Kollege.

Noch ehe Max Trenker hätte antworten können, wandte sich eine ältere Dame, den Rosenkranz zwischen den Fingern, an die Polizisten.

Sie hatte die an Max gerichtete Frage mitgehört und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Ich sitz hier schon länger und bete«, sagte sie. »Und dabei hab ich beobachtet, wie ein kleiner Bub einen selber gepflückten Blumenstrauß neben die Madonna gelegt hat. Als der Alarm losgegangen ist, hat sich der Kleine furchtbar erschrocken. Alle haben ihn angeschaut. Da hat er es mit der Angst bekommen und ist davongelaufen.«

Pfarrer Trenker musste lachen, ob er wollte oder nicht. »Dann muss es wohl dieser Bub gewesen sein, der mich umgerannt hat«, mutmaßte er, an seinen Bruder gewandt.

Max und sein Kollege schauten ein wenig ratlos drein, während Pfarrer Trenker sich schließlich bei der älteren Dame bedankte und zur Madonnenstatue ging, um den Strauß an sich zu nehmen.

Es war ein wild zusammen gewürfelter Feldblumenstrauß mit Löwenzahn, Margeriten, Hahnenfuß und Springkraut, zusammengehalten von einer alten, mehrfach geknoteten Schnur.

Gerührt hielt der Bergpfarrer die Blumen in der Hand. Ob der Bub, der sie gepflückt hatte, aus St. Johann war? Und was hatte den Kleinen wohl zu seiner Dankesgabe bewogen?

»Viel Lärm um nichts«, meinte Max Trenker, der dazugetreten war, schulterzuckend. Er wandte sich an seinen Kollegen. »Ich denke, das war’s dann. Du kannst jetzt den Helmut draußen im Streifenwagen von seinem Wachposten erlösen und zusammen mit ihm ins Revier zurückfahren.« Mit einem strengen Blick auf Sebastian setzte er hinzu: »Und dich, Bruderherz, fahre ich zu Toni Wiesinger in die Praxis. Damit er sich deine Platzwunde anschauen und sie, falls notwendig, nähen kann.«

Sebastian gab keine Antwort, denn er hatte Max überhaupt nicht zugehört. Stattdessen zog er ein zusammengerolltes Blatt Papier aus der Mitte des Feldblumenstraußes und glättete es. Es war unverkennbar aus einem Schulheft gerissen.

›Liebe Mudder Gottes‹, stand in ungelenker, krakeliger Kinderhandschrift darauf, ›dancke, das du mich erhört hast. Dancke für den Hunt. Ich will ab jetzt immer braf sein. Dein Hansi.‹

Sebastian Trenker schluckte, und auch Max, der seinem Bruder über die Schulter geschaut hatte, wirkte bewegt.

»Hast du eine Ahnung, wer dieser Hansi sein könnte?«, fragte Max.

Der gute Hirte von St. Johann nickte. »Ja. Es kann sich eigentlich nur um den Hansi vom Berger-Hof handeln.«

»Um den Buben vom Berger-Gustl, dem Biobauern?«

»Ja, genau. Der Kleine wünscht sich schon lange einen Hund. Der Gustl hat ihm immer wieder versprochen, mit ihm ins Tierheim zu fahren, damit er sich einen aussuchen kann. Aber wie es halt manchmal so ist - immer wieder ist etwas dazwischengekommen. Und der Bub war jedes Mal furchtbar enttäuscht. Jetzt freue ich mich für den Hansi, dass es endlich geklappt hat.«

»Das heißt, ich soll den Polizeieinsatz net in Rechnung stellen?«, fragte Max, mit hochgezogenen Augenbrauen. »Hab ich dich da richtig verstanden?«

»Wenn es sich machen lässt, wäre ich dir sehr dankbar«, erwiderte Sebastian Trenker. »Der Gustl ist finanziell net eben auf Rosen gebettet. Die Umstellung auf den Biobetrieb hat eine Stange Geld verschlungen, das noch längst net wieder erwirtschaftet ist. Als Witwer allein auf dem Hof hat er es auch net gerade leicht. Und den Hansi ohne Mutter großzuziehen, ist bestimmt net einfach, auch wenn der Hansi ein ausgesprochen lieber Bub ist.«

Max Trenker räusperte sich vernehmlich. »Es lässt sich machen«, versprach er. »Aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Dass du jetzt mit mir zu unserem Doktor Wiesinger fährst und deine Platzwunde behandeln lässt.«

Der Bergpfarrer winkte ab. »Das braucht’s net, Max. ›Unkraut vergeht net‹ hat schon unser Papa - Gott hab ihn selig – immer gesagt, wenn wir uns als Kinder die Knie aufgeschlagen und gejammert haben. Weißt du noch?«

Max hob warnend den Zeigefinger. »Lenk jetzt net mit irgendwelchen Kindheitserinnerungen von der Bedingung ab, die ich gestellt hab, Sebastian«, sagte er. »Sonst müsste ich am Ende vielleicht doch noch …«

Sebastian hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich komme mit zum Doktor. Aber nur, wenn es net allzu lange dauert. Schließlich muss ich noch den Schlusssatz meiner Predigt eintippen. Und ins Waldecker Altersheim muss ich heute Nachmittag auch noch.«

*

»Nächster Rastplatz 1200 Meter. Den nehmen wir. Endgültig. Wir halten für zehn oder fünfzehn Minuten an, essen und trinken etwas und …«

Saskia verdrehte die Augen. »Endgültig?«, wiederholte sie genervt. »Hoffentlich bleibt es diesmal dabei. Das ist nämlich schon der vierte Rastplatz. Und jedes Mal, wenn wir da sind, findest du einen anderen Grund, weiterzufahren.«

»Kann ich dafür, dass der letzte Rastplatz von einem Bus mit Kindern auf einem Schulausflug bevölkert war? Und auf dem vorletzten Dutzende Laster herumstanden?«

»Aber der hier ist wirklich gut«, stellte Saskia erleichtert fest, als der Rastplatz in Sicht kam. »Schau, da ist sogar eine kleine Baumgruppe, die Schatten spendet. Und vor allem sehe ich kein anderes Auto weit und breit.«

Thomas setzte schweigend den Blinker und brachte den Wagen neben einem hölzernen Rastplatztisch zum Stehen.

Saskia sprang raus, dehnte und reckte sich und holte den Proviant aus dem Kofferraum. »Schau, Thomas, hinter den Fichten gibt es sogar frisches Wasser für Tim«, sagte sie und zeigte auf eine Quelle, die munter in einen Brunnentrog sprudelte. Ohne die Antwort ihres Partners abzuwarten, lud sie den Proviant auf dem Tisch ab und öffnete die hintere Autotür. »Tim, mein Schatz! Wasser für dich! Komm heraus und …« Ungläubig starrte sie auf die Rückbank des Wagens, Saskia glaubte, ihr Herzschlag müsse aussetzen. »Thomas! Tim ist weg! Tim liegt nicht mehr auf der Rückbank! Tim …«

Thomas, der sich bereits über ein Sandwich hergemacht hatte, drehte sich nicht einmal um. »Vielleicht ist er wieder nach unten gerutscht«, antwortete er mit vollem Mund. »Komm jetzt her und iss. Sonst versäumen wir zu viel Zeit.«

Saskia fühlte Panik in sich aufsteigen. Sie stürzte auf Thomas zu, fuchtelte wild mit ihren Händen vor seinem Gesicht herum und schrie: »Tim ist weg! Hörst du denn nicht? Oder ist dir der Hund inzwischen völlig egal?«

Thomas bekam Saskias Handgelenke zu fassen und hielt sie fest, wie in einem Schraubstock, dann ließ er sie unvermittelt los. »Bist du übergeschnappt?«

Saskia taumelte rückwärts, fing sich aber wieder. »Tim ist nicht mehr im Auto. In St. Johann war er noch da. Er muss unbemerkt aus dem Auto gesprungen sein, während ich im Laden der Tankstelle war. Vielleicht wollte er mir nachlaufen. Du warst doch an der Zapfsäule. Du musst doch gesehen haben …«

»Was soll ich denn gesehen haben? Ich war mit Tanken beschäftigt. Ich hatte keine Zeit, nach dem Hund zu schauen. Und außerdem ist Tim dein Hund. Du hättest ihn besser erziehen sollen, dann wäre er nicht ausgebüxt.«

Saskia schluckte trocken. Sie schaute Thomas an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Und plötzlich kam ihr ein furchtbarer Verdacht. Hatte er den Hund in ihrer Abwesenheit mutwillig aus dem Auto gelassen? Weil er das Tier nicht mit zu seiner Mutter nach Wien nehmen wollte? »Hast du den Hund am Ende …« Saskia brach ab. Ihre Vermutung war zu ungeheuerlich, als dass sie gewagt hätte, sie auszusprechen.

Thomas trat einen Schritt auf sie zu. »Was wolltest du sagen?«, erkundigte er sich, mit glitzernden Augen. »Sprich es ruhig aus. Sag nur frei heraus, was du denkst.«

»Thomas, ich …« Saskia sackte in sich zusammen und schaute ihn bittend an. »Es tut mir leid, Thomas, dass ich einen Moment lang geglaubt habe … aber ich bin so erschrocken. Was sollen wir denn jetzt machen?«

Thomas griff sich ein neues Sandwich. Dass Saskia wieder versöhnlich gestimmt schien, besänftigte ihn. »Ich schlage vor, wir essen jetzt und fahren dann weiter nach Wien. Wenn Tim in St. Johann aus dem Auto gesprungen ist – und das ist die einzige Möglichkeit, wie wir ihn verloren haben könnten – werden wir ihn wiederfinden. Dieses St. Johann ist schließlich nicht so groß, dass ein fremder Hund dort nicht auffallen würde. Bestimmt hat Tim jemanden gefunden, der sich um ihn kümmert und ihn in ein Tierheim gebracht hat.«

Saskia traute ihren Ohren nicht. War dieser gefühllose Mann, der da redete, noch derselbe Thomas, in den sie sich vor vier Jahren verliebt hatte? Und den sie anscheinend immer noch liebte, weil ihr seine kalten Worte sonst nicht so weh tun würden? »Das … das ist doch nicht dein Ernst, oder?«, fragte sie entsetzt. »Sag, dass das ein Witz war.«

»Das war kein Witz. Das ist die beste Lösung«, erwiderte er ruhig. »Ich muss, wie du weißt, pünktlich in Wien sein. Wenn meine Mutter schon am Ankunftstag wieder etwas an mir auszusetzen findet, dreht sie mir den Geldhahn zu. Du weißt, was das für mich bedeutet. Im Übrigen trägst du einen Teil der Verantwortung für das Schlamassel, in dem ich stecke. Ist dir das klar? Du hast gesagt, du seiest dir meiner künstlerischen Begabung völlig sicher. Du hast zugestimmt, als ich meinen Job als Buchhalter geschmissen habe. Du hast mir sogar zu diesem Schritt geraten. Und jetzt, wo es darauf ankommt, meinen finanziellen Rückhalt zu sichern …«

Saskia schüttelte langsam und traurig den Kopf. »Du verdrehst mir meine eigenen Worte im Mund, Thomas«, stellte sie klar. »Ich war und bin von deinen Fähigkeiten als Sänger und Musiker überzeugt. Du passt nicht in ein Buchhalterbüro. Absolut nicht. In diesem Punkt hast du vollkommen recht. Aber was die Finanzierung deiner ersten CD anbetrifft, hatte ich eine völlig andere Pläne.«

»Und welche, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe nie gewollt, dass du dich völlig von deiner Mutter abhängig machst. Du richtest dich ohnehin schon zu sehr nach ihren Vorstellungen. Ich habe mir gedacht, dass wir beide deinen Start in eine Künstlerlaufbahn gemeinsam schultern. Wir schränken uns ein wenig ein. Und ich versuche, ein paar zusätzliche Klavierstunden zu geben...«

Thomas schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »O heilige Einfalt«, stöhnte er. »Wie viel, glaubst du, kostet so eine CD? Du hast wirklich null Ahnung: Ich muss Musiker anheuern und bezahlen. Ich brauche einen Aufnahmetechniker, ich brauche jemanden, der mir ein CD-Cover entwirft, einen Manager … Und du, du redest von ein paar zusätzlichen Klavierschülern!«

Saskia seufzte. Natürlich war ihr klar, dass sein Karrierestart einiges Geld verschlingen würde. So naiv, wie Thomas dachte, war sie schließlich nicht. So wurde ihr nämlich plötzlich klar, dass er sie mit diesem Streit nur von Tims Schicksal ablenken wollte!

Saskia wischte diese Gedanken beiseite. Jetzt ging es erst einmal um Tim. »Ich will, dass wir Tim suchen«, verlangte sie. »Nicht in ein paar Tagen, sondern jetzt gleich. Wir fahren zurück nach St. Johann und …«

Thomas fiel der Müsliriegel aus der Hand, in den er gerade beißen wollte. »Hast du mir überhaupt zugehört, Saskia?«, fragte er ärgerlich. »Meine Mutter schätzt Pünktlichkeit über alles, Hunde dagegen weniger. Dass Tim sich aus dem Staub gemacht hat, ist für mich … für uns ... im Grunde nur von Vorteil. Wenn wir ohne Tim weiterfahren …«

»Nein! Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Saskia schnitt Thomas mit einer Entschiedenheit das Wort ab, die er in dieser Form noch nicht an ihr kennengelernt hatte. »Ich überlasse Tim nicht einfach sich selbst. Nicht auszudenken, dass das arme Tier verzweifelt in St. Johann herumirrt und mich … uns sucht. Vielleicht läuft Tim in ein Auto! Vielleicht verschlägt es ihn in den Wald, wo ihn der Jäger erschießt!«

Thomas’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Tim, Tim und wieder Tim!«, brüllte er. »Bist du mit dem Hund zusammen oder mit mir? Wer ist dir wichtiger?«

Verwirrt schaute Saskia ihren Partner an.

»Wer ist dir wichtiger?«, wiederholte Thomas. »Du musst dich entscheiden. Entweder du begleitest mich nach Wien, und zwar auf dem kürzesten Weg. Oder du kümmerst dich um Tim.«

»Ich verstehe nicht … ich …«

»Du verstehst mich sehr gut, Saskia.«

Mit einem Mal konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. War das das Ende ihrer Beziehung? Hatte seine Mutter es jetzt, auf Umwegen, doch noch geschafft …

»Du brauchst mich nicht, Thomas«, stieß Saskia schließlich weinend hervor. »Ganz im Gegenteil. Deine Mutter wird dir das Geld eher geben, wenn du ohne mich kommst. Sie mag mich genauso wenig wie sie Hunde mag. Also fahr allein. Ich suche Tim.«

Thomas stand da wie vom Donner gerührt, er hatte nicht damit gerechnet, dass Saskia sich gegen ihn und für den Hund entscheiden würde. »Das nennst du Liebe? Ich … ich bin dir völlig egal. Alles, was wichtig für mich ist, berührt dich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Du … du …« Mit einem Mal fehlten Thomas die Worte. Stattdessen kochte ein Gemisch aus Enttäuschung, Wut und extremer Nervenanspannung in ihm hoch, das ihm den Verstand vernebelte. Er sah nur noch rot. Auf dem Absatz machte er kehrt, setzte sich ins Auto, gab Gas und brauste davon.

Saskia blieb allein auf dem Rastplatz zurück. Erst allmählich wurde ihr bewusst, was geschehen war: Thomas hatte sie schmählich im Stich gelassen. Sie hatte das Gefühl, der Himmel müsse über ihr einstürzen. Sie ließ sich auf die Bank fallen, legte ihren Kopf auf die Platte des Holztischs und weinte bitterlich.

Erst als Saskia keine Tränen mehr hatte, wurde ihr die praktische Seite der Angelegenheit bewusst: Ihre Handtasche mit Smartphone, Geldbörse und Ausweispapieren lag bei Thomas im Auto.

Sie würde per Anhalter zurück nach St. Johann fahren müssen. Oder zu Fuß laufen. Wenn es ihr denn überhaupt gelang, irgendwo neben oder abseits der Autobahn den richtigen Weg zu finden.

*

Max Trenker warf einen Blick auf die große Wanduhr in seinem Büro und stellte erleichtert fest, dass der Feierabend nahte. Nur noch eine Viertelstunde, dann war es soweit!

Er griff nach seinem Kaffeebecher und schleppte sich müde zum Kaffeeautomaten.

Was für ein Tag! Von früh bis spät war es rundgegangen, aber am Schlimmsten war für Max der Alarm in der Kirche am frühen Nachmittag gewesen. Der Schrecken und die um seinen Bruder ausgestandene Angst wirkten immer noch nach, auch wenn sich die Sache zu guter Letzt als ausgesprochen harmlos herausgestellt hatte.

Ehe er aufs Revier zurückgekehrt war, hatte er Sebastian noch zu Toni Wiesinger gefahren, der die Platzwunde an der Stirn genäht und eine leichte Gehirnerschütterung diagnostiziert hatte. Sebastian solle sich ein paar Tage schonen, hatte Toni Wiesinger gesagt, was Sebastian natürlich nie und nimmer tun würde.

In diesem Punkt kannte Max seinen Bruder nur allzu gut.

Am späten Nachmittag war dann im Supermarkt ein Ladendieb gefasst und aufs Revier gebracht worden und schließlich hatte es auch noch eine Trunkenheitsfahrt gegeben. Mitten in St. Johann! Nicht auszudenken, was hätte passieren können!

In großen Schlucken trank Max seinen Kaffee. Hoffentlich weckte das seine Lebensgeister wieder, denn in den kommenden Stunden musste er, trotz allem, noch eine halbwegs gute Figur machen!

Wie gern hätte er nach den Anstrengungen und Aufregungen dieses Tages den Abend zu Hause auf der Couch verbracht! Bei einem Fernsehkrimi, ein paar Bierchen und einer Tüte Kartoffelchips. Aber nein: Ausgerechnet heute waren er und seine Frau Claudia zu einer Party bei Claudias Chefredakteur eingeladen, der seinen 50. Geburtstag feierte!

Max Trenker seufzte. Wenn der Kaffee nicht bald Wirkung zeigte, würde er beim obligatorischen Smalltalk einschlafen!

Sicherheitshalber füllte Max seinen Kaffeebecher ein zweites Mal. Ein weiterer Koffeinschub konnte nicht schaden!

Die Tasse in der Hand ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, drehte sich ein paarmal hin und her und beobachtete, wie der Sekundenzeiger der Wanduhr mit steifen, gemessenen Schritten seine Kreisbewegung vollführte.

Trotz des Kaffees musste er heftig gähnen.

Doch schon im nächsten Moment machte ihn ein heftiges Klopfen an seiner Bürotür hellwach.

Max schob den Kaffeebecher zurück. »Herein«, sagte er nicht eben freundlich.

Er hatte heute weder Zeit noch Lust, Überstunden zu machen. Wer so kurz vor Feierabend kam …

Max Trenker zog verwundert die Augenbrauen hoch, als eine schlanke junge Frau, mit langen dunklen Haaren und ebenso dunklen Augen, seiner Aufforderung Folge leistete und eintrat.

Unter normalen Umständen hätte er die Frau als hübsch bezeichnet, aber ihr Äußeres war dermaßen derangiert, dass sie fast wie eine Landstreicherin wirkte. Zudem machte die junge Frau einen derart erschöpften Eindruck, dass Max fürchtete, sie könnte in seinem Büro ohnmächtig zusammenbrechen.

»Bitte setzen Sie sich doch«, sagte er mitfühlend und wies auf den Stuhl ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Was kann ich für Sie tun?«

Die junge Frau atmete schwer. »Ich suche meinen Hund«, stieß sie schließlich hervor. »Einen Border-Collie, schwarz-weiß gefleckt. Er ist beim Tanken hier in St. Johann aus dem Auto gesprungen. Wir … ich habe es nicht bemerkt. Erst an einem Autobahnrastplatz ist mir aufgefallen, dass das Tier fehlt.«

Max runzelte die Stirn. Wie konnte man einen Hund an einer Tankstelle vergessen? Wie konnte man dann auch noch so lange nicht merken, dass er fehlte? Max’ Mitgefühl mit der Frau bekam einen Dämpfer. »Tut mir leid, aber hier auf der Polizeistation ist kein Hund abgegeben worden«, erklärte er knapp. »Vielleicht sollten Sie sich morgen an das Tierheim in Graunau wenden oder an das in Garmisch.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. »In Graunau bin ich schon gewesen. Und mit der Leiterin des Garmischer Tierheims habe ich telefoniert«, sagte sie schniefend. »In keinem der beiden Tierheime ist mein Tim abgegeben worden. Ist … ist bei Ihnen vielleicht eine Meldung eingegangen, dass ein Hund, auf den meine Beschreibung passt, irgendwo auf der Straße gesehen worden ist oder dergleichen?«

Max Trenker schüttelte den Kopf, runzelte aber, noch während er verneinte, nachdenklich die Stirn. »Seit wann vermissen S’ den Hund denn?«

»Seit heute Mittag«, antwortete die Frau. »Ich hab im Laden der Tankstelle Proviant gekauft für unser … für das Mittagessen. Und da muss es passiert sein.«

Dem Bruder des Bergpfarrers schwante Düsteres. Vielleicht hatte Gustl Berger seinem Hansi ja gar keinen Hund aus dem Tierheim geholt, sondern das Kind hatte sich bei der Mutter Gottes für einen zugelaufenen Hund bedankt? Für genau den Hund, den diese Frau vermisste!

»Der Hund hört auf den Namen Tim«, redete die Frau indessen weiter. »Wir … ich … ich hab ihn noch nicht lange. Vor einem guten halben Jahr hab ich ihn aus dem Münchner Tierheim geholt. Er ist so ein lieber Hund. So friedlich. Und so dankbar für jedes bisschen Zuwendung. Wenn ihm etwas zugestoßen ist …«

»Das glaub ich eher weniger«, gab Max Trenker zurück.

Die junge Frau atmete erleichtert auf. »Dann ist er also in keinen Unfall verwickelt und auch nicht vom Jäger erschossen worden.«

Max schaute auf seinen Kaffeebecher, dessen Inhalt inzwischen kalt geworden war. Wie in aller Welt konnte er diese Frau wieder loswerden? Sie mochte ja die rechtmäßige Besitzerin des Hundes sein, aber wenn Hansis Hund zugleich der ihre war, stand Max Trenker entschieden auf der Seite des kleinen Jungen.

Zum einen hatte er selber zwei Kinder und wusste deshalb, wie weh es Hansi tun würde, den Hund wieder hergeben zu müssen, zum anderen schwanden sein anfängliches Mitgefühl und seine Sympathie für die dunkelhaarige Frau zusehends dahin.

Dass sie ständig »wir« sagte und sich dann zum »ich« verbesserte, schien Max darauf hinzudeuten, dass sie sich mit ihrem Partner gestritten und den Verlust des Hundes wahrscheinlich deshalb erst so spät bemerkt hatte.

Max Trenker stand auf und kippte den kalten Kaffee ins Waschbecken. »Tja, leider weiß ich net, was ich für Sie im Moment noch tun kann«, nahm er Anlauf, die Frau hinaus zu komplimentieren. »Wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse geben, kann ich Ihnen Bescheid sagen, sollte sich, was den Verbleib Ihres Hundes betrifft, doch noch eine Spur ergeben.«

Die junge Frau nickte. »Ich bin Saskia Wenger«, sagte sie. »Aus München.«

Max Trenker zog leicht widerwillig ein Formular hervor, um die Personalien der jungen Frau und die Eckdaten seines Gesprächs mit ihr festzuhalten. »Wenn Sie mir vielleicht Ihren Ausweis geben, Frau Wenger«, schlug er vor, »kann ich Namen und Adresse abschreiben.«

Saskia winkte resigniert ab. »Da wären wir leider schon beim zweiten Problem«, erklärte sie. »Ich hab keinen Ausweis bei mir, weil ich …«

»Weil Sie?«

»Mein Ausweis ist in meiner Handtasche. Und die ist im Auto meines … Freundes.«

Max Trenker konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sie und Ihr Freund haben Ihren Hund in St. Johann an der Tankstelle verloren. Und einige Zeit später hat dann Ihr Freund Sie an einem Autobahnrastplatz verloren. Ist das richtig so?«

Von einer Sekunde auf die andere wurde Saskia Wengers blasses Gesicht über und über rot. »Wir haben uns gestritten. Wegen des Hundes, ich wollte zurück nach St. Johann und nach Tim suchen. Mein Freund dagegen wollte weiter. Und dann …«

»Verstehe«, sagte Max Trenker versöhnlich. Die neue Wendung der Dinge rückte Saskia Wenger in seinen Augen wieder in ein besseres Licht.

Ihr schien offenbar doch Einiges an dem Hund gelegen zu sein. Und die Tatsache, dass ihr herzloses Ungeheuer von Freund sie, wenn auch nach einem Streit, mutterseelenallein auf einem Autobahnrastplatz stehen gelassen hatte und davongefahren war, weckte ein zweites Mal Max’ Bedauern. »Wie sind Sie dann wieder zurück nach St. Johann gekommen? Ich meine, wenn Ihr Freund den Wagen hatte?«

Saskia zuckte die Schultern. »Zuerst zu Fuß, dann hat mich ein Lastwagenfahrer mitgenommen. Bis nach Graunau. Dort habe ich mich zum Tierheim durchgefragt. Die Leiterin des Tierheims war sehr nett. Sie hat sogar ihre Kollegin in Garmisch für mich angerufen. Es hat ihr wirklich leidgetan, dass sie mir nicht helfen konnte.« Mit einer müden Handbewegung strich Saskia sich ihre verklebten Haare aus dem Gesicht. »Von Graunau bis hierher zur Polizeistation bin ich wieder zu Fuß gelaufen.« Sie verstummte für einen Moment, dann nahm sie all ihren Mut zusammen. »Meine Geldbörse und meine EC-Karte sind, genau wie mein Ausweis, im Auto meines Freundes. Wäre es möglich, dass Sie mir ein bissel Geld für den Zug leihen? Dann könnte ich zurück nach München in meine Wohnung fahren. Ich … ich zahl das Geld wieder zurück. Ganz bestimmt.«

Auch diesmal konnte Max Trenker ein Grinsen nicht unterdrücken. »Was, namentlich bei der Polizei, auch durchaus empfehlenswert ist«, erwiderte er trocken.

Saskia wurde schon wieder rot. »Sie … Sie geben mir also Geld für den Zug?«

»Am Geld wird es net scheitern«, stellte Max klar. »Eher schon am Zug. Heute Abend ist der letzte Interregio Richtung München nämlich leider schon durch. Vor morgen Vormittag werden Sie hier also kaum wegkommen. Es sei denn mit einem Taxi oder wieder per Anhalter, was ich Ihnen aber net empfehlen möchte.«

»Ein Taxi für so eine weite Strecke kann ich mir nicht leisten«, erwiderte Saskia. »Wenngleich die Übernachtungen hier in St. Johann bestimmt auch nicht gerade billig sein werden.«

Max Trenker sog zischend die Luft ein. »Ich fürchte, ich muss Sie schon wieder enttäuschen. Selbst wenn Sie sich eine Luxussuite im Hotel ›Zum Löwen‹ leisten könnten, würden Sie hier in St. Johann in der Hochsaison kein freies Quartier finden, Frau Wenger«, sagte er, wobei er einen möglichst unauffälligen Blick zur Wanduhr warf.

Er konnte nicht einfach zu spät zur Geburtstagsfeier von Claudias Chef kommen! Was sollte er nur machen? Die junge Frau einfach auf die Straße zu setzen und sie ihrem Schicksal zu überlassen, wie es ihr nichtsnutziger Freund getan hatte, ging erst recht nicht, aber …

Max Trenker kratzte sich unschlüssig am Kopf. Und mit einem Mal kam ihm eine Idee. Sein Bruder Sebastian!

Wozu hatte er einen Bruder, in dessen gastlichem Haus immer ein Zimmer für Menschen frei war, die sonst nirgends hin konnten! Zufrieden rieb Max sich die Hände.

Auf diese Weise würde er zudem gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er konnte endlich seiner Wege gehen, sein Bruder konnte sich der jungen Frau annehmen, die offenbar mit den Nerven am Ende war. Und sollte Tim wirklich bei Hansi Berger gelandet sein, konnte Sebastian bestimmt auch diese Angelegenheit regeln. Seinem Bruder würde schon das Richtige einfallen, da war Max sich ganz sicher.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Frau Wenger«, wandte Max sich wieder Saskia zu. »Mein Bruder ist der Pfarrer von St. Johann. In seinem Pfarrhaus gibt es ein Gästezimmer, das zurzeit leer steht. Dort können Sie die Nacht verbringen. Morgen können Sie dann noch einmal nach Ihrem Hund suchen oder gleich nach München zurückfahren. Ganz wie Sie möchten.«

Saskia schluckte trocken. In ihrer momentanen Stimmung hatte ihr die ernste und strenge Atmosphäre eines Pfarrhauses gerade noch gefehlt. Aber ihr blieb ja keine andere Wahl. »Also gut. Dann danke ich für das Angebot«, erwiderte sie höflich. »Wenn Sie mir den Weg beschreiben …«

Sie erhob sich, und Max Trenker atmete auf.

»Das ist net nötig, Frau Wenger. Ich bringe Sie persönlich mit dem Auto hin. Ich glaube, für heute sind Sie genug gelaufen.«

*

Unschlüssig und verloren stand Saskia Wenger im Flur des Pfarrhauses. Nun, da die Tür hinter Max Trenker ins Schloss gefallen war, fühlte sie sich so unbehaglich, dass sie am liebsten wieder fortgelaufen wäre und im Freien übernachtet hätte. Wenn ihr am Morgen, als sie und Thomas mit Tim ins Auto gestiegen und losgefahren waren, jemand gesagt hätte, sie würde, anstatt die Nacht mit Thomas in Wien zu verbringen, in völlig fremder Umgebung eine Bleibe suchen müsste …

»Soll ich Ihnen erst einmal Ihr Zimmer zeigen, Frau Wenger? Oder möchten Sie lieber erst zu Abend essen?«

Sophie Tapperts freundliche Stimme riss Saskia aus ihren Gedanken und ließ ihr Unbehagen schwinden.

»Oder möchten Sie sich erst ein bissel frisch machen?«

Unwillkürlich sah Saskia bei dieser Frage an sich hinunter. Ihr Sommerkleid war durchgeschwitzt, der Rock war voll Erde, weil sie unterwegs umgeknickt und gestürzt war. Ihre bloßen Füße steckten inzwischen zwar wieder in ihren Sandaletten, waren aber von Blasen übersät und schmutzig vom Barfußlaufen. Kein Wunder, hatte sie die unbequemen Schuhe doch die meiste Zeit in den Händen getragen statt an den Füßen. Saskia nickte. »Frisch machen wäre wirklich gut«, sagte sie. »Ich glaub, ich hab’s dringend nötig. Mein Kleid allerdings …« Sie blickte Sophie Tappert Hilfe suchend an. »Mein Gepäck ist jetzt wahrscheinlich schon in Wien, und deshalb …«

»Ihr Kleid stecke ich in die Waschmaschine. Und morgen wird es gebügelt«, entschied Sophie Tappert. »Wenn Sie außer dem Kleid nichts bei sich haben, ist das net schlimm. Bei uns im Pfarrhaus gibt es genügend Sachen zum Anziehen. Es bleibt in den Hotels und Pensionen immer etwas liegen, das nimmer abgeholt wird. Das landet dann bei uns. Das meiste ist zwar Kleidung zum Bergwandern, aber ein paar bequeme Trainingsanzüge für gemütliche Hüttenabende sind auch dabei.«

»Danke«, sagte Saskia erleichtert. »Aber das Kleid … ich kann doch net verlangen, dass Sie für mich waschen und bügeln, Frau Tappert.«

Sophie Tappert zuckte die Schultern. »Sie verlangen es ja net«, erwiderte sie. »Ich tu das vollkommen freiwillig. Machen Sie sich also deshalb keinen Kopf.«

»Dann nochmals herzlichen Dank. Sie … Sie sind so nett zu mir.«

»Das ist doch selbstverständlich. Schließlich soll sich ein Gast bei uns im Pfarrhaus wohlfühlen. Möchten Sie lieber duschen oder soll ich Ihnen ein Bad einlaufen lassen?«

Saskia schüttelte den Kopf. »Ich dusche. Machen Sie sich um Himmels willen net noch mehr Arbeit.«

»Gut. Dann zeig ich Ihnen jetzt, wo das Badezimmer und der Kleiderfundus sind. Und wenn Sie fertig sind mit Duschen und Umziehen, gibt’s Abendessen. Bis dahin ist dann der Herr Pfarrer auch wieder da, hoffe ich.«

Saskia rieb die Hände gegeneinander. »Ja, ich freue mich schon, ihn kennenzulernen«, brachte sie nervös hervor.

»Der Herr Pfarrer wird sich auch freuen, wenn er heimkommt und sieht, dass wir Besuch haben«, meinte Sophie Tappert. Obwohl die Haushälterin normalerweise nicht zu den Redseligen zählte, konnte sie nicht umhin, von dem Alarm am frühen Nachmittag zu berichten. Der Schrecken saß ihr noch immer in den Gliedern, und sie war froh, mit jemandem über das Vorkommnis reden zu können. Sie schilderte alle Einzelheiten, und auch die Dankesgabe des kleinen Jungen ließ sie nicht unerwähnt. »Obwohl der Herr Pfarrer eine leichte Gehirnerschütterung hat und sich schonen soll, hat er es keine paar Stunden auf dem Sofa ausgehalten«, beendete sie ihre Schilderung. »Schon am frühen Abend ist er wieder aufgestanden und hinaufgefahren zum Bergerhof. Er hat gesagt, wenn der Berger-Hansi der Madonna schon einen so netten Brief geschrieben hat, will er sich den Hund, den der Bub bekommen hat, anschauen und seine Freude mit dem Kleinen teilen. Und dem Gustl, dem Vater vom Hansi, seine Anerkennung aussprechen, dass er sich endlich doch dazu durchgerungen hat, einen Hund aus dem Tierheim zu holen und seinem Kind damit einen Herzenswunsch zu erfüllen. Wo der Bub doch sowieso so ein armes Hascherl ist.«

Saskia hörte mitfühlend zu, bei so viel Schicksal und Tierliebe kamen ihr Tränen.

»Der Hansi hat seine Mutter verloren. Bei einem tragischen Bergunfall. Da war er gerade einmal vier Jahre alt«, redete Sophie Tappert weiter. »Der Berger-Gustl tut zwar, was er kann, aber ein allein erziehender Vater …«

Die Pfarrhaushälterin verstummte, als sie Saskias Tränen sah.

Wie sie richtig vermutete, weinte Saskia nicht nur um den kleinen Hansi und sein schweres Schicksal, sondern auch um ihren Hund, der ihr durch Hansis Geschichte von Neuem in Erinnerung gekommen war.

»Ihr Tim findet sich schon wieder. Sie werden sehen«, tröstete Sophie Tappert die junge Frau. »Und wenn er net hier in St. Johann auftaucht, dann vielleicht in München, wo Sie wohnen. Ich hab nämlich einmal gelesen, dass ein Hund, der im Urlaub verloren gegangen war, Hunderte von Kilometern bis nach Hause gelaufen ist. Als das Ehepaar schließlich wieder vom Urlaub heimkam, ist er, abgerissen und abgemagert, vor der Wohnungstür der beiden gesessen und hat sich riesig gefreut.«

»Wirklich?« In Saskias Augen glomm neue Hoffnung auf. »Auf die Idee, dass Tim zurück nach München gelaufen sein könnte, bin ich noch gar net gekommen. Darf ich … darf ich Ihr Telefon benutzen? Ich werde meine Nachbarin von gegenüber anrufen. Sie mag Tim so gern. Vielleicht hat sie ihn sogar aufgenommen.«

Sophie Tappert schaute leicht skeptisch. »Sie können gern Ihre Nachbarin anrufen«, meinte sie. »Bloß bin ich mir net sicher, ob der Hund so schnell wieder daheim angekommen ist. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie mit dem Anruf wenigstens bis morgen Früh warten würden, denn …«

»Natürlich. Sie haben Recht, Frau Tappert«, fiel Saskia der Pfarrhaushälterin ins Wort. »Ich warte selbstverständlich bis morgen Früh. Damit der Anruf auch Sinn macht. Und jetzt gehe ich endlich unter die Dusche und ziehe mich um.«

Sophie Tappert zeigte ihr den Kleiderfundus und das Bad. »Und machen Sie sich net allzu große Sorgen um den Hund«, sagte sie noch einmal und strich dabei sachte über Saskias Arm.

Saskia lächelte ihr dankbar zu. »Es tut so gut, dass Sie mir wieder neue Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen mit Tim gemacht haben«, sagte sie, ehe sie im Bad verschwand.

Als sie nach einer Weile sauber, erfrischt und in einem hellen Trainingsanzug wieder auftauchte, stieß sie fast mit Pfarrer Trenker zusammen, der soeben das Haus betrat.

Im selben Augenblick kam auch schon Sophie Tappert aus der Küche. Sie trug eine rotkarierte Schürze, an der sie sich ihre noch feuchten Hände abwischte. »Gut, dass Sie wieder da sind, Herr Pfarrer«, wandte sie sich sofort an den Geistlichen. »Ich habe schon Angst gehabt, Ihnen könnte vielleicht schwindelig geworden sein. Haben Sie Kopfschmerzen? Wollen Sie sich nach dem Abendessen net wieder ein bissel hinlegen?«

Pfarrer Trenker lächelte nachsichtig angesichts der großen Aufregung seiner Haushälterin und schüttelte dann, mit einem Blick auf Saskia Wenger den Kopf. »Aber Frau Tappert! Ich wird doch net den Abend auf dem Sofa verbringen, wenn wir einen Gast haben«, meinte er.

Sophie Tapperts nickte schuldbewusst. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich hab Sie und Frau Wenger noch gar net bekannt gemacht, Herr Pfarrer. Ich kann gar net verstehen, wie ich das hab vergessen können.«

»Aus lauter Sorge um mich«, schmunzelte der Bergpfarrer. »Deshalb braucht Ihnen auch gar nichts leidtun.« Er wandte sich an Saskia. »Sie sind also Frau Wenger.«

Saskia nickte und streckte Pfarrer Trenker die Hand zum Gruß hin.

Pfarrer Trenker ergriff sie und schüttelte sie herzlich. »Bleiben Sie über Nacht oder nur zum Essen?«, erkundigte er sich.

Saskia zupfte verlegen an dem Trainingsanzug, der ihr unverkennbar ein wenig zu weit war. »Ihr … Ihr Bruder hat mich hergebracht«, begann sie zögernd. Zuerst stockend und dann immer flüssiger erzählte sie von den Turbulenzen des Tages und von dem abschließenden Besuch auf dem Polizeirevier, wo sie nach Tim gefragt hatte.

Pfarrer Trenker lauschte aufmerksam ihrem Bericht, wirkte dazwischen aber immer wieder etwas nachdenklich und geistesabwesend.

Saskia wusste sein Verhalten nicht recht zu deuten. »Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unangenehm, dass ich Ihr Gästezimmer beanspruche«, sagte sie unsicher.

Pfarrer Trenker schüttelte den Kopf. »Ganz und gar net«, wehrte er freundlich ab. »Es gibt doch nichts Schöneres, als einen Gast zu beherbergen. Das St. Johanner Pfarrhaus steht jedem offen, der, aus welchem Grund auch immer, eine Unterkunft braucht.«

»Danke«, gab Saskia zurück. Und fügte spontan hinzu: »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ein Pfarrer und eine Pfarrhaushälterin so nett sein können. Ich …« Sie verstummte verlegen. Erst in diesem Moment musterte sie Sebastian Trenker genauer, was ihre Verblüffung noch steigerte. Eigentlich war es nur das Kreuz, das ihn als Priester kenntlich machte. In ganz normaler Jeans hätte er ohne weiteres als Schauspieler oder als Sportler durchgehen können. Seine schlanke, durchtrainierte Figur, sein markantes Gesicht mit den braun und grau melierten Haaren und den dunklen, warmherzig blickenden Augen …

»Wie sieht eigentlich Ihr Tim aus?«, erkundigte sich in diesem Moment Pfarrer Trenker und riss Saskia damit aus ihren Gedanken. »Vielleicht begegne ich ihm zufällig irgendwo und kann Ihnen dann das Tier zurückbringen.«

Saskia nickte begeistert. »Es ist ein schwarz-weißer Border-Collie-Mischling. Ich hab ihn erst seit einem halben Jahr. Er ist aus dem Tierheim«, beendete sie ihre Ausführungen. »Er ist so lieb. Und so anhänglich. Bestimmt würde er mich gleich wiedererkennen.«

Sebastian Trenker nickte, während sein Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck annahm.

Saskia merkte es nicht.

Sophie Tappert hingegen fiel die Veränderung sofort auf. »Herr Pfarrer, ist Ihnen net gut?«

»Nein, nein.« Pfarrer Trenker lächelte seiner Perle beruhigend zu. »Mir ist nur einen Moment lang ein bissel flau geworden, weil ich schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen hab. Aus dem Nachmittagskaffee, an den ich gewohnt bin, ist ja nach dem ganzen Schrecken nichts mehr geworden. Schließlich hat unser Doktor Wiesinger mir Ruhe verordnet. Dabei wäre mir ein Stück von Ihrem karamellisierten Apfelkuchen bestimmt besser bekommen.« Er schmunzelte und gab sich alle Mühe, Sophie Tapperts prüfendem Blick standzuhalten.

»Dann serviere ich jetzt das Abendessen«, sagte sie aufatmend. »Ich hab, weil wir einen Gast haben, im Esszimmer gedeckt.« Sie wandte sich an Saskia. »Sie müssen doch auch Hunger haben, Frau Wenger. Immerhin haben Sie, so wie Sie Ihren Tagesablauf geschildert haben, seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«

Saskia hatte bis jetzt zwar noch nicht den geringsten Appetit verspürt, aber plötzlich merkte sie, dass ihr Magen trotz aller Turbulenzen und trotz ihres Kummers, gebieterisch nach etwas Essbarem verlangte. Bereitwillig folgte sie Pfarrer Trenker ins Esszimmer des Pfarrhauses.

Sophie Tappert hatte ein mit bäuerlichen Motiven bemaltes rustikales Porzellanservice aufgelegt, dazu passendes Besteck und Weinrömer. In mehreren über die Tafel verteilten Glasbehältern brannten Teelichter und tauchten den Tisch in ein warmes Licht. Auch ein Strauß Blumen aus dem Pfarrhausgarten, den Sophie Tappert in einer Kristallvase angeordnet hatte, fehlte nicht.

Saskia war erneut überrascht und konnte die Tischdekoration gar nicht genügend bewundern.

Wenn sie daran dachte, wie stillos sie und Thomas oft eine Pizza vom Lieferservice direkt aus dem Pappkarton verspeist hatten …

»Als erstes gibt es eine Consommé mit Pfannkuchenstreifen«, verkündete Sophie Tappert in diesem Augenblick und stellte eine große Terrine auf den Tisch, aus der sie Suppe in die Teller schöpfte. »Als Hauptgang folgt dann Schweinebraten mit Bierkruste und als Beilage Sauerkraut und Semmelknödel. Und wenn dann noch eine Nachspeise gewünscht wird, hab ich eine Bayrische Creme vorbereitet.«

Saskia wusste nicht, was sie sagen sollte. Nun bekam sie an diesem unglückseligen Tag zufällig auch noch fast dasselbe Essen, das sie um die Mittagszeit so gerne in diesem Biergarten hier in St. Johann …

Unwillkürlich fragte Saskia sich, was wohl geschehen wäre, wenn sie und Thomas tatsächlich im Biergarten des »Löwen« eingekehrt wären, anstatt an dieser unseligen Tankstelle trockene Sandwiches und Getränke in Dosen einzukaufen.

Mit ziemlicher Sicherheit wären sie jetzt zusammen in Wien, würden, ein Glas Sekt oder Champagner in der Hand, am Swimmingpool der Wolff’schen Villa sitzen, sich mit Thomas’ Mutter Gerda und ihren Geburtstagsgästen unterhalten und in Gerda Wolffs morgigen Geburtstag hineinfeiern.

Saskia seufzte, ohne dass sie sich dessen bewusst wurde. Nicht dass sie sich nach Smalltalk mit Thomas’ Mutter und ihren Schickie-Mickie-Freunden gesehnt hätte. Und auch die Wut auf Thomas und sein herzloses Verhalten war noch so frisch wie zur Zeit ihres Streits.

Aber wenn Saskia daran dachte, dass ihre Trennung von Thomas an diesem unseligen Autobahnrastplatz mit ziemlicher Sicherheit eine endgültige gewesen war, kroch trotz des lauen Sommerabends eine Kälte in ihr hoch, die ihr Herz erzittern ließ, als wäre mitten im August Eiseskälte in ihr eingezogen.

Morgen würde sie alleine in ihre Münchner Wohnung zurückkehren. Ohne Thomas und ohne Tim.

Und schuld an allem waren nur Thomas und seine Mutter, die er fürchtete und der er sich unterordnete, als wäre er noch ein kleiner Junge. Weil er glaubte, ohne ihr vermaledeites Geld nicht zurecht zu kommen.

Unwillkürlich entfuhr Saskia ein neuer Seufzer.

Sie hatte noch drei Wochen Sommerurlaub. Was sollte sie mit all den Tagen und Stunden nun anfangen? Sie würde einsam auf dem winzigen Balkon ihrer Wohnung herumsitzen, Radio hören oder in einem Buch blättern. Und nichts davon würde ihr Spaß machen. Nichts, aber auch gar nichts, so mutterseelenalleine …

»Bedrückt Sie außer dem Verlust von Tim noch etwas? Möchten Sie darüber reden?«, fragte Sebastian Trenker mit sanfter Stimme, um sie sanft aus ihrer Gedankenverlorenheit zu holen. »Sie haben inzwischen schon zweimal so herzergreifend geseufzt, dass ich mir nimmer sicher war, ob derart tiefe Seufzer einem Hund gelten können.«

Saskia sah ihn dennoch etwas verschreckt an, sie wusste zuerst nicht so recht, was sie Pfarrer Trenker antworten sollte, doch dann brach sich ihr ganzer angestauter Ärger über Thomas mit einem Mal Bahn wie eine Flutwelle, die einen Staudamm durchbricht.

Während Saskia Schweinebraten und Bayrische Creme verzehrte, erfuhr Sebastian Trenker alles über ihre zunehmend unglückliche Beziehung zu Thomas Wolff.

»Ich bin Klavierlehrerin von Beruf«, begann sie. »So hab ich Thomas kennengelernt. Der Bub von Thomas’ damaligen Nachbarn ist einer meiner Schüler gewesen. Eines Tages, als seine Eltern verhindert waren, hat Thomas ihm den Gefallen getan, den Jungen zu mir in die Klavierstunde zu fahren. Und da … da hat es zwischen Thomas und mir gefunkt. Liebe auf den ersten Blick sozusagen. Kein Wunder also, dass Thomas immer öfter den Klavierstundenfahrdienst für den Nachbarsbuben übernommen hat. Ein paar Wochen später hat er mich dann zum Essen und zu einem gemeinsamen Spaziergang eingeladen. Und so ist es weitergegangen. Es war eine wunderschöne Zeit. Wir haben gedacht, nichts könnte je unsere Liebe trüben. Bald schon sind wir zusammengezogen und haben an Heirat gedacht.« Eine Weile schaute Saskia verträumt vor sich hin, dann fuhr sie fort: »Thomas hatte damals zu seiner Mutter, die in Wien lebt, fast keinen Kontakt mehr. Doch dann lief es bei ihm beruflich nicht mehr rund. Er wechselte ein paar Mal die Firma, weil es immer wieder Ärger gab. Schließlich trug er sich mit dem Gedanken, seinen Beruf als Buchhalter aufzugeben und sich ganz seinem Hobby, der Volksmusik, zu widmen. Und damit hat das Unglück angefangen.«

Saskia erzählte von Gerda Wolffs zweiter Ehe mit einem reichen Wiener, dem sie nach der Scheidung ein beträchtliches Vermögen als Abfindung abgeknöpft hatte. Und davon, dass Thomas darin seine Rettung sah – sie sollte ihm finanziell unterstützen. Dabei ignorierte er die ständig wachsende Abhängigkeit von seiner Mutter.

Der Bergpfarrer hörte Saskia schweigend zu. »Und jetzt?«, fragte er schließlich. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

Saskia warf schmollend den Kopf zurück. »Es geht überhaupt nimmer weiter. Das ist doch klar«, stieß sie hervor, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Was der Thomas mir heute angetan hat, lässt sich nimmer gut machen. Und wenn der Tim nimmer auftaucht, schon gar nicht.«

Pfarrer Trenker nippte an seinem Weinglas, während Saskia das ihre fast in einem Zug leerte.

Ihr Gesicht rötete sich, und die Tränen flossen noch heftiger.

Sebastian wusste nicht, wozu er ihr raten und wie er weiter vorgehen sollte, zumal der leise pochende Schmerz hinter seiner Stirn sich von Minute zu Minute verstärkte.

Seine Gedanken kehrten zurück zum Bergerhof, wo ihm vor ein paar Stunden Hansi stolz den Hund gezeigt hatte, den er für ein Himmelsgeschenk der St. Johanner Mutter Gottes hielt.

Und Saskia Wengers Beschreibung von Tim passte haargenau auf diesen Hund!

›Er ist einfach vor mir gestanden‹, hatte Hansi gesagt. ›Die Muttergottes hat ihn vom Himmel fallen lassen. Deshalb war er so plötzlich da. Ich hab ihn Prinz getauft, weil er als Geschenk der Mutter Gottes doch etwas ganz Besonderes ist. Und er hat sofort auf diesen Namen gehört.‹

Sebastian Trenker schaute Saskia an, die unter Tränen den Rest ihrer Bayerischen Creme löffelte.

Die Ähnlichkeit von »Tim« und »Prinz«, was das hell klingende i im Namen anging, war eine durchaus plausible Erklärung für die sofortige Akzeptanz des neuen Namens. Was wiederum eindeutig dafür sprach, dass Hansis Findelhund und Saskias Tim …

Dem Bergpfarrer schwirrte der Kopf wie schon lange nicht mehr.

Er hatte Toni Wiesinger die Sache mit der Gehirnerschütterung anfangs nicht so recht glauben wollen, aber allmählich fühlte er sich wirklich krank und konnte die Diagnose des befreundeten Arztes nicht mehr einfach von der Hand weisen.

Im Übrigen machte die Tatsache, dass Saskia Wenger sich mittlerweile in Eigenregie bereits das dritte Glas Wein einschenkte, die Sache auch nicht besser.

Sophie Tappert war es, die schließlich das Stichwort gab. Als sie ins Esszimmer kam, um das Geschirr abzutragen, warf sie ­zuerst einen bekümmerten Blick auf Pfarrer Trenker und wandte sich dann, nach einem weiteren Blick auf die fast leere Weinflasche, an die weinende Saskia. »Hat’s geschmeckt?«, meinte sie höflich.

Saskia nickte, wobei sie sich mit dem Handrücken über die Augen wischte. »Ganz ausgezeichnet«, sagte sie. »Sie sind eine hervorragende Köchin, Frau Tappert. Wenn ich da an meine eigenen bescheidenen Kochkünste denke …«

»Wenn S’ erst einmal für jemand sorgen müssen, lernen S’ das Kochen im Handumdrehn«, wiegelte die Pfarrhaushälterin ab und setzte, ohne eine weitere Äußerung Saskias abzuwarten, hinzu: »Soll ich Ihnen jetzt das Gästezimmer zeigen? Sie müssen doch müde sein, nach einem so langen und aufregenden Tag. Und der Herr Pfarrer soll sich auch noch ein bissel schonen, hat der Doktor gesagt.«

Saskia erhob sich sofort.

Ehe sie Sophie Tappert hinaus in den Flur folgte, ging sie jedoch auf Pfarrer Trenker zu und umarmte ihn herzlich. »Gute Nacht. Und danke für alles«, sagte sie. »Es ist doch wirklich schade, dass katholische Pfarrer net heiraten dürfen. Ich glaube, Sie wären, verständnisvoll wie Sie sind, der perfekte Gatte und Familienvater.«

Pfarrer Trenker konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das ist ein schönes Kompliment«, meinte er. »Aber wir katholischen Pfarrer sind im Grunde durchaus Familienväter, nur in ein bissel größerem Stil. Zu unserer Familie gehören alle, die unsere Hilfe brauchen.«

»Dann bin ich auch ein Teil Ihrer Familie«, sagte Saskia, der der Wein die Zunge gelöst hatte, ebenso spontan wie treuherzig. »Weil Sie mir doch helfen müssen, meinen Tim wiederzufinden.«

*

Als Thomas Wolff wach wurde, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Verschlafen blinzelnd griff er nach dem kleinen Reisewecker auf seinem Nachttischchen. Und stellte entsetzt fest, dass es schon kurz nach zehn Uhr war. Heller Vormittag!

Wie von der Tarantel gestochen richtete Thomas sich auf, sank aber im nächsten Moment mit einem Aufstöhnen wieder zurück auf sein Kissen. Sein Kopf brummte, als hätte sich ein ganzer Bienenschwarm darin eingenistet! Wie in Trance glitt sein Arm auf die Partnerseite des Doppelbetts. »Saskia, aufstehen! Du kannst zuerst ins Bad. Mir ist hundeelend, ich bleibe noch ein paar Minuten …«

Erst als seine Hand ins Leere griff, begriff er, dass Saskia gar nicht neben ihm geschlafen hatte. Natürlich nicht!

Er hatte sie gestern an diesem öden Autobahnrastplatz zurückgelassen, weil sie Zoff gemacht hatte wegen Tim! Sie war schrecklich wütend gewesen, aber auch er hatte entschieden überreagiert …

Mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein. Auch die Albträume der vergangenen Nacht, die, vom Alkohol einmal abgesehen, nicht unschuldig an seiner Katerstimmung und seinen Kopfschmerzen waren.

Seine Träume hatten ihm Saskia gezeigt, wie sie verzweifelt durch Wald und Berge geirrt war! Immer auf der verzweifelten und erfolglosen Suche …

Schwerfällig wie ein alter Mann erhob Thomas sich und schleppte sich zum Fenster.

Es gab den Blick auf den weitläufigen Garten frei, der die Wiener Villa seiner Mutter zu einer grünen Oase machte und sie mit seinen Bäumen und Hecken gleichzeitig vor neugierigen Blicken abschirmte.

Unwillkürlich wanderten Thomas’ Augen in Richtung des kleinen Frühstückpavillons.

Natürlich war um diese Zeit das Frühstück längst vorbei und der Tisch schon wieder abgeräumt. Seine Mutter war Frühaufsteherin und frühstückte nie später als acht Uhr.

Sie hasste es, wenn man verschlief.

Thomas seufzte. So wie es aussah, hatte er schon wieder einen Minuspunkt gesammelt. Wenn nicht gleich mehrere.

Ärgerlich über sich selbst, schleppte Thomas sich unter die Dusche und drehte den Kaltwasserhahn auf. Er zuckte zusammen und hätte am liebsten aufgeschrien, als der eisige Strahl seinen Körper traf, aber er nahm sich zusammen. Und fühlte sich, als er aus der Duschkabine stieg, tatsächlich besser. Fast wie neu belebt.

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit wählte er seine Kleidung besonders sorgfältig, weil er wusste, dass seine Mutter, seit sie zu Geld gekommen war, auf ein möglichst stilvolles Äußeres Wert legte.

Er musste alles auf eine Karte setzen. Er würde heute aufs Ganze gehen und seine Mutter um das Geld für die Produktion seines ersten Volksmusikalbums bitten. Er hatte sich auch schon ganz genau zurechtgelegt, wie er vorgehen würde. Es musste einfach klappen!

Nicht nur um seiner Karriere willen, sondern weil er – ohne einen solchen Erfolg - nicht wusste, wie er Saskia je wieder gegenübertreten sollte. Nur mit einem finanziellen Erfolg bei seiner Mutter konnte er seine Handlungsweise auf der Fahrt nach Wien, die er inzwischen bitter bereute, halbwegs rechtfertigen.

Thomas Wolff straffte sich und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Wenigstens sein Äußeres würde auf seine Mutter Eindruck machen, wenn auch er selbst den eleganten Anzug und die Krawatte etwas übertrieben fand.

Schon hatte Thomas die Türklinke des Gästezimmers in der Hand, als plötzlich sein Smartphone in seiner Hosentasche vibrierte.

Thomas’ Herz kam für einen Moment aus dem Takt.

Saskia! Sie hatte Tim gefunden und nun rief sie ihn an, um ihm zu sagen …

Ein erwartungsvoller Blick auf das Display des Smartphones wandelte sich in grenzenlose Enttäuschung.

Es war nicht Saskia, die anrief, sondern einer seiner Münchner Freunde. Ein Gitarrist, der versprochen hatte, bei seinem Debütalbum mitzuwirken.

Er wusste von Thomas’ Fahrt nach Wien und kannte auch den Zweck. Bestimmt wollte er sich erkundigen, wie es um die Finanzierung des Musikprojekts stand.

Thomas zog unwillig die Augenbrauen hoch. Noch wusste er selber nicht, wie es weitergehen würde, es war also wohl am besten, den Anruf fürs Erste wegzudrücken.

Aber nun schaffte Thomas es nicht mehr, das Smartphone aus der Hand zu legen. Als hätten seine Finger ein Eigenleben, wählte er die Nummer des Festnetzanschlusses von seiner und Saskias Münchner Wohnung. Bestimmt war Saskia längst zu Hause und wartete vielleicht sogar darauf, dass er sich meldete!

»Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist nicht erreichbar. Wenn Sie eine SMS oder …«

Mit finsterer Miene steckte er das Smartphone wieder in seine Hosentasche. Hatte Saskia nicht abgehoben, weil sie noch wütend auf ihn war? Oder war sie wirklich nicht in der Münchner Wohnung? Und wenn nicht, wo war sie dann?

Mit einem Mal kamen Thomas seine Albträume wieder in den Sinn. Hatte sein Unterbewusstsein ihn warnen und ihm sagen wollen, dass Saskia in Gefahr war?

In düstere Grübeleien versunken, lief Thomas die Treppe ins Erdgeschoß der Wolff’schen Villa hinunter und trat ins Freie. Mit großen Schritten durchquerte er den Garten.

Dass er eigentlich seine Mutter hatte suchen wollen, wurde ihm erst wieder bewusst, als er vor ihr stand.

Sie musterte ihn mit spöttischen Blicken, die ihn noch zusätzlich verunsicherten. »Schön von dir, dass du gekommen bist, um mir zu meinem 50. Geburtstag zu gratulieren. Das war doch der Grund deines Besuchs, oder?«

»Ja … ja, natürlich«, stotterte Thomas, sein schlechtes Gewissens ignorierend. »Warum … warum hätte ich sonst die weite Reise auf mich nehmen sollen?«

»Die weite, weite Reise«, wiederholte Gerda Wolff amüsiert. »Von München nach Wien – welch unermessliche Entfernung!«

Thomas schluckte. Seine Mutter hatte es wieder einmal geschafft, ihn völlig aus dem Konzept zu bringen. Von dem, was er hatte sagen wollen, um ihr das Geld zu entlocken, das er so dringend brauchte, war nichts mehr übrig. Sein Kopf war wie leergefegt.

»Und wo ist Saskia, deine kleine Freundin?«, examinierte Gerda Wolff ihren Sohn ungerührt weiter. »Du hast sie doch nicht etwa meinetwegen zuhause gelassen?« Sie legte ihren Kopf schief und musterte Thomas prüfend. »Hast du sie wirklich nur deshalb nicht mitgebracht, weil du weißt, dass sie mir nicht sonderlich sympathisch ist? Oder hatte sie ganz einfach keine Zeit, um der Mutter ihres Freundes noch eine Reihe schöner Lebensjahre zu wünschen?«

Thomas begann, seine schwitzenden Hände an seiner Anzughose trocken zu reiben, besann sich aber sofort eines Besseren und ließ es wieder sein. Solche Gewohnheiten vertrug allenfalls der robuste Stoff seiner Jeans, die teuren Nobelklamotten hingegen …