Eine schöne Kindheit? - Monika Krause-Fuchs - E-Book

Eine schöne Kindheit? E-Book

Monika Krause-Fuchs

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Beschreibung

In „Eine schöne Kindheit?“ erzählt die Autorin über die von Krieg, Nachkrieg, Hunger, Entbehrungen und Ängsten geprägten Lebensabschnitte ihrer Kindheit und Jugend. Neben zahlreichen traumatischen und schmerzlichen Geschehnissen, wie sie fast allen Kindern jener Zeit widerfahren, berichtet sie auch von vielen schönen, lustigen und abenteuerlichen Erlebnissen, wobei ihre zauberhafte Phantasie ihr über viele Misslichkeiten hinweghilft.

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Seitenzahl: 425

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Zeichnung auf dem Deckblatt: Barbara Wolbring-Biemann

Eine schöne Kindheit?

Gestern habe ich mich aufgerafft, die schon längst vergessenen Papiermassen, die ich nach dem Tod meiner Mutter in mehrere Kartons gepackt hatte, in geduldiger Durchsicht zu ordnen. Ich brauchte Platz für meinen eigenen Krempel.

Was ich beim Ausrangieren fand, hatte ich nie zuvor richtig angeschaut. Wie kann man nur so viele Papiere aufbewahren! Fotos, Postkarten, Briefe, Kontoauszüge, ja sogar Kataloge für seniorengerechte Hilfsmittel, alte Quittungen und auch eine „Broschüre“, die ich damals nicht beachtet hatte. Jetzt nahm ich mir die Zeit, sie mir genauer anzusehen. Und was lese ich! Es ist die Hochzeitszeitung meiner Eltern! Das Datum – das ist doch verrückt, das kann doch nicht sein! Aber hier steht es klar und deutlich: Sie haben am 26. März 1939 geheiratet! Auf den Tag genau sechzig Jahre später, am 26. März 1999, habe ich zum zweiten Mal geheiratet. Was für ein Zufall! Ich habe es ja immer gesagt: mein Leben ist eine unzählbare Anhäufung von Zufällen.

Diese 75 Jahre alte Hochzeitszeitung weckte Erinnerungen, die lange Zeit in der hintersten Schublade meines Gehirns gespeichert waren. Sie brachte mich auf den Gedanken, meine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Schließlich war die Hochzeit meiner Eltern die Voraussetzung, dass es mich gibt. Ich sah auf einmal meine Mutter, wie sie mir vor dem Schlafengehen von sich, ihren Geschwistern und Eltern erzählte. Ich wollte alles wissen, und Mutti war geduldig. Von ihrer Geduld hätte ich mir eine dicke Scheibe abschneiden sollen!

Mit der Heirat meiner Eltern – 26. März 1939 – begann für meine Mutter, das wohlbehütete Nesthäkchen ihrer Familie, ein Leben, dessen Verlauf sie sich nicht einmal in den schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können. Als Kind wohlhabender Eltern hatte sie die „Höhere Töchterschule“ besucht, lernte Hochdeutsch – in der Familie sprach man Platt -, dazu Französisch und Englisch, und sie bekam Klavier- und Gesangsunterricht. Das waren nicht gerade die besten Voraussetzungen um zu heiraten, auf eigenen Beinen stehen zu können und jahrelang allein Kinder großzuziehen unter den schwierigen Verhältnissen des II. Weltkrieges, des Zusammenbruchs und der Nachkriegszeit.

Knapp ein halbes Jahr nach der Hochzeit begann der II. Weltkrieg.

Unmittelbar nach der Hochzeitsfeier hieß es für Mutter Koffer und Kisten packen, und die Neuvermählten zogen nach Arnswalde, einer kleinen Stadt in Pommern, wo Vater als Berufssoldat stationiert war. Am Standort, in der Nähe der Kaserne, hatten meine Eltern eine nagelneue Dienstwohnung in einer der für Militärangehörige gebauten Wohnsiedlungen zugewiesen bekommen. Der U-förmige Drei-Etagen-Wohnblock bestand aus modernen, komfortablen Wohnungen. Eine großzügig angelegte Treppe führte von den Hauseingängen auf die Straße, die noch keine war. Die Parkanlage war geplant, der Bau der Straße sollte ebenfalls schnellstmöglich erfolgen, aber der Krieg kam dazwischen. Das unmittelbare Umfeld der Wohnanlage war – je nach Wetter – eine Schlamm- oder eine Sandwüste. Für Kinder gerade wie geschaffen!

Der Umzug von Schwaan nach Arnswalde musste zügig erfolgen. Muttis gesamtes Hab‘ und Gut kam in die neue 3-Zimmerwohnung. Ihr Klavier war das einzige Trostpflaster in der Zeit der Eingewöhnung an das völlig andere Leben, das nun für sie begann. Das noble Instrument hatte kaum seinen Platz bekommen, als sich schon die erste Katastrophe für Mutti ereignete. Jeden Morgen beim Saubermachen hatte sie bemerkt, dass unter dem Klavier Holzspäne lagen, ja und dann gesellten sich zu den Spänen kleine schwarze Kügelchen. Und jeden Morgen das gleiche Theater! Bis sie den Klavierdeckel öffnete und, oh Graus, oh Schreck, ein Mäusenest entdeckte, in dem die Mäusemutter ihre Jungen säugte. Mutti hatte seit ihrer Kindheit panische Angst vor Mäusen – von Ratten ganz zu schweigen! Es gab ein furchtbares Trara, und der Kammerjäger wurde benachrichtigt. Er musste auf der Stelle die Klavierbewohner wegschaffen, und Mutti verlangte ihm die Bestätigung ab, dass kein Fremdling mehr in der Wohnung Unterschlupf gefunden hatte.

Kurz nach der Hochzeit, zwei Monate waren kaum vergangen, merkte Mutti, dass sie schwanger war. Eine harte Zeit brach an. Vater war so gut wie nie zu Hause, Mutti musste, ob sie wollte, ob sie konnte oder nicht, allein fertig werden. Kurz vor dem Geburtstermin reiste sie zu ihrer Schwester, die ihr bei der Geburt beistehen und während der ersten Tage danach helfen wollte. Mein Bruder Harm wurde am 1. Januar 1940 geboren. Mit dem kleinen Stammhalter kehrte Mutti nach Arnswalde zurück, um in ihrem Zuhause das Baby zu versorgen und zu pflegen. Harm war ein ruhiges und zufriedenes Kind. Er gab Mutti die Möglichkeit, sich auf die neue Aufgabe als Mutter nicht nur eines, sondern später mehrerer Kinder allmählich und angstfrei vorzubereiten. Und dann kam ich auf die Welt – nur ein Jahr und drei Monate nach Harm.

Kurz vor dem Geburtstermin packte Mutti wieder den Koffer und reiste mit Harm und mir noch in ihrem Bauch nach Schwaan, einer Kleinstadt südlich Rostocks, ihrem Geburtsort. Meine Großeltern, Vaters Eltern (Muttis Eltern lebten nicht mehr), wohnten in Schwaan. Sie besaßen eine große Gärtnerei mit Wohnhaus, Blumengarten, Obstbäumen, Gemüseanbauflächen, Treibhäusern und einem Nebengebäude. Darin wurden Waren, Saatgut und Materialien gelagert. Eine Hälfte dieses Gebäudes diente als Stall, die andere als Waschküche. Der Heuboden war vollgestopft mit Heu und Stroh für die Haustiere. Das Wohnhaus - 6 Zimmer, Küche, Speisekammer, Flur und Keller - bot ausreichend Platz für eine Großfamilie. Mutti fand daher in Schwaan recht gute Bedingungen vor, um mich auf die Welt zu bringen und auch Harm zu betreuen. Drei Wochen nach meiner Geburt reiste Mutti mit uns beiden Kleinen nach Arnswalde zurück. Da war sie wieder völlig auf sich selbst angewiesen. Inzwischen waren schon alle Waren – ob Lebensmittel oder Haushaltsgegenstände oder Kleidung – rationiert. Auch eine völlig neue Erfahrung, denn in Muttis Familie war Üppigkeit in jeder Hinsicht normal gewesen. Das gehörte nun definitiv der Vergangenheit an.

Harm und Monika – nunmehr der Lebensinhalt unserer Mutter – hielten sie ständig auf Trab. Harm war der Ruhepol, ich der Wirbelwind, die alltägliche Herausforderung für sie. Bevor ich laufen konnte, mag Muttis Alltag noch erträglich gewesen sein, aber sowie ich mich allein von einer Stelle zur anderen bewegen konnte, war‘ s vorbei mit der Ruhe. Ich war sehr neugierig, räumte alle Schränke aus. Wegen Mangels an Spielsachen benutzte ich alles, was ich auf meiner ständigen Suche nach Interessantem fand. Ich beobachtete Mutti bei ihren Tätigkeiten und versuchte, es ihr nachzutun.

Vater war auf Kurzurlaub, Mutti hatte für die Gelegenheit alle Zutaten für einen Topfkuchen aufbewahrt. Vati spielte mit Harm im Wohnzimmer. Auf dem Küchentisch standen die Mehl- und Zuckertüten, daneben lagen Eier, Backpulver, ein Stück Butter. Mutti begann gerade, die abgewogenen Mengen der Zutaten in die Rührschüssel zu schütten, als sie gerufen wurde. Jetzt wollte ich ihre begonnene Arbeit fortführen. Ich war aber zu klein, um auf den Stuhl zu klettern und am Tisch zu arbeiten, also stellte ich mich auf die Zehenspitzen, angelte nach der Mehltüte, zog sie runter, anschließend flog auch die Zuckertüte vom Tisch auf den Fußboden. Der Inhalt beider Tüten lag nun neben dem Tisch, und ich mischte Mehl und Zucker, drosch dabei mit beiden Händen auf meine Zutaten ein, so dass eine Mehlstaubwolke mich zum Husten brachte und Mehl und Zucker großflächig in der Küche verteilt wurden. Als Mutti in die Küche zurückkam, war sie entsetzt. Ihre für Vatis Besuch aufgesparten letzten Backzutaten lagen untrennbar vermengt auf dem Fußboden. Vati kam alarmiert in die Küche, er wollte sich totlachen. Nannte mich seinen „Dollbrägen“. Für Mutti war es überhaupt nicht witzig. Sie konnte ja nicht einfach zum Kaufmann gehen und sich Ersatz beschaffen, alles, was ich gerade verdorben hatte, war rationiert, erst im nächsten Monat gab es Nachschub.

Mutti muss mir von dieser, meiner ersten „bedeutenden“, eigenmächtigen Aktion des Öfteren erzählt haben, denn die Geschichte hat sich mir fest eingeprägt, und ich sehe mich geradezu neben dem Küchentisch, wie ich mit Begeisterung „Backe, Backe Kuchen“ spiele und dann geknickt und traurig auf Mutti schaue, der die Tränen über die Wangen laufen.

Es muss im Herbst 1943 gewesen sein. Mutti hatte für mich ein Paar wunderschöne weiße Lederstiefelchen ergattert. Die letzte bedeutende Anschaffung für mich während des Krieges! Und auch in der Nachkriegszeit hat es nie wieder so schöne Lederschuhe gegeben. Ich war verrückt vor Freude. So schöne Stiefel hatte ich noch nie gesehen. Ich durfte sie aus dem Karton nehmen, Mutti erlaubte mir auch, sie ab und zu anzuziehen und damit durch die Wohnung zu stelzen. Immer begleitete mich dabei Muttis Hinweis: „Mit den Stiefeln darfst du jetzt nicht nach draußen gehen. Es ist viel zu schmutzig, du musst warten, bis der Schlamm getrocknet ist“. Ich konnte aber nicht mehr warten. Ich wollte unbedingt mit meinen schönen weißen Stiefelchen draußen Spazieren gehen. Mutti war in der Küche beschäftigt. Ich zog mir den Mantel an, setzte mir die Mütze auf den Kopf und zog mir die neuen Stiefelchen an. Ich konnte noch nicht die Schnürsenkel korrekt zubinden, so dass die Schuhe locker an meinen Füßen hingen. Klammheimlich verließ ich die Wohnung und begann, durch die Schlammmassen zu stapfen. Bis zu den Knöcheln steckte ich im Dreck und geriet in Panik. Mit Müh und Not gelang es mir, die Füße aus dem Schlamm zu ziehen und wieder bis zur Haustür zu kommen, aber - oh Graus, oh Schreck – ich hatte nur noch ein Stiefelchen an, das andere war im Schlamm stecken geblieben. Mutti öffnete mir die Haustür und starrte entsetzt auf meine Füße. „Wie siehst du aus! Wo ist der Stiefel? Geh sofort zurück und such den Stiefel!“ „Mami, ich weiß nicht, wo er ist. Er ist einfach vom Fuß gefallen, er ist im Schlamm stecken geblieben, und ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Ich habe ihn gesucht und gesucht und gesucht, aber er ist weg“. „Monika, du gehst jetzt raus und kommst erst wieder, wenn du den Stiefel gefunden hast!“

Mutti zog sich Regenmantel und Gummistiefel an, nahm mich an der Hand und zog mit mir los, den verlorenen Stiefel zu suchen. Wir haben ihn nicht gefunden. An den schönen weißen Lederstiefelchen habe ich weiß Gott keine lange Freude gehabt. Eine wahre Strafe für mich war dann noch, dass Mutti mal wieder weinte, und ich hatte die Schuld.

Im Dezember 1943 wurde Herwig geboren. Diesmal hatte Mutti keine Chance, bei Verwandten unterzukommen, um zumindest während der ersten Tage nach der Geburt Unterstützung zu erfahren, denn Herwig kam zwei Monate zu früh auf die Welt. Er war ein Winzling, wog weniger als ein Kilogramm, und laut Hebamme war das Baby nicht lebensfähig. Mutti akzeptierte dieses Urteil nicht. Sie hatte sich entschlossen, um das kleine Kind zu kämpfen.

Im Dezember 1943 war die Schlacht um Stalingrad schon längst verloren. Luftangriffe gehörten inzwischen zu unserem Alltagsleben. Alle Fenster der Wohnung und des Treppenhauses waren nach Eintritt der Dunkelheit mit schwarzen Rollos zu verdunkeln. Das elektrische Licht durfte nicht angeschaltet werden. Mit Kerzen und Taschenlampe behalf sich unsere Mutter, das Allernotwendigste zu finden.

Um uns die Angst vor Dunkelheit und Sirenengeheul zu nehmen, erzählte sie uns stundenlang Märchen oder sang mit uns. Herwig war noch nicht einen Monat alt, als wir jeden Abend wegen drohender Luftangriffe in den Luftschutzkeller rennen mussten. Harm und ich schliefen schon seit Wochen nicht mehr im Pyjama, sondern wir behielten unsere Tageskleidung an. Nur die Schuhe mussten wir uns anziehen, bevor wir in den Keller stürmten. Wenn die Sirene heulte, schickte Mutti erst Harm, dann mich aufs Klo, um Pipi zu machen. Im Luftschutzkeller gab es kein Klo. Und jeden Tag machte ich das gleiche Theater. Kaum saß ich auf dem Klo, bekam ich eine Höllenangst, allein oben gelassen zu werden. Und das kleine Geschäftchen klappte einfach nicht. „Ich drück und drück, und es kommt nix! Bitte, bitte, nimm mich runter“, flehte ich meine Mutter an. Kaum waren wir dann im Keller, wollte meine blöde Blase nicht dicht halten. Ich klemmte die Beine zusammen und versuchte mit der Hand, die auf die richtige Stelle drückte, zu verhindern, dass ich mir in die Hose pinkelte. Es klappte jedes Mal, aber es bedeutete immer wieder eine furchtbare Anstrengung, und die Angst, es könnte daneben gehen, hat mich sicherlich von dem bedrohlichen Lärm, den die über uns nahenden Bombenflugzeuge verursachten, abgelenkt. Schrecklich! Ich denke, dass ich damit einen wirksamen Schutzmechanismus entwickelt hatte. Mit einer Angst jagt man die andere davon!

Wieder heulte die Sirene. Diesmal waren die Bomber schon fast über uns. Mutti musste noch ganz schnell die Wärmflaschen füllen und Herwig kältegeschützt verpacken. Einen Inkubator gibt es nicht. Es ist ja Krieg. Und unser Frühchen war ja sowieso nicht lebensfähig – also hätte Mutti sich all die Mühe ersparen sollen. Das war zumindest die Meinung des Arztes und der Hebamme. Aber Mutti gab nicht auf. Um Herwig ständig warm zu halten, hatte sie eine ganz besondere Technik entwickelt. Zwei Wärmflaschen wurden mit einer Windel um das Baby gebunden. Und dann legte sie den Kleinen auf ein großes Daunenkopfkissen, das sie ebenfalls mit einem Tuch so um ihn herum wickelte und befestigte, dass ein großes zylinderförmiges Bündel entstand, in dessen Mitte der Kleine wohlbehalten schlief.

Inzwischen hatten Harm und ich schon unsere Sitzung auf dem Klo hinter uns. Gestiefelt und gespornt waren wir abrufbereit, um die Treppe runter in den Luftschutzkeller zu rennen. Die Bomber dröhnten über uns. Mutti trieb uns zur Eile an. Wir rannten um unser Leben. Mutti stolperte, und das Bündel fiel ihr aus den Händen und flog die Treppe runter. Vor der Kellertür blieb es liegen. Herwig gab keinen Mucks von sich. Mutti geriet in Panik, grabschte nach dem Bündel und lief in den Keller. Erst jetzt hatte sie Zeit nachzuschauen, ob dem Jungen etwas passiert war. Herwig schlief. Er hatte nichts von dem schrecklichen Sturz mitbekommen. Keine Schramme, keine Beule, nichts. Muttis Erfindung erwies sich als äußerst sicher.

Einige Tage nach Herwigs Treppensturz wurden Harm und ich krank. Masern. Eine schier endlos scheinende Woche lang mussten wir im abgedunkelten Zimmer das Bett hüten, und endlich durften wir wieder aufstehen. Zu unserer großen Freude schien die Sonne, die Zeit der Tagesdunkelheit war vorbei. Im Wohnzimmer hatte Mutti das große Fenster geöffnet. Harm rückte einen Stuhl ans Fenster, stellte sich drauf und berichtete mir von den Schönheiten, die er von seiner Warte aus betrachtete: „Monika, wenn du wüsstest, wie schön es draußen ist! Es ist wuhuhuhunderschön!“ „Los, steige runter, lass mich auf den Stuhl, ich will auch was sehen!“ – befahl ich. „Nein, meine liebe Schwester, ich war zuerst auf dem Stuhl. Ich muss mir jetzt erst mal selber die schöne Welt ansehen. Wenn ich fertig bin, kommst du an die Reihe.“ „Komm da runter und lass mich rauf!“, schrie ich ihn an. „Nein, Monika, du musst warten!“ Ich versetzte meinem Bruder einen Stoß in den Rücken, er verlor das Gleichgewicht und flog vom Stuhl. Beim Versuch, sich irgendwo festzuhalten, stieß er den Milchtopf, der mit kochend heißer Milch zum Abkühlen auf dem Fensterbrett stand, runter. Die heiße Flüssigkeit schwappte über meinen rechten, zur Abwehr ausgestreckten Oberarm. Ein gellender Schrei. Ein unerträglicher Schmerz, Entsetzen und Angst machten mich kopflos. Ich war schuld, dass die Milch meines kleinen Bruders verschüttet war. Jetzt hatte er keine Milch mehr, und Ersatz gab es nicht. Von Panik getrieben rannte ich ins Badezimmer und verkroch mich zwischen Wanne und Klo. Wimmernd vor Schmerz und Angst klemmte ich den Arm an den Brustkorb. Ich hatte einen Wollpullover an. Die heiße Milch hatte die Wolle verfilzt, sie hatte sich regelrecht in die verbrannte Haut eingefressen. Ich hatte ungefähr zehn Quadratzentimeter große Verbrennungen dritten Grades an der Innenfläche des Oberarmes.

Mutti versuchte verzweifelt, mich aus dem Versteck herauszubekommen. Alles gute Zureden half nicht. Ich rührte mich nicht von der Stelle und wimmerte vor mich hin. Meine Tante Minna, Muttis Schwester, war mit Klaus, ihrem jüngsten Sohn, für einige Tage zu uns nach Arnswalde gekommen. Sie wohnte in Rostock und wollte ein wenig Abstand gewinnen von den schrecklichen Bombenangriffen auf die Hafenstadt, die zu dem Zeitpunkt schon zu einem großen Teil zerstört war. Sie konnte mich endlich aus der Klemme herausholen. Sie hatte eine wunderbare Gabe, schmerzgeplagte Menschen zu beruhigen. Sie legte mich Elendsbündel aufs Bett und strich mir mit der Handfläche über den Kopf und redete ganz leise auf mich ein. Ich beruhigte mich tatsächlich, und Mutti nahm mich auf den Arm und galoppierte mit mir ins Lazarett. Der Arzt musste den verfilzten Pullover aus der Wunde reißen. Es war eine höllische Prozedur. Jeden Tag musste ich zum Verbandswechsel. In der Zeit waren der Arzt und ich gute Freunde geworden. Er verstand es wunderbar, mich von der schmerzhaften Wundversorgung abzulenken und lobte mich, weil ich mich ohne zu heulen der alltäglichen Folter aussetzte und kein Trara machte. Irgendwann war dieser Unfall vergessen, nur die große Narbe ist geblieben.

Noch gab es fast ausschließlich nur nachts Bombenangriffe. Tagsüber spielten wir Kinder bei gutem Wetter auf dem großen Platz vor dem Wohngebäudekomplex, bei Schmuddelwetter zu Hause. Harm erfuhr immer eine willkommene Abwechslung, wenn unser Cousin Klaus bei uns war. Dann kannte er seine kleine Schwester nicht. Klaus erfand ständig Ausreden, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Er krümmte sich vor „Bauchschmerzen“, die sofort verschwanden, wenn Tante Minna, seine Mutter, ihn vom Schulgang befreite. Dann entwickelte er seinen besonderen Erfindergeist. Mein Puppenwagen fiel ihm zum Opfer. Klaus behauptete, den Wagen in ein tolles Auto umbauen zu können. Meine Meinung wurde nicht gefragt. Er machte sich an die Arbeit mit Hammer, Kneifzange und Säge, die er im Handwerkskasten meines Vaters fand. Im Handumdrehen war der Puppenwagen ein Wrack. Der Rahmen mit den vier daran befestigten Rädern blieb für mich übrig. Ich wollte mich nicht damit abfinden, dass der Wagen kein Wagen mehr war und überredete Harm, mit mir nach draußen zu kommen. Er sollte sich in das Wagenwrack setzen, ich wollte ihn durch den Matsch Spazieren fahren. Harm saß in dem Rahmen fest. Seine Beine baumelten über dem Rand, mit den Händen versuchte er krampfhaft sich festzukrallen, der Hintern hing fast am Boden. Ich zockelte mit ihm durch Dreck und Pfützen. Das war Schwerstarbeit! Harm fing an zu schreien: „Halt an. Lass mich raus. Ich fall runter!“ Ich antwortete nicht einmal. Jetzt kam noch eine wunderbare große Pfütze, die musste ich noch schaffen. Harm konnte zwar noch schreien, aber das Malheur konnte er nicht verhindern. Er rutschte aus dem Rahmen und landete in der Pfütze. Von Kopf bis Fuß voller Matsch. Ein wahres Schlammbad! Au weh, jetzt gibt’s ein großes Theater zu Hause. Ja, tatsächlich mussten wir bestraft werden. Zuerst kam Harm in die Badewanne, mit voller Montur, um ihn von den Schlammmassen zu befreien. Mutti hat es nie fertig gebracht, uns zu schlagen. Sie schrie auch nicht mit uns. Nein, sie hatte ihre eigenen Methoden, die wir beiden immer in kreative Beschäftigungen ummodelten. Je nach Delikt wurden wir eine viertel oder eine halbe Stunde im Badezimmer eingesperrt. Für solche Gelegenheiten hatte ich klammheimlich Im Schrank unter dem Waschbecken ein Päckchen Makkaroni gehortet. Die Tüte mit Waschpulver lag daneben. Somit hatten wir die Zutaten, eine Lösung anzurühren, um wunderschöne Seifenblasen in die Luft zu pusten. Wir öffneten das Fenster und riefen unsere Nachbarskinder, damit sie unsere Vorführung bestaunen konnten. Sie standen vor dem Fenster mit offenen Mündern, kreischten vor Begeisterung und wollten immer mehr. Die viertel- oder halbe Stunde verging wie im Fluge.

In der Etage über uns wohnte eine Freundin. Na ja, Freundin ist übertrieben. Magda war ein Jahr älter als ich und sehr launisch, rechthaberisch und egoistisch. Aber sie hatte einen Schatz, um den ich sie beneidete und den ich selber liebend gern gehabt hätte: eine Negerpuppe. Jedes Mal, wenn ich Magda bat, mir die Puppe für einen Augenblick zu leihen, forderte sie ein Pfand. Es wurde immer schwieriger, ein geeignetes Pfand zu besorgen. Bei der Rationierung gab es ja rein gar nichts. Es kam der Tag, da hatte ich kein Pfand mehr anzubieten, und Magda verweigerte mir die Leihgabe. Ich musste eine andere Lösung finden. Ich beschloss, mich selber in eine Negerpuppe zu verwandeln. Oft genug hatte ich zugeschaut, wenn Mutti unsere Schuhe mit der farbechten Erdal-Schuhcreme, die mit dem Frosch auf dem Dosendeckel, einschmierte. Das war doch das perfekte Mittel, aus mir Bleichgesicht eine Schwarze zu machen! Gedacht - getan. Ich zog mich aus, öffnete die Dose. Das klappte erst nach dem dritten Versuch. Ich nahm den großen Lappen, der schon eine Menge schwarzer Flecken hatte und begann meine Arbeit. Mann, oh Mann war das anstrengend! Ich begann am Haaransatz. Sorgfältig ging es weiter um die Augen herum, dann kamen Ohren, Wangen, Kinn, Hals, Arme, Brust, Bauch, Beine und Füße nacheinander an die Reihe. Als ich gerade fertig war, kam Mutti und machte meinem Meisterwerk ein Ende. „Was hast du da gemacht?“ – fragte sie, als ob man das nicht sehen konnte. „Um Gottes Willen, wie soll ich dich wieder sauber kriegen, die Schuhcreme ist farbecht, die geht nicht ab. Das ist ja schrecklich, Monika, wie konntest du nur so etwas machen?“ „Mami, ich bin doch jetzt eine Negerpuppe. Ich sehe doch schön aus, genauso wie die von Magda.“ Mutti verstand gar nichts. Sie zog mich grob am Arm ins Badezimmer, hievte mich in die Wanne und begann, mich von Kopf bis Fuß einzuseifen. Die Wanne war bald schwarz, Muttis Arme und Hände ebenfalls, und ich blieb auch schwarz trotz des wiederholten Einseifens und Schrubbens mit dem Schwamm. Mutti war verzweifelt. Sie wusste nicht, wie sie mich wieder weiß machen sollte. Mit einfacher Seife erreichte sie nichts. Sie musste Waschpulver und heißes Wasser benutzen, was mir natürlich überhaupt nicht behagte. Sie tat mir weh, aber es gab keine andere Lösung. Ich begann zu schreien, und Mutti konnte wieder einmal den Tränenfluss nicht aufhalten. Sie war verzweifelt, denn die Schuhcreme musste unbedingt von meiner Haut verschwinden. Die ist nämlich nur für Schuhe geeignet, nicht für Menschenhaut. Noch tagelang nach meiner Umwandlung waren Erdal-Reste zu sehen, ganz besonders an solchen Stellen, die sehr empfindlich sind und an die man nicht leicht herankommt, wie an den Ohren und zwischen den Beinen.

Zum ersten Mal gab es jetzt auch Luftangriffe am helllichten Tag. Niemand war darauf vorbereitet, und als die Sirene anfing zu heulen, waren die Bomber schon über uns.

Alle Kinder unseres Wohnblocks, die laufen konnten, marschierten auf der Chaussee, angeführt vom Kinderkommandanten, der lauthals schrie: „Links, links, wenn der Hauptmann kommt, dann stinkt‘s“. Sein Bataillon – das waren wir fünfzehn drei bis achtjährigen Jungen und Mädchen – war bewaffnet. Als Gewehre dienten Latten, die die größten Jungen unserer Truppe vom Zaun eines neben der Kaserne eingerichteten Gefangenenlagers abgerissen hatten. Wer Bindfaden organisieren konnte, befestigte sein Gewehr damit, wer keinen hatte, musste sein Gewehr ohne Gurt tragen. Wir Soldatenvolk wiederholten die Losung und versuchten, Gleichschritt zu halten. Unser Kommandant war nämlich sehr streng, wer aus der Rolle fiel, wurde bestraft, das bedeutete, er oder sie durfte nicht mehr mitmarschieren. Der Kommandant brüllte jetzt: „Parademarsch, Parademarsch, der Hauptmann hat ein Loch im Arsch! Und alle! Im Gleichschritt! Parademarsch, Parademarsch, der Hauptmann hat ein Loch im Arsch“! Der Kinderchor brüllte mit Wonne die Losung. Vor allem das letzte Wort war für uns ein Fressen, denn zu Hause durften wir nicht einmal wissen, dass es dieses schmutzige Wort gab. Wir marschierten weiter und entfernten uns immer mehr von unserem Wohnblock. Abwechselnd schrien wir Losung Nummer Eins und Nummer Zwei. Plötzlich kreisten mehrere Bomber direkt über uns. Sie flogen weg und kamen wieder zurück. Mehrmals. Das war spannend, nie zuvor hatten wir Flieger gesehen, wir hatten sie nur gehört und fürchteten uns entsetzlich vor den schrecklichen Geräuschen, die sie beim plötzlichen Sinkflug machten. Diese Flieger rasten nicht auf uns zu, nein sie umkreisten uns. Nach einigen Runden drehten sie ab – bis auf einen; der kreiste weiter über uns und kam dabei immer tiefer. Uns schien, als ob der Flieger in greifbarer Nähe war. Ich sehe heute noch den Piloten mit seinem ledernen Ohrenschutz – ich dachte, der hat Schnecken auf den Ohren, solche Schnecken wie sie meine doofe Freundin Magda hatte. Und das Steuer war ja kaputt, es war nur halbrund. Der obere Teil des Rades fehlte. Der Pilot hielt sich an beiden oberen Enden fest. Auf einmal neigte sich der Flieger ganz schief zur Seite, und da konnten wir den Piloten noch viel besser sehen. Wir winkten ihm zu, er drehte noch ein paar Runden, neigte sich wieder, lachte und winkte zurück. Und dann drehte er ab und verschwand. Wir marschierten weiter und kurz darauf sahen wir, wie unsere Mütter uns auf der Chaussee entgegen gerannt kamen. Sie schrien wie verrückt, und als sie uns eingeholt hatten, nahm jede Mutter ihr Kind am Schlafittchen und drosch und prügelte drauflos, als ob die Tollwut unter ihnen ausgebrochen wäre. Selbst Mutti, die uns nie geschlagen hatte, zerrte Harm und mich und schlenkerte uns hin und her, und dabei heulte sie wie von Sinnen. Im Trab und unter Gezeter und Geschrei wurden wir nach Hause getrieben.

Als die Sirene angefangen hatte zu heulen, waren unsere Mütter auf den Vorplatz gestürmt, um uns Kinder in Sicherheit zu bringen, aber wir waren nicht da. Nur die Kleinkinder lagen in ihren Kinderwagen, die an der Hauswand abgestellt waren. Die Sonne schien – kein Wunder, dass wir Soldaten zum Marschieren auf die Chaussee gegangen waren, obwohl es strikt verboten war. Kriegspielen war doch unsere Hauptbeschäftigung geworden. Als unsere Mütter uns nicht fanden, gerieten sie in Panik und rasten los. Sie hatten die Flieger gesehen. Sie wussten, was das bedeutete. Und sie waren sich sicher, dass wir das nicht überleben würden. Es hat lange gedauert, bis in jeder Familie wieder Ruhe eingekehrt war. Und ich habe mich immer wieder gern an den netten Piloten erinnert, der mir so freundlich Winke-Winke gemacht und mich angelächelt hat.

Die Negerpuppengeschichte war längst vergessen, als ich meiner Mutter eine neue Überraschung bescherte. Ich schaute beim täglichen Windelwechsel und Baden meines kleinen Bruders Herwig immer sehr interessiert zu und war fasziniert von der Zeremonie des Einölens, Eincremens und Puderns mit den angenehm duftenden Penaten-Produkten. Ich wusste nicht, dass die große hellblaue Cremedose mit dem Schäfer und dem niedlichen Lamm darauf die letzte war, die meine Mutter hatte ergattern können, was der Grund dafür war, sparsam damit umzugehen.

Herwig lag wieder nach Bad und Windelwechsel mit dazu gehörender Öl- Creme- und Puderanwendung in seinem Stubenwagen. Mutti beschäftigte sich in der Küche mit dem Kochen des Mittagessens. Jetzt wollte ich selber mal die wunderbare Penaten Creme und den Puder auf meiner eigenen Haut genießen. Das Öl interessierte mich nicht. Ich zog mich aus, holte Puder- und Cremedose aus der Schublade, legte sie griffbereit aufs Bett und begann, mich von Kopf bis Fuß einzucremen und einzupudern, mit der gleichen Ausdauer und Genauigkeit, wie ich sie auch angewendet hatte, als ich mich in eine Negerpuppe verwandelt hatte, nur dass diesmal die Farbe weiß war. Die Creme ließ sich nicht einfach auf die Haut schmieren. Bei Mutti ging das Ruckzuck, aber ich hatte Mühe, mein Unternehmen zu schaffen und war am Ende so kaputt, dass ich Nackedei, weiß wie Schneewittchen und alle Viere von mir gestreckt, auf dem Bett einschlief. Bei Mutti klingelten die Alarmglocken, weil ich so ruhig war, ich der Wirbelwind, der unruhige Geist der Familie. Sie rief nach mir, aber ich hörte sie nicht. Sie suchte mich, und als sie mich - bleich wie der Tod – auf dem Bett liegen sah, fuhr ihr der Schreck dermaßen in die Knochen, dass sie schrie und zur Nachbarin über uns rannte: „Monika ist tot, sie liegt auf dem Bett, splitternackt und ist tot!“ „ O Gott, o Gott, wie konnte das passieren? Was ist geschehen?“ war die Reaktion der Nachbarin, die nun mit Mutti in unsere Wohnung gelaufen kam. Von dem Lärm war ich aufgewacht und sah die beiden vor mir, die mich anstarrten, als ob ich ein Gespenst wäre. Die Nachbarin verzog sich schnell, und Mutti hatte wieder einmal einen Weinanfall, was ich wiederum überhaupt nicht verstand.

Anfang August 1944 wurde Oma Krause 50 Jahre alt. Alle Familienangehörigen, die sich nicht an der Front befanden, waren verpflichtet, zu Omas Ehrentag auf der Matte zu erscheinen. Also machte sich auch Mutti mit uns drei Kindern auf die Reise von Arnswalde nach Schwaan. Was für eine verrückte Unternehmung! Es war sehr heiß, die Züge waren überfüllt mit Fronturlaubern und Verwundeten. Mutti hatte nur das Allernötigste eingepackt. Herwig lag im Kinderwagen, Harm und ich mussten uns rechts und links an der Wagenstange festhalten und durften ja nicht loslassen, damit wir im Gedränge auf dem Bahnsteig nicht verloren gingen. Im Zug war es stickig, es stank, es war heiß. Mutti bekam einen Sitzplatz. Harm und ich saßen abwechselnd auf ihrem Schoß. Die Fahrt ging über Stargard, Stettin und Rostock. Wir näherten uns Stettin, da begannen die Sirenen zu heulen. Fliegeralarm. Der Zug hielt an, alle Passagiere mussten aussteigen, schnellstens in den Tunnel, der als Luftschutzbunker diente, rennen und dort ausharren, bis der Bombenangriff vorbei war. Panik, Angst und Schrecken machten sich breit. Uns bot sich das inzwischen schon gewohnte Bild – Mutti konnte den Tränenfluss nicht stoppen, und wir schauten sie bedrückt an. Es ging wieder weiter. Harm und ich langweilten uns fast zu Tode. „Mutti, ich will meine Julischka haben“, forderte ich. Julischka war meine einzige Puppe, die ich geliebt habe. Eine Kunsthandwerkerin hatte sie in liebevoller Arbeit aus Stoff genäht. Eine wunderschöne Puppe! „Monika, deine Julischka ist zu Hause geblieben, jetzt kannst du sie nicht haben, aber wir fahren ja bald wieder zurück, dann hast du sie wieder“, versuchte Mutti, mich abzulenken. „Nein, Mutti, ich will nicht so lange warten, ich will meine Julischka jetzt haben!“ „Monika, es geht nicht. Komm, sei ruhig, wir sind bald bei Oma und Opa. Da kannst du im Garten spielen. Da gibt es Hühner und Apfelbäume und Pflaumen- und Kirschbäume und viele, viele Blumen“, war Muttis erneuter Versuch, mich auf andere Gedanken zu bringen. „Will ich aber nicht, ich will meine liebe Julischka jetzt, jetzt, jetzt!“, trotzte ich zurück. Der Rest der Reise war für uns alle eine Tortur. Fix und fertig kamen wir in Schwaan an. Mutti brauchte einen ganzen Tag, um sich von den Strapazen zu erholen. Meine Julischka habe ich nicht wieder gesehen, denn wir konnten nicht nach Arnswalde zurück. Die Russen näherten sich Ostpreußen, die ersten Bewohner dieser Region begaben sich auf die Flucht, und auch in Arnswalde war kein Verbleib mehr möglich. Nur mit Sommerkleidung und einem kleinen Köfferchen, in den Mutti die notwendigsten Reiseutensilien gepackt hatte, waren wir aufgebrochen. Wir hatten alles, alles verloren, dafür blieb uns aber die Flucht erspart.

Verglichen mit Arnswalde war Schwaan eine Idylle. Ein riesengroßer Gemüse- und Blumengarten, mehrere Treibhäuser, mit Glasfenstern bedeckte Frühbeete, die zur Anzucht von Zier- und Gemüsepflanzen dienten, Apfel-, Pflaumen- und Kirschbäume, ja es gab sogar einen Pfirsichbaum, den Opa allen Befehlen zum Trotz nicht abgesägt hatte. (Pfirsichbäume mussten vernichtet werden. Den Grund weiß ich nicht mehr so genau. Irgend eine Krankheit solle er übertragen, meine ich verstanden zu haben). Erdbeeren, Johannis- und Stachelbeeren – das alles gab es in unserem unmittelbaren Umfeld. Und mittendrin ein uraltes mecklenburgisches Wohnhaus, das mit sechs Zimmern, Küche, Speisekammer, Keller, Dachboden und Flur genügend Platz bot für die Schwaaner Familie, Tante Erika, Vaters Schwester, und ihre Kinder, Tante Hertha, Opas Schwester, und Tante Evchen, Vaters Schwägerin aus Berlin. Eine beeindruckende uralte Kastanie spendete dem Haus Schatten im Sommer und Schutz vor Kälte im Winter. Zwei ebenfalls schon alte Walnussbäume, die direkt vor dem Haus zur Straßenseite wuchsen, lieferten reichlich Nüsse zur Advents- und Weihnachtszeit. Zur Gärtnerei gehörten auch noch eine Obstplantage mit dutzenden verschiedenen Apfel-, Pflaumen- Birnen- und Kirschsorten, ein großes Bienenhaus, eine Spargelplantage und ein Ackerstück, auf dem hauptsächlich Schnittblumen wuchsen.

Seitlich des Wohnhauses war ein Nebengebäude oder Wirtschaftsgebäude. Darin hatte Opa in der vorderen Hälfte sein „Kontor“ eingerichtet. Ein Schrank, der aussah wie ein Apothekerschrank, mit Dutzenden von Schubfächern, diente als Saatgutlager. Drei verschiedene Waagen, eine für schwere Lasten, eine für Produkte bis zu zehn kg und eine Brief- oder Präzisionswaage gehörten zum Inventar des Kontors. Und die Honigschleuder, mit der Opa aus den Honigwaben den Honig rausschleuderte. An der rechten Ecke des Hauses waren zwei Plumpsklos eingerichtet.

Im hinteren Bereich befand sich die Waschküche mit großer Badewanne, einer Zinkwanne, zwei beheizbaren enormen Waschkesseln aus Kupfer und ein Arbeitstisch. Die rechte hintere Gebäudehälfte war der Stall. Das gesamte Obergeschoss war der Heuboden, auf dem neben dem Viehfutter auch Gerätschaften und Arbeitsmaterialien für die Binderei aufbewahrt wurden. Der Heuboden übte auf mich eine magische Anziehungskraft aus. Einerseits überkam mich dort eine panische Angst, wenn eine Maus oder gar – oh Schreck – eine Ratte mir zu sehr in die Nähe gekommen war, und andererseits bot mir der Boden das ideale Versteck, wenn mein Bruder Harm und meine Cousins mich beim beliebten Versteckspiel suchten. Später, als ich schon lesen konnte, war dieser Platz der einzige, an dem ich vor Omas Argusaugen geschützt war, wenn sie mich bei meiner sündhaften Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen, aufspüren wollte. Sie konnte wegen eines schlecht verheilten Bruchs eines Oberschenkelhalses nicht die Bodentreppe hinaufsteigen, blieb vor dem Tor stehen und schrie nach oben: „Monika, komm sofort runter. Du hast zu tun!“ Ich antwortete nicht, vergewisserte mich, dass sie ihren Spähposten aufgegeben hatte, lief die Treppe runter und verschwand durch den Stallausgang. Für Oma war Lesen Zeitverschwendung, und sie war ständig hinter mir her, um mir die verschiedensten, alle durchweg langweiligen Beschäftigungen zuzuteilen. Staubwischen, Unkrautjäten, Socken stricken, Strümpfe stopfen – gibt es ein einziges Kind, das sich dabei wohlfühlen kann? Ich versuchte häufig, diesen lästigen Verpflichtungen zu entkommen.

Nur einige Wochen nach unserer Ankunft in Schwaan hatten wir uns so gut an unser neues Umfeld gewöhnt, dass wir Arnswalde fast vergessen hatten. Natürlich war auch Schwaan nicht vom Kriegsgeschehen verschont, aber es ging verhältnismäßig ruhig zu. Nicht eine einzige Bombe fiel auf Schwaan.

Neben einem großen Gehege mit überdachtem Hühnerstall am Rande des Grundstücks war ein Luftschutzbunker ausgegraben und mit Pfosten stabilisiert worden. Auf seinem Dach wuchs Rasen. Von außen und von oben konnte man nicht erkennen, dass es sich um einen Unterschlupf handelte. Die gesamte Familie und unsere Nachbarn hatten sich hier zu verkriechen, wenn Luftangriffe drohten. Opa war verantwortlich für den Zivilschutz in unserer Straße. Er musste regelmäßig der Deutschen damals bekanntestes Radio, die Göbbelschnauze, anstellen und die Bewegungen der feindlichen Flieger registrieren, um nötigenfalls die Bauchsirene zum Heulen zu bringen. Die große Sirene auf dem Dach der Feuerwehr wurde dafür nicht aktiviert. Warum? Weiß ich nicht. Ich fand es spannend, wenn Opa sich die Sirene um den Bauch schnallte und mit martialischem Schritt und wichtiger Miene die Güstrower Straße hoch und runter marschierte. Er war der einzige Mensch, der bei herannahenden feindlichen Fliegern auf der Straße sein durfte, ja sogar musste. Alle Einwohner hatten sich schnellstmöglich in die Luftschutzanlagen zu begeben. Diese interessante Atmosphäre musste ich unbedingt schnuppern. Ganz vorsichtig um mich schauend und sicherstellend, dass mich niemand bemerkt hatte, schlich ich mich auf die Straße. Opa ging gerade an mir vorbei. Ich hinterher! Meinen Schritt versuchte ich an seinen anzupassen. Das war sehr anstrengend, schließlich waren Opas Beine doppelt so lang wie meine. Er kurbelte die Sirene auf Hochtouren. Es heulte und heulte und heulte wie verrückt. Ich schlug mit beiden Händen den Takt dazu, und dann bemerkte er mich. „Verdammte Göre, hau ab in den Luftschutzkeller! - schrie er mich an und versetzte mir einen Tritt in den Hintern. Nie zuvor hatte mich mein Opa angeschrien, und nie zuvor hatte er nach mir getreten. Ich war entsetzt, ich konnte nicht verstehen, was da gerade passiert war und meine Enttäuschung über meinen sonst doch so lieben Opa war langanhaltend in mein Gedächtnis eingraviert.

Opa saß jetzt fast den ganzen Tag vor der Göbbelschnauze und verfolgte mit immer größer werdender Besorgnis das Kriegsgeschehen. Das fatale Ende zeichnete sich schon längst ab, aber Opa konnte und durfte es nicht glauben, dass der Traum vom Dritten Reich nicht in Erfüllung gehen sollte. Er klammerte sich an jede alle Realität verleugnende Nazivoraussage, selbst wenn sie noch so hanebüchen war, schlug mit den Fäusten auf den Tisch und verkündete: „Ihr werdet es erleben! Die V-Waffen werden die Wende bringen. Dagegen kann keiner an!“ Zur gleichen Zeit traf er allerdings Vorkehrungen, um auf das Schrecklichste vorbereitet zu sein.

Es muss Anfang April 1945 gewesen sein. Die erwachsenen Familienangehörigen wurden informiert, dass der wertvolle Familienbesitz, Gold, Silberbestecke und -kandelaber, leinene Tischwäsche und Bettwäsche aus feinster Baumwolle, das Sonntagsporzellan und die Kristallgläser und –vasen, vor dem Feind sicher vergraben werden sollte. Ein großes Loch in der Nähe des Holzschuppens, am oberen Rand des Grundstückes, wurde ausgehoben, ein großes Wachstuch war als Isolierung vor Schmutz und Feuchtigkeit auf dem Boden des Loches ausgebreitet. Plastikplanen gab es noch nicht. Die heimliche Aktion startete gegen 20°° Uhr. Mutti hatte mich zuvor ins Bett gebracht, mir noch ganz kurz meine Gute-Nacht-Geschichte erzählt und war zum Ort des Geschehens geeilt, um an der Operation Schatzvergrabung helfend teilzuhaben. Ich konnte nicht schlafen und wurde von ungewöhnlichen Geräuschen wachgehalten. Die Neugier trieb mich ans Fenster, und da sah ich die ganze Familie – Oma, Opa, Tante Edi, Tante Evchen und Mutti – neben dem Holzschuppen. Das musste ich mir unbedingt ansehen. Alle Erwachsenen standen im Halbkreis um das Loch und packten Gegenstände hinein. Das war ja komisch. Die Sachen gehörten doch gar nicht in das Loch. Warum stopften sie aber das alles da hinein? Ich hatte mich hinter Opa platziert, der mit gegrätschten Beinen vor mir stand. Ich konnte zwischen seinen Beinen geradezu aufs Loch schauen. Ach, du meine Güte, was war nur in die Erwachsenen gefahren, was machten die da für dummes Zeug? Ich war mit meinen Gedanken bei den vielen schönen Sachen, die so mir nichts dir nichts im Loch landeten, als Opa – natürlich wieder er! – mich bemerkte. Jetzt waren alle ganz aufgeregt. „O, Gott, o, Gott, Berti, bring sie schnell wieder ins Bett und lenk sie von dem Geschehen ab!“, wurde Mutti beauftragt. Auf dem Weg ins Schlafzimmer bohrte ich: „Mutti, was habt ihr da vergraben? Warum habt ihr all die schönen Sachen ins Loch gepackt? Waruuum, Mami? „Monika, komm, du musst jetzt ins Bett gehen, es ist schon spät, dir fallen die Augen schon zu, du bist ja todmüde“, verstand es Mutti, mich auf den Schlaf einzustellen. Sie sang noch ein schönes Schlaflied und blieb an meiner Seite, bis ich fest schlief. Am nächsten Morgen, vor dem Frühstück rannte ich zum Holzschuppen, um mir das magische Loch noch einmal ganz genau anzusehen. Da war kein Loch. Mutti kam hinter mir her und fragte mich: „Monika, was suchst du?“ „Mami, gestern Abend war da ein Loch, und ihr habt da viele, viele schöne Sachen reingepackt. Mami, wo ist das Loch jetzt?“ „Monika, du hast wieder mal was ganz Komisches geträumt. Hier war doch kein Loch!“ „Doch, Mami, hier war ein Loch. Ich hab es gesehen und ihr habt da viele Sachen reingesteckt!“ „Nein, Monika, hier war kein Loch und hier haben wir auch nichts reingesteckt!“ „Und doch, und doch, und doch!“ „Monika, wenn hier ein Loch war, zeig mir doch genau, wo es gewesen sein soll!“, forderte mich meine Mutter auf. „Das Loch war da, wo immer die Johannisbeerbüsche standen“, antwortete ich trotzig, aber auch etwas verunsichert. „Schau mal, Monika, da stehen die Johannisbeerbüsche, siehst du sie? Sie stehen da, wo sie immer gestanden haben, und dort haben sie auch gestern Abend gestanden. Du hast geträumt. Im Traum hast du ein Loch gesehen. Du hast geträumt, dass wir viele Sachen in das Loch gestopft haben, die doch gar nicht in ein Loch gehören. Verstehst du jetzt, dass es nur ein Traum war? Denn warum sollten wir all die schönen Sachen in ein Loch packen?“ Ja, meine Mutter konnte mich davon überzeugen, dass ich die ganze Geschichte geträumt hatte, und alle Beteiligten an der illegalen Vergrabung waren heilfroh darüber, dass ich nicht mehr auf das Thema zu sprechen kam.

Im April 1945 sahen wir wieder einmal, wie nach großflächiger Bombardierung Rostocks der Abendhimmel sich rot färbte. Die ganze Familie stand auf der Straße und starrte in den Himmel. „Um Gottes Willen, Rostock brennt schon wieder! Hoffentlich ist Tante Minna (Muttis Schwester), Onkel Fritz, Lotti, Peter und Klaus nichts passiert! Wie lange soll dieses Entsetzen noch gehen? – Muttis Stimme zitterte, und die Tränen rannen ihr schon wieder die Wangen runter. Ich war fasziniert von dem wunderschönen knallroten Himmel. Und dass das ein Feuerball über Rostock sein sollte, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich genoss einfach das herrliche Spektakel.

Opa hat in den letzten Nachrichten gehört, dass die Russen schon in Rostock sind und sich auf den Weg nach Schwaan gemacht haben. Der letzte Befehl der Nazibehörde lautete: die Warnowbrücke der Eisenbahnstrecke Rostock-Berlin und die Warnowbrücke der Stadt Schwaan sind unverzüglich zu sprengen. Der Befehl wurde umgehend ausgeführt. Die Stadt Schwaan war somit in zwei Hälften geteilt, und die Bahnverbindung von Schwaan nach Rostock und von Rostock nach Schwaan für lange, lange Zeit unterbrochen. Die Sprengung der Warnowbrücke der Stadt sollte den Einmarsch der Russen in Schwaan verhindern. Was für eine absurde Maßnahme! Die Russen trafen einige Stunden später als geplant in Schwaan ein. Die zerstörte Brücke war nur ein geringes Hindernis für die Russen. Sie wurde durch eine Pontonbrücke, die im Handumdrehen von den Russen gebaut wurde, ersetzt. Bald wurde das Ponton-Provisorium durch eine Holzbrücke ausgewechselt. Sie diente den Einwohnern von Schwaan jahrelang als Ersatz für die gute alte zerstörte Brücke, die ein Meisterwerk der Technik war.

Die Holzbrücke bescherte uns Kindern so manch gute, aber auch schlechte Erlebnisse. Gute, wenn wir auf dem Weg zur Schule an der Brücke Halt machen mussten, weil sie zur Seite geklappt wurde, um einem Schiff Platz zur Durchfahrt frei zu machen. Wir warteten glücklich und zufrieden, in der Hoffnung, es würde so richtig schön lange dauern, bis wir in die Schule kamen. Schlecht war es allerdings, wenn wir von der Schule kommend nach Hause wollten. Dann verfluchten wir diese blöde Brücke, die schuld daran war, dass wir kaltes Mittagessen bekamen. Und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis der Durchgang wieder hergestellt war.

Unruhe und Angst machten sich breit in unserer Familie, als die Ankunft der Russen geradezu zu riechen war. Opa band sich die Armbanduhr am Fußgelenk fest. Seine goldene Taschenuhr wurde versteckt, und Opa hoffte, dass sie so von den Russen nicht gefunden würde. Als ob das alles wichtig wäre! Oma rannte wie eine Klucke hin und her. Mehr als „O, Gott, o, Gott“ brachte sie nicht hervor. So hatte ich sie nie zuvor erlebt, sie, die Generalin, die Befehlshaberin, die Organisatorin, die Starke, die Herrin der Familie.

Gegen Nachmittag näherte sich die russische Vorhut unserem Grundstück. Die Offiziere saßen zu Pferd, die Muschkoten kutschierten mehrere bis zum Rand mit Lebensmitteln vollgepackte Pferdefuhrwerke. Bei den Bauern in unserem Umfeld hatten sie alles, was sie finden konnten und für nützlich hielten, aufgeladen – Schinken, Wurst, Brot, Gemüse, Mehl, Butter, getrocknete Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Möhren und Rüben.

In unserem Haushalt arbeitete eine junge Polin. Sie sprach auch gut Russisch. Mutti hatte sich von Anfang an ihrer angenommen, ihr Deutsch beigebracht und sie entgegen der Anordnung der Nazibehörden wie ein Familienmitglied behandelt. Mutti und Maria standen gleichermaßen unter Omas Fuchtel. Für Mutti war es selbstverständlich, sich mit Maria zu solidarisieren. Das kam uns nun allen zu Gute, denn nachdem die Russen den Zaun runtergewalzt und die Pferde an Bäumen festgemacht hatten, kamen sie ins Haus. Maria ging ihnen entgegen und hielt vor ihnen eine Rede. Sie erklärte ihnen, dass in diesem Haus eine gute Familie lebe, die sie anständig behandelt habe.

Wir alle – mittlerweile waren wir zwölf Personen, die bei Oma und Opa Unterschlupf gefunden hatten – wurden ins Wohnzimmer geschickt. Matratzen wurden auf den Fußboden gelegt, und alle notwendigsten Sachen durften wir aus den anderen Zimmern holen, um sie ebenfalls im Wohnzimmer, das jetzt alleiniger Raum für diese erweiterte Familie war, zu deponieren. Das war aufregend. Und was für ein Gewühle und Getue! Die Offiziere richteten in unserem Haus und in dem Nachbarhaus, dem der Familie Fröhlingsdorf, den Stab ein. Die Muschkoten mussten im Wirtschaftsgebäude kampieren.

Mutti hatte Müh‘ und Not, alle unsere Kindersachen und ihre eigenen aus dem Schlafzimmer im Obergeschoss zu holen. Sie rannte rauf und runter, wobei ihr die Angst so zu schaffen machte, dass sie eines vernünftigen Gedankens kaum Herr war. Sie war sich sicher, dass sie, ohne vergewaltigt zu werden, nicht davon kommen würde. Als sie endlich aufatmen konnte, weil alles noch einmal glimpflich vonstattengegangen war, merkte sie, dass Harms Schuhe oben geblieben waren. Die musste sie noch unbedingt holen. Aber sie war vor Angst gelähmt, stand an der Treppe und weinte und traute sich nicht, auch nur einen Schritt vorwärts zu gehen. Einer der jungen Offiziere kam ihr entgegen: „Frau, warrrum weinen? Waaas iiist?“ Mutti: “Die Schuhe von meinem Sohn sind noch oben im Schlafzimmer!“ „Nu, dawai, dawai, ge choch und chole Schuche, nu, bistra!!!“ Mutti rührte sich nicht vom Fleck, die rechte Hand behielt sie auf der Türklinke, bereit, sofort wieder von der Stelle zu verschwinden. Der Russe merkte, dass sie vor Angst nichts machen konnte. Er nahm ihre Hand und zog Mutti die Treppe hinauf. Sie wäre fast gestorben, ihr schlotterten die Knie, sie versagten ihr beinahe den Dienst. Im Schlafzimmer angelangt, ließ er sie los: „Nu, chol Schuche, bistra!“ Mutti grapschte sich die Schuhe und rannte die Treppe wieder runter und brachte sich in Sicherheit. Vor versammelter Großfamilie erklärte sie, was ihr widerfahren war und was sie oben im Schlafzimmer gesehen hatte. Im großen Ehebett und in Harms und Monikas Bett lagen sechs Russen in voller Uniform und sogar mit Stiefeln an den Füßen und schliefen. In Herwigs Gitterbettchen schnarchte ein Offizier. Er war so lang, dass seine Beine und Arme über dem Gitter hingen. Seine Mütze diente als Kopfkissen. Er muss sich so „komfortabel“ gefühlt haben wie in einem Gurkenfass, aber die Erschöpfung, die Müdigkeit waren sicherlich stärker als jeglicher Anspruch auf Bequemlichkeit.

Im Blumengarten, Omas ganzem Stolz, hatten einige Soldaten ein großes Loch ausgehoben. Der größte, schönste, ertragreichste Pflaumenbaum unseres Gartens wurde abgehackt. Einige Äste dienten als Halterung für einen Kessel, in dem für etwa dreißig Personen – Russen und Großfamilie Krause – eine deftige Bohnensuppe gekocht wurde. Die Zutaten - Kartoffeln, Sellerie, Porree, Zwiebeln, Bohnen und Schinken – hatten die Russen den Bauern bei ihrem Zug durch die Schwaan vorliegenden Dörfer abgenommen. Es war ein Festessen. Seit Monaten hatte es so ein reichhaltiges und wohlschmeckendes Mahl nicht mehr gegeben. Und wir alle bekamen reichlich davon ab.

Unser Haus war kaum von den Russen beschlagnahmt, da bekamen wir die Krätze. Ein besonderes Geschenk von den Russen. Wer weiß, wie lange es her war, seit sie sich das letzte Mal waschen und frische Kleidung anziehen konnten. Und uns ging es ja nicht besser. Wir hatten keine Seife, kein Waschpulver, kein fließendes Wasser, und wir, die Schwaaner Krause-Familie, dazu noch Tante Erika (Vaters Schwester) mit Kika, Hans-Richard und Baby Annegret, sowie Tante Evchen (Vaters Schwägerin)aus Berlin und Opas Schwester aus Rostock, lebten alle zusammen in nur einem Raum. Idealzustände für diese grässliche, bei fehlender Hygiene sich schnell vermehrende Plage. Der ganze Körper, aber vor allem Arme und Beine juckten zum Verrücktwerden. Es war nicht auszuhalten. Wir wurden alle mit einer nach Teer stinkenden schwarzen Salbe eingeschmiert. Danach brannten alle aufgekratzten Stellen wie Feuer, aber es juckte nicht mehr. Nach einigen Tagen war der Spuk vorüber. In der Zwischenzeit hatten Oma und Mutti die gesamte Bettwäsche und alle kochfesten Kleidungsstücke im großen Kupferkessel in der Waschküche gekocht, in der Warnow gespült und an der gleißenden Sonne getrocknet. Krätze ade, dein Scheiden tut gar nicht weh!

Glücklicherweise war der Sommer 1945 sonnig und warm. Wir Kinder verbrachten die meiste Zeit draußen, erkundeten unser Umfeld und besuchten auch des Öfteren die Russen, obwohl man es uns verboten hatte. Aber die Erwachsenen hatten so viel zu tun, um das tägliche Überleben einigermaßen in den Griff zu bekommen, dass sie für uns Kinder kaum Zeit fanden und wir Kleinen uns meist selbst überlassen waren. Ich sehe noch heute, wie Harm und ich einen tollen Schatz fanden, nämlich Stapel von Bögen mit eingestanzten Lackbildern und Briefmarkenbögen mit Adolfs Konterfei auf jeder Marke. Das waren Hunderte von Briefmarken, und wir durften sie behalten und damit spielen, und die Lackbilder – Blümchen, Schmetterlinge, bunte Vögelchen – nahmen wir aus den Bögen heraus, und unserer Phantasie freien Lauf lassend erfanden wir wunderbare Spiele damit. Ganz in unserer Nähe, am Bahnhof, fanden wir Bagelitkisten, die mit unterschiedlich großen Fettdosen und Ölflaschen gefüllt waren, die zum Einfetten von Waffen und Maschinen dienten. Wir schmierten uns von oben bis unten mit diesen Fetten und Ölen ein in der festen Überzeugung, es handele sich um Körperpflegemittel. Wir stanken wie frisch geölte Maschinen, aber das störte niemanden. Es gab schon lange keine Seife mehr, es gab auch keine Penaten-Creme, kein Shampoon, kein Waschpulver, da war es doch besser, wir stanken nach Maschinenöl und nicht nach Dreck.

Die russischen Offiziere hatten geradezu einen Narren gefressen an uns Kindern. Sie schenkten uns Weißbrotschnitten und erzählten uns Geschichten in ihrem urkomischen Deutsch. Ein junger Offizier hatte mich auf den Arm genommen. Er schenkte mir eine riesengroße Schnitte Weißbrot, die ich im Handumdrehen verschlang, und als Nachtisch bekam ich ein Stückchen Schokolade. Das war das allergrößte, das kostbarste Geschenk im Sommer 1945, an das ich mich erinnern kann. Ich kannte keine Schokolade, und dieses kleine Stückchen machte Lust auf mehr! Der Offizier, für mich der schönste Mann der Welt, erzählte mir irgendetwas, und dann fragte er mich: „Nu, malenkaja devutschka, willst du kommen mit mir nach Hause?“ Ich klammerte meine Arme um seinen Hals, schmiegte mich an ihn und rief begeistert: „Ja“! Ich hatte nicht gemerkt, dass meine Mutter hinzugekommen war. Sie stand neben uns, und – wie so oft – strömten ihr die Tränen in Sturzbächen aus den Augen. Sie konnte kein Wort hervorbringen, nur weinen. Der Russe sah sie verdutzt an, riss mich von sich los und drückte mich in Muttis Arme und ging davon. Das habe ich ihm nie verziehen. Es war der erste von einem Mann an mir begangene Verrat, es war meine erste große Liebe, die, bevor sie begonnen hatte, kaputt ging. Und das auch nur, weil Mutti mal wieder weinen musste!

Die Russen zogen einige Wochen nach ihrer Ankunft ins Rathaus um. Wir durften wieder unser zu Hause in Besitz nehmen.

Opa bekam ständig „Besuch“ von der sowjetischen Militärverwaltung. Ein Major kontrollierte regelmäßig die