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Der frühere ZDF-Redakteur Ekkehard Kuhn, Autor preisgekrönter Filme und Bücher, hat sich in seinem Wirken vor allem für seine Heimat Schlesien, sein Vaterland Deutschland und für Freundschaft mit den osteuropäischen Nachbarn engagiert. Er, der immer an die deutsche Einheit geglaubt hat, sieht sich als schlesischen und deutschen Patrioten, als überzeugten Europäer. In diesem Buch hält er Rückschau auf sein Leben und die einzelnen Stationen.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Vorwort
Station 1: Zodel in Schlesien - mein Geburtsort
Station 2: Görlitz - meine Oberschulzeit
Station 3: Studium in Berlin
Gedichte 1
Station 4: Studium in München
Gedichte 2
Station 5: Volontariat beim ZDF in Mainz/Wiesbaden
Station 6: Eltville am Rhein
Die neue Redaktion Zeitgeschichte - meine ersten Sendungen für sie
Dreharbeiten und Kontakte in der Sowjetunion - Mauerfall in Berlin - die Entwicklung zur deutschen Einheit
Gedichte 3
Meine Filme "Schlesien - Brücke in Europa" und der Bayerische Fernsehpreis
Kulturpreis-Schlesien-Verleihung in Breslau am 20. Juni 1998
Filme und Buch "Schlesische Reise - 1000 Jahre Breslau" im Jahr 2000
Verleihung der Gerhart-Hauptmann-Medaille in der Westfalenhalle Dortmund am 19. Mai 2002
Der 1. Neißepreis -17. August 2003
Meine letzte Übertragung vom Volkstrauertag aus dem Reichstagsgebäude - 14. November 2010
Mein drittes Schlesienbuch, Urteile und neuer Kontakt nach Russland
Ein Artikel in der Sächsischen Zeitung am 16. Juli 2013
Meine Einladung zum 25. Jahrestag der Revolution in Leipzig - 9. Oktober 2014
Meine Filme für das "Zentrum gegen Vertreibungen"
Mein neues Buch erscheint: "Flucht Vertreibung Integration - Über das Schicksal der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg" - April 2016
Nachtrag am 17. Juni 2017
Nachwort und Ausblick
Zeittafel
Filme und Bücher (Auswahl)
Als ich im Juni 2001 nach 33 Berufsjahren als Fernsehredakteur in den Ruhestand verabschiedet wurde, hatten Kollegen einen Film mit dem Titel "Das Geheimnis des Patrioten" gedreht. Mein Chef und Freund Guido Knopp sagte darin: "Für mich ist Ekkehard Kuhn der größte Patriot, er wiederum sagt, ich sei es. Lassen wir die Zukunft entscheiden, wer Recht hat."
Im Film wurden Teile aus meinen vielen Filmen über die deutsche Frage zusammengestellt. Unbestritten ist, dass niemand im deutschen Fernsehen die Zahl meiner Filme und deren Ausstrahlungen über diesen Themenkreis übertroffen hat.
Über mehr als ein Jahrzehnt liefen im ZDF täglich zum Sendeschluss von mir gestaltete unterschiedliche Filmfassungen der Nationalhymne. Zum Verfassungstag 1989 wurden gar drei meiner Filme zur deutschen Problematik gesendet. Ich möchte hier einige Titel anführen, an die sich vielleicht einige Leser erinnern können: "Das deutsche Nachkriegswunder - Leid und Leistung der Vertriebenen" 1985 - "Das Lied der Deutschen - Vom Umgang mit unserer Hymne" 1986 - "Das deutsche Wirtschaftswunder - Aus Trümmern zu Rekorden" 1986 - "Die deutsche Einheit - Traum und Wirklichkeit" 1990 - "Gorbatschow und die deutsche Einheit" 1993 - "Die große Freiheit - Das Wunder von Berlin" 1994.
Als in Schlesien Geborener galt meine zweite Leidenschaft diesem schon so vergessenen ostdeutschen Land, von dem nur noch ein Zipfel westlich der Neiße deutsch geblieben war. Mit einem polnischen Kollegen produzierten wir 1995/96 den Zwei-Teiler "Schlesien - Brücke in Europa", dessen Qualität zu mehreren Auszeichnungen führte. Im Jahr 2000 lief mein neuer Zweiteiler "Schlesische Reise - 1000 Jahre Breslau", der wiederum großen Erfolg hatte, ein Jahr später war "Die große Flucht - Teil 3 - Festung Breslau" dem traurigen Schicksal der Schlesier gewidmet. Ein Jahr zuvor fanden meine beiden Filme über die deutsche Hauptstadt "Der Schock von Berlin - 13. August 1961 - Der Bau der Mauer" und "Das Wunder von Berlin - 9. November 1989 - Der Fall der Mauer" große Beachtung.
Schon früh in meinem beruflichen Wirken hatte ich mir Gedanken über das Selbstverständnis und das fehlende Nationalbewusstsein der Deutschen gemacht. So schrieb ich in meinem ersten Buch "Nicht Rache, nicht Vergeltung - Das Schicksal der Vertriebenen", das 1987 erschien: "Eine der wichtigsten Anforderungen der deutschen Geschichte an die Deutschen ist im Hinblick auf das nationale Selbstverständnis: Maß und Mitte zu finden. Entweder hat sich unser Volk über andere Völker erhoben und ist in seiner Mehrheit der Hybris eines "Führers" gefolgt (siehe "Drittes Reich") oder es besitzt überhaupt keinen Nationalstolz mehr, wie es heute bei den meisten Deutschen der Fall ist. Die Deutschen - das ist das Volk im Pendelschlag der Extreme, und so beäugen uns auch befreundete Völker noch immer argwöhnisch, die das so gut wie nicht vorhandene Nationalbewusstsein der Deutschen ebenso ängstigt wie einst das übersteigerte. In seinem Buch "Die Zukunft Deutschlands" schreibt der Amerikaner Hermann Kahn: "Dass die politische Mitte in Deutschland - und damit sind nicht einzelne Parteien gemeint - sich nicht mehr einer Betonung des Nationalen zuwendet, kann negative Folgen haben. Das bestehende Vakuum kann zu leicht eines Tages von der politischen Linken oder der politischen Rechten ausgefüllt und dazu benutzt werden, um politische Programme durchzusetzen."
Anders als fast alle anderen Landsleute habe ich immer an die Wiederherstellung der deutschen Einheit und an das Ende der DDR geglaubt und sie im gleichen Buch vorausgesagt, ohne freilich eine Jahreszahl nennen zu können. Auf Seite 337 steht: "Die Sowjetunion ist heute - verkürzt gesagt - das letzte große Kolonialreich der Erde. Es gehört wohl keine große Prophetie dazu, vorherzusagen, dass in Zukunft der Druck der vielen sowjetischen Völker und der Völker Osteuropas auf das großrussische Herrschervolk zunehmen wird... Die Freiheit, die Selbstbestimmung wird eines Tages allen Völkern in Europa gehören. So wie der russische Zar es gestattete, das die deutschen Staaten im 19. Jahrhundert durch Bismarcks Reichsgründung in einem großen Kaiserreich zusammenwuchsen, so wird eines Tages auch die Sowjetunion bereit sein, zuzulassen, dass die Deutschen wieder in einem Staat zusammenleben."
Es war für mich ein großes Glück, den Beginn der wiedererlangten deutschen Einheit um Mitternacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 vor dem Berliner Reichstagsgebäude mit zu erleben.
Und ich bin sehr dankbar, dass ich in den Jahren danach alle für die Schaffung der Einheit wichtigen deutschen und sowjetischen Politiker interviewen konnte, darunter die herausragenden Protagonisten Michail Gorbatschow, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher.
Sehr gefreut habe ich mich darüber, dass ich durch meine Filme und Bücher über Schlesien dieses schon fast vergessene Land den Deutschen wieder näher bringen konnte. Ich hatte mich selbst nicht nur als engagierten, patriotischen Schlesier gesehen und als solcher auch gearbeitet. Mein Tun wurde auch anerkannt. Als Beispiel ein Zitat aus einem Brief von Günter Scholz vom Januar 2000 "Sehr geehrter Herr Kuhn, lieber schlesischer Landsmann, ich möchte Ihnen für das hervorragende Buch "Schlesien - Brücke in Europa" danken. Anlässlich des Weihnachtsfestes bekam ich es von meiner lieben Frau geschenkt. Sofort musste ich es lesen und ich bin einfach begeistert. Leider sind wir patriotischen Schlesier in der Minderheit."
Von seiner Frau Marianne Scholz-Paul bekam ich einige Jahre später den Ersten Neißepreis mit der Begründung überreicht, dass ich durch meine Filme und Bücher den Schlesiern ihre Würde wiedergegeben hätte.
Ich war immer der Meinung, dass man sich im Tun für die Allgemeinheit in konzentrischen Kreisen bewegen müsse. Die engere Heimat steht zu Beginn, dann folgt das Vaterland - in meinem Fall Deutschland - dann das gute Verhältnis zu den Nachbarn und das Engagement für Europa, unsere geistige und politische Heimat. Alles gehört zusammen und ergänzt sich. Ich bin schlesischer und deutscher Patriot, überzeugter Europäer und Bürger dieser einen Welt Erde.
Ich will in diesem Buch meinen Werdegang in den einzelnen Stationen darlegen und mit Motiven von ihnen anreichern. Das sind meist keine historischen Bilder aus der damaligen Zeit sondern Fotos aus den letzten Jahren.
Sehr wichtig sind mir in diesem Werk auch meine Gedichte. In ihnen sind neben der Zeitgeschichte allgemeine Situationen des Lebens empfunden und beschrieben. Sie gehören wie meine Filme und Bücher zu meinem Leben.
Jetzt wo ich zum ersten Mal mein Leben und Schaffen insgesamt zum Thema machen will, habe ich ein Versprechen einzulösen. Zu Professor Wolfgang Seiffert, den wir als Ost-West-Experte oft in unseren Sendungen der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte hatten, habe ich, weil mir die Einleitung zu seinem Buch "Selbstbestimmt" so gut gefiel, gesagt, ich werde, wenn ich einmal meine Erinnerungen schreibe, seine Einleitung verwenden. Nun bin ich dem schon Verstorbenen im Wort und bin dankbar über seine treffend formulierten Zeilen:
"Jeder Mensch wird in eine Vielfalt von gesellschaftlichen Verhältnissen hineingeboren, die unabhängig von ihm existieren: seine Eltern, denen er sein Leben verdankt; das Land, in dem er auf die Welt kommt; seine Muttersprache; die politischen Strukturen, auf die er trifft; die Zeit, in der sein Leben abläuft - alles das existiert zunächst als gegeben. Erst allmählich lernt er, seine Umwelt zu verstehen, auf sie einzuwirken und sie mitzugestalten. Hierbei stößt er immer wieder auch an Grenzen. Was der Mensch innerhalb dieser Grenzen aus seinem Leben macht, das ist sein eigentliches Lebenswerk, und andere mögen schließlich beurteilen, ob jemand sein Leben genutzt hat und ob es nützlich war - für ihn selbst, für andere oder gar für die Gesellschaft. Er kann nur aufschreiben, wie es war, wie er es gesehen, und wie er es erlebt hat."
Mein Geburtshaus in Zodel, eine ehemalige Schule, im ersten Stock rechts wurde ich geboren. Der Ort im Kreis Görlitz gehörte damals zum Regierungsbezirk Liegnitz in Schlesien. Ein Foto von 2005, das Haus wurde neu angestrichen und die Straße erneuert
In diesem Schulhaus in Zodel Kreis Görlitz in Schlesien wurde ich am 9. Juni 1938 in der Wohnung des Lehrerehepaars Alfred und Elfriede Kuhn geboren. Nach meinen beiden Schwestern war ich der schon von den Eltern sehnsüchtig erwartete "Stammhalter" - wie es damals hieß. Mein Vater, der aus Adelsbach im Waldenburger Bergland in Schlesien stammte, war als dritter Lehrer in das 1000-Seelen-Dorf versetzt worden. Er und meine Mutter aus dem Nachbarort Altreichenau im Waldenburger Bergland hatten am 19. Juli 1927 geheiratet und waren nach einigen Zwischenaufenthalten des Vaters als Lehrer nach Zodel in ihre gemeinsame Wohnung in dem neu aufgestockten Schulhaus gezogen.
Heute ist Zodel das östlichste Kirchdorf des nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten so gestutzten Deutschlands. In den letzten Wochen des Krieges ging durch mein Heimatdorf die Frontlinie, was zu schweren Zerstörungen führte, von denen auch die Kirche betroffen war. Die vielen Gräber von Gefallenen zeugen noch heute von diesem Schicksal am Ende des Krieges.
Im September 1944 hatte meine Schulzeit begonnen. Bei der Einschulung fragte uns der Schulleiter, wie weit die Russen kommen, wohl in der Hoffnung Antworten zu erhalten, dass sie an den im Osten ausgehobenen Panzersperren festgehalten werden. Ich aber sagte forsch "Vielleicht bis nach Berlin!" Meiner Mutter blieb das Herz stehen, denn für den 100-prozentigen Parteigenossen war das klarer Defaitismus. Man konnte daraus schließen, dass ich so etwas zuhause gehört haben muss. Darauf wartete das Konzentrationslager. Gottseidank hat der Schulleiter auf eine Anzeige verzichtet. Meine Schule dauerte zunächst nur ein halbes Jahr, weil wir am 17. Januar 1945 flüchten mussten.
Die Jesus-Christus-Kirche in Zodel, die östlichste Kirche in Deutschlands. Von hier sind es nur wenige hundert Meter bis zur Neiße, der deutsch-polnischen Grenze.
Bei der Renovierung der im Krieg beschädigten Kirche wurden im Chor Fresken von 1350 entdeckt und freigelegt. Am Tor zur Kirche und im Inneren erinnern Tafeln an den hier im Ort 1710 geborenen Traugott Gerber, der als Botaniker und Arzt im Zarenreich berühmt wurde und als Namensgeber der Pflanze Gerbera bekannt ist
Auf unserer Flucht landeten wir schließlich in Oberschlesien, das nun in polnischer Hand war. In Kattowitz gerieten wir mit einer deutschen Gruppe in Geiselhaft von bewaffneten Polen. Hier begann unser Leidensmarsch. Wer nicht weiter marschieren konnte, wurde ohne Gnade erschossen. Wir sollten alle unser Leben an einem bestimmten Ort verlieren, wo die SS ein ganzes Dorf niedergemetzelt hatte. Eine sprachgewandte Leidensgenossin hatte es bei Gesprächen unserer Treiber erlauscht und konnte es bei einer Rast an einem Brunnen Russen mitteilen, die dort ihre Pferde tränkten. Unser Zug von mehreren Hundert Gefangenen wälzte sich mühsam auf der Landstraße weiter, als plötzlich russische Reiter angesprengt kamen und unsere Peiniger verjagten. Noch heute höre ich den erlösenden Satz: "IHR WERRDET NIECHT ERSCHOOSSÄN! IHR KOOHMT AUF EIHN SCHLOOOOSS!" Unsere Befreier geleiteten uns auf das Schloss von Teschen an der Grenze zu Tschechien, wo wir ohne Angst zwei Wochen kampieren konnten.
Als wir im September 1995 in Oberschlesien mit dem ZDF-Team für unseren Film "Schlesien - Brücke in Europa" gedreht haben, bin ich von Pleß nach Teschen mit dem Auto gefahren - den Weg, den ich im Juli 1945 als siebenjähriges Kind mit meiner Mutter und meinen beiden Schwestern zu Fuß zurücklegen musste. Bei sengender Hitze, ohne Essen und Trinken, in Todesangst. Als ich die bergauf, bergab endlos geradeaus führende Straße vor mir sah, spürte ich plötzlich ganz elementar die damalige Ohnmacht, das Gefühl, nicht mehr weitergehen zu können. Noch Stunden nach dieser Fahrt und der Besichtigung der Burg in Teschen hatte ich ein unruhig schlagendes Herz.
Meine Erlebnisse am Ende des Krieges, vor allem diese Rettungstat der Russen haben mich für meinen späteren beruflichen Werdegang sehr beeinflusst. Die Wahl des späteren Studiums der Slawistik und der Osteuropäischen Geschichte haben hier ihren Ursprung. Ich wollte mit dazu beitragen, dass es keinen Krieg mehr gibt und das Verhältnis zu unseren Nachbarn im Osten sich zu Freundschaft entspannt.
Auch wenn die Nachkriegsjahre durch Hunger und Armut geprägt waren, hatte ich doch eine schöne Kindheit. Die Mutter war lieb, ich habe sie nie über irgendetwas klagen hören. Sie hat fast nie geschimpft, sie hat mich im Gegenteil mit Lob erzogen. Wenn und weil sie mich gelobt hat, wollte ich sie nicht enttäuschen. Sie war von einer heiteren Laune, immer zufrieden. Später als ich eine Verbindung zum anderen Geschlecht suchte, verglich ich alle weiblichen Wesen mit der Art meiner Mutter und bin damit gut gefahren, weil ich so zwei wunderbare Frauen geheiratet habe.
Ich ging gern zur Schule, weil wir viel Neues lernen konnten. Der Lehrer oder die Lehrerin waren für uns Kinder nicht nur eine Respektsperson, sondern erschienen uns auch als Zauberkünstler, weil sie uns bisher Unbekanntes zeigen konnten. Anders als die heute mit allen neuen möglichen Medien überfütterten Kinder dürsteten wir nach Wissen. Für uns war in der Schule alles neu.
Am 5. Juli 1952 hatte ich meine Grundschulzeit "Mit Auszeichnung" beendet. Ich hatte in allen Fächern" sehr gut", das einzige, wo ich nur ein "gut" hatte, war Körpererziehung. Am 1. September 1952 wurde unser Vater, der wegen der NS-Parteizugehörigkeit im "Dritten Reich" nach dem Krieg suspendiert war, wieder als Lehrer in den Schuldienst eingestellt. Er bekam eine freie Stelle in der Grundschule Deschka-Zentendorf, im Nachbarort. Ich begann nach der Annahme meiner Bewerbung die Oberschulzeit in Reichenbach, einer Kleinstadt ca. 15 Kilometer westlich von Görlitz. Da die Wohnung im Schulhaus in Zentendorf noch nicht frei war, blieben wir zunächst in Zodel. Mit dem Fahrrad fuhr ich nach Reichenbach, wo ich ein Zimmer in einer privaten Pension gemietet hatte, in der auch schon meine jüngere Schwester während ihrer Oberschulzeit war.
Mitte Juni 1953 war ich in einer HNO-Klinik für eine notwendige Nasenoperation in Görlitz. Die Klinik war in einer Villa zwischen der sowjetischen Kommandantur und der Staatssicherheit, beides auch in großen alleinstehenden Gebäuden. Als ich nach der Operation am 17. Juni noch leicht betäubt in mein Zimmer geführt wurde, hörten wir plötzlich Schüsse. Mein Zimmernachbar ging daraufhin zum Schrank und versteckte seine Uniform der Volksarmee hinter dem Schrank. Vom Gebäude der Staatssicherheit hörten wir aufgebrachte Stimmen und es gab weitere Schüsse. Aus Angst gingen wir in unserem Zimmer in Deckung, denn der Aufruhr passierte direkt neben uns.
Am nächsten Tag besuchten mich meine Eltern. Wir gingen zum Gespräch in den Garten, in dem sie mir die Erklärung für das Geschehene zuflüsterten. Es gab gestern - es war der 17.Juni 1953 - einen Aufstand in Görlitz, der aber von den Sowjets mit Panzern niedergeschlagen wurde. Auch in Zodel gab es den Ausnahmezustand und Verhaftungen, darunter auch Bekannte. Gut, dass ich in der Klinik war. Hätte ich mich nicht den Aufständischen angeschlossen? Was hätte es für meine Zukunft bedeuten können?
Der Blick über die Neiße, dem Grenzfluss zu Polen, auf die deutsche Altstadt mit der Peterskirche. Die Brücke wurde vor einigen Jahren an dieser Stelle wieder errichtet
Da die Entfernung zur Oberschule von Zentendorf nach Reichenbach nun noch 5 Kilometer weiter war, wechselte ich zur Oberschule nach Görlitz. Im 11. Schuljahr wurde unsere Klasse aufgeteilt und es änderte sich der Stundenplan. Für mich als Fahrschüler war das äußerst nachteilig, ich konnte nun täglich erst um 18 Uhr zu Hause sein.
Ich fand dann in einer früher vornehmen Villa in Görlitz Quartier, unter dem Dach, in dem früher die Dienstboten wohnten. In dieser Zeit war ich recht fleißig, ich fing auch an Gedichte zu schreiben. Meiner Schwester in der Bundesrepublik schickte ich im Mai 1955 eine Kostprobe. Sie begann mit einer Klage über die mangelnde Freiheit:
Könnt' ich Vögel mit euch fliegen
fliegen weit in fremde Lande
mich in blauen Lüften wiegen
all zerreißen meine Bande.
Freiheit dürsten meine Sinnen
Freiheit ruft die Seele mir
Freiheit musst du dir gewinnen
sonst vergehest du noch hier.
Doch ich kann den Wunsch nicht stillen
Freiheit ist nur in den Träumen
niemals geht sie zu erfüllen
in des Lebens engen Räumen.
*
Durch den Abend dringt das Rauschen
feierlich mir an das Ohr
und es zwingt mich ihm zu lauschen
stärker dann als je zuvor.
In dem schwankend Windesrauschen
find' ich meine Seele wieder
einsam steh' ich um zu lauschen
Wind und Brust geh'n auf und nieder.
*
Die Nacht bricht ab, der Tag beginnt
die Sonne steigt empor
aus allen meinen Adern springt
die Freude mir hervor.
Die Sonne strahlt, der Wald erwacht
schon schallt der Vögel Sang
das Herz, der ganze Körper lacht
stimmt freudig in den Klang!
Meine Zensuren waren am Ende des 11. Schuljahrs in sämtlichen Fächern gut. In der allgemeinen Beurteilung hieß es: "Ekkehard ist in seinem Verhalten diszipliniert und ordentlich. Er ist stark interessiert, arbeitet deshalb rege und fleißig mit."
Das änderte sich leider im nächsten Schuljahr, als ich mich in ein Mädchen verliebte. Mit ihr gingen wir oft zusammen ins Kino; Filme wurden neben dem Mädchen meine zweite Leidenschaft. Ich wollte später selbst Filme machen und hatte mich deshalb an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg für das Studienfach Regie beworben. Ich wurde zu einer Aufnahmeprüfung am 14. April 1956 eingeladen. Der damals und auch später sehr bekannte Filmregisseur Kurt Maetzig examinierte mich und untersuchte meine Begabung für diesen Beruf. Ich musste das Bild von Ilja Repin "Die Soporoger schreiben einen Brief an den türkischen Sultan" in einzelne Bildsequenzen zerlegen, aus denen man den Inhalt des Bildes verstehen konnte. Zum Ende unseres Gesprächs erklärte mir Kurt Maetzig: ich hätte die Prüfung bestanden, müsste aber noch das Abiturzeugnis und die fehlende gesellschaftliche Beurteilung der Schule nachreichen.
Am 28. Mai 1956 erhielt ich mein Abiturzeugnis und damit die Quittung für meinen mangelnden Fleiß in den letzten Monaten. Ich hatte den Oberschulabschluss nur mit "Genügend" bestanden.
Als ich nach dem Abitur mein Zeugnis und die gesellschaftliche Beurteilung zur Filmhochschule nach Potsdam-Babelsberg schickte, bekam ich umgehend von dort die Ablehnung. Darüber war ich sehr traurig, war es doch eine Ausbildung für meinen Berufswunsch, Filme zu machen. Wenn ich das jetzt hier schreibe, ist es für mich eine Genugtuung, dass ich später genau dieses Ziel erreicht habe, dass ich jahrzehntelang Filme produzieren konnte. Nur mit dem Unterschied, dass es keine Spielfilme sondern Dokumentarfilme waren. Aber die waren für mein später erwachtes politisches Interesse sogar noch wichtiger.
Nach der Ablehnung durch die Filmhochschule bewarb ich mich an der "Pädagogischen Hochschule in Dresden" um eine Ausbildung als Volksschullehrer. Auch dort - wie noch an anderen Hochschulen - bekam ich eine Absage. Auf dem zuständigen Amt in Görlitz wurden mir für die Berufswahl drei Möglichkeiten offeriert: Volksarmee, Koch oder Grobschmied. Alles drei kam für mich nicht in Frage.
Das Alte Museum in Ostberlin, hier eine Aufnahme nach der Wiedervereinigung, im renovierten Zustand
Am 15. Oktober 1956 immatrikulierte ich mich im Sprachenkonvikt der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg in Ostberlin und einen Tag später an der Kirchlichen Hochschule in Westberlin für das Studium der Theologie. Es gab damals in Berlin noch keine Mauer, die die Stadthälften trennte. Diese Studienwahl war eine Verlegenheitslösung, durch sie konnte ich im Osten wohnen bleiben und im Westen studieren. Ich machte in den ersten Semestern fleißig meine Prüfungen und Scheine, suchte aber weiter auf einen Absprung, weil ich meiner ganzen Veranlagung nicht zum Pfarrer geschaffen war. Bei einem Besuch von Verwandten in der Bundesrepublik suchte ich Kontakt zu einer Akademie für Bühne, Film und Rundfunk in Wiesbaden, aber die Wahl scheiterte am fehlenden Geld. Während ich weiter offiziell brav Theologie studierte, ging ich mehrmals in der Woche in die Filmvorführungen im Deutschen Zeughaus zum Thema "60 Jahre Film". Ich erlebte dort die nationale und internationale Filmgeschichte. Während meiner Berliner Zeit schrieb ich viele Gedichte, von denen ich hier einige vorstellen möchte:
Havelfahrt
Langsam gleit ich mit dem Boote
Unter Zweigen nah dem Ufer
Durch das Grüne blickt der Himmel
Wolkenlos in ernstem Blau
Stille - nur vom Tier durchbrochen
Hört sich hier in Schattenkühle
Ohne einen Laut zu geben
Gehen Wellen an das Land
Weidenzweige fleh'n ins Wasser
Wunderbar in ihrem Neigen
Scheint als wollten sie mir sagen
Dass ich ohne Träne bin
Am Tegeler See (in Berlin)
Von Lichterfäden mild durchglänztes Wasser
Wellt träumerisch geheimnisvoll ans Land
Ein Lufthauch schwebt und kühlt, als sphärenblasser
Wind streicht er mir liebevoll die stumme Hand
Am Ufer sitz ich, an den Gartentischen
Und bin die Grenze zwischen See und Land
Verheißung aus dem Wind, dem frischen
Gibt einem Menschenwort naturgefühlte Hand
Die Rose
Ich blühe weil ich bin
Ich bin nicht eitel
Ihr Menschen euren Sinn
Mag ich nicht leiden
Lasst mich nur ganz allein
Im Garten stehen
Ich will ja nur -
Den blauen Himmel sehen
Gott
Gott in der Blume
Gott in dem Licht
Stürme und Wolken
Ändern es nicht
Gott in dem Wasser
Ebbe und Flut
Allesumfasser
Ewige Glut
Seele und Herz
Seele will schwingen
Fliehen von mir
Ewiges Singen
Von mir zu Dir
Herz das will fühlen
Freud oder Pein
Sich selbst zerwühlen
Und ewig sein
Abend
Die Sonne sinkt durch grüne Zweige
Und sendet ihren Abschiedsgruß
Ein Tag geht wieder hier zur Neige
Weil ihm die Nacht nun folgen muss
Die spinnt schon ihre Trauerfäden
Und lauert nach dem letzten Strahl
Und wie aus dunklen Fensterläden
Schaut uns Geheimnis an vielmal
Zu einem Nicht-Sein schwinden Bäume
Und stehen schwarz im Schwarzen da
Und von den Ästen fallen Träume
Ich sag zum Leben herzlich "Ja"
Gedichte
Gedichte sind schweigende Wolken
Oft verstecken sie die Sonne,
Meist auch die Wolken
Keiner weiß ihre Höhen
Niemand sind sie tief oder nicht
Vor Mitternacht
Verklungen sind die lauten Stunden
Sie leuchten nur im Scheine nach
Nach innen fühlst du dich gebunden
Und wirst im Herzen nun erst wach
Dir ist ein Suchen und ein Gleiten
Geführt vom Atem der dich trägt
Und in der Seele stillen Weiten
Dein heißer Lebenswille schlägt
Den Eltern
Ich ziehe bald nun von Euch in die Ferne
Doch glaubet nicht der Abschied fiel mir leicht
Ich bliebe bei Euch viel zu gerne
Jedoch mit Zögern ward nie was erreicht
Hier hab' ich mir die Tore zugerannt
Zum Koche wollt ich mich nicht geben
Ich seh mein Ziel ich seh es unverwandt
Und dafür sei mein ganzes Streben
(In der DDR gab es Berufslenkung, danach sollte ich Koch werden, Grobschmied oder zur Volksarmee gehen. Ich aber hatte das feste Ziel später einmal Filme zu machen. Mein zwischenzeitliches Ziel Pfarrer zu werden, war nur eine Verlegenheitslösung, weil es keine andere Chance gab und nach dem Gesetz der kognitiven Dissonanz gibt man mit der Zeit nach, wenn man keinen anderen Ausweg findet.)
Mai
Schwere Düfte brechen aus den Zweigen
Fliederbüsche hügeln in die Nacht
Und der Blütendoldenreigen
Langsam langsam trunken macht
Und ich steh im Duft befangen
Und mein Herz quillt wie der Flieder
Langsam kommt die Nacht gegangen
Und ich find mich endlich wieder
Greif mit meinen trunk'nen Händen
Freudig nach den schweren Trauben
Und der Duft vermag zu wenden
Mich zu Inbrunst Herz und Glauben
Ferne
Unbeweglich liegt die Ferne
Tief gehüllt in stetem Schweigen
Nur das milde Licht der Sterne
tanzt dazu den Flackerreigen
Tiefes Blau und blaue Schwärze
Alles hat sich hier verwoben
Und mein tief ergriff'nes Herze
Ach wie sehnt es sich nach droben
Möcht sich in den Äther schwingen
Um das ganze All zu fassen
Und ein gar so dehnend Singen
Will es schier zerspringen lassen
In den Hügeln der Unschuld
In den Hügeln der Unschuld
Wanderte ich
Der Frühling
Spielte mir durch seine Finger
Und sann in seinen Blumen nach
Auf der Brücke des laufenden Wassers
Spann sich mein Wahrsein
Und die keimenden Bäume
Konnten mich verstehn
Wie die Fruchtblätter der Blüte
Sanken meine Panzer der Brust
Und ich atmete
Frei
Dem throhnenden
Blau entgegen
Wie eine Rose
Duftete meine Mitte
Herrlich, herrlich, herrlich
Und niemand sah mich
Das Wasser
windend floss es
Leise rauschend
Küßte die Gräser
Der grünen Ränder
Und machte mich
So leicht
So leicht
Am Himmel sind ganz lichte Wolken
Weckruf der Nacht
Weckruf der Nacht
Aufgeschwollen
Aufgefahren aus der windigen Schwärze
Die Häuser haben wieder ihre Ecken
Und die fedrigen Wolken
Kochen sich am Himmel ihren Brei
Aus den Blechrohren fallen
Die gesträngten Tropfen
In die spiegelnde Pfütze
Immer wieder lässt der Mond
Seine Scheibe kreischen
Die Töne sind immer dieselben
Mich klappert es wie wenn
Sich der Tod vor der Türe rüttelt
Manchmal auch
Ich höre hinein
Fühle ich mich