Ein Mädchen kommt ins Landschulheim - Marie Louise Fischer - E-Book

Ein Mädchen kommt ins Landschulheim E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Dass man als Mädchen aus gutem Haus in ein Internat kommt, ist nicht ungewöhnlich. Dort bekommt Leona aber zu spüren, dass es als verwöhntes Einzelkind gar nicht so einfach ist, in der Gemeinschaft wirklich aufgenommen zu werden. Jetzt kann sie nicht mehr den Ton angeben, sondern leidet unter ihrer Einsamkeit. Als Leona den Blick wieder nach vorne richten kann, hofft sie, in der älteren Ilse eine Freundin finden zu können. Aber so einfach ist das nicht. Sie erhält eine Abfuhr und ist jetzt noch enttäuschter. Es braucht etwas Zeit und manche Erfahrung, die sie erst sammeln muss, bis sie begreift, dass einem echte Freundschaft nicht so in den Schoß fällt, sondern dass man um sie kämpfen muss.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Ein Mädchen kommt ins Landschulheim

Saga egmont

Ein Mädchen kommt ins Landschulheim (Abenteuer von Leona 1)

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1977 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719718

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Leonas beste Freundin

„Menschenskind, du ahnst nicht, wie ich mich auf morgen freue!“ Babsi gab Leona, ihrer um einen guten Kopf größeren Klassenkameradin einen wohlmeinenden Rippenstoß. „Paß mal auf, das wird der Wandertag des Jahrhunderts!“

Die beiden Mädchen schlenderten, die Mappen unter dem Arm, von der Schule nach Hause. Der große Pulk hatte sich schon aufgelöst, und sie gingen jetzt, da sie Nachbarinnen waren, das letzte Stück allein.

„ Na denn … viel Spaß!“ erklärte Leona herablassend.

Babsi blieb stehen. „Soll das etwa heißen, daß du wieder nicht mitkommst?“

„Du sagst es.“

„Aber Leona, das kannst du nicht machen!“ rief Babsi. „Du kannst dich nicht schon wieder ausschließen! Das ist unmöglich!“

Leona blieb gelassen. „Was regst du dich über meine Probleme auf?“

„Weil ich es gut mit dir meine!“

„Danke. Aber ich erinnere mich nicht, daß ich dich um Hilfe gebeten habe.“

„Nein, das hast du nicht! Du bildest dir nur ein, du brauchst niemanden von uns. Das habe ich längst gemerkt, ich bin ja nicht blöd. Aber du kannst dich nicht so absondern. Jeder Mensch braucht Freunde.“

Leona warf mit Schwung ihr langes, hellblondes Haar in den Nacken. „Die habe ich ja.“

„Du? Da bin ich aber mal gespannt. Es gibt niemanden in der Klasse, der dich leiden kann. Außer mir. Und aus mir machst du dir ja auch nichts.“

„Das ist nicht wahr!“ protestierte Leona jetzt doch. „Ich finde dich ganz annehmbar, wirklich.“

„Ich bin also annehmbar… wie ungeheuer schmeichelhaft.“ Babsi lachte. „Annehmbar für die große, überlegene Leona Heuer aus der siebten Klasse! Darauf kann ich mir wohl was einbilden!“

„Sei nicht albern. Du weißt schon, wie ich’s meine. Du bist wirklich nett. Bloß … an meine Mutter kannst du natürlich nicht tippen.“

„Deine Mutter?“ fragte Babsi verständnislos. „Was hat die denn damit zu tun?“

„Sie ist meine beste Freundin.“

„Deine Mutti!? Sag das noch mal! Ich glaub, mein Schwein pfeift!“

„Du hast mich ganz gut verstanden.“

Leona war jetzt an dem Mietshaus in der Holbeinstraße angelangt, in dem sie mit ihren Eltern lebte, und bog in den schmalen Vorgarten ein.

Babsi gab noch nicht auf. „Ich gebe ja zu, sie ist sehr süß, aber … “

„Red nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst!“ fiel Leona ihr ins Wort. „Dann also … bis übermorgen.“

Babsi lehnte sich gegen den niedrigen Pfeiler. „Du kommst also wirklich nicht mit?“

„Habe ich das nicht schon unmißverständlich erklärt!“

„Dann bist du nicht zu retten!“ Jetzt machte Babsi, daß sie weiterkam.

Leona hatte an der Haustür geklingelt, drückte auf, als der Summton erklang. Mit großen Schritten lief sie die Treppen bis in den zweiten Stock hinauf Die Wohnungstür war schon geöffnet und nur angelehnt.

„Hallo, Mutti!“ rief Leona im Eintreten. „Was gibt’s heute Gutes?“ Sie stellte die Schulmappe ab und betrachtete sich kritisch im Garderobenspiegel. Wie immer fand sie sich etwas farblos. Nur die grauen Augen, die sie durch die schwarz getuschten Wimpern betonte, gefielen ihr. „Das war wieder mal ein Theater“, erzählte sie, öffnete die Schublade der Garderobe und zog ihr Mäppchen mit den Schönheitsutensilien heraus. „Morgen ist der berühmte Wandertag. Die Gänse wollen an die Isarauen radeln, Feuer machen und ein Picknick veranstalten. Aber nur keine Sorge … ohne mich!“ Leona zog ihre Lippen nach und verteilte Rouge auf die Wangen. Jetzt gefiel sie sich schon viel besser. Zu dumm, daß die Lehrer das Anmalen in der siebten Klasse noch nicht erlauben wollten.

Leona wandte sich ab und ging in die Küche. „Du schreibst mir doch eine Entschuldigung, ja?“

Irene Heuer war wirklich, wie Babsi gesagt hatte, sehr süß, schlank und blond und sehr jung.

In einer bunten, eng um die schmale Taille gegürteten Schürze stand sie am Herd. Man hätte sie für Leonas ältere Schwester halten können.

Die Ähnlichkeit war auffallend.

Aber sie begrüßte ihre Tochter nicht so fröhlich wie sonst, sondern schenkte ihr nur ein schwaches Lächeln und einen umflorten Blick.

„He, was ist los mit dir?“ Leona legte einen Arm um sie. „Kriege ich denn kein Bussi?“

„Doch!“ Die festen Lippen drückten sich auf Leonas Wange.

„Ist es nicht herrlich, daß ich morgen frei habe? Da können wir mal wieder was unternehmen … oder wir schlafen uns einfach aus. Mindestens so lange wie Vati.“

Leonas Vater war Journalist. Meist dauerte seine Arbeit bis in den Abend hinein, dafür brauchte er morgens auch erst spät zu beginnen.

Irene Heuer wandte das Gesicht ab und rührte in einem der Töpfe.

„Bist du etwa böse auf mich?“ fragte Leona bestürzt. „Aber ich habe dir doch nichts getan!“

„Nicht auf dich.“

„Auf Vati? Nun erzähl mal! Was hat er denn nun schon wieder angestellt!“

„Eigentlich sollte ich dich da nicht mit hineinziehen … “, sagte ihre Mutter ausweichend.

„Na hör mal! Wir sind doch schließlich Freundinnen … oder etwa nicht?“

„Es ist nicht recht von mir, wenn ich mich bei dir über Vati beklage.“

„Quatsch mit Soße. Ich kenne ihn doch schließlich ebensogut wie du. Und ich sage dir immer, du bist viel zu nachgiebig mit ihm. Es ist schön blöd von dir, daß du immer abends zu Hause sitzt und wartest, bis er endlich kommt. Wir sollten mal was zusammen unternehmen. Daß er zu arbeiten hat, glaube ich ihm ja, aber … “

„Eben nicht“, fiel ihr die Mutter ins Wort.

„Was?“ Ganz verdutzt sah Leona sie mit offenem Mund an.

„Er arbeitet abends nicht.“ Irene Heuers Stimme klang gepreßt. „Nicht immer jedenfalls oder nicht nur.“ Sie hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. „Tante Ella hat ihn gestern gesehen. In einem Nachtlokal. Er hat getanzt. Mit einem sehr schicken Mädchen.“

„So ein Schuft!“ Leona wurde blaß unter ihrem Rouge. „Und mit uns geht er nie aus!“

„Was soll ich jetzt bloß tun, Leona? Tante Ella meint, das beste wäre, ich ließe mir gar nichts anmerken …“

„Wir sollen uns stillschweigend gefallen lassen, daß er uns betrügt?“ rief Leona empört. „Kommt ja nicht in die Tüte!“

„Aber was dann?“

„Du mußt ihn zur Rede stellen! Und wenn er nicht eine sehr gute Entschuldigung auf Lager hat, reichst du die Scheidung ein. So wie du gebaut bist, findest du immer noch einen anderen.“ Die Mutter sah Leona mit einem seltsamen Ausdruck an. „Hast du ihn denn gar nicht lieb?“

„Aber das ist doch kein Grund, mir alles von ihm gefallen zu lassen! Nein, Mutti, irgendwo muß ein Punkt sein.“ Leona machte ein wild entschlossenes Gesicht.

Irene Heuer ließ sich auf den Küchenstuhl sinken. „Aber wenn Vati und ich uns trennen, dann müßte ich wieder arbeiten gehen … nicht, daß mir davor graut, im Gegenteil… aber was soll dann aus dir werden?“

„Ich bleibe natürlich bei dir“, erklärte Leona mit schöner Selbstverständlichkeit, „schließlich habe ich ja auch einen Beruf, die Schule. Und wenn du Vati nicht mehr versorgen mußt, schaffen wir beide den Haushalt spielend. Ganz nebenbei.“

„Ich weiß wirklich nicht…“

„O Mutti, tu einmal… nur ein einziges Mal, was ich dir sage! Vati ist ja nicht aus der Welt, auch wenn du dich scheiden läßt. Und wir beide werden ein herrliches Leben miteinander führen!“

An diesem Abend kam Peter Heuer, Leonas Vater, wieder einmal erst nach Hause, als Leona längst im Bett lag – und das, obwohl sie bis zu den 10-Uhr-Nachrichten vor dem Fernseher gesessen hatte. Am Morgen war ihr, als hätte sie in der Nacht Stimmen gehört. Aber sie wußte nicht, ob sie es nicht geträumt hatte. Der kleine Zeiger auf ihrer Nachttischuhr ging schon auf elf Uhr zu.

Leona beeilte sich aufzustehen, schlüpfte in ihre Pantoffeln und suchte die Mutter. „Morgen, Mutti… lieb, daß du mich so lange hast schlafen lassen!“

Frau Heuer saß im Wohnzimmer und las Zeitung.

Leona schlang einen Arm um ihre Schultern und gab ihr einen Kuß. „Das Frühstück kann ich heute mal überspringen, was meinst du?“

Frau Heuer ließ die Zeitung sinken und sah Leona an; ihre Augen waren rot und leicht verschwollen von vergossenen Tränen. „Dein Vater und ich haben uns ausgesprochen.“

„Sehr gut.“ Leona setzte sich der Mutter gegenüber. „Und was ist dabei herausgekommen?“

„Das möchte er dir gern sagen. Er erwartet dich um zwei Uhr im Restaurant zum Essen.“

„Spitze!“ rief Leona. „Das nenne ich mal eine Idee.“ Sie sprang auf und fragte, mit plötzlich erwachtem Mißtrauen: „Du hast dich doch hoffentlich nicht wieder rumkriegen lassen?“

„Keine Sorge.“ Ihre Mutter lächelte schwach.

„Um so besser. Dann werde ich mich jetzt mal in Schale werfen.“

Das elegante Restaurant in München war zwar nur fünf Minuten von der Holbeinstraße entfernt, und bis zur Verabredung mit dem Vater blieben noch drei Stunden Zeit. Aber wenn Leona sich schön machen wollte, dann tat sie es gründlich. Sie badete sich, wusch ihr Haar und zog sich mit Sorgfalt an. Statt der üblichen Jeans wählte sie ihr bestes Kleid und ihr einziges Paar heiler Strumpfhosen.

Mit unendlicher Geduld verschönte sie ihr Gesicht mit allen möglichen Farben, und es ging wirklich schon auf zwei Uhr zu, als sie endlich fertig war.

Aus ihrem Mantel war sie schon etwas herausgewachsen, deshalb verzichtete sie darauf, ihn anzuziehen. Es war ein sonniger, noch sehr frischer Vorfrühlingstag, aber Leona fand es besser, in Schönheit zu frieren.

„Möchtest du nicht doch wenigstens eine Kleinigkeit essen?“ fragte die Mutter.

„Kommt nicht in Frage. Heute will ich Vati schädigen!“

Irene Heuer zog sie zärtlich an sich. „Mach’s gut, Liebling … und halt die Ohren steif!“

Lachend löste Leona sich aus der Umarmung. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Mutti! Ich lasse mich nicht von Vati einschüchtern! Das solltest du doch schon wissen!“

Leona kämpft mit allen Mitteln

Als Leona die geschwungene Treppe zu dem Restaurant hinaufstieg, knurrte ihr der Magen, und ihre Wangen glühten von der kalten Luft. Jeder Tisch war besetzt, und sie sah sich suchend um.

Ein Angestellter in schwarzem Smoking trat auf sie zu. „Sind Sie verabredet?“

Es tat Leona unendlich wohl, gesiezt zu werden. „Ja, mit Herrn Heuer … Peter Heuer, dem Redakteur“, erklärte sie.

„Herr Heuer ist schon hier! Er sitzt drüben am Fenster. Darf ich Sie führen?“

Leona folgte dem Geschäftsführer. Ihr Vater saß allein an einem kleinen Fenstertisch und studierte die Speisekarte. Obwohl Leona im Augenblick sehr schlecht auf ihn zu sprechen war, mußte sie zugeben, daß er gut aussah. Er trug das dunkelblonde, dichte Haar ziemlich lang, hatte ein gepflegtes Bärtchen zwischen der Oberlippe und der Nase und ein Kinn mit einem lustigen Grübchen.

Allerdings fand Leona, daß er in Jeans und Rollkragenpullover zu sportlich gekleidet war – jedenfalls für diese feine Umgebung und für sein Alter. Er war immerhin schon vierunddreißig Jahre und damit nicht mehr taufrisch.

Sie begrüßte ihn mit Würde.

„Nanu, wie siehst du denn aus?“ fragte er. „Bist du in einen Farbtopf gefallen?“

„Ich habe mich für dich schön gemacht.“ Sie schenkte ihm ein überlegenes Lächeln. „Es tut mir leid, wenn ich deinen Geschmack nicht getroffen habe.“

Er verzichtete auf eine Antwort und reichte ihr die Speisekarte. Sie wählte einen Crevettencocktail, Artischockenböden mit warmer Soße und zum Nachtisch Maroneneis mit Pflaumen. Ihr Vater entschied sich für ein Steak. Als er die Bestellung aufgegeben hatte, entstand ein lastendes Schweigen zwischen ihnen.

Leona entschloß sich, den Stier bei den Hörnern zu packen.

„Wolltest du mir nicht was sagen, Vati?“

„Ja, ich habe dir etwas zu eröffnen. Aber ich glaube, wir sollten damit bis nach dem Essen warten.“

„Oh, warum denn? Ich lasse mir so leicht nicht den Appetit verderben.“

„Na gut, ganz wie du willst. Also: Deine Mutter und ich sind übereingekommen, uns zu trennen.“

„Habe ich mir gedacht“, sagte Leona mit einer gewissen Befriedigung, weil die Mutter ihren Rat befolgt hatte.

„Erst mal vorübergehend. Nicht, daß wir böse aufeinander wären. Wir haben einfach zu jung geheiratet, verstehst du. Ich kann mich nicht ein ganzes Leben an die Kette legen, und für deine Mutter ist es kein Zustand, dauernd allein zu Hause zu hocken.“

„Das habe ich ihr auch schon gesagt.“

„Wie gut, daß du so einsichtig bist. Sie wird also in ihren Beruf zurückkehren. Nun hör mir mal gut zu, Leona. Wir beide, deine Mutter und ich, finden, daß es nicht gut für dich wäre, mit ihr allein zu leben. Du bist ohnehin schon zu altklug, eine Einzelgängerin … “

„Das stimmt doch gar nicht!“

„Leider doch. Du gehörst unter junge Menschen, die … “ Leona fiel ihm ins Wort. „Aber ich bin unter jungen Leuten. Ich habe Freundinnen!“

„Wen denn?“

Diese Frage brachte Leona doch ein bißchen in Verlegenheit.

„Na, Babsi zum Beispiel“, behauptete Sie und spürte selber, daß das nicht sehr überzeugend klang.

„Babsi von nebenan! Na hör mal!“ Peter Heuer lachte. „Der hast du dich doch von jeher haushoch überlegen gefühlt.“

„Deshalb kann sie doch trotzdem meine Freundin sein.“

„Das zeigt mir, daß du keine Ahnung hast, was Freundschaft überhaupt bedeutet. Du nutzt Babsi doch nur aus.“

In Leonas graue Augen kam ein gefährliches Funkeln. „Und das. hältst ausgerechnet du mir vor, wo du Mutti behandelst wie … “

„Über meine Ehe möchte ich nicht mit dir diskutieren!“ sagte Herr Heuer scharf.

„Und ich nicht mit dir über meine Freundinnen!“ fauchte Leona zurück.

Vater und Tochter starrten sich wütend in die Augen.

Dann kam zum Glück der Ober und stellte den Crevettencocktail vor Leona und ein Glas Sherry vor Herrn Heuer.

„Fang schon an“, sagte der Vater.

Leona war die Lust zum Essen eigentlich vergangen, aber die winzigen rosigen Krebschen in der delikaten Soße blickten sie doch zu verlockend an; sie konnte nicht widerstehen.

Herr Heuer hatte einen Schluck Sherry genommen und begann das Gespräch nach einer Weile von neuem.

„Ich gebe ja zu, daß ich mich deiner Mutter gegenüber nicht immer richtig verhalten habe. Wahrscheinlich bin ich sogar selber schuld, daß du dich zu sehr an sie gehängt hast. Sie war zuviel allein. Da habt ihr beide euch einfach daran gewöhnt, dauernd zusammen zu glucken. Also, bitte, von mir aus … ich bin der große Sündenbock.“

Leona merkte sehr wohl, daß der Vater ihr eine Brücke baute, aber sie dachte nicht daran, sie zu betreten; sehr damenhaft tupfte sie sich die Lippen ab und erklärte mit Nachdruck: „Ich kann nichts dabei finden, daß Mutti und ich uns gut verstehen. Wahrscheinlich bist du nur eifersüchtig!“

„Ich? Eifersüchtig?“ Vor Überraschung wurde der Vater laut, merkte es selber und dämpfte die Stimme. „Das soll wohl ein Witz sein?“

„Aber wieso denn?“ erwiderte Leona unerschüttert. „Das liegt doch auf der Hand.“

Peter Heuer leerte sein Glas. „Leider muß ich feststellen, daß mit dir wirklich nicht mehr zu reden ist.“

„Dann lassen wir’s eben.“ Leona machte sich wieder über ihre Vorspeise her.

„Das könnte dir so passen. Nein, so kommst du mir nicht davon. Ich habe dir etwas zu sagen, und ich werde es dir jetzt sagen. Wenn wir uns trennen, bleibst du nicht bei deiner Mutter.“

Leona fiel fast die kleine Gabel aus der Hand. „Du willst mich fortgeben?“

„Nicht ich. Deine Mutter und ich haben gemeinsam beschlossen … “

„Das ist einfach nicht wahr!“ Leona sprang auf und stieß den Stuhl zurück.

„Doch. Und jetzt setz dich gefälligst hin und hör mich an.“

„Du wirst mir nicht weismachen, daß Mutti mich loswerden will!“

„Niemand will dich loswerden, Leona. In deinem eigenen Interesse sind wir übereingekommen, daß es nicht gut für dich wäre, dich noch enger an sie anzuschließen, was zwangsläufig geschehen würde, wenn ich ausgezogen bin.“

„Wenn du erst weg bist, kann es dir doch ganz egal sein, was wir machen!“ Leona stand immer noch.

„Das kannst du doch nicht wirklich glauben. Wie es auch mit deiner Mutter und mir weitergeht, du bist und bleibst immer meine Tochter … “

„ … die du in die Wüste schicken willst!“

„Nicht in die Wüste, Leona, in ein Internat!“

Leona war inzwischen auf etwas Ähnliches vorbereitet gewesen, dennoch verschlug es ihr die Sprache.

„Wir haben das Landschulheim Rabenstein für dich ausgesucht“, erklärte der Vater, „vielleicht hast du schon davon gehört, ein wirklich fabelhaftes …“

„Niemals! Nie kriegt ihr mich dahin!“ Leona war weiß bis an die Lippen geworden.

Der Ober servierte die Artischocken und das Steak.

„Hm, das sieht gut aus“, sagte der Vater, um Leona abzulenken, „nun iß erst mal, und dann …“

„Ach, verdammt, steck dir doch deine Artischocken an den Hut!“ schrie Leona völlig außer sich und ganz undamenhaft, drehte sich um und rannte aus dem Restaurant.

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Leona sich soweit gefaßt hatte, daß sie ihrer Mutter unter die Augen treten konnte. Sie wollte nicht wie ein heulendes Baby angerannt kommen, denn es war ihr doch so wichtig, von der Mutter ernstgenommen zu werden.

Also war sie erst einmal durch die Straßen gelaufen, hatte sich dann in dem kleinen, noch vorfrühlingskahlen Shakespearepark auf eine Bank gesetzt und erst einmal ausgeschluchzt. Danach hatte sie die verlaufene Wimperntusche und die verschmierten Lidschatten so gut es ging mit Spucke weggewischt.

Endlich wurde ihr bewußt, daß sie in ihrem hübschen Kleid und ohne Mantel erbärmlich fror, und sie beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Leona verstand jetzt schon selbst nicht mehr, warum sie sich so aufgeregt hatte.

Das Ganze konnte doch nur eine Schikane vom Vater sein. Sie sollte fort, damit die Mutter ganz allein blieb und ihm tüchtig nachtrauerte. Es war doch ausgeschlossen, daß sie mit ihm unter einer Decke steckte.

So setzte sie sogar ein Lächeln auf, als Irene Heuer ihr die Wohnungstür öffnete.

„Na, wie ist es gegangen?“ fragte die Mutter.

An jedem anderen Tag hätte Leona gleich losgelegt. Aber seit ihrer Auseinandersetzung mit dem Vater war eine Veränderung in ihr vorgegangen. Es fiel ihr auf, daß ihre Mutter noch bedrückter wirkte als vorhin beim Abschied.

„Willst du etwa behaupten, daß Vati dich nicht schon angerufen hat?“ fragte Leona mißtrauisch.

Leona und ihre Mutter standen sich im Wohnungsflur gegenüber und betrachteten sich mit neuen Augen.

„Stimmt, Vati hat mir berichtet, daß du weggelaufen bist“, gab Frau Irene Heuer etwas verlegen zu. „Aber ich wollte von dir hören, wie es dazu gekommen ist.“

„Wie mitfühlend von dir!“ sagte Leona, und es klang, wie es gemeint war: sehr verletzend.

„Leona!“

Das junge Mädchen trat einen Schritt näher auf ihre Mutter zu. „Sei, bitte, ehrlich! Wußtest du, daß Vati mich am liebsten ins Internat stecken möchte?“ In dieser Frage klang die zaghafte Hoffnung mit, die Mutter könnte vielleicht doch so ahnungslos sein, wie Leona selber es noch bis vor wenigen Stunden gewesen war.

Aber diese Hoffnung wurde zerstört.

„Ja“, sagte Frau Heuer.

Leona mußte nach Luft schnappen. „Und du hast mich nicht gewarnt!?“

Frau Heuer biß sich auf die Lippen. „Hör mal, Liebling“, sagte sie mit angestrengt beherrschter Stimme, „ich glaube, du siehst die Sache völlig falsch.“ Sie legte den Arm um Leonas Schultern. „Vati und ich wollen dich doch nicht in die Verbannung schicken … “

Mit einem Ruck riß Leona sich los. „Du willst mich also auch loswerden? Das kann doch nicht wahr sein!“

„Wirklich, Leona, es besteht kein Grund, dich so aufzuregen! Wir wollen nur dein Bestes!“

„Und über mein Bestes entscheidet ihr einfach über meinen Kopf hinweg? Ohne mich auch nur einmal zu fragen, was ich selber möchte? Ihr seid gemein, einfach gemein … alle beide! Du genau wie Vati!“

Unter dieser Anschuldigung zuckte Frau Heuer zusammen, aber sie behielt die Fassung. „Ich verstehe ja, daß du jetzt sehr aufgeregt bist, aber … “

„Nichts verstehst du, gar nichts! Sonst würdest du mir das nicht antun! Immer hast du gesagt, ich wäre deine beste Freundin! Und jetzt läßt du mich fallen wie ’ne heiße Kartoffel! Wie kannst du da sagen, daß du mich verstehst?“ Leona stieß die Mutter beiseite, stürzte in ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und warf sich, ohne auf ihr schönes Kleid zu achten, quer über ihr Bett.

So verzweifelt schluchzte Leona, daß sie gar nicht merkte, wie sich nach einiger Zeit die Tür hinter ihr öffnete und die Mutter eintrat. Sie balancierte ein Tablett und stellte es auf dem Schreibtisch ab.

„Ich habe dir einen Teller gute Bouillon gemacht“, sagte sie, „mit Nudeln! Die ißt du doch so gern!“

„Laß mich in Ruhe!“ protestierte Leona.

„Du sahst vorhin so verfroren aus … und satt kannst du doch auch nicht geworden sein!“

Leona gab keine Antwort.

Irene Heuer zog sich den kleinen Sessel an ihr Bett. „Denkst du denn gar nicht daran, daß ich auch sehr traurig bin?“

„Weil Vati dich sitzenläßt … ja, deshalb!“

„Nein, genauso sehr, weil wir beide uns trennen müssen.“ Leona warf sich herum und richtete sich auf. „Aber wir müssen ja gar nicht!“ Ihr Gesicht war ganz rot, und ihr schönes blondes Haar verstrubbelt und verklebt. „Mutti, bitte, bitte, laß dir doch nichts von Vati einreden! Wir könnten es so schön miteinander haben!“

„Ja, noch ein paar Jahre und dann? Du wirst jetzt dreizehn, in fünf Jahren bist du erwachsen, du wirst heiraten wollen …“ „Nie! Nie nehme ich mir einen Mann!“