Eiskalte Jäger - Maurice Lambert - E-Book

Eiskalte Jäger E-Book

Maurice Lambert

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Beschreibung

In diesen Erzählungen steht das Verbrechen im Vordergrund. Gnadenlos schlagen die Jägerinnen und Jäger zu. Sei es, dass sich eine mysteriöse Chinesin in eine Aikido-Gruppe einschleicht, um uralte Rechnungen zu begleichen; ein bei Regen am Straßenrand in einem Poncho herumirrendes Männlein sich als großer, strategischer Mörder entpuppt; pfiffige Tüftler lediglich zum Testen ihrer Erfindungen wild durch die Nacht ballern; eine Arzthelferin sich in einen Patienten verliebt, welcher ein dunkles Geheimnis in sich birgt. Das Buch enthält die Erzählungen: - Todesregen - Die unheilvolle Schwertstunde - Huntingtens Traum - Tod aus heiterem Himmel - Das zweite Messer Spannend. Schnell. Gefährlich.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Maurice Lambert

Eiskalte Jäger

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Todesregen

Die unheilvolle Schwertstunde

Huntingtens Traum

Tod aus heiterem Himmel

Das zweite Messer

Weitere Werke des Autors

Impressum neobooks

Todesregen

Es war ein schwüler Hochsommertag. Nachmittags, einige Stunden vor dem Gewitter. Die Schwalben flogen tief. In einer irren Geschwindigkeit durchsichelten sie die Luft und zogen dabei ihre Kreise um unser Haus immer enger. Eine wurde in dieser wilden Jagd auf tieffliegende Mücken zu risikofreudig. Mit einem Bein blieb sie am Haltering der Dachrinne hängen. Den Kopf nach unten wirbelte sie wild mit ihren Flügeln, um ihr festgeklemmtes Beinchen wieder herauszuziehen. Dabei schrie der kleine Vogel panisch vor Angst.

Wir Kinder konnten die Furcht nicht verstehen. Im ersten Moment. Doch sogleich wurde uns die Brutalität der Wirklichkeit vorgeführt. Eine Rabenkrähe kam wie aus dem Nichts heran geschossen, hackte mit ihrem großen Schnabel der armen, gefangenen Schwalbe ein großes Stück Fleisch aus der Brust und stob davon.

An der Dachrinne war schlagartig Ruhe.

Unten auf der Straße ebenfalls.

Wir Kinder waren geschockt.

Meine kleine Schwester Khadidja fing ganz laut an zu weinen, mir drehte sich der Magen um. Ich wünschte mir, das alles wäre nicht wahr gewesen. Eine Krähe kann doch nicht einfach so eine Schwalbe töten, sagte ich mir immer wieder. Es sind doch beides Vögel.

Aber der Leichnam unterm Dach zeigte mir gnadenlos, wie töricht mein Versuch war, die Wahrheit nicht sehen zu wollen.

Als erstes kam Mutter aus dem Haus gestürmt. Sie drückte sich den Kopf der kleinen Khadidja an den Bauch und streichelte tröstend deren Kopf.

„Nazim“, rief die Erwachsene mir zu, „hole den Großvater und lass ihn eine lange Leiter mitbringen.“

Eine Stunde später hatte Opa Salim die Leiche vom Dach entfernt – nicht aber aus meinem Kopf. Jahre später noch kam mich das Ereignis in den Nächten besuchen.

Warum fällt Nazim Tekin diese alte Geschichte gerade jetzt ein, denkt er, als er das Gesicht näher zur Windschutzscheibe schiebt, in der Hoffnung, dadurch in dieser stürmischen Nacht etwas besser sehen zu können.

Nazim Tekin ist mittlerweile in den Vierzigern, hat selber einen Sohn und eine Tochter sowie zwei Kaninchen und einen schwarzen Pudel. Die Tiere gehören natürlich seiner Tochter. Eigentlich. Zumindest, wenn es darum geht, sich mit Kummer zurückzuziehen oder vor den Freundinnen anzugeben. Wenn es um die mit den Haustieren zusammenhängende Arbeit geht, kommen wieder die Eltern ins Spiel: Futter organisieren, Käfig ausmisten, den Hund Gassi führen.

Herr Tekin schmunzelt bei diesem Gedanken. Für seine herzallerliebste Tochter erledigt er diese Aufgaben gerne.

Urplötzlich reißt er das Lenkrad nach links. Ist das eine Einbildung gewesen, fragt er sich, oder war da eben wirklich ein kleiner Mensch am Straßenrand gewesen? Bekleidet mit einem schwarzen Regenponcho und einer spitzen Kapuze?

Sicher ist sich der Fahrer des dunkelgrünen Golfs nicht. Seine Nachtblindheit hat in den letzten Jahren zugenommen, dazu der starke Regen, die Lichtreflexionen der entgegenkommenden Autos, das schnelle Pochen der Scheibenwischer und die Müdigkeit nach einem sehr langen Arbeitstag.

Ist es gerade diese Erschöpfung, die Herrn Tekin an den Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ erinnern lässt. Dieses kleine Männchen im roten Kaputzenanorak. Schrecklich, wie es den Vater ermordet. Verhängnisvoll, dass der Mann trotz aller Warnungen seinem Schicksal nicht entgehen konnte.

Soeben der kleine Mann am Straßenrand, soll das für ihn eine Botschaft sein? Erst die Erinnerung an die Schwalbe, jetzt an den unter die Haut gehenden Film aus Venedig? Nazim Tekin schüttelt den Kopf. Er darf sich durch Erinnerungen nicht ablenken lassen. Die Bundesstraße 441 ist nicht gerade sehr breit und hat an seinen Seiten viele alte Bäume stehen.

Dass er, seitdem er Letter verlassen hat, mit überhöhter Geschwindigkeit parallel zum Mittellandkanal an Seelze vorbeibraust, ist ihm nicht so recht bewusst. Zudem ist er unaufmerksam. Im Kurzzeitgedächtnis sucht er nach Anzeichen, ob er die Zone mit der Geschwindigkeitsbegrenzung schon erreicht hat – diese harte Rechtskurve kurz vor seinem Heimatsort Gümmer, wenn es über die Brücke geht.

Um sich zu vergewissern, blickt er auf das Display seines Navis. Deutlich erkennt er das Geschwindigkeitsbegrenzungsschild mit der 100 drauf. Er hat also noch Zeit. Mit einem Seufzer der Erleichterung blickt der Fahrer wieder hoch. Zum Schrei kommt er nicht mehr. Mit Vollgas rauscht er geradeaus in die Bäume. Die kleine Straße nach Dedensen verfehlt er bei seinem Tempo. Bevor der Motor erstirbt, ist er schon tot.

*

Mit dem Cover der Langspielplatte “If I Die, I Die” der Gruppe Virgin Prunes steht Ute Jaskewitsch am Fenster ihres Wohnzimmers. Regenwasser rinnt in Sturzbächen an den Scheiben hinab, leicht heult der Wind, der durch das alte Fenster in die Wohnung dringt, finster liegt der Hinterhof vor ihr, nachts um halb elf.

Die Welt draußen ist nicht minder düster als die Musik, die aus den Lautsprecherboxen klingt: Ulakanakulot. Ein melodiöses Instrumentalstück, das noch nicht erkennen lässt, wohin die Reise wirklich geht: In den Wahnsinn.

Dennoch erzeugen schon hier Hackbrett und Drum einen tranceförmigen Zustand, dem sich in den folgenden Stücken Bass, Glockenspiel und selbst ein Didgeridoo hinzugesellen werden. In schräger Harmonie untereinander, getragen von den Stimmen der drei Sänger, taucht der Zuhörer ein in ein Meer aus Albträumen, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Für Ute Jaskewitsch ist diese erste Seite eine der ungewöhnlichsten im Post-Punk-Avantgarde-Universum. Zudem mag sie diese Gruppe der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wegen des Spiels mit den Geschlechterrollen und dem konsequenten Beharren auf eine Außenseiterrolle.

Auch sie, die Hauptkommissarin Ute Jaskewitsch, hält an ihrer ureigene Individualität fest. Alte Moralvorstellungen erzeugen ihr ebenso ein Grausen, wie prinzipienhaftes Festhalten an längst überkommene Werte.

In diesem Augenblick hört sie hinter sich leise Schritte auf dem Flur. Das blaue Cover gegen ihre dunkelrote, glänzende Pyjamajacke gepresst, dreht sie sich zur Tür.

Im Türrahmen steht ein Mann. Leger hat er sich mit der Schulter gegen den Rahmen gelehnt. Sein schwarzer Bademantel ist offen. Darunter ist der Schönling nackt.

Seine wasserblauen Augen beobachten sie liebevoll.

Ute Jaskewitsch legt das Cover aus der Hand und tanzt zu der Musik langsam auf ihn zu. Das Licht der Kerzen erzeugt einen warmen Schimmer auf dem dünnen Seidenstoff, der ihren Körper bedeckt. Zwei Meter vor ihrem Gast bleibt sie stehen und mustert ihn unverhohlen. Sie ist zufrieden mit dem, was sie sieht.

Einladend streckt sie ihre Hände aus. Der Mann löst sich vom Holz des Türrahmens und schreitet grazil mit seinen unbekleideten Fußsohlen über die hellgebeizten Bohlen des Wohnzimmers. Sowie sich seine Hände mit ihren verflechten, zieht sie den begehrlichen Körper ganz fest an sich heran und schiebt ihre Hände unterhalb des Morgenmantels auf seinen Rücken.

Fest spürt sie seine warme, straffe Haut unter ihren Fingern.

Gemeinsam tanzen sie durch den musikalischen Albtraum, singen die unterschiedlichen Stimmen mit, fühlen die Verzweiflung der Musik im gleichen Maße wie die Erlösung.

Die Hauptkommissarin ist glücklich, mit ihrem Geliebten zu dieser fremden Musik tanzen zu können. Virgin Prunes treffen nicht jedermanns Geschmack. Es gehört schon Mut dazu, sich fallen zu lassen, um das Geheimnis wirklich wahrzunehmen.

Marc hätte sie auch belächeln, den Player ausschalten oder sie sexuell bedrängen können. Stattdessen taucht er ein in ihre Welt, lässt sich von ihr durchs heimelig erleuchtete Zimmer führen, mutiert vom Geliebten zum Freund, zum Schicksalsgefährten.

So langsam und leise, wie die Seite der Langspielplatte begonnen hat, klingt sie wieder aus. Marc und Ute verharren engumarmt, wagen kaum zu atmen. Als könnte der kleinste Schritt den unendlichen Frieden zerstören, den sie gerade voll und ganz spüren, verhalten sie sich wie Kinder, die in einem schönen Traum verfangen sind und deshalb nicht aufwachen möchten. Betrachte auch als Erwachsener die Welt mit dem Geist eines Anfängers - was gleichzusetzen ist mit der Unvoreingenommenheit eines Kindes – um das wahre Glück zu erkennen, erinnert sich die Frau mit den langen, braunen Korkenzieherlocken sinngemäß an eine Aussage des Zenmönchs Shunryu Suzuki.

Einige Minuten rinnen dahin. Langsam kommen die Liebenden zurück in die Realität. Unvermittelt nimmt die Frau den männlichen Körper an ihrer Seite in einem anderen Licht wahr. Verlangen steigt in ihr auf. Ihre rechte Hand gleitet vom Rücken des Mannes in seinen Schritt. Mit Pläsier stellt sie fest, Marc wandelt noch immer im Einklang mit ihr durch Zeit und Raum. Fest umschließt ihre Hand seine Erektion. In einem gemütlichen Tempo schiebt sie ihn zu der Wohnzimmercouch. Dabei kostet ihr Mund seine wunderschönen Lippen.

Schnell fallen beide in ein hitziges Schmusen, bei dem die Hände begehrlich die intimen Zonen des Anderen streicheln. Da ertönt vom Wohnzimmertisch der Police-Song „Message in a Bottle“. Empört schaut die Hauptkommissarin zu ihrem Handy, macht aber keine Anstalten, sich von Marcs Schoß zu erheben.

Ohne großen Aufsehens erhebt sich der Blonde mitsamt seiner niedlichen „Last“, watschelt zum Tisch, greift den elektrischen Störenfried und gibt sich zu bekennen: „Bei Ute Jaskewitsch. Einen Moment, Herr Sahin, ich verbinde.“

Mit einem Lächeln überreicht er der an seinem Körper Klebenden ihr Smartphone.

„Wegen eines tödlichen Verkehrsunfalls bei Seelze rufen Sie mich mitten in der Nacht an, Kommissar Sahin? Was hat die Mordkommission damit zu schaffen?“ Ute Jaskewitsch wiederholt absichtlich die ihr soeben übermittelten Details, um ihren Freund teilhaben zu lassen.

„Ein Zeuge behauptet, der Fahrer sei mit hoher Geschwindigkeit ungebremst in einen Wald gerast? Hat der Fahrer Alkohol im Blut, kann es ein Selbstmord gewesen sein? . . . Sie sind doch schon vor Ort, Herr Sahin?“, beeilte sich die Hauptkommissarin, nachzufragen.

„Fein. Sie sind ein guter Mann. Nehmen Sie die Spuren auf, die der Regen noch nicht zerstört hat. Wenn wir morgen früh den Bericht von der Rechtmedizin haben, werden wir den Fall zusammen analysieren. – Ja, das heißt, mich kriegt heute Nacht alles Gold der Welt nicht aus dem Haus. – Ebenfalls richtig, der Herr am Telefon ist Herr Höppner gewesen. – Fürwahr, das ist ein Grund, im Bett zu bleiben. Vielen Dank für ihr Verständnis, Kommissar Sahin.“

Mit einem spitzbübischen Lächeln kappt die Hauptkommissarin die Leitung. „Du kannst mich jetzt in mein Schlafzimmer tragen, Marc“, sagt sie flapsig und wirft ihre Arme fest um seinen Hals.

Leicht klackt ihr Handy, als es gegen den Türrahmen schlägt. Das Geräusch beschwört einen Einfall rauf. Im Flur befiehlt die kleine Frau mit dem niedlichen Gesicht ihrem Träger anzuhalten. Mit der linken hält sie sich am Rücken des Mannes fest, die rechte zappt durchs Menue, den letzten Anrufer zurückzurufen. „Haben Sie den Wagen schon zur KTU bringen lassen, Herr Sahin? – Wunderbar, Sie sind ein Schatz. Wann bekommen wir die Auswertung des Bordcomputers? – Morgen Mittag? Das ist spitze.“

Ute hat noch nicht wieder aufgelegt, da zieht Marc ihr schon das Smartphone aus der Hand und verfrachtet es rücksichtslos auf die Flurkommode. Mit der Fracht in seinen Armen hingegen geht er sehr achtsam zum großen Ehebett.

Ute genießt für die nächsten Stunden Liebe, Zärtlichkeit und Sex. Besonders in den Momenten, wo ihr vor Augen gehalten wird, dass das Leben endlich ist, muss sie sich ihre Lebendigkeit außerordentlich beweisen. Schweißgebadet und völlig erschöpft ziehen sich viel später die Sommerdecke bis über die Hüften.

Draußen stürmt es noch immer. Der Regen plätschert im Fallrohr nach unten, der Wind rüttelt an den Balkonkästen. Ein Auge der Erschöpften öffnet sich. Verhohlen schaut sie hinaus in die erste Morgendämmerung. Trüb und grau, nachts um halb fünf. In der Beltane-Nacht 2016.

Die Blumen werden das Unwetter überstehen, sie muss nicht hinaus, beschließt sie, rüttelt sich ein letztes Mal, um ihren Körper fest in die Beuge ihres Liebhabers zu schmiegen – und schläft ein.

*

Cem Sahin sitzt auf seinem Schreibtischstuhl und hält sich einen Block Alaun an seinem Hals, als Ute Jaskewitsch das gemeinsame Büro betritt.

„Haben Sie wieder auf ihrer Arbeitsstelle die Nacht verbracht, Kommissar?“, begrüßt sie den frisch rasierten und wie immer stets adrett gekleideten Kollegen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren stolziert sie zum Materialschrank, klaubt eine Glühbirne heraus und stellt sie mit spitzen Fingern auf das Mousepad des jungen Kommissars. „Seit Wochen beklagen Sie sich über den ausgefallenen Strahler übern Spiegel, ich kann das Drama nicht mehr mit ansehen.“

Kommissar Sahin muss lächeln. Er setzt seinen Zeigefinger auf den dicksten der vielen Wassertropfen, die vom schwarzen Regenponcho der Hauptkommissarin auf seine Schreibtischplatte gepurzelt sind und zieht sorgfältig von einem Tropfen zum anderen eine Linie, als würde er bei einem Malrätsel mit einem Stift die Zahlen aufwärts verbinden.

Nachdem er sein Kunstwerk fertig gestellt hat, mustert er erst die klitschnasse Wichtelfrau vor seinem Schreibtisch, bei der zu beiden Seiten ihres Gesichts patschnasse Haarsträhnen unter der Kapuze hervorgekrochen kommen; danach die nassen Fußabdrücke von der Tür zum Schrank und zu seinem Schreibtisch. „Regnet es?“, fragt er mit scheinheiliger Stimme, nimmt den Alaunstein von seinem Hals und reckt Letzteren der Kollegin zu Begutachtung ins Licht.

„Blutung ist erfolgreich gestoppt“, sagt sie im Ton einer Krankenschwester und schiebt alsgleich eine spitze Bemerkung hinterher: „Wenn der Herr Hilfestellung bei seiner Selbstverstümmelung bedarf, ich stehe zu Diensten.“

Gespielt rümpft die Hauptkommissarin die Nase und beginnt, ihren Poncho aufzuknöpfen. Auf dem Weg zur Garderobe sagt sie wie nebenbei, dass draußen herrlichster Sonnenschein sei, sie aber das neugebaute Schwimmbassin zwischen Pförtner und Treppenhaus hat durchwaten müssen.

„Immer diese Umbauten“, nörgelt Kommissar Sahin, bevor er zum Thema kommt. „Der Tote heißt Nazim Tekin.“

Ute Jaskewitsch entgleitet der Regenmantel. Es klatscht, als er auf dem Boden ankommt. Als hätte sie nicht richtig verstanden, dreht sie sich zum Mann hinterm Schreibtisch um. „Aus Gümmer?“

„Sie kennen ihn?“

„Wir waren sechs Jahre lang in einer Klasse. Humboldt-Schule“, antwortet sie zögerlich. Was ihr in diesem Moment wirklich durch den Kopf geht, verschweigt sie indes.

„Wieso sind Sie nicht mit dem Auto gekommen?“, wechselt Cem Sahin das Thema, nachdem er nach dem Grund gesucht hat, warum seine Kollegin im Regenmantel eingetroffen ist. Ohne sie aus den Augen zu lassen, stellt er seine Ellenbogen auf und legt sein Kinn in die Hände. Erwartungsvoll schaut er die Kollegin an.

„Mein Wagen hat einfach nicht anspringen wollen. Ich glaube, das Startprogramm hat sich aufgehängt.“ Die Rollen ihres Schreibtischstuhls knarren leise, als sie das Gefährt neben Herrn Sahin rollt. „Auch wenn es nur ein Unfall war, was haben wir bisher, Herr Kommissar?“, wechselt sie abrupt vom Privaten zum Beruflichen.

„Von der KTU noch keine Ergebnisse, falls Sie meinen, nach einem Zusammenhang suchen zu müssen zwischen dem Ausfall Ihres Bordcomputers und dem tödlichen Unfall Ihres Klassenkollegen.“ Wie die Augen eines Storches ein Erdloch fixieren, in dem gerade ein Ziesel verschwunden ist, wohl wissend, dass diese kleinen Nager äußerst ungeduldig sind und nach wenigen Minuten wieder hervorgekrochen kommen, um sofort zwischen seinen langen Schnabelscheren zu landen und Stück für Stück mittels kurzer Klappbewegungen zu seinem Schlund gebracht zu werden, taxiert Herr Sahin von der Seite das Gesicht der Hauptkommissarin.

Mit Sorge registriert er, wie bei ihr das Gesicht jegliche Farbe verliert.

Noch ist Frau Jaskewitsch aber nicht bereit, über das Vergangene zu reden. Sie schüttelt ihre nasse Mähne und versucht zu beschwichtigen: „Was Sie sich da zusammen reimen.“

„War nur ein flüchtiger Gedanke, nichts von Bedeutung.“ Bei diesen Worten fegt der Kommissar von seiner Schreibtischplatte restliche Krümel seines Frühstückbrötchens zusammen. Nachdem er die Hand über dem Papierkorb abgeklopft hat, stattet er der Regennassen Bericht ab. „Herr Tekin war nicht betrunken, andere Rauschmittel ebenfalls nicht nachweisbar. Im Erdreich vor dem Baum, der ihm zum Verhängnis geworden ist, haben wir gestern Nacht keine Bremsspuren gefunden. Es deckt sich mit der Zeugenaussage, wonach Herr Tekin ungebremst von der Straße gedonnert ist. Vielleicht ein Sekundenschlaf, er soll in letzter Zeit stark überarbeitet gewesen sein, sagte uns seine Gattin.“

„Aber Nazim kennt diese Strecke. Wie Sie soeben sagten, ein Sekundenschlaf dauert nur Sekunden. Der Wagen hätte viel langsamer sein müssen. Wieso war er es nicht?“

„Doch Selbstmord?“ Kommissar Sahin fährt seinen Rechner runter und reißt die Schublade auf. Sein Schlüsselbund klimpert in seiner Hand, als er ihn an sich nimmt.

„Vergessen Sie nicht den Schnorchel für den Pool beim Pförtner“, schäkert Frau Jaskewitsch, als sie wieder in den Regenponcho schlüpft.

Ohne das Ziel besprochen zu haben, wissen beide, wohin die Fahrt geht. Das gefällt Ute Jaskewitsch. Mit ihrem letzten Kollegen, Kommissar Hartmann war es ganz anders gewesen. Was nicht nur am Karrierewillen des Einen, sondern auch am Egozentrismus der Anderen gelegen hatte.

Heute ist die Hauptkommissarin froh, den Weg in die Therapie eingeschlagen zu haben. Die egoistische Zicke bricht sich in ihr immer seltener die Bahn. Es gab eine Zeit, da war es ganz anders gewesen, besonders während der Pubertät.

*

Seelze, 1. Mai 1996

Ute ist mit ihren Freundinnen Ilka und Lidia auf einem Ball zum Tanz in den Mai. Lidia hält nervös Ausschau nach ihrer Verabredung „Nazim“ und hat nicht einmal die innere Ruhe, die Fruchtstückchen aus ihrer Bowle aufzuspießen.

Folgerichtig erntet sie von ihren Freundinnen Spot und Schelte. Lidia tut es gelassen ab, da sie weiß, aus deren Mündern tropft nur der Neid, weil die beiden Hinterwäldlerinnen noch keinen Freund haben, den sie küssen können.

Die drei Freundinnen wechseln ein paar gehässige Worte, dann schnellt Lidia auf und sprintet wehenden Kleides der Gang entgegen, in dessen Mitte Nazim steht. Sein Freund, der hübsche, großgewachsene Levent, der schon einen kurzgestutzten Vollbart trägt, findet sofort Gefallen an Ilka.

Eine halbe Stunde später sind diese Vier nicht mehr von der Tanzfläche wegzudenken.

Nur gelegentlich sucht Lidias Blick die Dritte im Bunde. Ute plaudert mal in dieser Clique, mal in jener, weist geschickt jeden männlichen Annäherungsversuch ab, indem sie die Rotzgöre raushängen lässt, was ihr sicherlich nicht schwer fällt, da sie es seit Kindesbeinen an gewöhnt ist.

Mitleid kommt in Lidia auf.

Sie entlässt Nazim, düst über die Tanzfläche, grapscht sich eine Hand der Freundin mit den langen braunen Korkenzieherlocken, ignoriert deren Zetern und Kneifen und verschleppt sie ins Rampenlicht.

Die ersten zwei Lieder tanzt Lidia mit ihrer Freundin, danach wechseln sich Nazim und Levent ab. Lidia freut sich über die Solidarität der beiden schwarzhaarigen Männer, für die es selbstverständlich ist, die Außenstehende mit in ihre Gruppe aufzunehmen.

So bekommt der Abend eine sehr erfreuliche Wendung und wenn die große Lidia ein wenig aufmerksamer gewesen wäre, hätte diese Nacht der Austreibung der bösen Geister nicht in einem kleinen Desaster enden müssen.

Denn sie hat es gesehen gehabt.

Christoph. Christoph Illgen.

Die ganze Zeit über hat er am Rand der Tanzfläche gestanden und Ute mit hasserfüllten Augen angesehen.

Und auch jetzt reagiert die frisch Verliebte falsch.

Der Rücken von Ute ist noch in der Saaltür zu sehen, da macht sich auch Christoph Illgen bereit, an die frische Luft zu treten.

Es vergehen zehn Minuten, zwanzig, dreißig.

Ute kommt nicht zurück.

Lidia bittet Nazim, mit nach draußen zu kommen.

Unter einem Baum finden sie die zusammengekauerte Ute sitzen. Ihr Kleid ist schmutzig von Erde, Gras und Blut. Die Haare sind zerzaust, das Gesicht geschwollen und blutig. Christoph hat sie zusammengeschlagen.

Nazim fällt urplötzlich ein, mit seinem Vater eine Verabredung zu haben. Natürlich begleitet Levent ihn.

Verdutzt schauen die drei Frauen den beiden Männern hinterher. Kavaliere lassen geschlagene Frauen nicht alleine zurück, beschwert sich Lidia, als sie sich eine halbe Ute über die rechte Schulter hängt. Die andere Hälfte der Freundin wird von Ilka gestützt. Schwankend schleppen sie sich nach Hause.

Am übernächsten Tag in der Schule macht ein schreckliches Gerücht die Runde. Christoph Illgen soll schwer verletzt im Krankenhaus liegen. Seine Peiniger seien maskiert gewesen, hat er bei der Polizei betont – die drei Freundinnen haben bei den Befragungen Nazim und Levent nicht verraten.

*

Seelze, Gegenwart

Frau Tekin hilft der Hauptkommissarin aus dem regennassen Poncho. Herr Sahin ist schon niedergekniet, sich die Schnürsenkel zu öffnen. Die Kriminalistin an seiner Seite tut es ihm gleich.

Mit nassen Socken schleichen sie der Hausdame hinterher und hinterlassen feuchte Abdrücke auf dem Parkett des Flures und des Wohnzimmers.

„Zehra, Schatz, kochst du uns bitte einen Tee“, ruft Frau Tekin vom Wohnzimmer in das Nachbarzimmer, aus dem heraus ein Fernseher zu hören ist.

Die Gerufene kommt folgsam aus dem Zimmer. Ihr von einem schwarzen Kopftuch umrahmtes Gesicht ist verweint. Schüchtern gibt die Dreizehnjährige den Kriminalpolizisten die Hand, dann verschwindet sie in der Küche.

Schranktüren klappern, Geschirr klirrt, Tee gluckert in Tassen.

Mit drei Heißgetränken auf einem kupferroten Tablett kommt die Tochter zurück. Die Mutter schaut kurz auf und streicht sich ihr dickes, offenes Haar hinter die Schulter. Sofort flitzt die Kleine hinfort. Eine Schublade ratscht, Besteck erzeugt ein klingendes Rascheln, etwas schabt über eine Anrichte – dann kommt Zehra mit Zuckerdose und sehr kleinen Teelöffeln zurück.

Wortlos legt sie alles auf dem Tisch ab und verschwindet in ihr Fantasiereich, wo sie hofft, vergessen zu können.

Genau das wird nicht passieren, weiß Hauptkommissarin Jaskewitsch, sagt es aber nicht. Mitleidsvoll sind ihre mandelbraunen Augen auf die angelehnte Tür gerichtet, hinter der die arme Seele verschwunden ist.

Kommissar Sahin verrührt in seinem Teeglas laut den Zucker, bevor er die Befragung eröffnet. Willig und offen beantwortet die Ehefrau des Toten alle Fragen. Schnell sprechen die Anzeichen dafür, es nicht mit einem Selbstmord zu tun zu haben. Abschiedsbriefe fehlen, die letzten Tage hatte Nazim geschwärmt von dem anstehenden Sommerurlaub auf Sizilien und dem Vorhaben, auf dem Ätna bis zum Hauptkrater zu marschieren. Immer wieder hatte er seine Freude bekundet, endlich vier Wochen Abstand von der anstrengenden Arbeit zu bekommen – und ein schneller Anruf von Frau Tekin bei dem Rechtsanwalt und Notar der Familie hat ergeben, dass noch kein Testament hinterlegt worden ist.

Das alles passt nicht mit einem verantwortungsvollen Familienvater zusammen, der beabsichtigt, aus dem Leben zu treten, erkennt der adrett gekleidete Kommissar und erhebt sich, um die Gegenstände des Wohnzimmers zu inspizieren.

Das alles passt nicht mit Nazim zusammen, weiß Ute Jaskewitsch, seitdem sie diesen Namen das erste Mal über die Lippen von Cem Sahin hat huschen hören.

Nazim, der Freund der Freundin, der damals die Rolle des beschützenden Bruders übernommen hatte; etwas, was ihr leiblicher älterer Bruder nie als erstrebenswert erachtet hatte.

Der junge Mann mit den fast schwarzen Augen kommt zurück an den Tisch. „An welchen Instrumenten hat ihr Mann geforscht, Frau Tekin?“, fragt er mit interessiertem Gesicht. Ute Jaskewitsch erkennt sofort, die Wissbegierde bezieht sich nicht in erster Linie auf die Arbeit des Verstorbenen, sondern auf das eingerahmte Foto, das der Kollege in seinen Händen hält. Nur sagt er das noch nicht.