Es tut sich was im Landschulheim - Marie Louise Fischer - E-Book

Es tut sich was im Landschulheim E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Leona kommt gang gern nach den Schulferien in das Landschulheim Burg Rabenstein zurück, auf das sie einst gegen ihren Willen geschickt wurde. Sie ist in guter Form und wartet auf die Dinge, die sich dort entwickeln. Und da ist in erster Linie eine Neue, die engelhafte Ute. Ute vermag alle für sich einzunehmen, was Leona voller Eifersucht wahrnimmt. Das Verhalten der Neuen, die ihr überall die Schau stiehlt, veranlasst Leona nach allen Seiten zu boxen und sich querzustellen. Bis sie auf einem geheimnisvollen Dorfball das andere Gesicht Utes kennenlernt. Nun entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden und sie werden ein so erfolgreiches Team, dass sie eine andere aus ihrem Kreis vor großem Schaden bewahren können.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Es tut sich was im Landschulheim

SAGA Egmont

Es tut sich was im Landschulheim

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1978 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719725

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Willkommen auf Burg Rabenstein

Die großen Ferien waren vorüber, und Herr und Frau Heuer brachten ihre Tochter Leona gemeinsam ins Landschulheim zurück. Noch war Sommer, und die Sonne strahlte von einem fast südlichen blauen Himmel. Herr Heuer hatte das Dach seines Kabrioletts zurückgeschlagen. Während sie über die Autobahn fuhren, waren die Fahrgeräusche so stark, daß sie schreien mußten, um sich zu verständigen.

Leona war es nur recht so, denn sie hatte keine große Lust zu reden. Zu viele Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Die Ferien waren wunderschön gewesen. Beide, der Vater und die Mutter, hatten sich bemüht, ihr die Zeit zu Hause so angenehm wie möglich zu machen. Allerdings war Frau Heuer wieder in ihren Beruf zurückgekehrt, so daß sie tagsüber allein gewesen war. Aber dafür wurden die Abende und die Wochenenden um so schöner. Bei gutem Wetter war sie in den verschiedenen Bädern Münchens gewesen und hatte Tennis gespielt, um ihre neu erworbenen Kenntnisse nicht einrosten zu lassen. Gelangweilt hatte sie sich nie. Drei Wochen war sie zusammen mit ihren Eltern verreist. Leona kam sich undankbar vor, weil sie trotzdem nicht ganz glücklich gewesen war. Es hatte eine Zeit gegeben, und die lag gar nicht so lange zurück, in der ihre Eltern schlecht miteinander auskamen. Damals hatte Leona sich in ihrem Element gefühlt. Die Mutter hatte bei ihr Trost und Rat, der Vater Verständnis gesucht. Aber nun, wo sie sich wieder so gut verstanden, kam sie sich wie ein störender Dritter vor.

Auch jetzt, als sie hinter ihnen im Auto saß, fühlte sie sich wie ein etwas überflüssiges Anhängsel. Vater und Mutter riefen sich immer wieder ein fröhliches Wort zu und lachten sich an. Natürlich wendete sich die Mutter auch manchmal ihr zu, und Leona erwiderte ihr Lachen mit einem etwas gezwungenen Lächeln. Sie zweifelte nicht daran, daß ihre Eltern sie lieb hatten. Aber sie war überzeugt, daß sie ohne sie genauso vergnügt gewesen wären.

Jetzt fragte sie sich, ob andere Mädchen das genauso empfanden. Wahrscheinlich nicht, gab sie sich selber zur Antwort, wahrscheinlich lag es daran, daß ihre Eltern noch so jung waren. Sie hatten als halbe Kinder geheiratet, wie der Vater oft zu sagen pflegte. Jedenfalls würden sie sie bestimmt nicht vermissen, wenn sie wieder im Landschulheim war. Tränen des Selbstmitleids stiegen ihr in die Augen, aber sie schluckte sie tapfer hinunter.

Bei Siegsdorf bogen sie von der Autobahn ab, die Straße schlängelte sich bergauf, und sie durchquerten Wangen, ein malerisches Dörfchen, das Leona wohlbekannt war; hierher pflegten die Rabensteiner zum Einkaufen und „Conditorn“ zu gehen.

Schon tauchte vor ihren Augen hoch über dem Dorf Burg Rabenstein auf, ein mächtiges mit Türmen und Zinnen geschmücktes Gebäude, an dem zu Ehren des Schulbeginns die schwarz-rot-goldene Fahne der Bundesrepublik und die weiß-blaue des Freistaates Bayern lustig im Ostwind flatterten.

In diesem Augenblick geschah etwas, was Leona selber nicht für möglich gehalten hatte; ihr Herz begann aus Freude vor dem Wiedersehen schneller zu schlagen. „Drück auf die Tube, Vati!“ rief sie.

„Ich tu mein Bestes!“ gab er zur Antwort und schaltete in den zweiten Gang zurück. Die Straße war jetzt sehr steil geworden.

„Hast du’s auf einmal so eilig?“ fragte die Mutter.

Leona wollte sie nicht kränken. „Ich möchte bloß rechtzeitig zum Abendbrot kommen“, behauptete sie.

Der Vater warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. „Das schaffst du leicht.“

„Ja, aber vorher muß ich noch auspacken und so!“

„Jedenfalls sind dein Vater und ich sehr froh, daß du dich so gut im Landschulheim eingelebt hast“, sagte Frau Heuer und blickte Leona über die Schulter an.

„War gar nicht so schwer.“

„Sag das nicht. Du warst sehr tapfer, Leona. Besonders, wo du anfangs doch so dagegen warst.“

„Erinnere mich nicht daran!“ wehrte Leona ab; sie hatte ihren Eltern zwar verziehen, daß sie sie gegen ihren Willen ins Landschulheim gesteckt hatten, aber sie dachte nicht gern daran.

Frau Heuer sah, wie sich das Gesicht ihrer Tochter verdüsterte. „Wir haben auch eine Überraschung für dich“, sagte sie schnell, „eigentlich wollten wir es dir erst beim Abschied mitteilen, aber … nicht wahr, Peter … wir können es ihr auch schon jetzt sagen!“

„Einverstanden.“

„Was ist es?“ fragte Leona gespannt.

„Du weißt, daß wir anfangs Anweisung gegeben hatten, daß du in ein Dreierzimmer kommst. Wir hatten es nur gut gemeint, das mußt du uns glauben, du warst ein solcher Einzelgänger und …“

Leona unterbrach sie. „Hör auf mit der alten Leier, bitte, die kann ich inzwischen schon singen!“

„Entschuldige, ich wollte nur erklären … na, jedenfalls darfst du im neuen Schuljahr in ein Zweierzimmer übersiedeln.“

Sie hatte erwartet, Leona würde sich erleichtert bedanken, aber Leona schwieg.

Hastig und ein wenig unsicher fügte Frau Heuer hinzu: „Natürlich nur, wenn du magst!“

„Vielleicht weißt du nicht, mit wem du zusammenziehen sollst?“ fragte der Vater.

Damit hatte er den springenden Punkt getroffen. Leona hatte blitzschnell überlegt, wer für sie als Zimmerkameradin in Frage käme: weder Alma und Sabine, mit denen sie bisher das Zimmer geteilt hatte, denn die beiden waren Freundinnen und würden sich nicht trennen wollen. Genauso stand es mit Claudia und Marga. So blieb also nur noch Ilse Moll, aber die war eine solche Schlampe, daß das Zusammenleben mit ihr bestimmt eher eine Strapaze als ein Vergnügen sein würde. Die anderen Mädchen waren entweder älter als vierzehn Jahre oder jünger.

Dennoch antwortete Leona rasch: „Ach, das wird sich schon ergeben. Jedenfalls danke ich euch herzlich für euer Angebot.“

„Du mußt nicht, wenn du nicht willst“, wiederholte Frau Heuer.

„Wie werd ich denn nicht wollen! Wenn ihr eine Ahnung hättet, wie schwierig es ist, zu dreien in einem nicht eben großen Zimmer zu hausen.“

„Dir hat es jedenfalls nicht geschadet“, stellte der Vater fest.

„Danke für die Blumen. Ich bin eben ein verträglicher Mensch.“

Der Vater wollte etwas sagen, hatte schon den Mund geöffnet, schloß ihn dann aber wieder. Gerade noch rechtzeitig war ihm klargeworden, daß es nicht richtig gewesen wäre, Leona ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Abschied, noch zu ärgern.

Währenddessen überlegte Leona, ob sie nicht doch lieber im Zimmer mit Alma und Sabine bleiben sollte. Erst jetzt wurde ihr klar, wie wohl sie sich dort gefühlt hatte. Die beiden waren immer ausgesprochen nett zu ihr gewesen. Aber – und das war das große Aber – sie hatten ihr auch gleich am Anfang unmißverständlich klargemacht, daß sie lieber allein geblieben wären. Leona war sich in Gesellschaft mit ihnen immer ein wenig überflüssig vorgekommen, ja, sie hatte sogar den Versuch unternommen, die Freundinnen auseinanderzubringen. So konnte und wollte sie sich ihnen jetzt nicht aufdrängen.

Unwillkürlich entfloh ihr ein schwerer Seufzer; sie sah neue Schwierigkeiten auf sich zukommen.

„Ist was?“ fragte die Mutter.

„Ach wo!“ wehrte Leona ab, denn sie wollte die Eltern nicht mit Sorgen belasten, die sie ihr doch nicht abnehmen konnten.

Der Vater konzentrierte sich jetzt voll aufs Autofahren. Vor ihnen und hinter ihnen quälten sich andere Fahrzeuge die steile Auffahrt hinauf. Herrn Heuer gelang es, einen Wagen zu überholen. Aber jetzt hingen sie hinter einem Bus. Er brachte einen Trupp Rabensteiner vom Bahnhof zur Burg. Einige Jungen im Bus standen am Rückfenster und blickten lachend und sich gegenseitig anstoßend auf die Wagenkolonne hinab, die ihnen folgte.

Leona erkannte Kurt Büsing.

Sie sprang auf, so daß sie jetzt das offene Wagendach überragte, winkte und rief begeistert: „Kurt! Kurt!“ – Beim Anblick des Freundes waren alle trüben Gedanken vergessen.

Kurt legte die Hände an den Mund und rief zurück, aber sie konnte seine Worte nicht verstehen. Das machte nichts, denn in wenigen Minuten würden sie sich gegenüberstehen und miteinander sprechen können.

Jetzt rollten sie in den Burghof hinein. Herr Heuer suchte einen Parkplatz, was gar nicht so einfach war. Es wimmelte von Autos und Menschen. Viele Eltern hatten es sich nicht nehmen lassen, ihre Sprößlinge persönlich ins Landschulheim zu bringen. Einige waren gerade erst angekommen, andere verabschiedeten sich schon oder waren dabei, Freunde und Freundinnen zu begrüßen.

Leona grüßte nach allen Seiten. „Sabine, da bin ich wieder! Hallo, Alma, wie geht es dir, altes Haus! Menschenskind, Ilse, bist du schick!“

Die anderen grüßten vergnügt zurück.

Kaum, daß der Wagen hielt, sprang Leona heraus und lief zu den Freundinnen, die schon dabei waren, ihre Koffer ins Haus zu schleppen. Leona packte mit an. „Wie war’s in den Ferien?“

„Spitze!“ sagte Alma.

„Ich war drei Wochen bei Alma und die übrige Zeit in einem Internat am Genfer See!“ erzählte Sabine.

„Wieder im Internat?“ rutschte es Leona heraus, aber es wurde ihr sogleich bewußt, wie taktlos diese Bemerkung gewesen war; Sabine hatte ihre Eltern bei einem Autounfall verloren und stand jetzt ziemlich allein auf der Welt. „Entschuldige, bitte!“ fügte sie rasch hinzu.

„Was soll’s?“ entgegnete Alma forsch. „Takt war noch nie deine Stärke!“ Sie war ein braunäugiges Mädchen, das sich gern jungenhaft gab; das Haar trug sie glatt und ganz kurz geschnitten.

Doch Sabine rügte die Freundin, was selten vorkam. „Nun fang nicht gleich wieder Stunk an, bitte! Ich bin sicher, Leona hat’s nicht böse gemeint …“

„Nein, bestimmt nicht!“ versicherte Leona rasch. „Das müßt ihr mir glauben.“

„Tun wir ja!“ erklärte Sabine. „Außerdem wird es langsam albern, daß alle immer so tun, als hätte es nie einen Unfall gegeben. Davon wird meine Situation auch nicht besser.“

Da das Thema nun einmal angeschnitten war, wagte Leona noch eine Frage: „Wer sorgt denn eigentlich für dich?“

„Ein Vormund! Aber der ist Junggeselle und kann mich bei sich zu Hause nicht aufnehmen. Er regelt nur meine Finanzen und bestimmt meine Unterbringung.“

„Hör auf davon!“ sagte Alma. „Das ist doch kein Gespräch für die ersten fünf Minuten.“

„Ich bin sehr froh, daß ich es hinter mich gebracht habe!“ Sabine lächelte Leona an. „Andere Kinder haben es ja noch viel schlimmer. Wenn die Eltern sterben und kein Geld da ist und kein Verwandter sie haben will, kommen sie in ein Erziehungsheim.“

„Wer hat dir denn das gesagt?“ wollte Alma wissen.

„Mein Vormund.“

Sie hatten die Koffer abgesetzt und waren stehengeblieben.

„Hat er dir etwa mit dem Heim gedroht?“

„Nein, nein, er wollte mich nur trösten.“

„Ein schöner Trost, so eine Art: ich gebe zu, dir geht es schlecht, aber denke immer daran, daß es anderen noch schlechter geht.“

„Genau“, stimmte Sabine zu, „so was nennt man einen negativen Trost, glaube ich.“

„Trotz allem … du siehst gut erholt aus!“ stellte Leona fest.

Das stimmte, Sabines von Natur aus sehr helle, fast durchsichtig wirkende Haut war braun getönt, sie hatte kleine Sommersprossen auf der Nase und ihre grünen Augen glänzten.

„Es war ja auch sehr schön … besonders am Genfer See!“ Mit einem Seitenblick auf die Freundin fügte sie hinzu: „Natürlich auch bei Alma … wie immer.“

Leona spürte, daß es eine kleine Spannung zwischen den Freundinnen gab. Aber sie begriff, daß es auch für die besten Freundinnen schwierig werden konnte, Tag und Nacht zusammenzuhocken, wenn es keine Pflichten und nicht genügend Abwechslung gab. Sie nahm sich fest vor, sich in die Beziehungen der beiden nicht einzumischen. Das mußten sie unter sich ausmachen.

„Ich glaube, ich halte euch nur auf“, sagte sie, „ich muß mich um meine Eltern und mein Gepäck kümmern … bis später dann! Ich wette, wir haben uns eine Menge zu erzählen!“

Als sie zum Auto zurückkam, hatte Herr Heuer gerade ihre Koffer auf das Kopfsteinpflaster gewuchtet und wollte sie zur Burg tragen.

„Laß das, Vati!“ rief Leona ihm schon von weitem zu. „Das macht Kurt!“ Dann rief sie zu Kurt hinüber, der noch darauf wartete, daß sein Gepäck aus dem Bauch des Omnibusses geholt wurde: „Kurt, bitte! Du hilfst mir doch mit den Koffern, ja?“

Kurt schlenderte grinsend zu ihnen. „Na, dann will ich mal nicht so sein!“ Er rang sich einen wohlerzogenen Gruß und zwei kleine Verbeugungen ab. „Guten Tag, Frau Heuer! Tag, Herr Heuer!“ Dann wandte er sich Leona zu: „Grüß dich, Kleine!“ Er klopfte sie freundschaftlich auf den Rücken.

„Kleine? Na erlaube mal!“ protestierte Leona und reckte sich auf die Zehen. „Ich bin fast so groß wie du!“

„Auf die körperliche Größe kommt es nicht an“, erklärte er mit Würde, „sondern auf die innere Reife. Vergiß nicht, ich bin ein Jahr älter als du.“

Aber er nahm sich nicht so wichtig wie er tat, und stimmte vergnügt in das Lachen von Leona und ihren Eltern ein. Er war ein durchschnittlich aussehender Junge mit blauen Augen und blondem Haar, der, weil er mit zu großem Vergnügen aß, etwas untersetzt wirkte. Jetzt, sehr braungebrannt, sah er besser aus, als Leona ihn in Erinnerung hatte.

„Du bist schlanker geworden“, stellte sie fest.

„Das hört man gern.“ Kurt klopfte sich auf den Bauch. „Ich habe mich zurückgehalten, so gut es ging … aber leider ging’s nicht immer.“

„Mach dir nichts draus, es ist ja kein Charakterfehler.“

„Ich glaube, es ist Schicksal“, behauptete Kurt.

„Bringst du mir die Koffer ins Haus? Bitte, ja?“

„Dürfen denn die Jungen bei euch ein und aus gehen?“ fragte Frau Heuer stirnrunzelnd.

„Nicht daran zu denken“, erklärte Kurt, „wir dürfen nur bis zur Treppe neben dem Speisesaal, und keinen Schritt weiter.“

„Die Jungen hausen da drüben!“ Leona wies auf ein schlichtes modernes Nebengebäude, das durch den ganzen Hof und eine Ecke des Parks vom Haupthaus getrennt war.

„Leona wollte zwar anfangs unbedingt bei uns wohnen …“ erzählte Kurt.

„Das finde ich aber gemein!“ schrie Leona dazwischen.

Doch Kurt war nicht zu bremsen. „… aber sie konnte sich nicht durchsetzen.“ Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Sehr schade!“

Leona ging mit erhobenen Fäusten auf ihn los. „Paß nur auf, ich zahl’s dir heim.“

Herr Heuer hielt sie fest.

„Soll ich dir nun die Koffer tragen … ja oder nein?“ spottete Kurt.

Damit kam er bei Leona schlecht an. „Bilde dir nur nicht ein, daß ich auf deine Hilfe angewiesen bin! Ich wollte dir nur Gelegenheit geben, dich beliebt zu machen und ein paar Kalorien abzuarbeiten.“

„Die Gelegenheit kann ich mir allerdings nicht entgehen lassen.“ Kurt packte die Koffer und marschierte auf das Burgtor zu.

„Auf was habt ihr da angespielt?“ fragte die Mutter.

„Wir müssen es nicht wissen“, sagte der Vater, „wenn du es also lieber für dich behalten willst …“

„Ach, das ist eine ganz harmlose Geschichte! Als ich im Sommer hier ankam, hatte ich natürlich keine Ahnung von allem. Und da hat mich so ein Witzbold … da drüben steht er übrigens, der mit den spitzen Eckzähnen, Klaus Voss heißt er! Also dieser blöde Klaus hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich hereinzulegen. Er hat mich in das Jungenhaus geführt, versteht ihr … und natürlich bin ich furchtbar ausgelacht worden. Aber ich bin nicht die erste, der so etwas passiert ist.“

Der Vater unterdrückte ein Lächeln. „Das kann ich mir denken.“

„Mir ist die Geschichte inzwischen piepegal“, versicherte Leona, „ich find’s nur gemein von Kurt, sie mir wieder aufs Butterbrot zu schmieren.“

„Du darfst dir nicht zuviel von deinen Mitmenschen erwarten“, mahnte die Mutter.

„Sieht so aus.“ Leona atmete tief durch, wandte den Blick von dem davonziehenden Kurt ab und ihren Eltern zu. „Es war sehr lieb, daß ihr mich alle beide begleitet habt, aber jetzt sollten wir auf Wiedersehen sagen.“

„Sollen wir dich denn nicht ins Haus begleiten?“ fragte Herr Heuer.

„Ich hätte gern dein Zimmer gesehen“, sagte die Mutter.

„Wie ich den Betrieb hier kenne, wird es Stunden dauern, bis sich herausstellt, wo und mit wem ich untergebracht werde. Fahrt lieber schon nach Hause. Am nächsten Besuchssonntag führe ich euch überall herum, großes Ehrenwort.“

„Warum willst du uns so schnell loshaben?“ fragte die Mutter gekränkt.

„So ist das nicht!“ Leona suchte nach den richtigen Worten. „Rabenstein … das ist eine andere Welt. Zu Hause und Rabenstein sind zwei Welten. Zu Hause lasse ich mich gern verwöhnen, aber hier möchte ich selbständig sein.“

„Klarer Fall“, sagte Herr Heuer und legte den Arm um die Schultern seiner Frau.

„Und außerdem … es hebt hier nicht gerade das Image, wenn man sich von den Eltern managen läßt!“

„Eine Sprache führst du!“ staunte die Mutter.

„Wozu lerne ich denn sonst Englisch? Image heißt Ansehen und für managen gibt es eine Menge Übersetzungsmöglichkeiten, aber ich denke, ihr versteht schon, was ich meine.“

Leona bemerkte, daß die Eltern, besonders die Mutter, betroffen waren.

„Aber ihr dürft nicht glauben, daß ich euch nicht liebhabe!“ erklärte sie mit Nachdruck. „Im Gegenteil: ich glaube, ich habe euch noch nie so lieb gehabt wie gerade jetzt. Ich bin sehr, sehr froh, daß es euch gibt … und daß ihr mir ein Zuhause bietet!“ Mit ungewohnter Innigkeit umarmte sie erst die Mutter, dann den Vater. „Und ich bin euch auch von ganzem Herzen dankbar, daß ihr mir den Aufenthalt hier auf Rabenstein spendiert!“

„Mir scheint“, sagte Herr Heuer und hielt sie auf Armeslänge von sich, „du fängst langsam an erwachsen zu werden.“

Die Mutter betupfte sich mit dem Taschentuch die Augen. „Wir sind sehr, sehr stolz auf dich, Liebling!“

„Das geht mir runter wie Butter!“ Leona lachte, um nicht selber sentimental zu werden. „Aber jetzt nichts wie weg mit euch! Ich habe noch ’ne Menge zu erledigen!“

Aber sie stand und winkte, bis das Auto mit ihren Eltern das Burgtor durchfahren hatte und auf der abschüssigen Straße aus ihrer Sicht geriet.

Leona groß in Form

Die riesige Halle der alten Burg war Leona inzwischen schon so vertraut, daß sie keinen Blick mehr für die Darstellungen auf den bunten Glasfenstern hatte. Es gab auf ihnen Ritter mit offenen und zugeklappten Visieren, zu Fuß oder zu Pferd, schöne Damen mit seltsamen Hauben und schleppenden Gewändern, Löwen, Tiger, Affen und Fabeltiere.

Aber, wie gesagt, Leona achtete gar nicht darauf, sondern bahnte sich zielbewußt einen Weg durch das Menschengewimmel. Auch hier in der Halle ging das Abschiednehmen der Rabensteiner von ihren Eltern und sonstigen Verwandten weiter.

Leona hörte gute Ratschläge wie: „Vergiß nicht, dir die Zähne zu putzen!“ – „Schreib jede Woche!“ – „Denk daran: die Zahnspange ist wichtig!“ – „Mach keine Flecken auf den blauen Pullover, der ist empfindlich!“ – „Wenn irgend etwas los ist, ruf uns an!“

Sie dachte dabei, wie glücklich sie sich schätzen konnte, daß ihre Eltern sie nicht mit solchen Mahnungen – die übrigens, das wußte sie aus Erfahrung, doch nichts nutzten – belästigten. Daß man seine Zahnspange trug, zum Beispiel, das hing nicht davon ab, ob die Eltern es einem eintrichterten, sondern ob man selber den guten Willen und die Einsicht dazu mitbrachte.

Aber sie wurde aufmerksam, als sie Ilse Moll neben einer sehr eleganten Dame, wahrscheinlich ihrer Mutter, stehen sah. Frau Moll hatte blond getöntes Haar, war sorgfältig geschminkt, trug eine Brille, einen fast bodenlangen Nerzmantel und funkelte vor Brillanten.

Die fünfzehnjährige, schon sehr gut entwickelte Ilse, die sonst immer sehr frech auftrat, war ihrer Mutter gegenüber ganz klein. „Ja, Mama“, hörte Leona sie sagen, „ganz bestimmt, Mama … aber ich hab’s dir doch versprochen, Mama!“ – „Du kannst dich auf mich verlassen, Mama!“ – „Ich werd’s gewiß nicht wieder tun!“

Leona konnte ein Feixen nicht unterdrücken.

Die Doppeltür zu dem breiten sehr hohen Gang, der die große Halle mit der kleinen Halle verband, in der der Eingang zum Speisesaal und die Treppe zu den Wohnzimmern lag, war weit geöffnet. Leona ging hinein. An der linken Seite des Ganges gab es eine Anzahl dunkelbraun gestrichener Türen, von denen die meisten in Klassenzimmer führten. Die rechte Seite war von Spitzbogenfenstern durchbrochen, die einen weiten Blick auf eine Alpenkette freigaben.

Einen Augenblick blieb Leona stehen, lehnte sich an die Brüstung und sah hinaus; sie fühlte, daß sie in München die Freiheit der Bergwelt vermißt hatte.

„He, Leona!“ rief eine helle Stimme in ihrem Rücken.

Leona drehte sich langsam um. „Du, Ilse?“ fragte sie mit bewußter Ironie. „Dich habe ich wirklich nicht wieder auf Rabenstein erwartet.“

„Du hast gut spotten!“ Ilse Moll tastete mit der Hand an den Kopf, um sich zu vergewissern, daß ihre hellblonde kunstvolle Lockenfrisur noch in Ordnung war. „Ich wollte raus hier, das ist wahr! Aber wenn du meine Mutter kennen würdest …“

„Ich habe sie eben gesehen.“

„Na, dann weißt du alles. Die hat Haare auf den Zähnen, kann ich dir sagen. Unternehmerin! Sie lebt nach dem Motto: ,Was ich will, hat zu geschehen!‘“

„Sauber!“ sagte Leona nicht ohne Hochachtung.

Ilse Moll zuckte die rundlichen Schultern. „Na ja, dafür schafft sie auch tüchtig Moos ran …“

„Moos?“ fragte Leona. „Wofür braucht ihr denn das? Habt ihr eine Gärtnerei?“

„Ach was, das ist doch nur so ein Ausdruck. Kannst auch Mäuse oder Piepen sagen …“

Leona ging ein Licht auf. „Geld meinst du?“

„Was denn sonst?“

Leona spürte, daß Ilse ihr schon nach den ersten fünf Minuten auf die Nerven zu gehen begann. „Hör mal“, sagte sie, „es war nett, dich zu treffen, aber, sei mir bitte nicht böse, ich hab noch was vor.“

„Darf man fragen was?“

„Meine Eltern haben mir erlaubt, dieses Jahr in ein Zweierzimmer zu ziehen!“

„Gratuliere! Du ziehst also bei Alma und Sabine aus?“

„Scheint so.“

„Sag mal, willst du nicht zu mir kommen?“ Ilse Moll schenkte Leona einen beschwörenden Blick aus ihren babyblauen Augen.

„Zu dir? Nein, vielen Dank!“ lehnte Leona spontan ab, aber sie hatte gelernt, daß man seine Mitmenschen nicht unnötig kränken soll, und fügte rasch hinzu: „Aber es war nett von dir, mir das anzubieten.“

Ilse Moll gab noch nicht auf. „Wir könnten jede Menge Spaß zusammen haben.“

„Möglich. Aber auch jede Menge Krach.“

Leona klopfte auf die Tür mit der Aufschrift Sekretariat.

„Grüß Pauline von mir!“ sagte Ilse Moll und zog weiter.

Pauline, die eigentlich Helga Eulau hieß und von den Schülern nur so genannt wurde, weil ihr Mann, Direktor Eulau, den schönen Namen Paul trug, empfing Leona freundlich. Sie war sehr schlank, fast hager, trug das weiße Haar kurzgeschnitten, und ihre Augen hatten einen Blick, der den jungen Leuten, besonders wenn sie etwas angestellt hatten, durch Mark und Bein zu dringen schien. Wie immer war sie sehr korrekt und damenhaft gekleidet; sie hatte einen beigefarbenen Rock an mit einer leicht getönten Hemdbluse aus Seide, und eine Perlenkette um den Hals geschlungen.

„Ich freue mich, dich wieder bei uns zu sehen, Leona“, sagte sie und forderte das junge Mädchen mit einer Handbewegung auf, am Schreibtisch ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Leona setzte sich; sie mußte an ihr erstes, recht ruppiges Auftreten hier in diesem Raum noch vor wenigen Monaten denken und konnte nicht verhindern, daß sie errötete. „Ich bin gern wiedergekommen“, gestand sie.

Frau Eulau war viel zu klug, um ihr ein verdientes „Siehst du, ich habe es dir gleich gesagt“ an den Kopf zu werfen, statt dessen sagte sie nur: „Fein.“

„Meine Eltern haben mir gesagt, daß ich ein Zweierzimmer beziehen darf.“

“Ja, ich weiß Bescheid. Liegt dir denn soviel daran, von Alma und Sabine fortzukommen?“

„Nein. Sie waren sehr nett zu mir. Aber sie werden es bequemer ohne mich haben.“

„Das ist nicht gesagt, sie wohnen nun einmal in einem Dreierzimmer, und wenn es sich ergibt, werde ich ein drittes Mädchen zu ihnen legen müssen.“

Darüber hatte Leona noch gar nicht nachgedacht. „Ach, so ist das.“

„Ja. Aber ich will dir absolut nicht einreden, dort wohnen zu bleiben. Ich wollte nur mal auf den Busch klopfen, wie du dich mit den beiden vertragen hast.“

„Gut.“

„Das freut mich zu hören. Hast du dir schon überlegt, mit wem du zusammenziehen möchtest?“

„Ja, aber mir ist nichts eingefallen.“

„Also keine besonderen Wünsche? Wie wäre es mit Ilse Moll? In ihrem Zimmer steht ein Bett frei.“

„Nein, lieber nicht … dann würde ich doch lieber in meinem alten Zimmer bleiben!“

„Du lehnst Ilse Moll ab? Das wußte ich nicht. Mir ist zu Ohren gekommen, daß du dich im vorigen Semester sehr für sie eingesetzt hast.“

„Das war nur Zufall“, wehrte Leona ab und überlegte, ob Frau Eulau etwas von der Schlacht im nächtlichen Park erfahren hatte oder nur darauf anspielte, daß sie Ilse vor dem Ertrinken bewahrt hatte.

„Keine Sympathie?“

„Ich mag Ilse ganz gern … aber ich möchte nicht mir ihr zusammenwohnen.“

„Und warum nicht?“

Leona wollte Frau Eulau nicht auf die Nase binden, daß Ilse Moll eine Schlampe ersten Ranges war, deshalb sagte sie nur: „Unsere Lebensgewohnheiten sind sehr verschieden.“

Frau Eulau bedachte sie mit einem ihrer durchdringendsten Blicke, ließ es aber bei dieser Erklärung bewenden. „Dann muß ich dich mit einer Neuen zusammenlegen. Ich tue das ungern, weil ich sie selber noch nicht kenne.“

„Sie wird schon nicht beißen“, sagte Leona, um sich selber Mut zu machen.

„Das bestimmt nicht.“ Frau Eulau blätterte in ihren Papieren. „Sie heißt Ute van der Steek und kommt aus Berlin. Übrigens ist sie etwa in deinem Alter.“

„Das paßt ja gut.“

„Sie ist zum erstenmal von zu Hause fort, wird also möglicherweise Heimweh bekommen. Ich bitte dich, Leona, sei recht verständnisvoll zu ihr.“

„Ich werd’s versuchen.“

„Versuchen genügt nicht, Leona. Du mußt wollen.“

„Sicher will ich. Aber manchmal will man etwas und schafft es doch nicht.“

„Das ist richtig, Leona. Aber versprich mir, wenn irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen, dich sofort an mich zu wenden … oder besser noch … an Frau Wegner.“

„Das mache ich ganz bestimmt.“