E-Book 441-450 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 441-450 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Auf den Spuren der Vergangenheit E-Book 2: Schatten über Hubertusbrunn E-Book 3: Liebe auf Abwegen E-Book 4: Die junge Erbin des Moserhofs E-Book 5: Auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit E-Book 6: Wenn eine junge Liebe stirbt E-Book 7: Der Engel von der Nonnenhöhe E-Book 8: Wenn ein Herz erwacht … E-Book 9: Drama um Lara und Leonie E-Book 10: Wer heilt sein gebrochenes Herz?

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Seitenzahl: 1261

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Inhalt

Auf den Spuren der Vergangenheit

Schatten über Hubertusbrunn

Liebe auf Abwegen

Die junge Erbin des Moserhofs

Auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit

Wenn eine junge Liebe stirbt

Der Engel von der Nonnenhöhe

Wenn ein Herz erwacht …

Drama um Lara und Leonie

Wer heilt sein gebrochenes Herz?

Der Bergpfarrer – Staffel 45 –

E-Book 441-450

Toni Waidacher

Auf den Spuren der Vergangenheit

Leonies Neugierde wirbelt alles wieder auf ...

Roman von Waidacher, Toni

»Das war doch ein schöner Nachmittag, net wahr, Omi?«, fragte Leonie Brandner.

Die rüstige Rentnerin ließ sich sofort auf ihren Sessel fallen. »Schön, aber anstrengend«, erwiderte sie.

»Ach was, Omi, das war doch bloß ein kleiner Bummel. Bald machen wir mal wieder einen richtigen Ausflug. Vielleicht an den Ammersee.«

Jetzt lachte ihre Oma. »Na, was für dich jungen Hüpfer ein kleiner Spaziergang ist, strengt eine alte Frau wie mich ganz schön an.« Sie nickte. »Aber so einen Ausflug könnten wir wirklich mal wieder machen. Da waren dein Opa und ich früher oft, als deine Mutter noch klein war.« Sie lachte. »Sie konnte nie genug davon bekommen, die Enten zu füttern, wusstest du das?«

»Ja, Omi, das weiß ich.« Leonie lächelte ebenfalls, konnte aber nicht verhindern, dass sich gleichzeitig auch ein wehmütiger Ausdruck auf ihr Gesicht legte.

So ging es der 24-jährigen immer, wenn sie an ihre Eltern dachte, die bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen waren. Drei Jahre war das jetzt her, doch der Verlust schmerzte noch immer sehr. Seitdem kümmerte Leonie sich um so mehr um ihre Großmutter, die seit vielen Jahren Witwe war. Es war Sieglindes ausdrücklicher Wunsch gewesen, ein Zimmer in einer betreuten Apartmentanlage zu ziehen. In ihrer viel zu großen Münchener Wohnung war es ihr irgendwann einfach zu einsam geworden, und sie wollte auf keinen Fall jemandem zur Last fallen, schon gar nicht ihrer Enkelin.

Die freute sich sehr darüber, dass ihre Oma sich hier so wohlfühlte, und kam sie beinahe jeden Tag besuchen. Unter der Woche meistens nur für ein Stündchen, anders ließ es ihr Beruf nicht zu. Sie hatte nach ihrem Schulabschluss eine Lehre als Hotelfachfrau gemacht, in einem großen Münchener Hotel, und war dort anschließend übernommen worden. An den Wochenenden hatte sie meistens frei, weil die Schichten aufgrund der Zuschläge gerade bei den Mitarbeitern, die schon länger dabei waren, sehr beliebt waren. Deshalb nutzte sie diese freien Tage dann immer, um mehr Zeit mit ihrer Großmutter zu verbringen.

Der aber schien das manchmal regelrecht unangenehm zu sein. »Kind«, pflegte sie dann immer zu sagen, »du musst dein eigenes Leben führen. Kümmere dich um deine Freunde, net um deine alte Oma. Wie sollst’ denn mal einen feschen Burschen kennenlernen, wenn du immerzu nur hier bei mir herumhockst?«

Aber Leonie war es eben sehr wichtig, sich um ihre Großmutter zu kümmern. Mehr Familie hatte sie schließlich nicht! Und die Sache mit dem Freund … das war eh ein Thema für sich. Ihre Oma sagte zwar stets, dass es für jeden Topf einen Deckel gab, aber Leonie glaubte langsam nicht mehr, dass das auch auf sie zutraf. Die Männer, für die sie sich in der Vergangenheit interessiert hatte, hatten sie nicht mal eines Blickes gewürdigt. Mit ihrem blonden Haar und ihrer natürlich sportlichen Ausstrahlung hatte sie gegen die stark geschminkten jungen Frauen, mit Modelmaßen, auf die die meisten jungen Männer so abfuhren, keine Chance. Tja, und die Kollegen, die sich für sie interessierten, mit denen wurde Leonie nicht wirklich warm, betrachtete sie höchstens als gute Freunde.

»Ich hab erst neulich ein Bild wiedergefunden, das ich dir zeigen wollte«, riss Sieglinde ihre Enkelin aus den Gedanken.

Leonie blickte auf. »Ein Bild?«

»Ja, von deiner Mutter, als sie vier Jahre alt war. Aufgenommen beim Picknick am Ammersee. Warte, wo hab ich es denn noch gleich hingetan?« Sieglinde dachte kurz nach, dann tippte sie sich an die Stirn und deutete anschließend auf den Sekretär am anderen Ende des Raums. »Ach ja, natürlich! Schau doch bitte mal da drüben in der untersten Schublade nach, ja?«

Leonie ging zum massiven Eichenholzsekretär. Oberhalb der Tischplatte befanden sich drei relativ schmale Schubladen. Sie zog die unterste auf und erblickte ein kleines Schmuckkästchen – sonst nichts.

Neugierig hob sie es heraus und betrachtete es von allen Seiten. Es war aus dunklem, polierten Holz, mit Einlegearbeiten aus schimmerndem Perlmutt. Wirklich hübsch gearbeitet! Für einen Moment war das gesuchte Foto ganz vergessen.

»Hast du es gefunden?«, rief ihre Oma von ihrem Sessel aus.

Leonie entdeckte das Foto auf dem Boden der Schublade. Offenbar hatte es unter dem Schmuck-Kästchen gelegen. »Ja«, beeilte sie sich zu rufen. »Ich habe es.« Sie griff danach, stieß dabei aber so ungeschickt mit dem Handgelenk gegen die Tischplatte des Sekretärs, dass sie vor Schmerz aufkeuchte.

Reflexartig öffnete sich ihre Hand und das Kästchen knallte auf dem Boden. Der Deckel schnappte auf, und etwas fiel auf den Boden und rutschte unter den Sekretär.

Rasch kniete sich Leonie hin und tastete mit den Fingern nach dem Gegenstand unter dem schweren Möbelstück. Zuerst fürchtete sie schon, dass sie nicht herankommen würde, doch dann streiften ihre Fingerspitzen plötzlich etwas Kühles.

Sie zog es unter dem Sekretär hervor und staunte nicht schlecht, als eine Kette mit einem Herzanhänger zum Vorschein kam.

Das Schmuckstück war wunderschön, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie es noch nie an ihrer Großmutter gesehen hatte. Es glänzte auch, als wäre es nicht häufig getragen worden. Dabei sah es vom Stil her so aus, als wäre es schon ziemlich alt.

Leonie nahm es und brachte es hinüber zum Sessel, in dem ihre Oma saß und in einer Illustrierten blätterte.

»Ah, da bist du ja wieder. Gib das Foto mal her, ich zeig dir …« Sie verstummte, als sie aufblickte und ihre Enkelin mit der Kette in der Hand vor sich stehen sah. »Wo hast du die her?«

»Das Kistchen … Es ist mir heruntergefallen und dabei ist es aufgegangen. Tut mir leid, ich wollte nicht in deinen Sachen herumstöbern, aber die Kette ist halt rausgefallen … Was ist das für eine Kette, Omi?«

Sieglinde winkte ab, wirkte dabei aber seltsam steif. »Ach, das ist nichts. Billiger Modeschmuck, den ich nur aus sentimentalen Gründen behalten hab.«

Leonie schaute sie kritisch an. Was hatte das nun zu bedeuten? Ihre Oma log normalerweise nie. Sie war die ehrlichste Frau, die sie kannte, doch jetzt hatte die junge Hotelfachfrau das eindeutige Gefühl, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte.

Aber warum? Sie musterte die Kette erneut. Billiger Modeschmuck war das auf keinen Fall. Es handelte sich um echtes Gold, das sah sie an dem Stempel am Kettenverschluss. Und der schöne Anhänger …

Doch sie wollte ihre Großmutter auch nicht vor den Kopf stoßen, indem sie sie einer Lüge beschuldigte. Das wäre nicht höflich und auch nicht richtig. Dennoch … Leonie brannte jetzt regelrecht vor Neugierde.

Sie hatte einem Geheimnis noch nie widerstehen können. Das war wohl eine ihrer großen Schwächen. Und so war sie auch nicht bereit, so einfach lockerzulassen.

»Aus sentimentalen Gründen, sagtest du? Welche sind es denn genau?«

»Du bist ganz schön neugierig, mein Kind«, tadelte ihre Oma.

Darüber musste Leonie lachen. »Das sollte dich aber nun wirklich net überraschen.«

»Tut es auch net«, entgegnete Sieglinde, die nun ebenfalls schmunzelte. »Net wirklich.«

»Aber erzählen, was es mit dieser Kette auf sich hat, willst du trotzdem net?«

Sieglinde runzelte die Stirn. »Um ganz ehrlich zu sein, nein. Nimm es mir bitte net übel, aber das ist eine Geschichte aus meiner Vergangenheit, die du vielleicht falsch verstehen könntest.« Ihr Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Du wärst jedenfalls net die Erste, mein Kind.«

Nachdenklich neigte Leonie den Kopf zur Seite. Das war wieder etwas ganz Neues – normalerweise hatte ihre Oma keine Geheimnisse vor ihr. Zumindest nicht, soweit sie wusste. Und das machte sie, wenn das überhaupt möglich war, sogar noch neugieriger. Was meinte ihre Oma bloß damit, dass sie es falsch verstehen könnte? Das konnte doch eigentlich nur bedeuten … Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sag mal, Omi, könnte es vielleicht sein, dass es mit einem Mann zu tun hat?«

Die Wangen ihrer Großmutter färbten sich rosa, da wusste Leonie, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Dabei tat die Großmutter ihr fast ein bisschen leid, denn sie schien sich im Augenblick äußerst unwohl in ihrer Haut zu fühlen.

War es vielleicht doch besser, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen?

Doch ehe sie sich dazu durchringen konnte, ergriff ihre Großmutter erneut das Wort. »Da du, wie ich dich kenne, ja ohnehin keine Ruhe geben wirst, erzähle ich es dir halt. Ich hoffe nur, dass du mir deswegen nicht gram sein wirst. Dein Großvater war nämlich alles andere, als angetan, als er die Geschichte der Kette erfuhr.«

»Wenn wirklich ein anderer Mann dahintersteckt, kann man ihm das wohl kaum verübeln.«

Sieglinde seufzte. »Stimmt wohl, aber die Geschichte, um die es geht, spielte sich ab, lange bevor ich deinen Opa kennenlernte. Und deswegen gab es eigentlich überhaupt keinen Grund, weshalb er sich daran stören sollte. Aber er verstand halt net, warum ich die Kette behalten wollte, obwohl die Sache schon längst beendet gewesen ist.«

»Und? Warum wolltest du sie behalten?«

»Weil Erinnerungen mitunter das Einzige sind, was einem bleibt. Das wirst du eines Tages auch verstehen, mein Kind.«

»Hast du den Mann …«

»Johannes«, sagte Sieglinde. »Sein Name war Johannes.«

»Hast du diesen Johannes denn einmal sehr liebgehabt?«

Nach kurzem Nachdenken nickte sie langsam. »Er war meine erste große Liebe«, entgegnete sie. »Wir haben damals im selben Ort gelebt – im schönen St. Johann.«

»Du bist in St. Johann aufgewachsen? Das wusste ich ja gar nicht!«

Sieglinde lachte. »Es gibt so einiges, was du net über mich weißt«, sagte sie schließlich. »Und so wichtig ist das ja letztlich auch net. Aber ja, meine Kindheit und Jugend habe ich in St. Johann verbracht. Und was den Johannes betrifft, in den war ich damals schwer verliebt. Und er mochte mich auch. Dachte ich zumindest …«

»Na, wenn er dir so ein schönes Schmuckstück geschenkt hat, dann musst du ihm ja schon etwas bedeutet haben.«

Sieglinde zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Ich weiß es net. Und das ist jetzt auch net mehr von Bedeutung. Immerhin sind seitdem über fünfzig Jahre ins Land gegangen, und es macht keinen Sinn, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die längst vergangen sind.«

Leonie runzelte die Stirn.

»Aber …«

»Kein Aber«, fiel ihre Oma ihr ins Wort. Sie sah plötzlich müde aus. »Ich hätte gar net damit anfangen sollen. Tu mir bitte den Gefallen und pack die Kette wieder dorthin, wo du sie gefunden hast, und vergiss das alles. Ich werde genau dasselbe tun.«

Leonie wollte protestieren, doch ihr war klar, dass das keinen Sinn machen würde. Wenn ihre Oma sich einmal zu etwas entschieden hatte, dann rückte sie nicht mehr davon ab.

Das bedeutete allerdings nicht, dass das letzte Wort zu diesem ­Thema bereits gesprochen war, ganz und gar nicht.

*

»Ja, ich werde dann so gegen Mittag in St. Johann ankommen. Ja, genau … Vielen Dank, Frau Stubler, und bis bald.«

Leonie legte den Telefonhörer zurück auf den Apparat, der in der Diele stand, und ging zurück zum Schreibtisch ihrer kleinen Dachgeschosswohnung.

Nachdenklich blickte sie auf ihren Computerbildschirm, wo die Seite des Fremdenverkehrsamtes von St. Johann geöffnet war. Die junge Frau hatte sich, gleich nachdem sie wieder zu Hause angekommen war, ein bisschen über den hübschen kleinen Ort im Wachnertal informiert und dann spontan einen Entschluss gefasst. Den Entschluss, nach St. Johann zu reisen, um mehr über diesen Johannes herauszubekommen.

Natürlich wollte sie ihrer Oma nicht hinterher schnüffeln, das wäre auch Unsinn, schließlich hatte die diesen Mann seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen. Und so genau wusste Leonie selbst nicht mal, was sie eigentlich vorhatte, wie sie vorgehen sollte.

Aber in ihr erwachte der Wunsch, den Ort kennenzulernen, in dem ihre Großmutter aufgewachsen war. Und sie wollte sich ein wenig umhören, ob dieser Johannes noch lebte – und falls ja, wo er sich heutzutage aufhielt.

Und ja, irgendwo in ihren romantischen Träumen malte sie sich wohl schon aus, Johannes nicht nur ausfindig zu machen, sondern ihn mit ihrer Oma wieder zusammenzubringen. Denn sie spürte, dass ihre Oma mit der Sache von damals bis heute nicht wirklich abgeschlossen hatte. Was, wenn beiden den Wunsch hatten, noch einmal über diese Zeit ihres Lebens miteinander zu sprechen?

Leonie wusste genau, was ihre Oma zu ihr sagen würde: ›Misch dich net in Dinge ein, die dich nix angehen, Kind.‹

Und genau deshalb würde sie ihr auch nichts von ihrer Reise sagen. Zwar log sie nicht gerne, aber in diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel, wie sie fand. Denn sich nicht einzumischen, obwohl man vielleicht etwas Gutes tun konnte, das war einfach nicht ihre Art.

Daher traf es sich auch hervorragend, dass die junge Hotelfachfrau in drei Wochen sowieso ihren Sommerurlaub genommen hatte. Bisher hatte sie nicht vorgehabt, zu verreisen – jetzt schon!

*

Als Leonie sich drei Wochen später St. Johann näherte, nahm die Landschaft, die an ihr vorbeizog, sie regelrecht gefangen. Grüne Wiesen, dunkle Tannen und im Hintergrund die Berge, deren schneebedeckte Gipfel in den strahlendblauen Himmel ragten … Das Bild, das sich ihr hier bot, sah aus, als würde es direkt von einer Ansichtskarte stammen. Und als sie die Seitenscheibe ein Stück runterließ, strömte eine Luft in ihren kleinen Wagen, so rein und klar, dass es eine wahre Wohltat war.

Die Geschichte, die damals zwischen ihrer Großmutter und diesem Johannes in St. Johann ihren Anfang und dann auch ihr Ende gefunden hatte, beschäftigte Leonie noch immer. Grund dafür war zweifellos, dass die alte Dame so ein Geheimnis darum gemacht hatte. All die Jahre hatte sie nie irgendetwas von diesem Mann erzählt, und dabei stand für Leonie fest, dass ihre Großmutter einmal sehr in ihn verliebt gewesen sein musste. Dabei bezweifelte sie keineswegs, dass sie mit ihrem späteren Ehemann – ihrem Opa – glücklich gewesen war. Die beiden waren ein Herz und eine Seele gewesen, und als Ludwig vor ein paar Jahren plötzlich und unerwartet verstorben war, hatte ihre Oma lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen.

Aber wenn dieser Johannes ihr noch etwas bedeutete, dann musste Leonie ihn finden. Vielleicht ließe sich ja irgendwie in Ordnung bringen, was zwischen ihnen schief gelaufen war. Sie hatte einfach sofort gespürt, dass Oma Sieglinde ihn noch immer vermisste. Es gab keinen Zweifel, dass sie gern noch einmal mit ihm sprechen wollte, und diesen Wunsch wollte sie ihrer Großmutter erfüllen.

Dabei war ihr schon klar, dass sie vielleicht ein bisschen zu blauäugig an die Sache heranging. Nein, nicht nur vielleicht, ganz sicher sogar! Schließlich hatte sie keinerlei Informationen über diesen Mann, außer dem Vornamen und das ungefähre Alter. Aber weder wusste sie, ob er überhaupt noch lebte, noch, ob er in St. Johann geblieben war. Ihre Oma war schließlich auch fortgezogen. Gut möglich also, dass ihre Reise nach St. Johann nicht nur spontan, sondern auch völlig umsonst war.

Aber das hatte die junge Hotelfachfrau nicht abschrecken können. Allein die Möglichkeit, mehr über die Vergangenheit ihrer Großmutter zu erfahren, zu sehen, wo sie geboren und aufgewachsen war, war es ihr schon wert, diese Reise zu unternehmen.

Sie erreichte die ersten Ausläufer von St. Johann und war entzückt. Was für ein hübscher kleiner Ort. Sie hatte ja schon im Internet einige Bilder gesehen, aber jetzt tatsächlich hier zu sein, mitten in diesem schönen Tal, war noch einmal etwas völlig anderes.

Die Pensionswirtin, bei der sie telefonisch ihr Zimmer reserviert hatte, Frau Stubler, hatte ihr netterweise den Weg zur Pension genau erklärt. So fuhr sie durch einige hübsche kleine Gassen und hielt schließlich vor dem Haus an.

Nachdem sie ausgestiegen war, blieb sie einen Moment einfach stehen, atmete tief die herrlich klare Luft ein und dachte, das fühlt sich doch schon fast wie Urlaub an. Das Wetter war einfach optimal. Die Sonne stand strahlend am Himmel, der beinahe völlig wolkenfrei war. Nur hier und da ein paar harmlose weiße Schäfchenwolken, mehr nicht. Es war ein richtig schöner, warmer Sommertag, aber nicht zu heiß, dafür sorgte zum Glück das frische Lüftchen, das von den Bergen her wehte.

Während Leonie nun ihren handlichen Trolley aus dem Kofferraum holte, dachte sie noch einmal über ihr Vorhaben nach. Natürlich war ihr klar, dass es nicht einfach werden würde, mehr über diesen Mann herauszufinden. Schließlich war es lange Jahre her, seit ihre Großmutter hier gelebt hatte, und sie musste irgendwie seinen Nachnamen in Erfahrung bringen. Aber von so etwas ließ sie sich nicht abschrecken. Falls sie nichts erreichte, war es ja auch nicht allzu schlimm. Zumindest würde ihre Großmutter nicht enttäuscht sein, schließlich wusste die gar nicht, was ihre Enkelin hier vorhatte und wohin sie gereist war.

Entschlossen nickte Leonie sich selbst zu. Dann mal los!

*

»Grüß Gott, Frau Brandner! Herzlich willkommen in der Pension Stubler!«

Leonie staunte nicht schlecht, als sie die hübsche kleine Pension betrat und von der freundlichen älteren Frau sofort mit Namen begrüßt wurde.

Die ältere Frau lachte. »Na, nun gucken Sie net so überrascht, eine Hellseherin bin ich keineswegs.« Sie hob die Schultern. »Ich wusste ja, dass sie etwa um diese Zeit kommen, und da ich hier sonst jeden kenne und keine anderen Gäste erwarte, konnte ich mir denken, dass Sie mein neuer Gast sind!« Ihr Lächeln wurde noch eine Spur wärmer. »Mein Name ist übrigens Ria Stubler«, sagte sie und reichte ihr die Hand.

Die junge Frau ergriff sie sofort. »Leonie Brandner«, erwiderte sie, musste dann aber sogleich lachen. »Aber das wissen Sie ja bereits!«

Auch Ria Stubler lachte. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt?«, erkundigte sie sich anschließend.

»Oh ja, und St. Johann scheint wirklich ganz bezaubernd zu sein. Ich freu mich schon darauf, bald mehr davon zu sehen zu bekommen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen direkt Ihr Zimmer, dann können Sie sich ein bisserl einrichten und sich vielleicht auch etwas ausruhen, bevor es dann auf Erkundungstour geht.«

»Ja, das wäre wirklich sehr nett, Frau Stubler«, gab Leonie zurück.

»Wissen Sie denn jetzt schon, wie lange Ihr Aufenthalt in St. Johann dauern wird?«, erkundigte die Pensionswirtin sich und griff hilfsbereit nach Leonies Koffer.

Die junge Frau wehrte energisch ab.

»Lassen Sie mal, Frau Stubler, das schaffe ich schon selbst! So viel Gepäck ist es schließlich auch net. Und was Ihre Frage angeht«, erklärte sie, während sie gemeinsam nach oben gingen, »nein, so genau weiß ich noch net, wie lange ich bleiben werde. Das kommt ein bisserl darauf an, wie … wie schnell ich hier fündig werde.«

»Ach? Sie suchen etwas?«, fragte Ria Stubler interessiert nach. »Was denn?«

»Nicht etwas, sondern jemanden«, korrigierte Leonie, hielt dann aber inne, weil sie in dem Moment das Zimmer betraten, in dem sie die nächste Zeit wohnen würde.

Für einen Moment war die junge Frau regelrecht sprachlos, so schön war es. Ein im alpenländischen Stil eingerichteter Raum, mit gemütlichen Möbeln aus dunklem Holz. Die Vorhänge an den Fenstern und der Balkontür waren, ebenso wie der Bezug des großen Bettes blau-weiß kariert. An den Wänden hingen Aquarelle mit Motiven aus St. Johann und Umgebung, wie Leonie vermutete, außerdem gab es noch einen kleinen Esstisch sowie einen Sekretär, an dem man auch arbeiten konnte. Leonie fühlte sich hier einfach sofort wohl.

»Sie suchen also jemanden?«, knüpfte Ria Stubler wieder an das vorherige Gespräch an.

Leonie nickte. »Ja, einen Mann.« Dann sie musste lachen. »Also, jetzt net so, wie es sich vielleicht im ersten Moment anhören mag. Ich suche jemanden, den meine Großmutter von früher her kennt. Als sie noch hier gelebt hat.«

»Ihre Großmutter kommt aus St. Johann?«, fragte Ria interessiert nach.

»Ja, aber sie lebt schon seit fünfzig Jahren in München. Doch es gibt einen Mann, der ihr … einmal sehr viel bedeutet hat.« Leonie überlegte kurz, dann beschloss sie, der Pensionswirtin die ganze Geschichte, wie es zu ihrer Reise nach St. Johann kam, zu erzählen. Schließlich holte sie ein Foto hervor, das das Medaillon ihrer Großmutter zeigte. Sie hatte es bei ihrem letzten Besuch heimlich von dem Schmuckstück gemacht, um etwas in der Hand zu haben, das sie dem Jugendfreund ihrer Oma im Fall der Fälle zeigen konnte. Denn die Kette selbst hätte sie natürlich niemals einfach mitgenommen!

Interessiert betrachtete Ria Stubler das Foto. »Dazu kann ich allerdings leider nix sagen. Wie heißt denn der Jugendfreund Ihrer Großmutter?«

»Ich weiß nur, dass sein Name Johannes ist«, erklärte Leonie. »Mehr war aus meiner Omi net herauszubekommen.«

»Und wie alt müsste dieser Johannes jetzt sein?«

»Ich weiß auch net genau … über siebzig aber sicherlich!« Ihr Blick erhellte sich. »Kennen S’ etwa jemanden, der auf die Beschreibung passt?«, fragte sie. Mit einem Mal war sie ganz aufgeregt. Sollte sie etwa so schnell einen Volltreffer landen? Kaum, dass sie in St. Johann angekommen war? Das wäre ja …

»Na, Beschreibung kann man das ja jetzt net nennen, mit dem Sie mich da versorgt haben, Leonie … Ich darf doch Leonie sagen?«

Sie nickte.

»Aber einen Johannes, der im entsprechenden Alter wäre … Ja, den kenne ich. Er hat einen Hof, etwas außerhalb, und lebt dort seit einigen Jahren ziemlich zurückgezogen, seit …«

»Seit?«

»Seit er Witwer ist.« Nachdenklich schüttelte Ria den Kopf. »Kommen Sie, Leonie, lassen Sie uns für einen Moment auf den Balkon gehen. An der frischen Luft redet es sich angenehmer, finde ich immer.«

Leonie nickte und folgte der Pensionswirtin hinaus auf den Balkon. Dort stand sie schließlich angesichts des atemberaubenden Bergpanoramas, das sich ihr bot, fasziniert da. »Es ist wirklich wunderschön hier«, sagte Leonie, und sie meinte es genauso, wie sie sagte.

Ria Stubler nickte. »Net wahr? Und was den Mann angeht, den Sie suchen: Ich kann Ihnen natürlich net sagen, ob es sich bei ihm wirklich um den Josefinger-Johannes handelt, der hier seinen Hof hat, aber es könnte durchaus sein.« Sie zögerte kurz. »Allerdings sollten S’ net unbedingt mit der Tür ins Haus fallen bei ihm.«

Leonie runzelte die Stirn. »Wie meinen S’ das?«

»Wie ich schon sagte, er … lebt ziemlich zurückgezogen. Sprechen S’ doch am besten erst einmal mit dem Pfarrer unserer Gemeinde.«

»Mit dem Pfarrer?« Jetzt war Leonie irritiert. »Warum denn das?«

»Nun, Pfarrer Trenker kennt den Johannes recht gut, und könnte da sicherlich ein bisserl vermitteln. Vielleicht kann er Ihnen ja auch schon mehr zu der Frage sagen, ob Herr Josefinger wirklich der Jugendfreund Ihrer Großmutter ist.«

Nachdenklich nickte sie. »Also gut, wenn Sie meinen …«

»Aber jetzt ruhen S’ sich erst einmal ein bisserl aus und kommen richtig in St. Johann an!«, sagte Ria lachend. »Und wenn Sie irgendetwas brauchen, dann geben Sie mir einfach Bescheid, ich bin jederzeit für meine Gäste da.«

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Frau Stubler«, bedankte sich Leonie.

*

»Das war die Ria Stubler«, sagte Sebastian Trenker, als er zurück in den Garten des Pfarrhauses kam. Sein Bruder Max und er hatten sich gerade gesetzt, als Sophie Tappert, die Haushälterin des Pfarrhauses, verkündet hatte, dass es einen Anruf für den Pfarrer gab. Daraufhin war der gute Hirte von St. Johann reingegangen, doch das Gespräch hatte nicht lange gedauert.

»Die Ria?«, fragte Max nach. Der Polizist kam, obwohl längst verheiratet, noch immer unter der Woche täglich zum Mittagessen zu seinem Bruder. Seine Frau, die beim ›Kurier‹ arbeitete, aß meistens nur eine Kleinigkeit im Büro, und der Nachwuchs wurde im Haus der Arztfamilie Wiesinger von deren netten Kindermädchen mitbetreut. »Was wollte sie denn?«

Pfarrer Trenker setzte sich wieder an den Gartentisch. »Sie hat einen neuen Gast. Eine junge Frau aus München.«

»So? Und was hast du damit zu tun. Ah, Frau Tappert«, sagte er dann aber, denn in dem Moment begann die Haushälterin, das Essen aufzutragen. »Was gibt es denn heute Leckeres?«

»Fischfilet mit einer cremigen Remouladensoße. Dazu einen leichten Kartoffelsalat, ohne Mayonnaise, sondern mit einem Essigdressing angemacht und verfeinert mit frischem Dill.«

»Ah, das klingt ja mal wieder fabelhaft!« Max war mal begeistert, kein Wunder, war er doch der größte Fan von Sophie Tapperts Kochkunst.

Freitags gab es eigentlich immer Fisch. Und das nicht etwa, weil es sich, wie manch einer so schön sagte, »so gehörte«, sondern vor allem, weil Fisch ohnehin im Pfarrhaus gerne gegessen wurde.

»So, und was ist jetzt mit dieser jungen Frau, die in Rias Pension wohnt?«, wollte Max wissen, nachdem er den erste Bissen probiert hatte. »Macht sie Urlaub in St. Johann?«

Sein Bruder tat ein Stück Fisch auf seine Gabel, hielt aber dann inne und antwortete zunächst: »Ria hat mir gesagt, dass die Leonie, so heißt die junge Frau, den Josefinger-Johannes sucht.«

»Den Johannes? Warum das denn?«

»Eine interessante Geschichte. Die Ria meint, dass die junge Frau ihn sucht, weil er der Jugendfreund ihrer Großmutter sein könnte. Sie haben sich damals getrennt, und jetzt glaubt die Leonie, dass die beiden sich vielleicht noch einmal sehen und miteinander sprechen wollen.«

»Wozu das?«

Pfarrer Trenker hob die Schultern. »Sie hat wohl bei ihrer Großmutter ein Medaillon gefunden, ein Geschenk von diesem Johannes. Daraufhin war der alten Dame wohl anzusehen, dass sie mit der alten Geschichte noch immer net abgeschlossen hat. Und genau deshalb will Leonie die beiden nun wohl zusammenbringen.«

»Und das glaubst du?«, fragte Max alarmiert.

Sebastian wusste, warum sein Bruder so skeptisch war. Vor einiger Zeit hatte es einen Vorfall gegeben, bei dem der alte Josefinger einer Betrügerin auf den Leim gegangen war. Das Schlimmste hatte zum Glück verhindert werden können, auch durch Max Trenkers Hilfe, und dass bei ihm nun sofort die Alarmglocken schrillten, war kein Wunder.

»Ob ich etwas glaube oder net, spielt ja keine Rolle«, sagte Sebastian. »Ich kann es ja selbst net mal sagen, weil ich diese Leonie gar net kenne. Die Ria aber ist der angetan von dem Madel, und sie verfügt ja über eine gute Menschenkenntnis.«

»Das mag ja alles sein«, brummelte Max Trenker nachdenklich. »Aber nach dem, was da passiert ist, sollte der Johannes vorsichtig sein.«

»Die Ria hat die junge Frau auch erst mal an mich verwiesen, damit ich mir einen Eindruck von ihr machen und sie vielleicht begleiten kann, wenn sie den Johannes aufsucht.«

»Gute Idee.« Max nickte und widmete sich wieder seinem Essen. »Vorsicht ist schließlich besser, als Nachsicht.«

Nachdem alle aufgegessen hatten, holte Sophie Tappert aus der Küche ein Tablett mit drei Dessertschalen.

»Ah, Nachtisch!«, rief Max aus. »Na, worauf dürfen wir uns denn heute freuen?«

Die Haushälterin des Pfarrhauses und leidenschaftliche Köchin lächelte. Sie hatte die Früchte vorher einige Zeit mariniert und auch die Creme mit echter Vanille verfeinert. »Quarkcreme mit frischen Erdbeeren«, verkündete sie, und als schließlich vor jedem eine Schüssel stand, ließen sie es sich alle schmecken.

*

Lange Zeit zum Ausruhen nahm Leonie sich nicht. Zwei Stunden nach ihrer Ankunft befand sie sich bereits auf Erkundungstour. Sie hatte sich bei Frau Stubler erkundigt, ob es hier im Ort einen Fahrradverleih gab, denn Leonie radelte für ihr Leben gern, kam in München aber nur selten dazu, mehr als den Weg zur Arbeit auf dem Rad zu fahren.

Die freundliche Pensionswirtin hatte ihr dann sofort angeboten, ihr eigenes Rad zu nehmen, was Leonie begeistert annahm.

Dankbar winkte sie Ria zu, soviel Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, das kannte sie aus der Stadt gar nicht. Eigentlich hatte sie sich erst einmal nur die Umgebung anschauen wollen. Doch nachdem sie losgefahren war, hatte sie sich so gefühlt, wie sie sich immer fühlte, wenn sie von Ungeduld und Neugier gepackt wurde: kribbelig und ganz aufgedreht.

Sie wusste, sie würde es nicht schaffen, sich erst in Ruhe umzusehen und sich alles anzuschauen, ehe sie versuchte, den Mann zu finden, der womöglich der Jugendfreund ihrer Großmutter war.

Und jetzt hatte sie sogar einen Anhaltspunkt! Natürlich war nicht gesagt, dass es sich bei diesem Johannes, den Frau Stubler meinte, wirklich um den Johannes ihrer Oma handelte. Aber genau diese Frage ließ ihr jetzt keine Ruhe: sie wollte es unbedingt gleich herausfinden.

Deshalb hatte sie im Ort jemanden nach dem Weg zum Josefinger-Hof gefragt. Ein freundlicher älterer Herr hatte ihr bereitwillig Auskunft gegeben, und so befand die junge Münchenerin sich jetzt auf dem direkten Weg zu dem Hof.

Daran, dass Frau Stubler sie gebeten hatte, zunächst einmal mit Pfarrer Trenker zu sprechen, hatte sie kaum noch gedacht. Das würde ja auch alles nur verzögern, und warum sollte sie darüber erst mit einem Pfarrer sprechen?

Leonie genoss die kleine Tour mit dem Rad. Das war hier wirklich viel entspannter, als in München. Dort herrschte so viel Verkehr, dass man sich als Radfahrer manchmal kaum traute zu atmen, bei dem ganzen Abgas! Außerdem war es auch manchmal sogar gefährlich, wenn man sich durch den dichten Verkehr schlängeln musste.

Hier hingegen … Es war einfach unglaublich schön! Nachdem sie den Ortskern verlassen hatte, radelte sie durch weite Wiesen und Feldern, spürte den Fahrtwind im Haar und merkte, wie sie dabei völlig zur Ruhe kam. Der ganze Stress, dem sie in ihrem Beruf in dem großen Münchener Hotel tagtäglich ausgesetzt war, fiel einfach von ihr ab, und sie fühlte sich regelrecht befreit. Da konnte sie selbst der Gedanke, dass sie morgen wahrscheinlich einen ordentlichen Muskelkater in den Beinen haben würde, nicht schrecken. Das war es allemal wert!

Sie bog nun, so, wie der nette Herr es ihr beschrieben hatte, in einen etwas schmaleren Weg ein. Am Wegesrand wuchsen wilde Blumen, deren Namen sie bei weitem nicht alle kannte. Weit konnte es jetzt nicht mehr sein, bis sie den Hof erreichte. Leonie war bester Dinge und voller Hoffnung, dass ihr Besuch auf dem Josefingerhof sie womöglich tatsächlich ans Ziel bringen würde. Wobei es ja wirklich einem Wunder gleichkäme, wenn sie hier schon an ihrem ersten Tag erfolgreich sein würde … Ein leises Zischen, gefolgt von einem schleifenden Gefühl beim Fahren, versetzte ihrer Stimmung einen Dämpfer. Sie unterdrückte einen Fluch. Ein platter Reifen – ausgerechnet jetzt!

Sofort hielt sie an. Schließlich wollte sie auf keinen Fall riskieren, noch etwas am Fahrrad der netten Frau Stubler zu beschädigen.

Sie stieg ab und betrachtete das Malheur. Unglücklicherweise gab es weder Werkzeug noch Flicken oder eine Luftpumpe – was bedeutete, dass ihr wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als den Drahtesel bis zum Josefingerhof zu schieben. Weit konnte es zwar nicht mehr sein, aber ein gutes Stückchen sicher noch, und zu Fuß war sie noch nie die Schnellste gewesen… Aber egal, sie würde sich von so einem dummen kleinen Zwischenfall doch nicht ermutigen lasse. Nein, das kam überhaupt nicht infrage.

Entschlossen lief sie los. Doch schnell merkte sie, dass das doch weitaus anstrengender war, als zu radeln. Es war inzwischen recht warm geworden, oder sie spürte die Wärme nun einfach mehr. Die Feuchtigkeit aus den Wiesen war in die Luft gestiegen. In der prallen Sonne zu laufen war anstrengend genug, und das Fahrrad schieben zu müssen, machte es noch anstrengender.

Als sie hörte, wie sich ein Wagen von hinten näherte, wischte sie sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und ging an den Straßenrand.

Das Auto war schon vorüber gefahren, als plötzlich die Bremslichter aufleuchteten. Offenbar wollte der Fahrer etwas von ihr, denn im nächsten Moment legte er den Rückwärtsgang ein und setzte vorsichtig zu ihr zurück.

Das Seitenfenster wurde heruntergekurbelt, und Leonie sah sich einem freundlich lächelnden jungen Mann gegenüber. Er hatte kurz geschnittenes dunkles Haar, blaue Augen und beim Lachen offenbarten sich kleine Grübchen in den Wangen.

Leonies Herz pochte sofort deutlich schneller. Sie hatte schon immer einen Faible für dunkelhaarige Männer mit blauen Augen gehabt, und dieser hier war zudem auch so eine äußerst angenehme Erscheinung.

Nein, deswegen war sie nicht hier! Es ging um die große Liebe ihre Großmutter – und nicht um ihre Gefühle … Aber wie kam sie überhaupt auf so einen Gedanken? Sie hatten ja noch nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt.

Oder vielmehr – er hatte bereits etwas gesagt. Dummerweise konnte sie nicht sagen, was, denn sie hatte nichts davon mitbekommen – von seinem Lächeln einmal abgesehen.

Erwartungsvoll sah er sie an, und Leonie spürte, wie ihr vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht stieg.

Sie blinzelte. »Ich … Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

Er lachte leise. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie Hilfe benötigen.« Er deutete auf das Fahrrad. »Mit ihrem Reifen … Es sieht aus, als hätten Sie einen Platten.«

Im ersten Moment war sie irritiert, bis ihr wieder einfiel, dass er ja recht hatte. Sie konnte tatsächlich Hilfe gebrauchen. »Um ehrlich zu sein, ja, ein bisschen Hilfe könnte ich tatsächlich gebrauchen. Ich muss über einen Nagel oder so gefahren sein. Jedenfalls war von einen Moment auf den anderen die Luft raus.«

»Ja, so kann man das wohl ausdrücken«, entgegnete er trocken, doch seine Mundwinkel zuckten. »Ich habe Werkzeug im Kofferraum, und eine Luftpumpe ebenfalls. Soll ich mir das vielleicht mal anschauen?«

»Würden Sie das wirklich für mich tun?«

»Klar, ich setze nur eben den Wagen an den Straßenrand. So viel Verkehr gibt es bei uns hier draußen zwar net, aber man weiß ja nie.«

Leonie nickte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Dass sie hier, auf der offenen Landstraße, jemanden finden würde, der ihr half, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

Als er kurz darauf aus dem Wagen stieg, konnte sie nicht anders, als ihn fasziniert anzuschauen. Er sah wirklich gut aus, und wieder kribbelte es in ihrem Bauch verräterisch. Dennoch zwang sie sich, ihn nicht zu offensichtlich anzustarren, während er sich um das Fahrrad von Frau Stubler kümmerte.

»Sie machen so etwas aber auch net zum ersten Mal«, stellte sie beeindruckt fest.

»Nein, nein.« Er lachte. »Ich repariere einfach gern Dinge. Das ist, wenn man auf einem Hof groß geworden ist, ziemlich nützlich. An Sachen, die kaputtgehen, mangelt es da nämlich nie.«

»Kann ich mir vorstellen. Wobei – eigentlich auch nicht. Ich lebe nämlich in der Stadt. In München, genau genommen.«

Interessiert schaute er auf. »Dann machen Sie sicher Urlaub in St. Johann?«

»So ungefähr«, erwiderte Leonie ausweichend.

»München ist auch schön. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Zwischendurch habe ich mal ein paar Jahre in der München gelebt, um mal Großstadtluft zu schnuppern. Aber dann …« Er winkte ab. »Lassen wir das.«

Aufmerksam sah Leonie ihn an. Es schien da etwas zu geben, über das er nicht gern sprechen wollte. Aber war das ein Wunder? Schließlich waren sie sich fremd, und sie hatte ihm ja gerade auch nicht den wahren Grund für ihre Reise nach St. Johann erzählt.

»Hier ist es aber auch viel schöner als in München«, sagte sie. »Viel ruhiger, net so hektisch, und dann die herrliche Umgebung und die frische Luft … Ich war übrigens auch gerade auf dem Weg zu einem Gehöft hier in der Nähe. Vielleicht können Sie mir sagen, wie weit es noch ist.«

»Ich kenne jeden Bauern hier in der Gegend. Zu wem wollen Sie denn?«

»Zum Josefinger-Hof«, entgegnete sie.

Er hielt mitten in der Bewegung inne.

»Zum Josefinger-Hof?« Seine Augen blickten plötzlich gar nicht mehr so freundlich. »Was wollen Sie denn da?«

Leonie blinzelte überrascht. »Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Johannes. Meine Pensionswirtin meinte, dass auf dem Josefinger-Hof einen älteren Herrn dieses Namens lebt.«

»Das stimmt, aber …«

»Ja?«

»Ich glaube net, dass er Sie sehen wollen wird«, erklärte er knapp.

»Was?« Erstaunt schaute Leonie ihn an. Was war denn das jetzt? Gerade war er noch so freundlich gewesen, und nun …

»Sie haben mich schon verstanden«, sagte er. »Hier.« Er hielt ihr den Lenker des Fahrrads hin. »Der Reifen müsste jetzt wieder dicht sein. Meine Luftpumpe können Sie behalten. Und nun wünsche ich Ihnen einen angenehmen Rückweg – denn die Weiterfahrt zum Josefinger-Hof können Sie sich sparen.«

Nun wurde Leonie allmählich ärgerlich.

Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Dachte er wirklich, dass sie sich so einfach von ihm wegschicken lassen würde?

»Ich danke Ihnen wirklich sehr, dass Sie mir bei meiner Panne geholfen haben, aber deswegen lasse ich mich noch lange net von Ihnen herumkommandieren«, stellte sie klar. »Wer sind Sie denn überhaupt?«

»Mein Name ist Josefinger«, entgegnete er. »Thomas Josefinger.«

*

Thomas schaute die junge Frau ernst an, die ihn noch immer entgeistert anstarrte. Sie war ihm zunächst sehr sympathisch gewesen – und hübsch war sie noch dazu, aber das tat nichts zur Sache. Er war ein hilfsbereiter Mensch, da kam es nicht drauf an, wie jemand aussah. Er hätte in dieser Situation jedem geholfen. Damit, dass er sie attraktiv fand, hatte das nicht das Geringste zu tun.

»Oh, ich … Das trifft sich ja sehr gut«, sagte sie schließlich, wirkte aber etwas verunsichert.

Was, wie er annahm, mit seinem Gesichtsausdruck zu tun hatte. Das Lächeln war ihm vergangen, als sie seinen Großvater ins Spiel gebracht hatte. Aber nach dem Vorfall neulich…

Als Thomas vor ein paar Monaten aus München zurückgekehrt war, weil er gesehen hatte, dass das Großstadtleben doch nichts für ihn war, da hatte er es kaum glauben können, als er feststellte, dass sich jemand bei seinem Großvater eingeschlichen hatte.

Eine junge Frau, die behauptete …

Aber das war jetzt nebensächlich. Zum Glück hatte Thomas schnell die Wahrheit herausgefunden und seinen Großvater vor dem Schlimmsten bewahrt.

Und jetzt sollte sich das alles womöglich wiederholen? Herrschaftszeiten, was dachten die Leute denn, was bei seinem Großvater alles zu holen war? Johannes hatte seinen Hof, ja. Und obwohl er inzwischen über siebzig war, schuftete er jeden Tag auf seinem Grund und Boden. Das war sein Leben. Den Rest erledigten Gehilfen, und inzwischen, nach seiner Auszeit, die er sich genommen hatte, auch wieder Thomas selbst.

Nun, wenn diese unverschämte junge Frau jetzt wirklich glaubte, dass er sie so einfach zu seinem Opa lassen würde, dann hatte sie sich geschnitten. An ihm würde sie nicht vorbeikommen!

Er musterte sie mit kühlem Blick. »Ja, das trifft sich wirklich gut, denn auf diese Weise kann ich Ihnen gleich sagen, dass Sie sich die Mühe sparen können. Mein Großvater ist im Augenblick für niemanden zu sprechen.«

»Aber …« Sie runzelte die Stirn. »Sie wissen doch noch gar net, was ich von ihm will.«

»Ich kann es mir allerdings ziemlich gut vorstellen«, murmelte er.

Ihre Empörung vertiefte sich. »Ich verstehe net ganz …«

Seufzend fuhr er sich durchs Haar. »Hören Sie, was immer Sie auch vorhaben, vergessen Sie es! Lassen Sie meinen Großvater in Frieden – und mich auch. Am besten, Sie kehren gleich wieder nach München zurück. St. Johann kommt sehr gut ohne Menschen wie Sie aus!«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging zu seinem Wagen zurück, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.

»Also, das ist doch wohl die Höhe!«, hörte er sie noch rufen, doch er beachtete sie nicht mehr. Stattdessen stieg er in seinen Wagen, startete den Motor und fuhr davon.

Er würde seinem Großvater lieber gar nichts davon erzählen, dass schon wieder eine junge Frau aufgetaucht war, die zu ihm wollte. Das würde ihn nur aufregen – und das war das Letzte, was er wollte.

Ebenso wenig, wie er diese Frau jemals in seinem Leben wiedersehen wollte – oder? Und wieso fuhr er dann extra langsam und schaute immer wieder in den Rückspiegel, so lange, bis er sie nicht mehr sehen konnte?

*

Fassungslos starrte Leonie ihrem Helfer in der Not hinterher. Sie hatte seinen plötzlichen Stimmungsumschwung noch immer nicht ganz verarbeitet. Erst war er die Freundlichkeit in Person gewesen – und dann … Was war denn bloß los in ihn gefahren?

Sie hatte keine Ahnung, was diese Veränderung in ihm verursacht hatte, doch es musste etwas gewesen sein, was sie gesagt hatte. Nur was? Sie hatte doch nur nach dem Josefingerhof gefragt. Daran war ja wohl nichts Verwerfliches!

Sie schaute ihr Fahrrad an. Nun, zumindest hatte er den Reifen geflickt, bevor er sie einfach so stehenließ. Allerdings hatte er sich getäuscht, wenn er dachte, dass sie so einfach aufgeben würde. Entschlossen schwang sie sich wieder auf den Sattel und trat in die Pedale – jedoch nicht in Richtung St. Johann, –sondern ihm hinterher.

Thomas Josefinger, der Enkel. Aufregung machte sich in ihr breit. Wenn dieser Johannes Josefinger der Mann war, nach dem sie suchte … Ihre Großmutter würde sich sicher unheimlich freuen, ihren Jugendfreund wiederzusehen. Ach was, freuen – ganz aus dem Häuschen wäre sie! Selbst wenn die Gefühle nicht mehr dieselben waren wie zuvor, was nach Jahrzehnten mit Sicherheit der Fall war.

Und außerdem brannte Leonie noch immer darauf, den Mann kennenzulernen, der ihrer Großmutter einst das Herz gestohlen hatte. Wie mochte er wohl sein? Sicher freundlich und charmant, wie ihr Opa Ludwig es gewesen war. Er hatte vermutlich auch jede Menge Geschichten aus ihrer gemeinsamen Jugend auf Lager. Sie freute sich schon richtig darauf, sie zu hören, und das unbehagliche Gefühl, das die Unterhaltung mit Thomas Josefinger in ihr ausgelöst hatte, verflog langsam.

Der Tag war auch wirklich einfach zu schön, um sich die Laune von so einer seltsamen Begegnung vermiesen zu lassen.

Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis sie hinter einem kleinen Wäldchen die Dächer eines Bauernhofes auftauchen sah. Das musste der Josefingerhof sein. Ihr Herz schlug Purzelbäume, so aufgeregt war sie.

Leonie trat fester in die Pedale und bog in den schmalen Weg ab, der zu den Häusern führte. Es zeichneten sich deutlich frische Spuren von Autoreifen im feuchten Boden ab, was darauf hindeutete, dass sie hier richtig war.

Ihre Stimmung sank jedoch gleich wieder, als sie Thomas Josefinger erblickte, der neben seinem Wagen stand.

Nun blickte er in ihre Richtung, und seine Stirn legte sich in Furchen. Im nächsten Moment kam er mit wütender Miene auf sie zu. »Sie schon wieder!«, fuhr er Leonie an. »Habe ich mich vorhin net klar ausgedrückt? Sie sind hier nicht erwünscht!«

»Sie haben sich sogar sehr klar ausgedrückt. Leider haben Sie mich dabei aber gar net zu Wort kommen lassen, ansonsten hätte ich Ihnen erklären können, dass …«

Er schüttelte den Kopf. »Ihre Erklärungen interessieren mich net«, unterbrach er sie. »Und wenn Sie net augenblicklich das Grundstück verlassen, sehe ich mich gezwungen, die Polizei hinzuzuziehen.«

Ungläubig schaute Leonie ihn an. Was war bloß los mit diesem Mann? Er war so feindselig ihr gegenüber, dabei hatte sie ihm doch gar nichts getan.

Sie ballte die Hände. »Sie wollen mich also nicht einmal mit Ihrem Großvater sprechen lassen?«

»Na endlich, und ich dachte schon, Sie würden es nie begreifen«, höhnte er, was ihr Blut wieder auf eine ganz andere Art und Weise zum Kochen brachte.

»Es gibt keinen Grund, mich so von oben herab zu behandeln!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und zu Ihrer Information: ich werde mir das net gefallen lassen.«

»Ach ja?« Herausfordernd hob er eine Braue. »Und was wollen Sie dagegen unternehmen? Die Polizei rufen?«

Frustriert musste Leonie sich eingestehen, dass es nicht viel gab, was sie tun konnte. Und wenn er noch so unverschämt war, er hatte das Recht, sich hier aufzuhalten – sie nicht.

»Also schön«, sagte sie, »ich gebe mich geschlagen – für den Moment. Aber glauben Sie net, dass Sie mich so einfach loswerden.«

Er schnaubte, dann wandte er sich einfach ab und ging.

Leonie wollte ihm am liebsten etwas von hinten an den Kopf werfen, doch erstens hatte sie gerade nichts zur Hand, und zweitens war das einfach nicht ihre Art.

Also biss sie die Zähne zusammen, drehte ihr Fahrrad um und trat in die Pedalen. Doch zurück zur Pension würde sie jetzt noch nicht fahren.

Nein, dieser Thomas Josefinger kannte sie schlecht, wenn er glaubte, dass sie so leicht klein beigab. Und inzwischen war ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Den Fehler, zu überstürzt vorzugehen, statt auf den Ratschlag ihrer Pensionswirtin zu hören …

*

Sebastian Trenker saß gerade in seinem Arbeitszimmer und war in einige Unterlagen vertieft, als es an der Tür klopfte. »Ja?«

Sophie Tappert trat ein und lächelte. »Entschuldigen Sie bitte, Hochwürden, ich weiß, Sie sind beschäftigt.«

»Ach, das ist nix, was net auch noch ein bisserl warten kann«, erwiderte der Geistliche und winkte ab. »Was gibt es denn, Frau Tappert?«

»Sie haben einen Besucher, Herr Pfarrer, oder vielmehr eine Besucherin. Und sie scheint etwas auf dem Herzen zu haben.«

»Na, dann mal herein mit ihr.«

Die Haushälterin nickte und kam kurz darauf mit einer dem Bergpfarrer unbekannten jungen Frau zurück. »Hochwürden, das ist die Frau Brandner.«

»Leonie Brandner?« Sebastian Trenker erhob sich und trat auf seine Besucherin zu. »Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Frau Brandner. Ich hab schon von Ihnen gehört.«

»Leonie, bitte«, entgegnete die junge Frau. »Aber wie meinen S’ das, Sie haben schon von mir gehört?«

»Wenn ich mich nicht sehr täusche, hat die Ria Stubler Sie zu mir geschickt, Leonie?«

»Meine Pensionswirtin, ja.«

Sebastian Trenker deutete auf den Besucherstuhl. »Aber nehmen S’ doch bittschön erst einmal Platz.«

Nachdem die Frau Tappert dann für den doch recht aufgeregten Gast einen beruhigen Kräutertee gebracht und das Arbeitszimmer wieder verlassen hatte, lehnte der Bergpfarrer sich auf seinem Stuhl zurück.

»Die Ria hat mir schon ein paar Dinge erzählt, zum Beispiel, dass es um Ihre Großmutter geht – und den Johannes Josefinger. Sie glauben, die beiden könnten vor langer Zeit einmal miteinander verbandelt gewesen sein, richtig? Und wenn ich mich recht erinnere, ging es um ein Schmuckstück, das Ihre Großmutter in ihrer Jugend geschenkt bekommen hat?«

»Ja«, stimmte Leonie zu. »Ich wusste bis vor kurzem noch gar nix davon. Erst, als ich zu Hause bei meiner Oma zufällig auf diese Kette mit Herzanhänger stieß, kam die Geschichte ans Licht. Nun … zumindest ein Teil davon. Meine Oma gab sich nämlich recht wortkarg, was sonst eigentlich gar net ihre Art ist.«

Der gute Hirte von St. Johann runzelte die Stirn. »Und Sie halten es trotzdem für eine gute Idee, weitere Nachforschungen anzustellen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sie haben den Ausdruck in den Augen meiner Oma net gesehen. So traurig hab ich sie net mehr gesehen, seit mein Opa gestorben ist. Denken Sie jetzt bitte net, dass sie meinen Opa net geliebt hätte, Hochwürden. Die beiden sind sehr glücklich gewesen, davon bin ich fest überzeugt. Aber in dem Moment wurde mir klar, dass sie diesen Johannes nie wirklich hat vergessen können.«

»Verstehe.« Nachdenklich rieb Sebastian Trenker sich übers Kinn. »Und wie kommen Sie darauf, dass es sich um unseren Johannes Josefinger handelt?«

»Na, absolut sicher bin ich mir da natürlich net. Von meiner Oma hab ich lediglich seinen Vornamen erfahren, und dass er zusammen mit ihr hier in St. Johann aufgewachsen ist. Er muss also etwa in ihrem Alter – Anfang bis Mitte siebzig – sein und von hier stammen. Tja, und meine Pensionswirtin war so freundlich, mich auf den Johannes Josefinger hinzuweisen …«

Der Bergpfarrer faltete die Hände auf der Tischplatte. »Nun, möglich wäre das schon. Vom Alter her würde der Josefinger sicher ins Schema passen, und soweit ich weiß, ist er hier aufgewachsen. Das muss zwar noch lange nicht heißen, dass er derjenige ist, den Sie suchen – der Name Johannes ist hier recht weit verbreitet – aber vorstellen könnte ich es mir schon.« Er hielt inne. »Es gibt da nur ein kleines Problem.«

Leonie lachte auf. Es klang aber eher bitter. »Wenn Sie von seinem Enkelsohn sprechen, mit dem hatte ich bereits das Vergnügen.«

»Daraus schließe ich, dass Sie es bereits auf eigene Faust beim Josefinger-Hof versucht haben.« Der Bergpfarrer unterdrückte ein Seufzen. »Wissen Sie, der Thomas ist ­eigentlich ein ganz feiner Mensch. Allerdings gab es da vor kurzem einen … Zwischenfall, und seitdem schottet er seinen Großvater regelrecht von der Außenwelt ab.«

»Aber warum?« Irritiert runzelte Leonie die Stirn. »Ich meine, wir sprechen hier immerhin von einem alten Herrn und keinem Kleinkind. Er wird doch selbst in der Lage sein, zu entscheiden, wen er sehen will und wen nicht.«

»Das stimmt schon, und ich sag auch net, dass ich das Verhalten von Thomas Josefinger billige. Aber er macht sich halt Sorgen um seinen Großvater – und das net ohne Grund. Sie müssen wissen, der Josefinger-Johannes ist vor kurzem Opfer eines Betrugs geworden.«

Entsetzt schlug die Leonie sich die Hand vor den Mund. »Was? Aber das ist ja schrecklich!«

»Ja, es hat ihn ziemlich mitgenommen. Vor allem, da es sich auch wirklich um eine ganz hinterhältige und gemeine Masche handelte. Eine junge Frau hat sich nämlich unter dem Vorwand bei ihm eingeschlichen, dass sie seine Enkelin sei, die aus einer Affäre von Thomas’ Vater entstanden sei.«

»Aber das stimmte net?«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Da war kein wahres Wort dran. Die betreffende Dame und ihr Freund hatten lediglich in Erfahrung gebracht, dass der alte Josefinger ein geeignetes Opfer abgeben würde.« Er seufzte. »Jedenfalls haben die beiden den armen Mann ordentlich ausgenommen, bis man ihnen schließlich auf die Schliche kam. Der Thomas war damals beruflich für mehrere Monate in München und hat erst etwas davon mitbekommen, als es schon beinahe zu spät war. Er hat sich an meinen Bruder und mich gewandt. Mein Bruder ist Polizist hier in St. Johann, müssen Sie wissen. Und am Ende ist es uns gelungen, alles aufzudecken und die Betrüger dingfest zu machen. Schaden ist dennoch entstanden, weil ein beträchtlicher Teil des Geldes zu dem Zeitpunkt bereits ausgegeben war. Von seelischen Schaden, den diese skrupellosen Gestalten bei dem alten Bauern ­angerichtet haben, ganz zu schweigen …«

Nachdenklich betrachtete Leonie ihre Hände, die sie auf dem Schoß verschränkt hatte. Als sie wieder aufblickte, wirkte sie ungewöhnlich ernst. »Ich muss zugeben, dass ich sein unhöfliches Verhalten jetzt etwas besser verstehen kann. Das war schon schlimm, was seinen Großvater da passiert ist. Aber in Ordnung ist es trotzdem net. Er kann doch einen erwachsenen Mann nicht so bevormunden. Und ein bisschen freundlich kann man schon sein, selbst wenn man guten Grund hat, misstrauisch Fremden gegenüber zu sein.«

Sebastian Trenker nickte. »Ich pflichte Ihnen in beiden Punkten bei. Wissen Sie, ich hatte ohnehin schon länger vor, mit dem Thomas zu sprechen. Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen noch einmal gemeinsam auf den Weg zum Josefinger-Hof machen?«

»Wenn Sie meinen, dass das was bringt, Hochwürden«, entgegnete Leonie skeptisch. »Ich kann’s mir, ehrlich gesagt, net recht vorstellen, aber auf der anderen Seite ist es ja vielleicht einen Versuch wert. Warum also net?«

»Dann ist es abgemacht«, lächelte Sebastian. »Am besten, wir treffen uns am Vormittag, hier vor der Kirche. Wäre Ihnen zehn Uhr recht?«

Leonie nickte. »Zehn Uhr. Bis morgen dann.«

»Bis morgen.«

Die junge Frau hatte bereits die Tür hinter sich geschlossen, da schaute der Bergpfarrer ihr noch immer nachdenklich hinterher. Er musste ihr zustimmen, dass das übervorsichtige Verhalten vom Thomas inzwischen jedes vernünftige Maß überstieg. Er schien den alten Mann in letzter Zeit regelrecht abschotten zu wollen. Dass er sich Sorgen um seinen Großvater machte, war nachvollziehbar. Doch alles musste eine Grenze haben – und die drohte der junge Mann inzwischen zu überschreiten.

Ja, er war froh, dass die Leonie Brandner ihn aufgesucht hatte. Es wurde Zeit, dass er in der Angelegenheit etwas unternahm.

*

»Guten Morgen, Frau Brandner«, grüßte Ria Stubler am nächsten Morgen freundlich. »Na, wie war Ihre erste Nacht in St. Johann? Haben Sie gut geschlafen?«

»Danke, ganz ausgezeichnet sogar«, erwiderte Leonie lächelnd. Sie hatte gerade auf der Terrasse der Pension an einem freien Tisch Platz genommen. »So gut hab ich schon lange net mehr geschlafen.«

»Ja, das liegt an der guten Luft hier«, erklärte die Pensionswirtin, die mit einem Tablett an den Tisch getreten war, auf dem sich allerlei Köstlichkeiten befanden: Kaffee, Orangensaft, ein Korb mit verschiedenen Brotsorten, zudem Wurst, Käse, Butter, Honig und Marmelade.

Beim bloßen Anblick lief Leonie schon das Wasser im Munde zusammen. »Ist das etwa alles für mich? Du liebe Güte, das ist doch viel zu viel!«

»Im Urlaub muss man gut essen«, erwiderte Ria Stubler lächelnd, während sie alles vor ihrem Gast auf den Tisch stellte. »Und das Frühstück wird net umsonst als die wichtigste Mahlzeit des Tages bezeichnet!« Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ach, ich vergaß, Sie sind ja gar net hier, um Urlaub zu machen … Haben S’ denn schon einmal mit Pfarrer Trenker gesprochen?«

»Ja, das habe ich gestern noch gemacht«, erklärte die junge Münchenerin und senkte ein wenig beschämt den Blick. »Allerdings ein bisserl spät.«

»Spät?«

»Ja, leider, nachdem ich nämlich schon beim Josefinger-Johannes war.«

»Also sind Sie zunächst auf eigene Faust zu seinem Hof hin.«

»Ja, leider. Und dort bin ich dann auf dessen Enkel Thomas gestoßen.«

»Ach, der Thomas. Ein netter junger Mann. Und sehr auf das Wohlergehen seines Großvaters bedacht.«

Leonie seufzte. »Ja, das hab ich wohl feststellen dürfen. Das eine, wie das andere. Was dann aber zur Folge hatte, dass er mir gegenüber alles andere als nett war, sobald er hörte, dass ich zu seinem Großvater wollte.«

»Ja, so etwas hab ich mir schon gedacht. Deshalb hatte ich den Vorschlag gemacht, dass Sie zunächst einmal mit Pfarrer Trenker sprechen.«

»Das hätte ich auch mal besser tun sollen. Der Pfarrer hat mir dann auch erzählt, warum Thomas seinen Opa so abschottet.«

»Eine unschöne Geschichte, ja. Allerdings ist der Thomas im Moment wohl auch ein bisserl zu misstrauisch. Zwar kann ich verstehen, dass er nun lieber Vorsicht walten lässt, ich kann mir aber kaum vorstellen, dass sich so eine Geschichte wiederholt. So denkt auch Pfarrer Trenker und wollte darüber auch mal mit Thomas sprechen.«

»Ja, deshalb will er heute mit mir zusammen zum Josefinger-Hof«, erklärte Leonie. »Und ich habe so die Möglichkeit, den Josefinger-Johannes doch noch kennenzulernen.«

»Wenn Pfarrer Trenker dabei ist, dürfte auch der Thomas keine Probleme mehr machen.«

»Darauf setze ich auch. Ich möchte ja nun doch gerne wissen, ob es sich bei Johannes Josefinger um den Mann handelt, den ich suche.« Leonie schüttelte den Kopf. »Ach, ich hätte gleich auf Sie hören sollen, Frau Stubler, aber ich war einfach zu ungeduldig.«

Die Pensionswirtin lachte. »Na, das sind junge Leute meistens.« Sie nickte ihrem Gast zu. »Aber jetzt sollten S’ erst einmal frühstücken, damit Sie nachher auch bei Kräften sind. Außerdem soll Ihr Kaffee ja net kalt werden, richtig?«

»Richtig.« Leonie lachte dankbar. »Ach, da fällt mir noch ein«, ergriff sie dann noch einmal da Wort. »Mir ist gestern leider ein kleines Missgeschick passiert … Mit Ihrem Rad, Frau Stubler.«

»So? Was ist denn passiert?«

»Ein platter Reifen … Jedenfalls war der Thomas so nett und hat den Reifen notdürftig geflickt. Aber ewig wird das wahrscheinlich net halten. Am besten, ich bringe Ihr Rad heute oder morgen in ein Fachgeschäft.«

Doch da winkte die Pensionswirtin ab. »Das lassen S’ mal schön bleiben. Ich kümmere mich schon darum …«

»Aber die Kosten …«

»Darum machen Sie sich jetzt bitte keine Gedanken. Das Fahrrad ist alt, der Reifen auch, da war es reiner Zufall, dass er ausgerechnet gestern bei Ihnen kaputtgegangen ist.« Die ältere Frau zwinkerte verschwörerisch. »Aber dann scheint der Thomas ja doch seine netten Seiten zu haben, net wahr?« Mit diesen Worten wandte die Pensionswirtin sich ab.

Leonie griff nachdenklich zur Kaffeekanne, um sich etwas von dem herrlich duftenden Kaffee einzuschenken. ›Ja‹, dachte sie, ›der Thomas war wirklich nett – bis er erfahren hat, dass ich zu seinem Großvater will. Ob er auch wieder nett sein wird, wenn er versteht, dass ich seinem Opa nix Böses will?‹

Sie hoffte es. Sehr sogar. So sehr, dass sie gar nicht verstand, warum eigentlich. Sie kannte diesen Thomas schließlich gar nicht – konnte sein Verhalten ihr da nicht eigentlich egal sein? Doch genau das war es nicht. Ganz und gar nicht.

*

Bei herrlichstem Wetter machte sie sich auf den Weg zur Kirche von St. Johann.

Auf den Straßen herrschte emsiger Betrieb, jedoch nicht so, wie sie es aus München gewohnt war. Dort waren die Straßen oft so dicht, dass man nur schwer von A nach B gelangte.

Hier spielte sich das Leben deutlich gemächlicher ab, wenn auch nicht weniger geschäftig. Die Verkäuferin vom Blumenladen war gerade dabei, ihre Auslage vor dem Schaufenster zu arrangieren, und nickte Leonie zu, als sie vorüber fuhr.

Anderswo hielten Leute ein kleines Schwätzchen, und trugen sich Grüße auf.

Sie konnte schon verstehen, warum viele Leute das Leben auf dem Land bevorzugten, die Menschen besaßen eine vollkommen andere Mentalität. Man kannte sich, man kümmerte sich umeinander. Leonie selbst kannte gerade einmal ihre direkte Nachbarin – damit hatte es sich aber auch schon.

Es war ein schöner kleiner Spaziergang durch St. Johann, der ihr richtig Freude bereitete, und ein guter Start in den Tag war. Alles war so idyllisch, die gepflegten Häuser, die hübschen Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte, die netten Leute, die einen freundlich grüßten, obwohl man sich doch gar nicht kannte …

Schließlich ging Leonie den Kiesweg hinauf, der zur Kirche von St. Johann führte. Ein schönes Gebäude! Sie blickte sich um, doch von Pfarrer Trenker war nichts zu sehen. Spontan beschloss sie, statt draußen zu warten, die Zeit lieber zu nutzen und einmal in die Kirche hineinzugehen, um sie sich einmal von innen anzusehen. Leonie mochte Kirchen, und diese hier schien ganz besonders schön zu sein.

Sie drückte die Klinke und zog die schwere Kirchentür auf, die sich aber einfacher öffnen ließ, als gedacht. Da war erst einmal nur eine Art Vorraum, der durch eine Glasscheibe von Kirchenschiff abgetrennt war. Sie entdeckte Plakate an den Wänden mit Terminen für anstehende Chorproben und Veranstaltungen. Außerdem gab es ein Gestell, in dem Ansichtskarten von der Kirche, St. Johann und Umgebung angeboten wurden, außerdem standen auf einem Tisch Opferkerzen, die man gegen eine Spende anzünden konnte.

Durch eine weitere Tür gelangte sie in die eigentliche Kirche – und hoch über ihr wölbte sich die Decke, mit einem herrlichen Fresko darauf, Szenen aus der Bibel waren meisterlich dargestellt. Sie war begeistert!

Und dann sah Leonie sich die herrlichen Fensterbilder an, die ebenfalls Motive aus dem Alten und Neuen Testament zeigten. Sie ging langsam den Mittelgang hinunter, bis zum Altar, vor dem sie einen Moment verweilte. Dann setzt sie sich still in eine Bank und wurde nachdenklich, als ihr ihre Großmutter in den Sinn kam.

Ob sie auch mal hier in der Kirche gesessen, nachgedacht und gebetet hatte? Es war ein eigentümliches Gefühl, jetzt so mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu sein. Aufregend, ein bisschen melancholisch, aber auch schön.

»Stör ich grad?«, erklang in dem Moment eine sonore männliche Stimme hinter ihr.

Leonie drehte sich um und erblickte Pfarrer Trenker.

Sofort erhob sie sich.

»Nein, nein, Sie stören gar net, Hochwürden«, sagte sie. »Immerhin sind wir verabredet.« Sie machte eine alles umfassende Handbewegung. »Wirklich eine wunderschöne Kirche.«

»Ja, ich bezeichne sie gern als das Schmuckstück von St. Johann.«

Leonie nickte. »Das ist sie in der Tat.«

»Und?«, erkundigte Pfarrer Trenker sich. »Schon aufgeregt?«

Ein bisschen war sie das tatsächlich, das musste Leonie zugeben. Allerdings wahrscheinlich in ganz anderer Hinsicht, als Pfarrer Trenker wohl meinte. Sicher, sie war auch aufgeregt, weil sich wohl gleich die Frage beantworten würde, ob der Josefinger-Johannes der Mann war, den sie suchte.

In dem Fall wäre ihre Reise hierher gleich in den ersten Tag von Erfolg gekrönt. Sollte sich herausstellen, dass es ein anderer Johannes war, würde ihre Suche weitergehen.

Der wahre Grund für ihre Aufgeregtheit jedoch war, dass sie Thomas wiedersehen würde. Und mit diesem Wiedersehen war die bange Frage verbunden, ob er weiterhin so unfreundlich zu ihr sein würde wie gestern, oder würde er wieder so freundlich zu ihr sein, wie kurz zuvor?

Sie hoffte auf Letzteres. Wie sehr sie das hoffte, irritierte sie aber gleichzeitig. Warum interessierte sie sich so für diesen jungen Mann, den sie doch gar nicht kannte?

Sie sollte eigentlich gar nicht groß über Thomas nachdenken. Denn er war doch im Grunde genommen unwichtig – solange es ihr nur gelang, irgendwie zum Johannes Josefinger zu gelangen. Mit ihm konnte man bestimmt reden, was man von seinem Enkelsohn nicht behaupten konnte.

»Es geht«, beantwortete sie daher Sebastian Trenkers Frage. »Ein bisschen vielleicht.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann, um Sie in Ihrem Anliegen zu unterstützen, Leonie. Und machen Sie sich wegen dem Thomas keine allzu großen Sorgen. In seinem Fall gilt das alte Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen net.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr, Hochwürden«, versuchte sie, zu scherzen.

Der Bergpfarrer lachte. »Wollen wir dann?«

Leonie nickte, und gemeinsam verließen sie die Kirche. »Sie sind aber ganz schön gut zu Fuß, Hochwürden«, sagte sie beeindruckt, nachdem sie ein Stück gegangen waren und Pfarrer Trenker ein ordentliches Tempo vorgelegt hatte.

»Sie meinen, für mein Alter?«, fragte der Geistliche belustigt.

Da wurde Leonie gleich verlegen. »Aber nein, so hab ich das net gemeint«, wehrte sie entschieden ab. »Ich stelle nur fest, dass ich net halb so fit bin wie Sie.«

»Da machen Sie sich mal nix draus. Die Berge und die Natur sind meine Leidenschaft. Leider komme ich net mehr so oft zum Wandern, wie ich es gern täte. Früher hab ich sehr oft Bergführungen gemacht, heutzutage nur noch recht selten.« Er schwieg kurz. »Was haben Sie eigentlich vor, wenn sich der Johannes als derjenige erweist, nach dem Sie suchen?«, brachte er das Thema wieder auf den Grund ihrer Reise nach St. Johann zurück.