Ein Held der inneren Sicherheit - Friedrich Christian Delius - E-Book

Ein Held der inneren Sicherheit E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

Roland Diehl, Ghostwriter und ironisch «Chefdenker» genannter Nachwuchsideologe im Verband der Menschenführer, erfährt eine totale Verunsicherung, als sein Chef entführt wird. Ohne ihn scheint ihm sein Karriereglück gefährdet. Vorübergehend löst sich Diehl aus seiner Rolle als cooler Interessenstratege und menschlicher Ideencomputer, um sich schließlich, befördert, in den neuen, alten Verhältnissen einzurichten. «Da ist Delius Meister: wie er die Sprache der Wirklichkeitslüge unterminiert und demaskiert.» (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt) Der erste Teil einer Chronik des Jahres 1977, des Wendepunkts der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: «Eine bissige Revue, sie zeigt Scharfblick und Zugriff». (Süddeutsche Zeitung)

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Seitenzahl: 334

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Friedrich Christian Delius

Ein Held der inneren Sicherheit

Werkausgabe in Einzelbänden

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Ereignisse der Zeitgeschichte ...Ich allein weiß, ...EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunEditorische NotizenRezensionen
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Ereignisse der Zeitgeschichte waren ein Ausgangspunkt, sind jedoch nicht Gegenstand dieses Romans. Personen und Institutionen sind die Produkte der poetischen Phantasie des Verfassers.

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Ich allein weiß, wozu ich fähig gewesen wäre …

Für die anderen bin ich höchstens ein Vielleicht.

 

Stendhal: Rot und Schwarz

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Eins

An diesem Morgen, als noch niemand wusste, welchen Verlauf die aufregende und abstoßende Geschichte nehmen könnte, war Roland Diehl es leid, in ein Netz ungewohnter Gefühle gezogen zu sein. Seit Tagen konnte er sich nur schwer mit etwas anderem beschäftigen als mit seinem Chef, Präsident des Verbandes der Menschenführer Alfred Büttinger, der auf so lächerlich einfache Weise entführt versteckt gesucht und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gezerrt war, phantastischer Gesprächsstoff, Futter der Schaltzentralen und schon zum Objekt erstarrter Name auf dem schwärzer bedruckten Zeitungspapier.

Seit Tagen wurde die gewaltige Aufmerksamkeit auch auf Roland Diehl und die anderen Angestellten des Verbandes geladen, die aus ihrer jahrelangen Anonymität plötzlich entlassen waren und so viele panische Regungen zeigen mussten wie nie zuvor. Eingeschüchtert vom überschäumenden Beileid und noch hilflos in Rachegedanken, hatten sie mehrere Tage in immer unbequemerer Spannung vor den Bildschirmen auf eine Lösung gewartet und sich immer häufiger dabei ertappt, eine grausige, in die Länge gezogene Operette auf der Fernsehbühne zu verfolgen.

Erschossen waren Büttingers Beschützer, und der Schreck darüber wurde täglich wiederholt, vielfach vergrößert. Für Roland Diehl war der Schreck schon abgetan, obwohl er mehrmals in Büttingers Wagen neben Büttinger gesessen hatte. Diehl war nicht der Mann, der als Zuschauer eines Feuergefechts Entrüstung spielte oder zu spielen hatte. Der Überfall war für ihn eine vielleicht ungewöhnliche, in ihrer Perfektion aber kaum noch brutal wirkende Filmszene. Die Toten Statisten mit einer kurzen glänzenden Karriere, die Täter Opfer spätestens in der Schlussszene. Um so empörender war die Situation dessen, der überlebt hatte, um den nun gefeilscht wurde, der von seinen Feinden noch am Leben gehalten und von seinen Freunden schon zum Tod verurteilt war, was keiner wissen durfte und jeder ahnte. Es gehe um eine Herausforderung, es gehe um Büttingers Leben, und doch sah man ihn live vor den Kameras hingerichtet sterben, obduziert und schon zum Denkmal erhoben, bevor er umgebracht war.

Das Unerträgliche für Diehl war nicht mehr dieser Vorgang, sondern das Andauern dieses Vorgangs. Vor jedem möglichen Happyend unterbrachen die Sprecher der Nachrichten die Vorstellung und riefen zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl auf. Hinter den Barrieren Geheimnisse. Vor den Barrieren war Ruhe befohlen, Geschäfte wie üblich bitte, und alle Vorgesetzten gaben die Parole aus, die Arbeit müsse ganz normal getan werden, jetzt erst recht, das sei in Büttingers Sinn. Auch Diehl hatte versucht, mit Durchhalteparolen über die Runden zu kommen, vergeblich, und nun fing er an, ohne es recht zu merken, es dem Chef übelzunehmen, dass der immer noch in Gefahr, immer noch nicht lebendig oder tot gefunden war und beständig alle Gehirnzellen besetzte und blockierte. Diehl merkte nur, wie lästig es war (er nannte das komisch), sich so schwer ablenken und keine andere Spannung gönnen zu können, immer wieder sich mit Büttinger befassen zu müssen, ihm ständig nachzuspüren in immer schwerer zu regulierenden Gedankenketten. Er wollte endlich frei sein von Büttinger, ihn abschütteln.

Als ihm das klarwurde, an diesem Morgen, im Bett und allein und von kriegerischen Träumen geschlagen, erschrak er, weil er nicht sicher war, ob er mit solchen Gedanken Büttinger schon aufgegeben hatte.

 

 

Nie wird es reichen, die Städte zu durchsuchen, dachte Diehl, als er aus der Tiefgarage ans Licht und auf die Rodenkirchner Hauptstraße fuhr. Nie wird es reichen, die Hochhäuser und die Altbauten zu observieren, gerade die unscheinbaren Gegenden verdienen jeden Verdacht, die friedlich genannten Dörfer und Landschaften, Büttinger muss doch irgendwo zu finden sein. Man müsste die Mittelgebirge durchkämmen, jeden verfallenen Schuppen in der Eifel erfassen, durch Weinberge kriechen und über die Böschungen der Bahnlinien, man müsste den Panoramastraßen folgen und die Stauseen ausloten, Autobahnbrücken prüfen, die Gesichter der Besucher vor den Kassen der Wildparks, die hohlen Denkmäler auf den strategisch gut gelegenen Soldatenfriedhöfen, Verstecke überall. Ich würde über die Landstraßen fahren, Wälder inspizieren, Steinbrüche und Sägewerke, mein Leutnantsblick, mein Orientierungssinn gegen Wochenendhütten, Scheunen und Forsthäuser.

Der Morgenverkehr nur mit kurzen Staus, Waffenstillstand aller Hupen, unnahbar die Fahrer zwischen ihren Stoßstangen sich dem Tag entgegenboxend, und wieder ging Diehl alles zu langsam. Der dichte Verkehr, die abgeblockten Überholmöglichkeiten genügten, diese Enge empfand er wie fast jeden Morgen als Beleidigung seiner Person und seines BMW.

Er sah in fremden Landschaften vor gesperrten Durchfahrten Roland Diehl Sondergenehmigungen aus der Tasche ziehen, im Rallyetempo über Sandwege jagen und aussteigen, wo die Gegend verdächtig riecht, wo er selber gern jemanden verstecken würde. Du wirst den Wagen stehen lassen und auch die Schäferkarren nicht schonen, Unterstände für Wanderer und Waldarbeiter, Waldkapellen, was ist mit den Futterkrippen und den riesigen Ameisenhaufen. Such weiter, nicht aufgeben, wenn du schwitzt, kühlt dich Regen, bevor dir die Nässe ins Hemd beißt, zieht die Sonne wieder auf, such weiter, auch im Unterholz, such weiter.

So stob er durch Wälder, bis er sich wieder besann, dass er Richtung Innenstadt fuhr, die schlafsichere Strecke, immer noch in Bewegung, und dann stand er doch wieder vor den Bremslichtern eines Kleinwagens. Am liebsten hätte er jetzt mit seinem 2002 Cabrio den ganzen VW-Konzern auf den Schrottplatz geschoben oder den Rhein zubetoniert und die vor ihm fahrenden Autos rechts überholt. Er wünschte, mit allen Hindernissen fertigzuwerden, er wünschte Ford und Opel die Pleite, die Quellen des Rheins verstopft, die Bäume zurückgestoßen zu den Wurzeln und vorbei, endlich vorbei, alles umlegen oder wegdrängen, was sich in seiner Nähe zu langsam bewegte. Er wusste nicht mehr, was ihn so in Fahrt brachte.

Dann sagte er laut vor sich hin: Was geht mich Büttinger an. Und lehnte sich dem Rückspiegel entgegen, um nachzuprüfen, ob er sorgfältig genug rasiert war. Die eigenen Augen musterten ihn feindlich. Sein Gesicht gefiel ihm nicht, verschlafen, blass, eine ratlose Schwere. Der Mund immerhin bewahrte Haltung. Rasch sah er wieder auf die Straße, zufrieden nur mit den zuverlässigen Stacheln des Schnurrbarts.

Die Nacht saß ihm noch in den Knochen, der letzte Traumschreck fiel ihm wieder ein, ja, erschossen, er und Tina abgeknallt mit einem MG, die Freundin zuerst.

 

 

Wir laufen auf eine Villa zu, über hellgiftgrünen Rasen zum Rhein hinab. Die Villa hat früher Adenauer gehört, das Erdgeschoss ist zur Besichtigung freigegeben. Wir schließen uns einer Führung an. In jedem Raum werden einzelne Möbel aus Adenauers Besitz verkauft, vor allem Stühle. Ich habe einen Schaukelstuhl schriftlich vorbestellt, nach längerem Suchen finden wir den, ein schönes Stück, gepolstert, mit Namensschild, aber in meinem Namen fehlt das h. Auf der Rückseite des Schildchens in winziger Schrift der Preis: DM 1980. Das ist mir zu teuer, das ist Tina zu teuer, der Schaukelstuhl wird nicht gekauft.

Als wir hinaustreten auf den Rasen, blendet uns das kräftige Grün. Ein Sonntagsbesichtigungswetter und viele Leute. Da bemerken wir drei Leute mit MG, sie haben uns erwartet. Sie drängen uns in einen Winkel des Parks am Rheinufer, wo schon mehr Menschen zusammengetrieben sind, die offenbar auch keine Stühle gekauft haben. Die Exekution erfolgt rasch, aber noch bin ich am Leben. Tina liegt erschossen an meinen Füßen, ich wundere mich, dass ich kein bisschen traurig bin. Ich fühle, ich lebe. Ich denke, ich werde das jetzt alles organisieren müssen, immer bleibt alles an mir hängen. Sibylle fällt mir ein, Tinas Freundin, bei ihr werde ich landen, wenn ich ihr Tinas Tod berichte und sie tröste. Da merke ich, wie mir das Blut aus einer Wunde am Bauch quillt, ich halte die Hand ganz fest darauf und spüre, im Umfallen, der Druck von innen ist doch stärker.

 

 

Das Haus des Verbandes der Menschenführer, das Diehl bei jedem Test spontan als sein Haus bezeichnet hätte, war von Polizei umstellt. Er hielt inne. Niemals war er hier stehen geblieben, niemals hatte ihn jemand vor diesem Haus aufgehalten. Immer sah er sich so: Nach dem Spurt von Tiefgarage zu Tiefgarage geht der Einsachtundsiebzigmann Roland Diehl vom benachbarten Bankhochhaus, in dessen Kellern sein einziger Schatz, der silberblaue BMW 2002 Cabrio, verwahrt ist, mit federndem Schritt und oft ohne Aktenkoffer den kurzen Weg zum Haupteingang des Hauses der Menschenführer, wirft vielleicht noch einen gelassenen Blick die sechzehn Stockwerke hinauf, und auch wenn die Gedanken schon durch den Terminkalender springen, vorgreifen auf die Sitzungen und Diktate des Tags, behält er den locker entschlossenen, den festen Gang eines Mannes von Format. Hier hält mich keiner auf, dies Haus ist mein Haus, am Heuss-Ufer im Norden der Stadt, in der Mitte des Landes, Schaltstelle für Interessenkoordination in allen grundsätzlichen Fragen der Wirtschaft, dies Haus ist mein Platz meine Welt, ich gehe direkt drauf zu, die Pförtner grüßen mich, hier gehöre ich hin, ich Referent Personalführung und Spezialist für Grundwerte, ich mit dem Spitznamen Chefdenker und bevorzugter Ghostwriter des Chefs Büttinger, hier in der Sonne unter der Chefetage.

Noch nie hatten so viele Menschen vor dem Haus gestanden, es hatte noch nie Demonstrierer angezogen, noch nie Schutz gebraucht vor denen, die sich nicht führen lassen wollten. Und niemals ein Anlass für Haussuchungen oder polizeiliche Maßnahmen.

Diehl wunderte sich einen Moment lang über die Polizei, dann wunderte er sich nur noch über den ungewohnt direkten Anblick. Das war auf einmal kein Fernsehen mehr. Polizisten wurden jetzt oft aus ihren unterirdischen Kasernen hinausgefahren und ins Licht gestellt und ließen sich, gegen Bezahlung der Überstunden und Gefahrenzulagen, in ihre gebutterten Gesichter sehen und sollten den Angestellten innerhalb und außerhalb der Bannmeilen das Vertrauen in eine nicht näher bekannte Sicherheit zurückgeben. Einzeln wären diese Jungen mit dem Stolz auf ihre blonden Schnurrbärte von den Einsatzorten weggerannt, die so furchterregend waren, weil trotz aller Kriegsbereitschaft nichts Böses geschah. Aber in Haufen Schulter an Schulter, Befehl im Rücken, Waffe und Funkgerät vorm Bauch, in einer stabilen Uniform und in festem, glänzendem Schuhwerk auf dem zarten Rasen, der die Unruhe in den Kniekehlen dämpfte, so ausgestattet sprachen die Jungen gehorsam von ihren nervösen Zeigefingern, konnten vor die laufenden Kameras gestellt werden und gaben so den Ängstlichen Antwort: Wir sind da, wir bringen die Sache wieder in Ordnung.

Diesen Trost brauchte Diehl nicht, aber er hatte auch keinen Widerwillen dagegen, Polizisten neben sich zu sehen. Ungewohnt war nur der direkte Anblick, live. Er bemerkte wie zum ersten Mal die Farben, das verlegene Grün der Uniformen im Kontrast zur blendenden Fensterfront des Hauses. Im Fernsehen ist dies Grün immer viel kräftiger. Und dann der Glanz der Schuhe und Stiefel, der ihn einen Augenblick lang abstieß. Die alte Abneigung gegen Schuhwichse, dachte er, ein Glück, dass die Sonne nicht scheint.

 

 

Nachrichten und Kommentar. Jedes Wort das in diesen Tagen – Schweigen auch über Lebenszeichen – So ließe sich die ganze Strategie nicht mehr halten – Die Öffentlichkeit tappt nach wie vor – In den offiziellen Kontaktdokumenten – Es spricht für die Stärke der Demokratie – An Schärfe zugenommen – Aufwärmen sagt man nicht mehr das heißt jetzt – Noch nie wurden auf einer großen Kölner Messe so viele Ordensfrauen gesehen – Konnten Kantinenköche auch ein Großverpfleger-Forum – Warum müssen die Maschinen derart niedrig fliegen – Preiskenner greifen sofort zu – Durch regelmäßige Kontrollen bei unseren Knüpfereien in Marokko – Ist Gleiches mit Gleichem zu vergelten – Alle die heute nach der Todesstrafe rufen sollten sich – Jetzt ist die Saat – Durch und durch beste Eiche durch und durch Natur – Da viele Maschinen doch bedeutend länger arbeitstüchtig seien als erwartet – Konnte diese dunkel eingebraute obergärige Biersorte das klassische Export erstmals überholen – Niki Lauda hat mich betrogen – Heim- und Pflegetrakt wurden durch Lichtanlagen verbunden – Ihre Kunden sind Generäle Manager Diplomaten doch jetzt sind die Mädchen von Madame Claude für alle da – Genau zwischen die Augen musst du ihn treffen oder dein erster Fehler ist dein letzter: Tintorera Meeresungeheuer greifen an – Der Staat Partner des Autofahrers – Autoindustrie hat erkannt dass der Autokäufer ihr unmittelbarster Partner – Experte für offene Kamine – Sofortauszahlung auch ohne Bürgen – Internationales Unternehmen sucht seriöse Familien die für ein lukratives Dankeschön – Tagsüber meist stärker bewölkt wenig Niederschlag.

 

 

Ordentlich die Papiere auf dem Schreibtisch, Blätter mit Stichwörtern, geheftete Xerokopien, Zeitungsausschnitte, Fassungen der letzten Büttinger-Reden, Gutachten und Aufsätze, alles auf drei sauber gekanteten Stapeln, als seien sie schon abgetan wie Ablagen. Der Schreibtisch ohne Chefwürde, ohne Foto von Frau Kind Hund, ohne repräsentative Briefbeschwerer. Diehl repräsentierte nichts. Seine einzigen Insignien waren Aschenbecher Telefon Diktiergerät. Hier, auf diesem kahlen Feld sollten die Papiere sprechbar werden, lebendig.

Der Pförtner hatte nicht gewusst, weshalb Polizei aufmarschiert war. Diehl wollte Moos fragen, den Abteilungsleiter drei Türen weiter, aber ehe er den Hörer aufnahm, ging er dicht ans Fenster, sah hinab. Nichts mehr, niemand stand unten auf dem Rasen. Er nahm sich vor, auch darüber nicht zu staunen.

Ein heller Morgen über dem Rhein, am anderen Ufer verharrten die Bäume und niedrigen Häuser in ihren altgewordenen Farben. Nur ein Hochhaus, irgendwie zu kurz geraten als Fixpunkt, ragte unglücklich in den Dunst. Die angekündigten Niederschläge hatten noch nicht eingesetzt. Ohne jeden Gedanken blickte er hinaus. Als er merkte, dass er einem wohligen Gefühl der Entspannung nachgab, ging er rasch zurück zum Tisch. Er fasste mit beiden Händen an die Schreibtischkante. Du musst dich besser kontrollieren.

Der Terminkalender befahl, zwei Büttinger-Reden zu entwerfen. Die eine nur zu überarbeiten und zu würzen, ein fachspezifischer, von der Konjunktur- und der Medien-Abteilung schon halbwegs stilisierter Rundblick für den Niedersächsischen Bankentag. Die andere für eine Tagung in Goslar, Menschenführer in der Krise?, geplant als grundsätzlicher, auf öffentliche Wirkung zielender Appell. Beide Reden in zehn Tagen zu halten, acht Tage vor dem Termin wollte Büttinger immer die fertigen Entwürfe auf dem Tisch haben.

Diese Arbeit hatte Diehl lang genug aufgeschoben, hatte gewartet auf Büttinger, ein klares Wort, eine Entscheidung, vielleicht die Möglichkeit einer Lösung. Wie kann ich für Büttinger schreiben, wenn ich nicht weiß, ob er diese Reden überhaupt halten kann. Rücksprache bei Bräsig, Generalgeschäftsführer: Natürlich schreiben Sie, Diehl, wenn Büttinger nicht spricht, spricht ein Vertreter, absagen können wir immer noch. Knapp und schroff hatte Bräsig das gesagt, aber leise, als sei ihm diese Entschiedenheit aufgezwungen worden, oder fühlte er sich schon als nächstes Opfer? Ein Opfer der ständigen ergebnislosen Krisensitzungen war er schon, immer leise gereizt.

Den unsinnigen, den fadenscheinigen Befehl im Rücken, so saß der versierte Ghostwriter Roland Diehl vor seinen Papieren. Vorwurfsvoll lauerte das Diktiergerät auf der Tischplatte, als hätte es ihn ertappt beim Schweigen oder bei verbotenen Abschweifungen. Er hatte immer noch nichts zu diktieren, das Gerät zu füttern, nicht einmal eine gute Ausrede. Er deckte schnell eine Zeitung darüber. Das Material für die Goslarer Rede lag vor ihm, es fehlte ein Konzept. Zehn Tage, selbst wenn Büttinger in dieser Minute freikommt, wofür nichts spricht, braucht er zehn Tage Erholung Vernehmung Pause, trotzdem fällt Bräsig nichts Besseres ein als: Schnauze halten, weitermachen.

Alle andern im Haus haben es leichter, sagte sich Diehl, sie haben zu rechnen oder zu analysieren, haben klare Anweisungen überschaubare Aufträge beschränkte Arbeitsgebiete, sind aufgehoben in der Hierarchie, bedienen die eingespielte Maschine des Verbandes. Ich aber bediene den Chef, der einfach weg ist, spurlos. Ob er überhaupt noch lebt, ich weiß es nicht, ob er je wieder Reden halten wird, ob in zehn Tagen überhaupt solche Reden gehalten werden, ob wir da nicht ganz anders losschlagen müssen, ich weiß es nicht. Keiner weiß es. Aber den andern kann das egal sein, sie haben es leichter. Auch Tina hat es leichter. Hostess Tina macht wie üblich ihre Führungen für Ausländer, Multi-Media-Show, Frage-Antwort-Spiele, Einblicke ins Seminar-Center Overath, für die Herren aus Neuseeland ist es egal, ob der Chef der Menschenführer Büttinger heißt oder Piefke, am Konzept Menschenführung ändert sich für die alle nichts, auch für Tina nicht, für wen denn. Er hatte das Verlangen, Tina Vorwürfe zu machen.

 

 

Kaltgestellt, mitten in der Nacht hatte sie ihn ausgesperrt und auf der Straße versauern lassen, Ausgesperrter Chefdenker irrt durch Köln. Weil er nicht zu einem harmlosen Geburtstagsessen bei ihrer Freundin mitdackeln wollte, weil er keine Lust gehabt hatte auf ein Dutzend Lehrer und keine Lust, von allen über Büttinger ausgequetscht zu werden. Also Krach, sie lässt ihn mit Verwünschungen allein. Und er gerät verspätet in Wut, rast mit dem Wagen einmal um die Stadt Autobahnring, die beste Therapie gegen Magengeschwüre einmal voll aufs Gas, dann zum Rallye-Club, dann nach Hause und vom öden Fernsehprogramm wieder hinausgejagt, so hält er am Bahnhof, kauft einen dicken Strauß Chrysanthemen und klingelt um halb elf bei den Geburtstagsleuten, entschuldigt seine Verspätung mit Arbeit, Büttinger, Sie wissen schon, das ganze Haus steht Kopf, nein, nichts Neues.

Er versucht mit Tina zu reden, sie weicht weg. Sie soll wissen, dass er nur ihretwegen da ist, er will sich schnell und wild versöhnen, am liebsten sofort im Bett. Er muss warten, auf billigen Sesseln Konversation, er muss Gespräche von Lehrern anhören über irgendwelche Deckenplatten, die in irgendwelchen Schulen angeblich giftige Gase ausströmen, und dazu endlos der Streit, ob der SPD-Stadtrat oder der CDU-Hersteller oder der FDP-Architekt für Gestank und Gift verantwortlich sind. Beinah schaltet er sich ein, so viel Gift in Deckenplatten, dass sich jemand vergiftet, das gibts doch nicht. Aber er hütet sich, Streit anzufangen und den Zorn eifriger Lehrer auf sich zu ziehen, alle mit dem Umwelttick. Er ist froh, dass ihn das alles nichts angeht. Er sieht immer wieder zu Tina, er findet ihr Gesicht schön, er beobachtet sie zum ersten Mal in Ruhe beim Sprechen, mit ihrer Freundin Sibylle geschützt in der Ecke, er begeistert sich für sie wie ganz am Anfang, diese klaren, lustigen Mundbewegungen, und ohne jedes Hostessenlächeln, sie ist doch kein Typ Puppe, liebe ich sie vielleicht doch. Endlich um zwölf draußen, sie lässt sich umarmen, er denkt, alles wieder gut, und fragt: Zu dir oder zu mir?

Sie sagt: Zu mir. Dann ist sie in ihrem R 5 und plötzlich fort. Bis er mit seinem weiter weg geparkten Wagen folgt, ist sie längst über die nächste Ampel entwischt. Er rast nach Sülz, zu ihrer Wohnung. Da ist kein blauer R 5, kein Licht, da öffnet auch nach dem fünften Klingeln niemand, da geht niemand ans Telefon. Er jagt nach Rodenkirchen, aber auch vor seiner Tür wartet sie nicht, also zurück, auch beim zweiten Versuch in Sülz kein Licht, keine Antwort. Roland Diehl ausgetrickst und ausgesperrt, dumme Zicke, was für eine zickige Rache, das lass ich mir von der nicht bieten.

Am nächsten Tag mit idiotisch langen Telefongesprächen alles wieder hinbügeln, alles soll besser werden. Aber irgendwas hat sie noch.

 

 

Der Verband der Menschenführer ist, so begann Tina Schweizers Stimme auf dem Tonbandtext der Media-Show für Besucher, der Zentralverband aller deutschen Wirtschaftsverbände. Warum Menschenführer? Die zum Teil aus dem vorigen Jahrhundert stammenden und in der Bevölkerung nicht immer positiv gedeuteten Bezeichnungen wie Unternehmer, Führungskraft, Arbeitgeber, Industrieller, Manager usw. haben sich schon lange als unzeitgemäß erwiesen. Sie wurden mit dem Amtsantritt Alfred Büttingers vor zehn Jahren ersetzt durch den übergeordneten und zur Menschlichkeit verpflichtenden Begriff Menschenführer.

(Dias: Haus der Menschenführer, Grundsteinlegung, Richtfest, Einweihung.)

Bei Schulklassen oder Gruppen aus Entwicklungsländern beantwortete Tina Schweizer deutsch oder englisch französisch spanisch die Frage: Was ist ein Menschenführer?

Jeder in der Wirtschaft Tätige ist Vorgesetzter anderer Menschen. Nur wenn er die ihm unterstellten Menschen richtig führt, kann der Betriebszweck erfüllt werden. Ein Menschenführer, mag er Manager oder Eigentumsunternehmer sein, weiß, dass er ohne die Menschen nichts ist, weiß, dass in der Wirtschaft der Mensch immer im Mittelpunkt steht. Jeder Menschenführer sieht in seinem Untergebenen zuerst den Menschen und dann den Angestellten oder Arbeiter.

(Film: Menschen in kleinen und größeren Gruppen, Betrieb, Einkaufsstraße, Stadion.)

Alle Besucher hörten in ihrer Sprache die sympathische Frauenstimme: Der vorbildliche Menschenführer zeichnet sich durch viele Eigenschaften aus: schöpferische Phantasie, Risikobereitschaft, kaufmännisches und zukunftsorientiertes Denken, Entscheidungs-, Dispositions- und Motivationsfähigkeit, Aktivität, Kreativität, Innovations- und Anpassungsbereitschaft und den Blick fürs Ganze.

(Film: Menschenführer in einer Sitzung, Gespräch auf Großbaustelle.)

Voraussetzung für die effektive Führung der Menschen und für wirtschaftliche Leistung ist jedoch die Organisierung der einzelnen menschenführenden Unternehmen zu Gruppen und Verbänden. Ihr gemeinsamer Dachverband ist der in diesem Haus ansässige Verband der Menschenführer Deutschlands, VMD. Hier arbeiten fünfhundert Fachkräfte, die meisten von ihnen wissenschaftliche Experten, an der Koordinierung, Aktivierung und Intensivierung der gemeinsamen Ziele.

(Dia: Schaubild Aufgabenbereiche.)

 

 

Spitzname Chefdenker, Diehl nahm den Titel gern an, der im Haus kursierte. Der schmeichelte, das war nicht mehr Wirtschaftsjournalist, das war nicht mehr Personalführungstheoretiker. Chefdenker war Autorität und Selbständigkeit, gerade auch weil einige Leute im Haus das Wort ironisch meinten, die lauernden Neider. Der Chefdenker wartet nicht wie die anderen Angestellten beflissen auf die Aufträge von oben, sondern er ist oben, er denkt mit und für Büttinger, er bietet seine Ideen dem Chef aller Chefs zur freien Bedienung an, er gehört in den Braintrust, er ist dabei, wenn die gesellschaftspolitischen Perspektiven entwickelt werden, die guide-lines für die Verbandsarbeit und für die Grundsatzreden.

Der Aufstieg des mit 37 Jahren zu jungen, hergelaufenen Kerls, der nicht mal im Betrieb oder als Jurist gedient hatte, der Aufstieg des vom Rundfunk zum Verband übergelaufenen Exjournalisten in den engsten Chefhimmel störte die Konservativen im Haus, die Bürokraten Volljuristen Vollidioten. Er wusste das, das war ihm gleichgültig. Büttinger stand hinter ihm und warf seinen schützenden Schatten.

Es machte Diehl nichts aus, immer noch in der Etage Personalführung zu sitzen, obwohl er seit Monaten mehr mit Reden und Expertisen zur Gesellschaftspolitik beschäftigt wurde als mit Führungstheorien. Es gab gegenwärtig kein klares Anforderungsprofil für ihn, keine definierte Position, keinen Titel. Auch das störte ihn nicht, er war ja oben, ein Chefdenker. Er selbst nannte sich Ghostwriter und jonglierte bei Partygesprächen gern mit den Übersetzungen, Geisterschreiber, Gespensterschreiber, Schreibdenker, Vorschreiber, Neger, PR-Kreativtexter und so weiter, so machte er sich lustig.

Was bin ich, er hatte einmal überlegt, welche typische Geste er beim heiteren Beruferaten vorgeführt hätte. Er hätte nicht auf einem imaginären Filzschreiber gekaut, er hätte vielleicht die Lippen vor seiner leeren, gekrümmten linken Hand bewegt – Denker oder Schreiber, Hauptsache das Diktat. Hauptsache die Wirkung, ich gebe Büttinger menschliche Züge, ich helfe ihm, mit Worten Kontakt zu den Leuten zu finden. Parole: Es muss Spaß machen, Büttinger zuzuhören, es muss unter die Haut gehen, die Zuhörer dürfen in keiner Minute das Gefühl haben, umsonst vor dem Redner Büttinger zu sitzen.

 

 

Parole: Es muss unter die Haut gehn. Er war geladen, er wollte einen Schlag führen, endlich bekam er Lust zu arbeiten. Besser für die Schublade als grau und blass werden wie die Wand da, die Arbeit muss ganz normal wie üblich getan werden, jetzt erst recht.

Diehl nahm den Aufsatz eines der Haus-Philosophen vor. Dessen Thesen sollten für die Goslarer Grundsatzrede den Einstieg liefern, das war neulich mit Büttinger schon besprochen.

Die dem Verband befreundeten Professoren aus den Gebieten der Politikwissenschaft, der Soziologie und des Rechts, die mit Gutachten und Vorträgen zu Grundsatzfragen beauftragt wurden oder von sich aus Aufsätze und Bücher in die Chefetage schickten, wurden von Diehl gern Philosophen genannt. Philosophen, weil sie hereinstolzierten in der Aura der Alleswissenden. Als abgebrochner Volkswirtschaftsstudent, Journalist und aufsteigender Chefdenker verweigerte er solchen würdevollen Anstrengungen grundsätzlich den Respekt, auch wenn ihm die Herren nützliche Stichwörter lieferten.

Der Verband hatte einen großen Bedarf an Argumenten, neue und neu aufgegossene. In immer anderen Variationen war zu beweisen mit Fakten mit Wörtern, dass die Verbandsinteressen Gesamtinteressen, dass der Verband Pionierarbeit Zukunftssicherung Grundlagen, keine Freiheit ohne Verband, ohne Menschenführer kein Leben. Die Argumente waren am haltbarsten, wenn sie aus der Wissenschaft kamen, überparteilich objektiv redlich. Die Philosophen formulierten Zuspruch Ermutigung Appelle, unnötig nur der geduckte, nach oben schielende Blick, die stolze Unterwerfungsgeste, mit der sie sich für unbestechlich hielten. Merkwürdig blieben ihre Verbeugungen vor der geheimnisvollen millionenträchtigen erfolgsgefärbten Arbeit der Menschenführer, merkwürdig die Genugtuung, aus der akademischen Sippe erhoben und von den Menschenführern zitiert zu werden oder vor ihnen reden zu dürfen. Das waren Diehls Leute nicht, aber sie legitimierten das Schaffen; sie gaben der harten Tätigkeit des Wirtschaftens menschliche Würde und Werte.

Ein besonders Tüchtiger war Meyer-Stäubl, München, der gerade etwas über das schwindende Risikodenken der Menschenführer abgeliefert hatte. Hauptthese: Aus gewachsener Unsicherheit (Menschenführer Zielscheibe der Staatsfeinde) und Zukunftsungewissheit sei heute ein falsches Anspruchs- und Sicherheitsdenken entstanden, das für das wirtschaftlich-menschenführende Denken und Handeln gefährlich werden könne.

Davon wollte Büttinger, davon konnte Diehl ausgehen.

 

 

Notizen. Anfang mit dramatisch zu schildernden Angriffen aufs Menschenführertum, aktuellste Beispiele. Hier könnte der Chef – Diehl setzte jetzt einfach voraus, dass Büttinger diese Rede früher oder später redet – eigene Erfahrungen einflechten. Die zweite Angriffslinie, schwächer geworden, aber nicht zu unterschätzen, Angriffe aus dem eigenen Lager, Beispiel Club of Rome Alt-Herren-Romantik, Beispiel Ökopessimismus und Verschmutzungsphobie. Drittens Forderungsterror des Partnervereins, der sich immer unpartnerschaftlicher gebärdet und dreist vorgibt, die Interessen der von uns geführten Menschen besser zu vertreten.

Weiter: Gefährlich, sich von diesen massiven Angriffen einschüchtern zu lassen. Rundblick mit Selbstbewusstsein. Käufer und Kunden zufrieden mit uns, letztlich auf unserer Seite. Noch nie so zufrieden wie heute – Umfrageergebnisse. Märkte expansiv, Wachstum etc. Expansion und Zufriedenheit auch von Umweltperfektionisten nicht gefährdet, wenn wir flexibel. Verhältnis Menschenführer/Gesellschaft im Kern gesund, kein Anlass für kleinmütige Prognosen. Tipp von Meyer-Stäubl: Zurückdenken an Währungsreform, als Zukunft völlig ungewiss und Menschenführer trotzdem die richtigen Entscheidungen.

Trotz absurder Sozialpolitik, Beispiele, totaler Versorgungsstaat, Beispiele, trotz Lohnunmaß, Beispiele, Angriffen auf Freiheit und Marktfreiheit, Beispiele, darf kein Selbstmitleid, darf kein falsches Sicherheitsdenken. Parole: aktives Selbstbewusstsein. Offener und offensiver über das Gute reden, das wir tun. Offensive des Erfolg-der-uns-recht-gibt. Von dieser Basis her für Interessen kämpfen. Offensiven koordinieren auf internationaler nationaler regionaler lokaler Ebene. Kontakt unter uns intensivieren, mit einer Stimme reden, vereint marschieren, getrennt schlagen.

Zügig hatte Diehl dies Konzept notiert. Den letzten Gedanken, das wusste er schon, würde er nicht so direkt bringen, schlagen ist zu aggressiv zu negativ, schließlich sind wir kein preußisches Heer. Er dachte weiter, es fehlt noch ein Plot, keine Rede ohne Umweltschutz. Schon das Wort ist hässlich demagogisch, es suggeriert, wir seien gegen Umweltschutz. Wir müssten das Wort ausschalten, wir müssten das für uns reklamieren oder den aggressiven Gehalt zurückgeben oder beides. Am besten den Begriff polemisch gegen seine Anhänger wenden, Dialektik für Manager, angewandte Dialektik Regel 3. Ja, wir brauchen Umweltschutz, aber vor allem brauchen wir geistigen Umweltschutz, die geistigen Umweltbedingungen für eine Leistungsgesellschaft müssen verbessert, ja, das ist ein zündendes Stichwort, das wird dem Chef gefallen, das bringt hohe Zitierquoten, ich schreibe mal hin: Wichtiger als der gewiss bedeutende materielle Umweltschutz ist heute der geistige Umweltschutz, die entschiedene Stellungnahme gegen die Vergiftung der Gehirne, ja, das wird ziehen.

Er fühlte sich stark nach diesem Einfall, wollte sofort mit dem Diktieren anfangen und legte die Papiere zurecht. Frau Majonika, Kaffee bitte, sagte er ins Telefon. Ganz im Auftrieb der Konzentration nahm er das Mikro in die Linke und sprach die ersten Sätze, die gelangen. Er hörte Büttingers laute Stimme die Wörter betonen, Goslar wird eine große Rede.

 

 

Aufstiege zum Chefdenker. Diehl?

Nein, nicht verwandt oder verschwägert mit der Nürnberger Diehl-Gruppe, kein Anteil an Waffen und Weckern, leider leider.

Mehr brauchte er nicht zu sagen, wenn er bei Empfängen Partys Tagungen sich lässig vorstellte. Mehr wollte niemand wissen, ihm war es recht so, auch seine Bekannten im Verband und im Rallye-Club wussten gerade noch, dass er mal beim Rundfunk war und immer ein schnelles Auto brauchte.

Ein Millionenerbe, ein Sitz im Familienpool, ein Billett für die Society der oberen Tausend, das wären die schlechtesten Voraussetzungen gewesen für die Arbeit im Haus der Menschenführer. Ein angestellter Chefdenker ist aus anderem Holz.

Roland Diehl hat das Glück gehabt, dass zwei Jahre nach seiner Geburt eine englische Bombe nicht ihn traf, sondern zwanzig Meter weiter die Friedberger Schuhcreme-Fabrik Diehl u. Söhne. Er hätte diese Klitsche nie haben wollen, in den besten Zeiten eine Belegschaft von 34, die besten Zeiten waren Mitte Ende der dreißiger Jahre, Vater Partei, und mehr als die Hälfte der Ware ging an die Wehrmacht. Jedes achte Paar Wehrmachtstiefel, behauptete die Mutter noch in den fünfziger Jahren, wurde mit unserer Creme gepflegt, und in Hessen haben wir nach Erdal den zweitgrößten Marktanteil gehabt mit Ledolcreme. Schon dieser Kleinkrämerstolz zu Hause widerte ihn an, so weit wollte er nie absinken, über diese dumpfe Selbstbestätigung wollte er hoch hinaus. Zwar gefiel ihm die Vorstellung, Diehls Schuhcreme aus Friedberg an allen Fronten rundum in Europa, aber er hatte es nie bedauert, dass die Bomben auch bis Oberhessen kamen im Sommer 44. Kein Fass mit Wachs, kein Fass Terpentinöl, kein Eimer Vaselinöl, nur ein Krater und ein paar Stapel Blechdeckel und Backsteine aus den Grundmauern, so strickten die Eltern die Legende von der Fabrik weiter an sonntäglichen Kaffeetischen. Dann kam fast immer eine Pause. Nun hätte man fortfahren müssen mit Rolands Vater Dietrich, der, als fabrikloser Fabrikbesitzer an die Westfront geschickt, sich von den Amis totschießen ließ vermutlich, nicht einmal seine Leiche wurde gefunden. Aber darüber durfte in der Familie nicht gesprochen werden, Rolands Mutter hätte jeden Versuch unterbunden, und darin mit ihr einig war Rolands zweiter Vater, Onkel Paul.

Die Mutter wollte im Frühjahr 45 zu ihrer Familie zurück auf den Hof im Westerwald, der Kinderwagen schon gepackt mit Wegzehrung unter der untersten Decke, da war der Feind ganz rasch in Friedberg. So blieb sie gefangen in der Wohnung neben dem Krater, und ihre Organisationserfahrung aus der NS-Frauenschaft bewährte sich in den Monaten, in denen es nichts gab. Trotzdem wollte sie zurück in den Westerwald, aber dann tauchte wenigstens der gemütliche Schwager Paul wieder auf, einarmig, aber lebendig und mit Beziehungen zur neuen Stadtverwaltung. Fünf Jahre lebte sie mit den Gedanken an die Rückkehr des Mannes, wartete auf eine andere Nachricht als ‹vermisst›. Als die US-Behörden schriftlich meldeten, wir haben ihn nicht, er kann nur tot sein wie hunderttausend nicht identifizierte Soldaten auch, und als sie merkte, dass das Warten sie nicht still verzweifelt werden ließ, sondern jähzornig machte, was ihr unheimlich war, gab sie dem Drängen des Schwagers nach. Sie ließ Dietrich für tot erklären und heiratete Paul, aber noch lange behielt sie die Angst vor dem Drama, das anfängt mit dem Klingeln an der Tür, Dietrich steht leibhaftig im Flur, vielleicht hat er sogar noch den Wohnungsschlüssel mein Gott, was werd ich da sagen, am Ende erschlägt er Paul oder Paul ihn, und was wird aus dem Jungen?

Roland trotzte von unten gegen den falschen Vater. Er konnte sich noch erinnern, wie er bei der traurigen Hochzeit Weihnachten dem amputierten Onkel, zu dem er plötzlich Vati sagen sollte, das Sitzkissen vom Korbstuhl gezogen hatte, von allen dafür beschimpft wurde, weil alle merkten, das war eine Kriegserklärung, und wie er es ein zweites Mal schaffte, das Kissen wegzuziehen und mit der Beute durch die Wohnung zu rennen, bis ein anderer Onkel ihn schnappte, es gab Tränen, aber keine Schläge. Nicht nur weil Hochzeit war, auch sonst, wenn Paul ohne jede Gemütlichkeit gern geschlagen hätte, sagte die Mutter, du rührst mir den Jungen nicht an, du nicht. Schläge gab es bei ihr nicht, der einzige Vorteil zu Haus.

Paul war teilhabender Buchhalter in der Schuhcremefabrik gewesen, deshalb konnte er 48 bei der Kreissparkasse anfangen und fünfzehn Jahre später stellvertretender Direktor werden. Die Eltern lieferten Roland noch eine Schwester, die ihm immer unwichtig blieb, und als das Fernsehen zu kaufen war, entstand ein ruhiges Familienleben. Allmählich verlor auch die Mutter ihre Angst beim unerwarteten Klingeln, und Vater Paul floh jeden Abend mit drei oder vier abgezählten Flaschen Bier zu den Bildern aus fremden Gegenden, zu den bewegten Blicken in größere Schicksale. Manchmal jammerte er um seinen in Afrika gebliebenen linken Arm, und weil ihm der Stumpf bei Regentagen mal wehtat, durfte er beim Fernsehen das ganze Jahr über auf dem Sofa liegen, die Kinder apportierten die Bierflaschen einzeln aus dem Kühlschrank. Aber immer sparen sparen, mir gehört doch die Sparkasse nicht, sagte er, wenn Roland eine Cola wollte, einen Tacho fürs Rad, ein Radio, wir müssen sparen, sonst kriegen wir unser Haus nie zusammen, sonst werden wir die Schulden nie los und du kannst nicht studieren. Dabei hatten sie kräftig Lastenausgleich kassiert für die zerbombte Klitsche, doch als das Haus stand, ärgerten sie sich schon wieder, sie hatten zu früh gebaut, zu klein, zu eng, die Nachbarn bauten großzügiger und mit immer breiteren Fensterfronten.

Als der Vater zum ersten Mal gesagt hatte, wenn du dein Abitur hast, ich will dir ja deinen Beruf nicht vorschreiben, aber ich könnte dich gut in der Sparkasse unterbringen oder in einer anderen Bank wenn du willst, mit Abitur kannst du da enorm was werden, da hatte Roland beschlossen, alles zu tun, um niemals zu werden wie Vater Paul wie Sparer Paul, Sparkasse nie im Leben. Also ließ er sich in Mathematik auf eine Vier fallen, lernte das Englische und las viel in seinem dachschrägen Zimmer, umfangen vom leisen Fernsehton aus dem Wohnzimmer unten.

Obwohl auf dem verkauften Gelände der Schuhcremefabrik längst eine Autowerkstatt stand, wussten die Nachbarn noch, dass Roland Diehl der Sohn vom Schuhwichs-Diehl war, und so blieb der Spitzname Wichser an ihm hängen. Als er mit vierzehn die schändliche Bedeutung des Wortes entdeckte (bis dahin hatte er an einen unermüdlichen Schuhputzer gedacht) und sich gegen den Namen nicht zu wehren wusste, da hielt er es in seinem Zimmer nicht mehr aus. Wichser, das war nun sein Erbe, das kränkte ihn, obwohl er damit nie etwas zu tun hatte. Allen Verdacht wollte er abschütteln, allen wollte er beweisen, dass er alles andere als ein Wichser war. Er lief zum Sportverein und trainierte Mittelstrecken. Nachdem sein wichtigstes Musikerlebnis der Blick von weitem auf Elvis Presley vor einer Friedberger Wirtschaft gewesen war, ließ er sich jetzt vom Musiklehrer eine Trompete geben und fing an zu üben, Louis Armstrong verdrängte Elvis. Diehl lief hinter Mädchen fiebernd her, aber traute sich nichts. Er las den Mythos von Sisyphos und stritt darüber mit seinem Freund Wolf, der Sartre vertrat. Er schrieb Glossen gegen die Lehrer, aber er verbat es sich, Gedichte zu schreiben, das war was für Weichlinge Feiglinge Mädchen. Er wollte Jazztrompeter, Journalist oder Fallschirmspringer werden, aber vorher noch eine Olympiamedaille holen auf 100 Meter. Denn seine Erfolge hatte er auf der Aschenbahn. Roland Diehl begann zu kämpfen.

 

 

Was denken Sie, Frau Majonika, wie das weitergeht?

Die Sekretärin und Bedienerin der Abteilung Personalführung stand zwischen Schreibtisch und Tür, hatte sich noch einmal gedreht, als wollte sie nach weiteren Aufträgen fragen, als sei sie nicht nur Kaffee-Serviererin, die fünfundfünfzigjährige Abteilungs-Mutti. Er hatte plötzlich seinen schlechtsitzenden Körper gespürt und sein eigenes Gewicht auf dem Sessel, die Hand mit dem Mikro deplatziert an der Brust. Und als sie ihn mit ruhigem Mitleid ansah, hatte er schnell, um die Kontrolle über den Augenblick wiederzufinden, eine Frage gestellt, was denken Sie?

Mit Frau Majonika redete er gern ein paar Worte. Sie war ein Relikt aus den Zeiten, die es nach den Vorstellungen der Menschenführer nicht mehr geben sollte, aber der Verband wollte sich offenbar noch die eine oder andere Endfünfzigerin leisten. Vor drei Jahren hatten in der Abteilung noch fünf Sekretärinnen gearbeitet, zwei wurden versetzt ins Schreibbüro, zwei rationalisiert, übrig Frau Majonika. Sie war eine schüchterne, aber fanatische Anhängerin der Parapsychologie, sie galt als Unsere Sphinx, und auch Diehl provozierte sie gern zu Vorhersagen. Er hörte es gern, wenn sie in mildem Kölsch von Psychokinese und Kulagina-Phänomenen und den unglaublichsten Zufällen schwärmte.

– Wie das weitergeht?

Frau Majonika schien die Frage sofort verstanden zu haben, sie wurde ganz ernst und trat auf ihn zu.

– Wissen Sie, sagte sie leise, als hätte sie ein Geheimnis zu verraten, ich habe einen Verdacht. Ich bin ziemlich sicher, dass Herr Büttinger in der Eifel versteckt ist.

Wie sie darauf komme.

– Ich habe, sagte sie noch immer verschwörerisch, experimentiert.

Schon öfter hatte sie angedeutet, dass sie ihre Psi-Fähigkeiten erforsche, früher zum Spaß, heute, nachdem sich so vieles bewahrheitet habe, mit Leidenschaft. Sie hielt nichts von Pendeln Tischerücken Kristallvisionen, aber viel von Telepathie hochsensitiven Hellsehern wissenschaftlich eindeutig bewiesenen Leistungen. Diehl war aufgefallen, wie routiniert sie Fremdwörter wie Präkognition aussprach, wie selbstbewusst und gar nicht sekretärinnenhaft sie wirkte, wenn sie von ihrem Hobby erzählte.

Bei drei Experimenten in den letzten Tagen habe sie sich sehr angestrengt, sehr konzentriert und versucht, telepathischen Kontakt herzustellen, und jedes Mal habe sie eine Kleinstadt in der Eifel gesehen und am Stadtrand ein zweistöckiges schieferbedecktes Haus, in dem die Verbrecher mit den bekannten Gesichtern zu erkennen waren.

– Das muss, sagte sie leise, das könnte das Versteck sein.

Kaffeesatzleserei, dachte er.

– Und werden Sie zur Polizei gehen?

– Die werden mich doch auslachen, wenn ich da ankomme, eine unbekannte Amateur-Hellseherin, ich hab doch nichts in der Hand.

– Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jeder Hinweis kann wichtig sein.

Frau Majonika sah aus, als fürchte sie, zu weit gegangen zu sein, sich bloßgestellt zu haben. Und da Diehl nichts mehr sagte, stahl sie sich aus dem Zimmer.

 

 

Wenn jemand nach Büttinger fragt, brauchst du nicht auf ihn zu zeigen, denn die Blitzlichter zeigen auf ihn und die Fernsehlampen leuchten ihn aus und die Gesichter wenden sich ihm zu, und jeden Tag gefunkt gedruckt Bilder und Bildunterschriften beweisen: Büttinger allgegenwärtig gehört gesehen erwartet zitiert. Büttinger engagiert bei der Großkundgebung, sachlich beim Spitzengespräch, fundiert beim Hearing. Büttinger spricht auf der Juniorentagung, auf der Regionaltagung, auf der Kommandeurstagung, spricht am Aschermittwoch und am 1. Mai, am 2. Mai und zur Herbstmesse. Beim Kirchentag ist er dabei und beim Automobilclub, Studenten hören ihm zu und Exporteure Importeure, und auch ein Kanzler lernt dazu, wenn Büttinger kommt.

Der Star der Symposien, der Experte der Colloquien, der unverzichtbare verbindliche eloquente Interessenvertreter bei Roundtable-Diskussionen. Ist Büttinger schon da, ja eben fährt er vor. Büttinger mahnt, Büttinger stellt klar, Büttinger fordert, Büttinger wünscht, Büttinger wirbt, Büttinger appelliert, Büttinger vertritt die Überzeugung.

Die Menschenführer Metall in Bremen alarmiert Büttinger gegen das Übermaß kollektiver Sicherung. In Stuttgart ruft Büttinger zum Kampf gegen die Zwangsvermögensbildung auf. Büttinger warnt in Bad Nauheim vor der Machtergreifung des Partnervereins, in Nürnberg vor einer negativen Zukunftseinstellung, in Saarbrücken vor dem Marsch in eine träge Gesellschaft. In Berlin erinnert Büttinger, in Trier unterstreicht Büttinger, auf dem Flughafen Wahn gibt der Leiter der Delegation, Alfred Büttinger, der Erwartung Ausdruck.

Büttinger überall, der Botschafter der deutschen Menschenführer fragt in Tokio den japanischen Wirtschaftsminister, warum die ganze Stadt nach Bonbons dufte, ob das wirklich ein Desinfektionsmittel mit Aprikosenduft sei. In Washington preist Diplomat Büttinger das Land, das ihn am meisten fesselt, ihm immer Vorbild war und dessen Tempo ihm imponiert. In Pretoria im kleinen Kreis sagt er offen, er stimme mit Freund Oppenheimer überein, Apartheid sei auf Dauer zu teuer zu unproduktiv. In Moskau stellt er am späten Abend, plötzlich vom Wodka ermutigt, die Frage, ob es für Ostpreußen einen Preis gebe. Vor Mikrophonen in Tel Aviv lobt Büttinger den gesunden Nationalismus, die militärischen Leistungen, die Pionier-Politik seines Gastlandes. In Paris spricht Büttinger seinen Vortrag französisch und spendiert sich am nächsten Vormittag eine halbe Stunde im führenden Jagdbedarfsgeschäft und wird auch dort von einem Fotografen ertappt. In Buenos Aires wird Konsul Büttinger mit allen Ehren empfangen und nach fünf Tagen mit allen Ehren verabschiedet. Büttinger wieder in der Heimat, wieder ein Interview auf dem Flughafen, Büttinger erklärt, Büttinger gibt zu bedenken, Büttinger zu hören zu sehen zu spüren.

Immer wusstest du, wo er ist, was er sagt. Manchmal wusstest du, was er denkt, wie er sich fühlt, wo er sich verbirgt, was er nicht sagt. Niemals wusstest du nichts.

 

 

In der Eingangshalle eines Bankgebäudes sah sich Diehl genau auf die Lifts zulaufen, allein in einem furniergekleideten Kasten abwärts gleiten und in der fünften unterirdischen Etage aussteigen. Als hätte er ein Ziel, machte er die Eisenflügel einer breiten Tür auf und kam in einen Raum mit Wänden aus Glas. Eine an der Decke kreisende Kamera sah er und gleichzeitig sich in die Kamera blickend auf einem Monitor daneben. Es roch nach Beton, nicht nach Glas. An der Seite ein Kontrollpunkt, ein Mann davor, Uniform und Pistole, drehte sich nicht um, wendete kein Auge von den Kontrolllampen, alle zeigten Grün, kein Raub, kein Rot, kein Feuer, kein Störfall, kein Gelb.