Ein neues Land entsteht - Kurt H. Biedenkopf - E-Book

Ein neues Land entsteht E-Book

Kurt H. Biedenkopf

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Beschreibung

Kurt Biedenkopfs Tagebücher der Jahre nach der Wende. Ein bedeutendes Zeitdokument.

Kurt Biedenkopf, der 1990 zum Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen gewählt wurde, führte in den neunziger Jahren ein Tagebuch: Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1990 bis 1994 beschreiben auf brillante Weise die Zeit nach der Wende und das schwierige Ringen um die innere Einheit. Schonungslos offen und auf höchstem intellektuellen Niveau reflektiert Biedenkopf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im wiedervereinten Deutschland.

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Seitenzahl: 786

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Kurt H. Biedenkopf

Ein neues Land entsteht

Aus meinem TagebuchNovember 1990 bis August 1992

Siedler

Erste Auflage

September 2015

Copyright © Kurt H. Biedenkopf

Copyright © 2015 by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-17317-3

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Zur Einführung

Tagebuch

Personenregister

Sachregister

Zur Einführung

Die ersten beiden Jahre nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 waren einmalige Jahre. Ein neues Land entsteht, so der Titel dieses Bandes. Er hätte auch lauten können: Ein altes Land erwacht. Der Freistaat Sachsen, erinnerte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine Zuhörer bei seinem ersten Besuch in Dresden, sei kein neues Bundesland. Sachsen gehöre vielmehr zu den ältesten staatlich verfassten Regionen Deutschlands, im Alter übertroffen eigentlich nur noch durch Bayern. In den ersten beiden Jahren trafen beide, das alte und das neue Land, mit einer Wucht aufeinander, die den tiefgreifenden Unterschieden zwischen ihnen ebenso geschuldet war wie der Geschwindigkeit, in der sich die Wiedervereinigung vollzog.

Ein Segler kennt die Tücken einer Kreuzsee, in der sich Wellen aus verschiedenen Richtungen schneiden. Sie machen es ihm und seinem Boot schwer, die Stabilität zu sichern und Kurs zu halten. Die Wellen, die sich in den Jahren, aus denen die folgenden Eintragungen stammen, in Sachsen schnitten, liefen nicht nur quer zueinander. Sie waren groß, unberechenbar in ihren Dimensionen und hinterließen stets aufs Neue gefährliche Wellenberge und -täler. Vieles, was scheinbar Bestand hatte, wurde von ihnen verschlungen, anderes wurde nach oben geschleudert. Nichts war wirklich sicher.

Einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Strömungen, ihrer Widersprüchlichkeit und den widerstreitenden Hoffnungen und Ängsten, die auf meine Frau und mich warten würden, erhielten wir, als wir nach meiner Wahl zum Ministerpräsidenten in unser provisorisches Quartier zogen; ein ehemaliges Schulungszentrum des Staatssicherheitsdienstes, an der Schevenstraße im Stadtteil Weißer Hirsch gelegen. Die Kommission, die unter Führung von Arnold Vaatz beauftragt war, die Regierungsbildung vorzubereiten, hatte uns das Anwesen als Residenz zugedacht. Dafür war es zu groß. So entschlossen wir uns, zahlreiche zukünftige Mitarbeiter aus Westdeutschland, die so schnell keine Bleibe finden konnten – vom Minister bis zur Sekretärin – in die »Residenz« aufzunehmen. Die Wohngemeinschaft war geboren. Wesentliche Entscheidungen der ersten beiden Jahre wurden in ihr vorbereitet. Mit elf Jahren Nutzung unter provisorischen Bedingungen gehörte die »Schevenstraße« zu den hartnäckigsten Provisorien unserer sächsischen Zeit.

Bis Mitte Januar 1991 diente sie auch als Amtssitz des Ministerpräsidenten und damit als seine erste Adresse. Wenige Tage nachdem diese sich herum gesprochen hatte, überraschte uns ein schnell wachsender Strom von Briefen aus allen Teilen des Landes. Es handelte sich um »Eingaben« an den Ministerpräsidenten oder die Regierung. Mit ihrer Hilfe konnte man sich in der Zeit der DDR beschweren, auf Missstände aufmerksam machen oder Anregungen vortragen, ohne persönliche Risiken einzugehen. In kurzer Zeit hatten sich rund 10 000 dieser Eingaben angesammelt. Ob sie je beantwortet würden, war unklar.

Das wollte ich ändern. Alle Eingaben sollten beantwortet werden. Der Mitarbeiter, den ich mit dieser Aufgabe betraute, wurde im Sommer 1991 wieder in Baden-Württemberg gebraucht. Er schlug meine Frau als seine Nachfolgerin vor. Was wiederum als Provisorium gedacht war, entwickelte sich zum späteren Büro Ingrid Biedenkopf in der Schevenstraße. Zu Beginn konnte meine Frau mit der Hilfe zweier Mitarbeiter rechnen. Wenige Jahre später genehmigte der Landtag zwei weitere. Viele Eingaben beschäftigten uns beim Frühstück. Im Laufe der Zeit war ich deshalb besser über das Denken der Menschen im Land unterrichtet, über ihre Sorgen und Ängste, ihre Probleme und Schwierigkeiten, aber auch ihre Wünsche und Hoffnungen als mancher meiner Kollegen.

In Westdeutschland wäre Vergleichbares bereits an der Überzeugung gescheitert, ein Ministerpräsident dürfe nicht in dieser Weise mit seiner Frau zusammenarbeiten. Meine westdeutschen Mitarbeiter in der Staatskanzlei teilten zunächst die Überzeugung – bis die große Mehrheit der sächsischen Bevölkerung sich in einer Umfrage für das Büro aussprach. Noch heute, 13 Jahre nach meiner Amtszeit, wünschen sich viele im Land wieder ein derartiges Büro – am besten als Provisorium. Denn die sind offenbar dauerhafter.

So unübersichtlich wie die Kreuzsee war auch unsere Agenda. Im Grunde kam alles auf uns zu, was durch die Wiedervereinigung an Aufgaben und Herausforderungen ausgelöst worden war. Alles war gleich wichtig und gleich drängend. In der Bevölkerung machte schon bald Nüchternheit und Verunsicherung der Euphorie der ersten Stunde Platz. Die Ostdeutschen hatten die Freiheit gewonnen. Aber wie geht man damit um? Sie hatten Rechtsstaatlichkeit erhalten statt Gerechtigkeit, wie eine verbreitete Formel es sah. Ihr Land war vergiftet durch vierzig Jahre Unfreiheit, Bespitzelung und die Allgegenwärtigkeit des Staatssicherheitsdienstes.

Die alte Ordnung der Arbeit brach zusammen; eine neue hatte sich noch nicht entwickelt. Arbeitslosigkeit war in der DDR praktisch unbekannt. Ob die Produkte ihrer Industrie außerhalb ihrer westlichen Grenzen wettbewerbsfähig waren, war kein relevantes Kriterium für Arbeitsplatzsicherheit. Nach der Wiedervereinigung der Wirtschaft wurde die geringe Produktivität der Unternehmen sichtbar. Wo die im Westen Deutschlands entwickelte Produktivität auf Unternehmen im Osten übertragen werden konnte, verringerte sich in der Regel die Beschäftigung im Verhältnis zehn zu eins. Schnell wachsende Arbeitslosigkeit war die Folge. Sie über einen längeren Zeitraum abzubauen, ohne dass die Betroffenen und ihre Familien resignierten und sich als Menschen zweiter Klasse oder als gescheitert erlebten, war wohl die schwierigste politische und gesellschaftliche Aufgabe der ersten Jahre.

Sie war ohne massive Hilfe aus dem Westen nicht zu bewältigen. Aber diese Erkenntnis war nicht überall anzutreffen. Zum einen wurden die Dimensionen der Aufgabe unterschätzt. Zum anderen waren ostdeutsche Facharbeiter im Westen vor allem dort willkommen, wo die zusätzliche Nachfrage einen zusätzlichen Bedarf an Fachkräften auslöste. Mit Sorge lasen wir die Anzeigen in den Zeitungen, mit denen westdeutsche Unternehmen Facharbeiter suchten und ihren Frauen ebenfalls eine Beschäftigung anboten. Denn jeder Facharbeiter, der half, westdeutsche Defizite auszugleichen, würde beim Aufbau im Osten fehlen.

Das musste auch bei der zukünftigen Lohnpolitik bedacht werden, was wiederum die Gewerkschaften vor schwierige Entscheidungen stellte. Sie äußerten sich auch in den Auseinandersetzungen im Vorfeld der Tarifrunde 1992. Welche Löhne konnten die ostdeutschen Unternehmen zahlen, ohne ihren gerade begonnenen Neuanfang zu gefährden? Wie hoch wiederum mussten sie sein, um eine massive Abwanderung nach Westen zu verhindern? Und wie attraktiv mussten die gewerkschaftlichen Forderungen für ostdeutsche Arbeitnehmer sein, damit sie bereit waren, ihre aus der Zeit der DDR stammenden Vorbehalte gegenüber Gewerkschaften zu überwinden und Mitglied einer westdeutschen Gewerkschaft zu werden? Aber es ging auch um die Auswirkungen der geforderten Lohnerhöhungen auf die öffentlichen Haushalte, die konjunkturelle Entwicklung, die Geldentwertung oder die Attraktivität des Industriestandortes Deutschland.

Über all dies musste man entscheiden: ohne praktische Erfahrungen mit der Umwandlung einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft und ohne Kenntnis der sozialistischen Realität. Die standen westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären – ebenso wie westdeutschen Unternehmern und Politikern – auch dann nicht zur Verfügung, wenn sie ihrer politischen Neigung folgend sozialistisch dachten.

Für die Ostdeutschen, die 40 Jahre ihrer aktiven Lebenszeit unter der Herrschaft einer zentralplanwirtschaftlichen Ordnung gelebt und gearbeitet hatten, war es schwierig, die Grundzüge der sozialen Marktwirtschaft zu verstehen. Sie konnten weder wirtschaftliche Freiheit praktizieren noch die Bedeutung der Institutionen kennenlernen, auf denen eine marktwirtschaftliche Ordnung aufbaut. Wozu braucht man Eigentum, was bedeutet Haftung, welche Funktionen erfüllt der Wettbewerb und allgemeiner: welche Rolle das Kapital? Manche dieser Fragen werden selbst von Politikern und Führungskräften der Wirtschaft in der alten Bundesrepublik nicht mit selbstverständlicher Sicherheit beantwortet. Und im Osten fehlte bei vielen das Grundvertrauen in die neue Ordnung. Die Zeit war zu kurz, als dass es sich schon hätte entwickeln können.

Fragte man nach der Herausforderung, die während der ersten beiden Jahre gelebter Wiedervereinigung dominierend war, dann war es die Notwendigkeit, alle wesentlichen und in ihrer Widersprüchlichkeit schwer fassbaren Probleme gleichzeitig aufzugreifen und zu bewältigen.

Zu ihnen gehörte als erstes die Arbeitslosigkeit, die im Gefolge der Neustrukturierung der Wirtschaft entstanden war. Sie verlangte nach Hilfe und Unterstützung der Betroffenen: durch Kurzarbeit, vorzeitige Verrentung, Umschulung oder Maßnahmen, die sie weiterhin am wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Leben teilhaben ließen.

Vergleichbares galt für den öffentlichen Dienst. Er war überdimensioniert und musste abgebaut werden. Zugleich musste das vorhandene politische und administrative Personal auf seine Fähigkeit und Eignung überprüft werden, von den Bürgern als vertrauenswürdig akzeptiert zu werden. Die damit verbundenen Anstrengungen reichten bis in die Zusammensetzung der Landtagsfraktion der CDU. Allgemein musste der Eindruck einer schematischen Auswahl ebenso vermieden werden wie eine Entscheidungspraxis, die der Angst vieler nicht genügend Rechnung trug, die alten Strukturen könnten auch in der neuen Ordnung ihren Einfluss behalten.

Eng damit verbunden war die Überleitung der gesetzlichen Rentenversicherung auf die neuen Verhältnisse. Dass sie im Großen und Ganzen gelungen ist, war eine besondere Solidarleistung der Sozialversicherung und ihre Unterstützung durch die Bundesregierung. Allerdings bedauern wir, dass es nicht gelang, die Chance der Einheit zu einer grundlegenden Reform der gesetzlichen Alterssicherung zu nutzen.

Parallel zur sozialpolitischen Dimension ging es um die Ansiedlung neuer Industrien, die Auswahl – zusammen mit der Treuhand – bestehender Unternehmen, die eine zukünftige Entwicklung versprachen, und die Aktivierung der enormen wissenschaftlichen und industriellen Potentiale, die Sachsen als Wiege der Industrialisierung in Deutschland trotz der sozialistischen Zeit nicht verloren hatte.

Zugleich musste die Basis für die neue politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung gelegt werden. Dazu gehörte die Privatisierung des volkseigenen Vermögens, der Aufbau der Rechtsordnung, einer funktions- und leistungsfähigen öffentlichen Verwaltung, eines modernen Verkehrssystems, die Erneuerung der Schulen und Universitäten, der sozialen und gesellschaftlichen Strukturen und schließlich die Ausarbeitung und Verabschiedung der neuen Verfassung des Freistaates Sachsen.

Von Anfang an ging es dabei auch um die Sicherung und weitere Entwicklung des kulturellen Lebens in Sachsen. Es verlor auch in der Zeit der Unfreiheit nicht seine Bedeutung für das Land. Nach der Wiedervereinigung gehörte die Kultur Sachsens, ihre fortdauernde Vitalität und ihre Identität spendende Bedeutung für den Freistaat zu den historischen wie politischen Kraftquellen des Landes. Für die Sachsen war ihre Gegenwart eine entscheidende Quelle der Kraft, die sie auch in den Zeiten des Umbruchs ihren Mut und ihren Stolz auf ihr Land nicht verlieren ließ.

Tagebuch

9. November 1990

In Berlin als Ministerpräsident des Freistaates Sachsen zur Teilnahme an der ersten Sitzung des Bundesrates, an der alle 16 Bundesländer teilnehmen. Heute Abend vor einem Jahr öffnete sich die Mauer. Unvorstellbar, hätte man mir vor einem Jahr, als wir im Bundestag die Botschaft von der Öffnung der Mauer erhielten und das Lied der Deutschen sangen, gesagt, ich würde in genau einem Jahr in Berlin als Ministerpräsident des Freistaates Sachsen an der Sitzung des Bundesrates teilnehmen. Gerade berichtet Seiters von diesem Augenblick im Bundestag, nachdem er für die Regierung eine Erklärung abgegeben hat. Kohl war damals in Warschau.

Ich kann die Veränderung, die sich auch mit mir vollzogen hat, immer noch nicht ganz erfassen. Was dieses Jahr an Veränderungen gebracht hat, an Öffnungen neuer Möglichkeiten, hat auch mein Bewusstsein verändert. Rita Süssmuth und ich sprachen heute Morgen darüber, als ich sie im Reichstag besuchte, um meine Verzichtserklärung auf das Bundestagsmandat abzugeben. Denn heute Morgen musste ich den Bundestag verlassen, um Mitglied des Bundesrates zu werden. Wieder das Datum 9. November. Die deutsche Geschichte hat es zu einem Schlüsseldatum gemacht: 9. November 1918 Ende des Kaiserreiches, 9. November 1923 Marsch Hitlers zur Feldherrnhalle, 9. November 1938 »Reichskristallnacht«, 9. November 1939 fehlgeschlagener Anschlag auf Hitler in München, 9. November 1989 Öffnung der Mauer und damit heute.

Mein Bewusstsein hat sich durch die Arbeit in Dresden verändert. Die Bonner sind weit weg. Ihre Diskussionen erscheinen mir unwirklich und zum Teil eher kleinkariert. In den letzten Wochen hat offenbar eine Art Kampagne gegen mich stattgefunden wegen einiger Äußerungen zu Steuerfragen. Bötsch hat mich wohl erst gestern als Störfaktor der CDU bezeichnet. In der Fraktion müssen ähnliche Äußerungen erfolgt sein. Die Erregung ist wohl darauf zurückzuführen, dass alle um die Notwendigkeit der Steuererhöhung wissen, sich aber für den Wahlkampf auf eine Absage an Steuererhöhungen festgelegt haben. Kohl lässt die Möglichkeit einer Steuererhöhung offen, falls die Golfkrise sie erfordere, aber nicht für die Einheit. Das kann niemand mehr verstehen. Dabei wissen 80 Prozent der Bürger, dass Steuererhöhungen auf sie zukommen, und sie sind durchaus bereit, mehrheitlich die Regierung zu wählen: ein für Politiker idealer Sachverhalt. Aber wieder wird das Bonner System der Denkblockaden wirksam, das Denken durch Geschlossenheit ersetzt und diese Stadt so unerträglich spießig erscheinen lässt. Jedenfalls den Hauptstadtteil. Seitdem ich in Sachsen bin, habe ich mehr Verständnis für Berlin als Hauptstadt. Möglich, dass Berlin eine solche Verengung des politischen Horizonts als Mittel der Beherrschung politischer Prozesse erschwert oder unmöglich machen würde. Wäre dies so, dann spräche viel dafür, doch nach Berlin zu gehen.

Rita berichtet auch, Kohl habe den Bayern versprochen, sie werde keine wesentliche politische Position mehr erhalten. Eine solche Zusage wäre eine Ungeheuerlichkeit, entspräche aber genau dem alten Kohl. Wie gut, dass ich jetzt meine eigene politische Basis habe und auf Kohl nicht mehr angewiesen bin.

Diese Basis habe ich gestern weiter ausgebaut. Die Regierung wurde vereidigt und die Regierungserklärung abgegeben. Wir trafen uns zum ersten Mal im Kabinett zur Konstituierenden Sitzung. Die Mitglieder werden gut miteinander arbeiten. Das Klima ist freundschaftlich. Die Qualität des Kabinetts ist gut.

Die Regierungserklärung hatte Gehalt und wurde gut aufgenommen. Damit ist die erste Phase meiner neuen Aufgabe abgeschlossen. Die Wahl in Sachsen habe ich mit rund 54 Prozent gewonnen, bin mit 120 von 153 abgegebenen Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt worden, habe eine brauchbare Regierung gebildet und eine ordentliche Regierungserklärung abgegeben. Nun sind alle Voraussetzungen für die Arbeit der kommenden Jahre gegeben.

Um die Verwirrung in der Steuerdiskussion nicht vollkommen werden zu lassen, präzisiere ich noch einmal meine seit Februar dieses Jahres vertretene Ansicht zu den Kosten der Einheit und ihrer Finanzierung:

1. Die Kosten, die den öffentlichen Haushalten aus dem Aufbau des Ostens Deutschlands entstehen werden, sind noch nicht übersehbar. Soweit sie geklärt sind, werden sie in den kommenden Jahren in etwa dem Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes bei angemessenem Wirtschaftswachstum entsprechen. Dazu werden Kosten für die Bewältigung der Altlasten treten.

2. Der Aufwand des Jahres 1990 von rund 60 Milliarden DM ist durch Kredite finanziert worden. Für das Jahr 1991 wird mit 80 bis 100 Milliarden DM Aufwand zu rechnen sein. Ähnliches gilt für 1992. Der Gesamtbetrag kann nicht durch Kredite finanziert werden. Eine Kreditfinanzierung verbietet sich schon wegen der zinserhöhenden Wirkung einer solchen Kreditnachfrage. Sie würde die weniger leistungsfähigen Länder im Osten Deutschlands gleich zweifach treffen: zum Ersten durch Erhöhung der Kosten für die notwendige eigene Kreditfinanzierung; zum Zweiten durch Beeinträchtigung dringend notwendiger privater Investitionen.

3. Ein wesentlicher Teil des notwendigen Aufwands für den Aufbau der ostdeutschen Länder muss deshalb aus den laufenden Steuereinkommen finanziert werden. Vorrangiges Ziel muss es dabei sein, die notwendigen Mittel durch Einsparungen in den öffentlichen Haushalten bereitzustellen. Gelingt dies, erübrigen sich Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheitskosten.

4. Soweit die notwendigen Mittel nicht durch Einsparungen freigemacht werden können, die bisherigen Steuereinnahmen also nicht ausreichen, ist eine Erhöhung der Steuereinnahmen erforderlich. Über den Umfang lässt sich gegenwärtig keine Aussage machen. Welche Steuern erhöht werden müssten, sollte dann entschieden werden. In einem solchen Fall würde ich der Erhöhung indirekter Steuern den Vorzug geben. Auf eine Möglichkeit der Erhöhung der Mehrwertsteuer im Zuge der europäischen Steuerharmonisierung habe ich schon im Februar verwiesen. Auch die Mineralölsteuer kommt als Steuerquelle in Frage, vor allem dann, wenn die durch die Golfkrise hervorgerufenen Preiserhöhungen abklingen und damit ein entsprechender Spielraum entstehen sollte.

Allgemein erscheint mir die Feststellung notwendig, dass die Diskussion über die Kosten der Einheit und ihre fiskalische Bewältigung die historische Dimension des Vorgangs verfehlt. Am ersten Jahrestag der Öffnung der Mauer haben die ostdeutschen Länder zum ersten Mal an einer Sitzung des Bundesrates teilgenommen. Die deutsche Einheit ist vollendet. Die Aufgabe des Wiederaufbaus des östlichen Teils Deutschlands ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Die Herausforderungen, vor denen die Deutschen im Osten bei der Bewältigung dieser Aufgabe stehen, sind enorm. Es fällt ihnen deshalb schwer, die Diskussion über eine mögliche, in jedem Fall marginale Veränderung der Steuerlast zur Finanzierung eines Teils der Einheitskosten zu verstehen, die derzeit den Westen Deutschlands beschäftigt.

12. November 1990

Präsidium und Bundesvorstand in Bonn. Für die Beratungen habe ich mir einen Text zurechtgelegt: Um die schweren Nachteile auszugleichen, die der östliche Teil Deutschlands 45 Jahre erlitten hat, müssen alle Deutschen solidarisch zusammenstehen. Wenn das steile wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen West und Ost in einem überschaubaren Zeitraum abgebaut werden soll, müssen in den kommenden Jahren Mittel aufgebracht werden, die in etwa dem jährlichen Zuwachs der deutschen Volkswirtschaft entsprechen.

Mittel dieser Größenordnung aufzubringen erfordert von der öffentlichen Hand:

1. äußerste Sparsamkeit und erhebliche Umschichtungen innerhalb der Haushalte. Bedeutsame Schritte in diese Richtung sind in Aussicht genommen. Der eingeschlagene Weg muss konsequent mit dem Ziel weiterverfolgt werden, einen erheblichen Teil der für die neuen Bundesländer benötigten Mittel aus dem Bundeshaushalt sowie den Haushalten der alten Bundesländer freizusetzen.

2. Darüber hinaus kann die öffentliche Hand Mittel für die neuen Bundesländer auf dem Kapitalmarkt aufnehmen. Voraussetzung hierfür ist es allerdings, dass die durch die Verfassung gezogenen Grenzen nicht überschritten werden und das Zinsniveau in Deutschland nicht weiter erhöht wird.

Deutschland gehört heute zu den Ländern mit den weltweit höchsten Realzinsen. Dadurch werden nicht nur private Investoren behindert, wie die schleppenden Aktivitäten im Wohnungsbau zeigen. Behindert wird zunehmend auch die öffentliche Hand selbst. Ein immer größerer Teil der öffentlichen Haushalte muss für Zinszahlungen aufgewandt werden und steht damit anderen, insbesondere investiven Zwecken nicht mehr zur Verfügung. Die öffentliche Hand muss deshalb darauf hinwirken, dass durch ihre Politik ein baldiger Rückgang des Zinsniveaus eingeleitet wird. Das heißt praktisch: Die Möglichkeiten der öffentlichen Hand zur Aufnahme weiterer Kredite sind verhältnismäßig eng begrenzt.

3. Soweit durch Einsparungen und Umschichtungen in den öffentlichen Haushalten sowie durch Kreditaufnahmen die öffentliche Hand in den beschriebenen Grenzen nicht die erforderlichen Mittel für den Abbau des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen West und Ost aufbringen kann, bleibt nur die Möglichkeit, die Steuereinnahmen entsprechend zu erhöhen. Dabei ist darauf zu achten, dass die konjunkturelle Entwicklung nicht beeinträchtigt wird. Ihre Beeinträchtigung wäre am ehesten im Falle einer Erhöhung der direkten Steuern zu erwarten. Falls sich Steuererhöhungen als unvermeidlich erweisen sollten, sollte deshalb in erster Linie eine Anhebung indirekter Steuern erwogen werden (Verbrauchssteuern wie Mineralölsteuer, gegebenenfalls die Mehrwertsteuer). Nur so ist gewährleistet, dass alle Deutschen entsprechend ihrer unterschiedlichen Nachfragekraft auf dem Markt am Aufbau der neuen Bundesländer beteiligt werden.

23. November 1990

Gespräch mit den Oberbürgermeistern zu ungeklärten Fragen der Finanzierung der Kommunen, zu Eigentumsfragen und ihrer Klärung und zur Rolle der Treuhand, insbesondere zur Rückerstattung des kommunalen Besitzes.

Görlitz: Belastung der Stadt mit Grenzverkehr wird unerträglich. Neuer Grenzübergang muss außerhalb der Stadt geschaffen werden. In der Verwaltung wachsen der Gehaltsdruck und damit die Abwerbung.

Zwickau: Soll Zwickau Mittelbehörde werden – ja oder nein? Unruhe in der Bevölkerung, Vollversammlung der Landräte dringend geboten. Informationen nicht aus dritter Hand. Sachsenringentscheidung, Nutzung des ehemaligen Militärgeländes. Wo werden welche Ämter untergebracht? Kommunen müssen es wissen.

Entflechtung des Handels: Die neue Ausschreibung soll angeblich meistbietend erfolgen, was alle heimischen Bieter ausschalten würde. Enorme politische Reaktion auf dieses Vorhaben.

Dresden: Stadthaushalt dringend erforderlich – Rekommunalisierung kommunaler Dienste: Wasser, Abwasser, Energie, etc.; Treuhandentscheidungen nicht mehr verständlich, wochenlange Arbeit obsolet; Liegenschaftsdienst bei der Kommune. Es fehlt allerdings an Räumen. Insgesamt Raumnot: vertreibt das Personal!

Gebraucht werden Entwürfe mit Sachverstand für Organisation der Stadt – Entlassung dreier Dezernenten.

Plauen: Stadt ist geschrumpft von 110 000 auf 74 000 Einwohner. Stadt liegt in Konkurrenz mit Hof. Sie hat einen übergroßen »Anzug«! Aber eine wachsende Stadt: 95 000 um 2000 wird geschätzt.

Stadt darf nicht weiterhin am Rande stehen. Mit Streibl über Stadtprobleme sprechen.

Politische Landschaft unruhig. Waigel schürt schon wieder die Unruhe durch Wahlkampf am 30. November (DSU – Deutsche Soziale Union – als Verlängerung der CSU in die neuen Bundesländer, insbesondere Sachsen).

Unterstützung bei der Unterbringung von Asylanten: gebraucht werden Gebäude, die frei sind (so die Offiziersschule).

Rückerstattungsantragsflut wird immer größer. Auftreten der Antragsteller immer aggressiver.

Treuhandmaßnahmen finden kein Verständnis mehr. Im Handel kann man kaum noch den Weihnachtsverkauf garantieren. Verkehrslage katastrophal. Straße und Schiene!

Stasi-Syndrom und alte Seilschaften machen Sorge. Wie kann man Situation beruhigen? Sorge auch vor Denunziation.

29. November 1990

Sitzung Aspen Institut in Berlin. Wir verabreden für den Vormittag eine generelle Diskussion über die außenpolitische Lage. Paul Doty berichtet über die Lage am Golf. Die ursprüngliche Unterstützung für die Bush-Politik im August und September beginne zu zerfallen. Die Belastungen für die USA in Geld und Menschen nehmen zu. Die Schulden seien ohnehin kaum noch zu verantworten. Viele Gründe sprächen für eine kriegerische Lösung. Denn jede Verhandlung mit Saddam Hussein verschiebe die Problemlösung. Die »Hands off«-Politik der Deutschen und der Europäer müsse besser erklärt werden. Wenn Saddam aus der Krise mit seinen militärischen Möglichkeiten in Takt komme, dann habe er in Zukunft eine größere Macht am Golf und könne über das Öl die Welt beeinflussen.

Marion Dönhoff beklagt die Konzeptionslosigkeit unserer Zeit. Es sei keine Zielvorstellung erkennbar. Wenn man Saddam Husseins militärisches Potential vernichten, aber gleichzeitig die Regeln beachten wolle, komme man in Schwierigkeiten.

In meinem Redebeitrag führe ich die Konzeptionslosigkeit auf die Tatsache zurück, dass unsere Art zu leben nicht universell anwendbar ist. Wir müssen uns als Minderheit definieren, die Anspruch auf Privilegien hat, oder unsere Paradigmen ändern. Denn die Welt ist eine Einheit geworden: Also muss auch die Ordnung eine einheitliche werden. Eine einheitliche Ordnung unter souveränen Staaten reicht nicht mehr. Denn durch die Interdependenz haben wir unsere nationale Souveränität relativiert. Die Ordnung muss deshalb mehr umfassen als nur eine Ordnung autonomer Staaten. Sie muss bestimmte Werte verwirklichen.

1. Dezember 1990

Treffen der Ministerpräsidenten in Potsdam. Die Ministerpräsidenten der fünf »neuen Länder« zusammen mit den beiden Berliner Bürgermeistern treffen sich im Cecilienhof. Wiederum ein historischer Vorgang: Am Ort der Potsdamer Konferenz treffen wir gut 45 Jahre später als frei gewählte Ministerpräsidenten des Teiles Deutschlands zusammen, der in Potsdam im Vollzug der Jalta-Konferenz endgültig unter die Herrschaft Stalins geriet. Bei herrlichem Wetter – es ist klar und winterkalt – fliegen wir mit dem Bundesgrenzschutz von Dresden nach Potsdam, landen auf dem Sportplatz in der Nähe des Interhotels und fahren mit dem Wagen zum Cecilienhof. Eine große Zahl Fotografen und Fernsehkameras erwartet uns. Es gibt Gruppenaufnahmen mit und ohne Damen.

Die Sitzung selbst wird von Stolpe eröffnet und von Gomolka geleitet. Als Erstes befassen wir uns mit Medienfragen. Gestern gab es Aufregung bei uns, weil der Sendebeginn des ZDF am 2. Dezember Ostsachsen nicht erreichen würde. Die Görlitzer fühlten sich wieder am »Arsch der Welt«. Unsere Intervention – Weimann, Martens etc. – führte zu einer Zuschaltung einer ostsächsischen Frequenz, mit der das ZDF nun auch dort empfangen werden kann.

Mühlfenzl berichtet über die Medienprobleme im bisherigen DDR-Gebiet. Es geht um Aufschaltung des ARD-Programms, die Veränderung eines Werbevertrages und die Behandlung des Personals beim DFF. Die Probleme, die bewältigt werden müssen, sind gewaltig. Deshalb kann die ARD erst am 15. Dezember aufgeschaltet werden.

Wir erörtern die Treuhandprobleme und kommen überein, im Verwaltungsrat die Probleme zu besprechen mit dem Ziel, entsprechende Beschlüsse zu fassen. In der Frage Überprüfung der politischen Vergangenheit stimmen wir in der Forderung nach rechtsstaatlichen Verfahren überein.

3. Dezember 1990

Sitzung von Präsidium und Bundesvorstand nach der Bundestagswahl. Die Wahl hat die Koalition bestätigt. CDU 43,8 Prozent, FDP 11 Prozent. Ein Austausch innerhalb der Koalition zu Lasten der CDU, insgesamt eine Stärkung der Koalition. In Berlin hat Diepgen mit rund 9 Prozent Vorsprung gewonnen. Er wird der erste Regierende Bürgermeister des geeinten Berlins sein, und zwar mit einer großen Koalition. Wir haben in Sachsen das beste Landesergebnis erzielt: 49,5 Prozent. Damit liegen wir rund 5 Prozent vor dem nächstbesten Ergebnis.

Für die CSU ist die Wahl in mehrfacher Hinsicht ein Rückschlag. Sie hat im Verhältnis zur letzten Bundestagswahl 1987 3,2 Prozent verloren. Ihre Hoffnung auf die DSU ist bitter enttäuscht worden. Bundesweit hat die DSU 0,2 Prozent Stimmen auf sich vereinen können. Auch in Sachsen ist die DSU zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. Zum Dritten ist die CDU allein stärkste Partei im Bundestag, stärker als die SPD. Und sie hat zusammen mit der FDP eine absolute Mehrheit. Die CDU ist zur Regierungsbildung nicht mehr auf die CSU angewiesen. Damit hat die CSU ihre Schlüsselfunktion im Bundestag verloren.

Wir haben in Sachsen mit 49,5 Prozent ein Ergebnis erreicht, das nur wenig hinter dem bayerischen Ergebnis zurückbleibt. Alle 21 Wahlkreise sind an die CDU gefallen. Die SPD hat 18,2 Prozent, die FDP 12,4 Prozent, die PDS 9 Prozent erreicht.

Die Grünen sind in weiten Teilen Deutschlands nicht in den Bundestag zurückgekehrt. Wenn die CDU sich der ökologisch-konservativen Wähler annimmt, dann kann sie die Grünen auch in Zukunft ausschließen. Die SPD ist in eine tiefe Krise geraten. Sie muss sich ebenso wie die Gewerkschaften neu orientieren. Sie muss die Veränderungen der Gesellschaft nachvollziehen. Aber sie wird nicht aufgeben, sondern in den kommenden Landtagswahlen erneut kämpfen. Sie muss aus ihrem Ein-Drittel-Turm wieder ausbrechen, und dies kann sie nur von der kommunalen und der Länderbasis her. Im Osten zeigt das Ergebnis in Brandenburg, dass die CDU die Landtagswahl auch dort hätte gewinnen können, wenn Lothar de Maizière kandidiert hätte.

Bergsdorf gibt Wahlanalyse: Geringste Wahlbeteiligung seit 1949. Im Westen wie 1949, im Osten noch geringer. Auswirkungen der geringen Wahlbeteiligung im Westen auf CDU negativ. FDP profitiert von niedriger Wahlbeteiligung. Union hat Vorsprung zur SPD ausgebaut. CDU hat zum ersten Mal seit 1957 SPD überrundet (1983 Gleichstand). CDU hat Erststimmenüberhang, ebenso SPD. Entspricht in etwa dem Zweitstimmenvorsprung der FDP.

Die FDP hat ihr bestes Wahlergebnis seit 1961. Die Grünen haben 4,7 Prozent im Westen, 6,9 Prozent im Osten. Sie sind damit nur noch über den Osten im Bundestag vertreten. Die abschließende Diskussion liefert nur wenige zusätzliche Erkenntnisse. Die Wahl sei Ausdruck großer Erwartungen; SPD-Problem solle man nicht ansprechen, das mache die SPD selbst; Probleme, die uns in Zukunft beschäftigen werden, werden ganz andere sein; Problem der Wohlstandsgrenze muss gesehen werden. Abbau wird Jahrzehnte dauern. Den größten Erststimmenvorsprung hätten Schäuble und Seiters.

Späth: Wir können uns leisten, Atem zu holen, aber müssen uns auch auf neue Aufgaben vorbereiten. Bestätigt sind Kohl und die Außenpolitik. Zudem Erwartungsdruck für die Zukunft. Opferbereitschaft allgemein vorhanden, aber nicht konkret. Konkret soll alles bleiben, wie es ist. Erwartung der neuen Länder – Erhaltungswunsch in den alten Ländern. Erwartungen auch aus dem Osten. Dort bestehe eine Drohung: »Geld oder Völkerwanderung«. Wir verbrauchen die Ergebnisse unserer Konjunktur. Wir haben ein enormes binnenwirtschaftliches Konjunkturprogramm. Wir haben Japan in der Binnenkonjunktur überholt. Alle westlichen Volkswirtschaften erwarten von uns Belegungen. Wir brauchen unsere Kräfte aber für unsere innere Belegung im Osten.

Gies, Ministerpräsident, betont Notwendigkeit, neue Länder an alte heranzuführen. Weist auf Unterstützung Brandenburgs durch Nordrhein-Westfalen hin. Fordert die CDU-Länder auf, ähnliche Unterstützungen zu gewähren. Das gelte auch für Probleme innerhalb der Partei, vor allem in Halle. Meyer, der neben mir sitzt, hält Gies für eine Katastrophe. Man müsse das Land auflösen. Ich sage ihm, dass man darüber nicht reden, sondern Fakten schaffen solle.

Die Diskussion läuft in gewohnten Bahnen weiter. Töpfer betont die Bedeutung der Umweltpolitik, der Vorsitzende der Jungen Union (JU) zuvor die Bedeutung der Jugend im Bundestag.

Geißler: CDU/CSU und FDP haben den Kanzler gewählt. Die Parteipräferenzen dagegen haben sich verändert. Vor allem geringere Wahlbeteiligung. Einmal Normalisierung der Demokratie, zum anderen Entwicklung wie in anderen Demokratien.

Wahlverhalten aber auch immer individualistischer und problemorientierter. Deshalb kein Rückschluss aus Bundestagswahlen auf Landtagswahlergebnisse. Die können sich schnell unter dem Eindruck von Personen und regionalen Ereignissen verändern. Der Koalition habe man eher vertraut, mit den Problemen fertig zu werden, als der SPD. Deshalb habe man Bedarf an inhaltlicher Diskussion der weiteren Politik. Ob der Bundesvorstand über das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen noch beraten könne?

Kohl sagt eine ausführliche Beratung der Verhandlungsergebnisse im Bundesvorstand zu. Macht Ausführungen zu den großen Schwierigkeiten der Partei bei Landtagswahlen.

Heiner Geißler weist auf die Bedeutung Genschers für den FDP-Erfolg in der alten DDR hin. Unser Ergebnis sei auf wirtschaftliche und soziale Kompetenzen zurückzuführen. Wie sollen wir zu dem Argument Stellung nehmen, unser Versprechen, niemandem solle es schlechter gehen, sei nicht einzuhalten? Unterstreicht die Notwendigkeit eines Regionalprogramms mit Polen. Die politische Altlast werde im Westen nicht ausreichend ernst genommen. Produktion von Waren im Westen und Verbrauch im Osten muss abgelöst werden durch Investitionen im Osten. Menschen im Osten seien zum Konsumverzicht bereit, wenn investiert werde.

Böck (CDU-Vorsitzender Thüringen) behandelt die Probleme der Parteiorganisation in Thüringen. Reichenbach (CDU Sachsen) weist auf die Bedeutung der Exporte in die Sowjetunion hin. Wenn der Export insgesamt entfalle, dann würden rund 2 Millionen Menschen in der ehemaligen DDR zusätzlich arbeitslos. Außerdem müsse man die Kurzarbeit neuen Zwecken zuführen.

18. Dezember 1990

Stichworte für die Neujahrsansprache 1990/91: Das Jahr, das heute zu Ende geht, war ein historisches Jahr. Es war ein Jahr des Umbruchs. Altes überwunden, Neues begonnen. Anfänge reichen zurück zum 8. Oktober 1990 in Dresden und 9. Oktober 1990 in Leipzig, zum 9. November in Berlin, zum 19. Dezember in Dresden, als Kohl vor der Ruine der Frauenkirche sprach. Das Tor zur deutschen Einheit öffnete sich. Einheit Deutschlands wurde Wirklichkeit. Die Spaltung Europas, der Kalte Krieg wurde überwunden. Es war das erste Jahr freier Wahlen seit 1932: für die Volkskammer, auf der kommunalen Ebene, für die Landtage und für den Bundestag. Wir haben wieder einen Freistaat Sachsen, einen Landtag und eine Regierung.

Das Jahr hat Umwälzungen für jeden von uns gebracht / Abbau des Alten – der Unrechtsherrschaft, der alten Ordnung, aber auch Verlust von Erfahrungen.

Aufbau des Neuen / Erwerb von Erfahrungen / Notwendigkeit zu lernen – aber auch Chancen zu gestalten.

Das unser besonderer Beitrag; sicher: viel übernehmen aus dem Westen, aber: in Deutschland gehen beide aufeinander zu – West und Ost; innere Erneuerung des Ganzen.

Unser Motto: Wir wollen neu ordnen, nicht nur uns einordnen!

Altes bricht schneller zusammen, als Neues entsteht. Darum sind viele betroffen durch Arbeitslosigkeit, durch Mangel an Erfahrung, durch Mangel an sozialer Sicherheit.

Aber vor allem: Niemand ist überflüssig, weil Arbeitsplatz überflüssig. Alle werden gebraucht werden. Für die Überwindung der alten Ordnung im Betrieb, in der Verwaltung, in den Universitäten, im allgemeinen Leben.

Zum Teil harte Eingriffe: so bei Universitäten, aber zum Wohl der Studenten / mit Frühjahrssemester / Studium, das neues Wissen bringt.

Harte Eingriffe auch in der Wirtschaft: Abbau unproduktiver Arbeit, Neuordnung, viele Probleme: Wir müssen sie überwinden! Harte Eingriffe auch in der Verwaltung / Betriebsverwaltung.

Entscheidungen tun weh – auch mir, sie fallen mir nicht leicht. Sie mussten sein – Erkrankungen und Fehlentwicklungen mussten überwunden werden. Kostet viel Kraft – eigentlicher Beitrag / enorme Leistung von allen / dankbar dafür.

Überwindung der Vergangenheit / Gewinnen der Zukunft / beiden ist das neue Jahr gewidmet / das Neue wächst überall / Aufbau Regierung und Verwaltung / Aufbau Rechtsstaat / Erneuerung der Wirtschaft / Infrastruktur, Straßen, Energie, Telefon.

Investitionen – große und kleine / Geduld mit den Problemen / wir werden sie überwinden / Städte werden bauen / Gemeinden gewinnen ihre Handlungsfähigkeit und Selbstständigkeit. All das sind die Aufgaben für 1991.

Die Aufgaben sind gesamtdeutsche Aufgaben. Das müssen wir klarmachen: den Bundestagsabgeordneten, aber auch allen Deutschen.

So wird neues Jahr ein Jahr der inneren Einheit / gesamtdeutsche Solidarität / Jahr gesamtdeutscher Bewährung.

Wir werden dazu Beitrag leisten. Wir werden uns unterstützen und helfen / Gemeinsamkeit der Wende soll nicht verloren gehen / Sachsen wird Beitrag leisten / starkes Stück Deutschland / zu dieser Aufgabe wünsche ich uns allen Kraft, Gesundheit und Erfolg zum Wohl der Bürger / zum Wohl des Landes. So lassen Sie uns das neue Jahr mit Zuversicht begrüßen mit dem Gruß des Bergmanns: Glückauf!

19. Dezember 1990

Sitzung des Landtags. Wir beraten den Vorschalthaushalt, den Georg Milbradt mit wenigen Mitarbeitern in bewundernswerter Geschwindigkeit aufgestellt hat. Ohne dass wir bereits Mittel für politisches Handeln hätten vorsehen können, müssen wir bereits rund 5 Milliarden DM durch Kredite finanzieren. Die Steuereinnahmen bleiben weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück – sie entwickeln sich im Verhältnis zu den alten Bundesländern unbefriedigender als angenommen. Damit werden sie nicht den Rückgang der Zuweisungen aus dem Fonds »Deutsche Einheit« ausgleichen können. Als Folge gehen die Gesamteinnahmen in den kommenden Jahren zurück, während sie in den Altbundesländern nachhaltig steigen werden. So jedenfalls die Steuerschätzungen.

Waigel habe ich deshalb heute geschrieben. Wir müssen eine Bestandsaufnahme der Folgen des Einigungsvertrages vornehmen und mit Bund und Ländern über eine Revision verhandeln. Die Ministerpräsidentenkonferenz in München wird dazu eine erste Gelegenheit bieten. Gelingt es uns nicht, die Verteilung der Lasten und Vorteile zwischen der alten Bundesrepublik und den neuen Ländern zu verändern, dann wird sich der Einigungsvertrag zunehmend zu einem Knebelvertrag entwickeln. Die Menschen hier wären dann besser dran gewesen, wenn die alte DDR ohne den Einigungsvertrag beigetreten wäre.

10. Januar 1991

Bundesvorstand in Bonn. Kohl: Jahr von großer Bedeutung. Innenpolitisch wie außenpolitisch. Golfproblem: ungewöhnlich ernst. Vernichtungswaffen noch viel schrecklicher als im Zweiten Weltkrieg. Folgen eines Krieges unabsehbar. Aber nicht mehr Geist von München. Die Einigkeit der Alliierten noch stabil. Aber noch Chance für andere Lösungen.

Gestrige Gespräche in Genf rundherum enttäuschend. USA zum Frieden bereit, wenn UNO-Resolution eingelöst wird. In der Region nicht nur Kräfte, die Frieden wollen, sondern auch alte Rechnungen, die beglichen werden sollen. Naher Osten nach Krieg oder Lösung nicht mehr wie vorher. Für Libanon hat sich niemand eingesetzt. Israel ist gefährdet.

Konsequenz für die Bundesrepublik in jedem Fall, dass Marshallplan für die Nahostregion organisiert werden muss. Jordanien am Ende. Unterstützung für Palästinenser, für Ägypten, schon wegen des Bevölkerungszuwachses. Stabilität im Nahen Osten auch in Zukunft nicht gegeben. Deutschland muss sich wirtschaftlich engagieren – schon angesichts unserer wirtschaftlichen Stärke. Forderungen werden auch aus Südosteuropa kommen.

Mitterrand werde Vorschläge machen. Auch die UNO werde sich bemühen. Menschenmögliches für den Frieden – aber auch Völkerrechtsbruch muss geahndet werden. USA werden zusätzliche Erwartungen äußern, die auch finanzielle Auswirkungen haben werden. GATT-Runde muss zu einer Lösung führen – auch mit Rücksicht auf die USA. Verhandlungen werden sehr kompliziert sein. Ursachen liegen nicht nur bei der Landwirtschaft, sondern auch bei der Industrie und dem Handel, vor allem bei den Dienstleistungen.

ENDE DER LESEPROBE