Flut der Angst - Hannes Nygaard - E-Book

Flut der Angst E-Book

Hannes Nygaard

4,9

Beschreibung

Unbekannte drohen mit einem ungeheuerlichen Anschlag: Sie wollen die Elbe, Lebensader für den ganzen Norden, blockieren. Um ihr Vorhaben umzusetzen, schrecken sie auch vor brutalen Morden nicht zurück. Die fähigsten Polizisten Norddeutschlands nehmen die Ermittlungen auf. Terror an der Küste: Große Jäger, Lüder Lüders und Frauke Dobermann ermitteln gemeinsam. In ihrem größten Fall.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. Er wurde 1949 in Hamburg geboren und hat sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Er lebt auf der Insel Nordstrand.www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.   Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr.Michael Wenzel, Lille, Frankreich (www.editio-dialog.com).

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Auke Holwerda Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-614-0 Originalausgabe

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Dieses Buch widme ich meinen Leserinnen und Lesern.

EINS

Petrus meinte es gut. Er konnte mit seinem Werk zufrieden sein und sich an den lobenden Worten erfreuen, die Gäste und Bewohner Nordfrieslands über ihn verloren.

Seit Tagen beherrschte ein strahlendes Blau den weiten Horizont. Für die letzten Tage des Frühlings war es angenehm warm.

Das Wetter lockte die Menschen ins Freie; in der Außengastronomie gab es kaum einen freien Platz. Und wer nicht von einem beschaulichen Plätzchen aus das muntere Treiben verfolgte, bummelte gemächlich vom sehenswerten Husumer Schifffahrtmuseum über den Zingel und das Areal am Binnenhafen, schlenderte die Flaniermeile bis zur Kleikuhle, dem Platz in der Nähe der Klappbrücke, entlang.

Matthias von Wiek genoss die Atmosphäre. Es war eine lieb gewordene Familientradition, dass er seinen Geburtstag im Familienkreis an der Westküste verlebte.

Als Verkaufsleiter eines für innovative Technologien aus Glas bekannten Mainzer Weltkonzerns war er beruflich oft in allen Erdteilen unterwegs. Im Urlaub waren die beruflichen Belange unendlich weit entfernt. Dazu trug auch bei, dass er und seine Frau in der urwüchsigen und beschaulichen Region ein Paradies entdeckt hatten.

Urlaub und Geburtstagsfeier fanden seitdem hier statt. Und am Abend würde es wieder das Treffen mit der Familie und Freunden im Stammlokal geben.

Stefanie, seine Frau, hatte darauf gedrungen, den Tag in Husum zu verbringen, durch das kleine Zentrum zu schlendern, in den schmucken Geschäften zu stöbern, das weit über die Grenzen der Westküste hinaus bekannte Textilkaufhaus zu erobern, um schließlich mit einem Seufzer festzustellen, dass die Wünsche ihre Möglichkeiten bei Weitem überstiegen.

»Egal, was du noch vorhast«, sagte Matthias von Wiek entschieden, »wir trinken jetzt einen Kaffee.« Er sah sich um. »Da. Auf dem Dampfer.« Er zeigte auf das Restaurantschiff »Nordertor«, einen ehemaligen Förderdampfer, der seit seiner Indienststellung im Jahre 1936 Passagiere befördert hatte, bis er nach einer Odyssee vor langer Zeit in Husum endgültig vor Anker gegangen war.

Eine Gangway führte auf das Vorderdeck des blau-weiß gestrichenen Schiffs. An ihrer Seite waren eine Reihe Schilder befestigt, die auf die Öffnungszeiten, den Rauchersalon und andere Besonderheiten hinwiesen. Der zunächst rumplig erscheinende erste Eindruck beim Betreten des Decks verschwand im Innenraum, der eine urige rustikale Atmosphäre bot.

Sie fanden einen freien Tisch im hinteren Teil des Schiffes.

Von Wiek stieß seine Frau an. »Da drüben, das ist das neue Rathaus.«

»Irgendwie passt das nicht zum Ambiente auf der anderen Seite«, stellte seine Frau fest. »Da drüben … Die Häuser mit den Spitzgiebeln sehen schnuckelig aus. Selbst die Neubauten fügen sich harmonisch ein. Aber das Rathaus … Das wirkt wie ein Fremdkörper. Mit Ausnahme des Stahlgestells …«

»Du meinst den Aussichtsturm am Ende des Hafens, den mit der Plattform?«

»Sag ich doch.« Es klang schnippisch.

Sie wurden durch die Bedienung unterbrochen.

»Ich glaube, ich möchte einen Eisbecher«, entschied von Wiek, während seine Frau sich die Kuchenauswahl vortragen ließ, wählte und ein Kännchen Kaffee bestellte.

»Wolltest du nicht hierher, um Kaffee zu trinken?«, neckte sie ihren Mann.

Der sah auf die andere Hafenseite.

»Da drüben. Ist das ein Kutter? ›Hildegard‹, steht an der Spitze.«

»Weiß nicht. Damit kenne ich mich nicht aus. Ich habe mal gehört, es sei ein Tonnenleger. Und die Spitze heißt Bug.«

»So ein Blödsinn.« Stefanie von Wiek lachte. »Was für Tonnen soll der legen? Und wohin?«

Matthias von Wiek zeigte auf das Wasser. »Wir haben Ebbe. Das läuft ganz schön schnell ab.«

»Dann ist der ganze Hafen Matsch«, sagte seine Frau.

Er lächelte milde. »Schlick heißt das.«

»Von mir aus. Sieht auch nicht sauberer aus.«

»Zumindest werfen die Leute hier nicht alles ins Wasser. Es ist erstaunlich, was man aus manchem Binnensee herausfischt.« Interessiert sah er in das Hafenbecken am Heck des Schiffes. »Allerdings liegt hier auch etwas. Sieh mal. Eine Schaufensterpuppe.«

Seine Frau unterzog sich nicht der Mühe, aus dem Fenster zu sehen. »Wie fandest du den Hosenanzug?«, fragte sie.

»Welchen?«

»Den lindgrünen, den ich zuletzt anprobiert habe.«

»Ach den.«

»Nun sag mal.«

Matthias von Wiek war froh, dass sie durch die Kellnerin abgelenkt wurden, die ihre Bestellungen brachte. Zufrieden löffelte er seinen Eisbecher leer, zufrieden war er auch, dass seine Frau mit Kaffee und Kuchen beschäftigt war und das Thema »Hosenanzug« vorerst ruhen ließ. Beiläufig warf er einen Blick aus dem Fenster und hielt mitten in der Bewegung inne.

»Das gibt’s doch nicht!«

»Matthias«, mahnte seine Frau. »Du hast heute Geburtstag und bist ein weiteres Jahr von dem Alter entfernt, bei dem man sich träumerisch den Löffel mit Eis und Sahne an die Nasenspitze führen darf.«

Von Wiek ignorierte die Bemerkung. »Da«, sagte er mit belegter Stimme, »da unten im Matsch –«

»Vorhin hast du mir noch erklärt, dass es Schlick heißt«, unterbrach ihn seine Frau.

Matthias von Wiek ging nicht darauf ein. »Das ist keine Schaufensterpuppe. Das ist ein Mann!«

Seine Frau warf jetzt auch einen Blick durchs Fenster. »Tatsächlich«, sagte sie. »Donnerwetter.«

Von Wiek stand auf und ging zum Tresen. »Da liegt etwas im Wasser«, sagte er mit stockender Stimme. »Ein Toter.«

Die Bedienung sah ihn mit großen Augen an. »Wie bitte?«

Er wiederholte seine Worte.

Die junge Frau informierte ihre Chefin, die ebenfalls hinaussah. Inzwischen hatten es auch die anderen Gäste bemerkt und drängten ans Fenster.

»Ich rufe die Polizei«, erklärte die Chefin resolut.

* * *

Erster Hauptkommissar Christoph Johannes sah von seinem Bildschirm auf. Weit reichte sein Blick nicht. Am Schreibtisch vor ihm saß Große Jäger und fluchte leise vor sich hin. Büroarbeit gehörte nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen des Oberkommissars. Der Mann mit der speckigen Lederweste und dem Holzfällerhemd ließ krachend seine Hand auf die unsortierten Papiere auf seinem Schreibtisch fallen.

»Linke Jeanstasche«, sagte Christoph.

Große Jäger räkelte sich, dass der Bürostuhl bedenklich ächzte, und ließ die Pranke in der Hosentasche verschwinden. Kurz darauf tauchte sie mit einer Streichholzschachtel wieder auf. Dann krachte die andere Hand erneut suchend auf die Papiere.

»Mist«, fluchte Große Jäger, als er bei seinem unkontrollierten Herumschlagen die zerknautschte Zigarettenpackung erwischte. Viel konnte er nicht zerdrückt haben. Nicht mehr. Die Packung hatte zuvor schon Ähnlichkeit mit einem Plattfisch gehabt. Der Oberkommissar erhob sich. »Zehn Minuten Gesundheitspause«, sagte er und wollte zur Tür gehen, als sich sein Telefon meldete.

»Ja. – Oh, wie spannend. – Wirklich? – Gut. – Wir kommen«, hörte Christoph, bevor sich Große Jäger ihm zuwandte.

»Wie schnell erstarrt eine Leiche?«

»Bitte?«, fragte Christoph zurück.

Große Jäger hielt die Zigarettenpackung in die Höhe. »Ist eine Zigarettenlänge von Relevanz, wenn wir zum Fundort einer Leiche müssen?«

»Ganz bestimmt«, erklärte Christoph und schloss die Arbeit ab, mit der er sich aktuell beschäftigte. »Wo?«

Erneut wurde die Zigarettenpackung in die Höhe gehalten. »Verrate ich dir nach der Gesundheitspause.«

Große Jäger war nicht dazu zu bewegen, weitere Informationen von sich zu geben. Sie hatten kaum die Hintertür des Polizeigebäudes in Husums Poggenburgstraße verlassen, als er sich den Glimmstängel anzündete und gierig inhalierte. Erst dann war er bereit, zu berichten.

»Man hat einen Toten im Binnenhafen gefunden.«

»Das sind nur ein paar Schritte«, erklärte Christoph.

»Na und? Wo erscheint die Polizei zu Fuß? Bei den zahleichen Touristen, die rund um den Hafen allgegenwärtig sind, würden wir uns lächerlich machen.«

»Es wäre doch eine Attraktion, wenn du mit einem Blaulicht in der Hand dort angelaufen kämest, vergleichbar mit den Läufern, die das olympische Feuer durchs Land tragen.«

Große Jäger tippte sich an die Stirn. »Und dazu soll ich ›Tatütata‹ singen?«

»Bei deiner Körperfülle kann man dich nicht mehr mit dem Pferd anrücken lassen. Das würde dem armen Tier die Wirbelsäule brechen.«

»Die Ambitionen hätte ich auch nicht. Du bist hier der Sheriff. Ich bin nur ein Deputy.«

»Dann los, Hilfsmarshall«, sagte Christoph. »An der Nordseeküste gibt es die Gezeiten.«

»Gemach, gemach«, erwiderte Große Jäger. »Wenn wir es ganz ruhig angehen lassen, verschwindet die Leiche wieder im Wasser. Wir müssen nur auf die Flut warten.« Sie stiegen ein und fuhren die kurze Strecke zum Binnenhafen. Vor den schmucken Häusern mit den bunten Geschäften und Restaurants gab es keine Abstellmöglichkeiten. Dort waren alle Parkplätze belegt. Christoph parkte den Volvo auf der anderen Seite direkt an der Kaimauer im Halteverbot.

»Die Ureinwohner nehmen sich alles heraus«, meckerte ein älterer Mann, der die aufsteckbaren Sonnenschutzgläser vor seiner Hornbrille hochgeklappt hatte.

Große Jäger streckte dem Mann die Zunge heraus, ohne sich um seine weiteren Beschwerden zu kümmern. Mühsam bahnten sich die beiden einen Weg durch den Ring der Schaulustigen, die von den Besatzungen zweier Streifenwagen zurückgedrängt wurden.

»Moin«, grüßte einer der Polizisten mit einem Kopfnicken Richtung Hafenbecken.

Christoph trat dicht an die Kaimauer und sah in den graubraunen Schlick hinunter. Nur in der Mitte war noch ein schmales Rinnsal, in dem das Wasser der Husumer Au, eines kleinen Zulaufs aus dem Hinterland, Richtung Nordsee floss.

Der Schlick hatte die Leiche halb verdeckt. Das ablaufende Wasser hatte am leblosen Körper Sedimente angespült, die sich dort zu einer kleinen Erhebung angesammelt hatten. Von hier oben war nicht viel zu erkennen. Der Mann lag auf dem Bauch, Arme und Beine waren leicht angewinkelt. Das Gesicht lag halb auf einer Seite.

Christoph wechselte einen Blick mit Große Jäger.

»Habe ich auch gesehen«, erwiderte der Oberkommissar.

Am Hinterkopf zeichnete sich eine dunkle Stelle ab, die teilweise vom Hafenschlick verschmutzt war. »Das haben wir nicht so oft«, fuhr Große Jäger fort. »Ein Einschuss in den Hinterkopf. Entweder war er Artist und hat auf diese umständliche Art Selbstmord begangen, oder es ist ein glatter Mord.«

»Aus dieser Distanz … Kompliment. Erkennst du auch Motiv und Täter?«

»Klar«, erwiderte Große Jäger. »Sieht aus, als hätte der Tote einen Anzug getragen. Der muss jetzt allerdings in die Reinigung. Man wollte ihn in diesem Zustand nicht ins Restaurant lassen. Es gab Streit, und in dessen Verlauf hat ihn der Oberkellner erschossen.«

»Erschossen?«, fragte Christoph spitz.

Große Jäger schürzte die Lippen. »Na ja. Vielleicht hat er auch mit einem zu zähen Stück Fleisch geworfen.« Dann wühlte er sein Handy hervor und forderte die Spurensicherung an. »Beeilt euch«, schloss er das Gespräch ab. »Sonst verschwindet die Leiche und taucht erst in der Nacht wieder auf. Ach ja … vergesst die Badehosen nicht.«

»Wenn du dich jemals versetzen lassen willst, dann musst du nach Oldenburg in Holstein oder Geesthacht. Die Dienststellen sind weit weg. In Flensburg wird man dich nicht nehmen. Da hast du dir zu viele Freunde angelacht«, sagte Christoph und entschied, die Husumer Feuerwehr zu alarmieren. »Wir müssen den Toten bergen und Dr.Hinrichsen anfordern.«

Der Allgemeinmediziner betrieb in Husums Schloßgang eine Praxis. Er wurde von der Polizei zurate gezogen, wenn es ungeklärte Todesfälle gab, um eine erste Einschätzung vorzunehmen, da die Rechtsmedizin im fernen Kiel beheimatet war.

»Das kannst du vergessen«, erwiderte Große Jäger. »Oder weißt du, in welchem Golfclub er Mitglied ist? Heute ist Mittwochnachmittag. Da sind die Ärzte nicht in der Praxis. Ich kümmere mich um die Zeugen. Um die, die den Toten entdeckt haben«, fügte er an.

»Die sind auf der ›Nordertor‹«, erklärte der uniformierte Beamte in ihrer Nähe und zeigte auf das Restaurantschiff.

Christoph und die Streifenwagenbesatzungen bemühten sich, die Zuschauer zum Weitergehen zu bewegen. Es war ein vergebliches Unterfangen.

»Abenteuerurlaub an der Küste«, feixte ein Passant.

»Vielleicht ist das alles nur gestellt, und die drehen eine neue Folge von ›Morden im Norden‹«, meinte ein anderer.

Kurz darauf ertönten schon von Weitem die Signalhörner der freiwilligen Feuerwehr. Christoph war immer wieder erstaunt, wie schnell die Frauen und Männer nach Auslösung eines Alarms am Einsatzort eintrafen. Und das nicht nur in Husum.

»Wir haben einen Toten im Hafenbecken, den wir bergen müssen«, erklärte Christoph. Der Feuerwehrmann nickte und teilte seine Männer ein. Eine Gruppe sollte einen Sichtschutz aufbauen, während er die Drehleiter »Florian Nordfriesland 20/32/1« nachorderte.

»Die setzen wir als Hubrettungsgerät für die Bergung von Menschen ein«, erklärte der Einsatzleiter.

Die ersten Feuerwehrleute hatten Leitern und Planen bereitgestellt und einen provisorischen Steg auf dem Grund des Hafens errichtet, zu dem eine Leiter neben einem Dalben hinabführte. Sie mussten dabei der Vertäuung der »Nordertor« ausweichen. Es bestand nicht nur das Problem, einzusacken, der Schlick war auch gleitfähiger als Schmierseife. Man konnte sich kaum aufrecht halten. Mit Unterstützung zweier Feuerwehrleute krabbelte Christoph hinab und balancierte zur ersten Inaugenscheinnahme bis zum Toten. Viel war nicht zu erkennen. Aus der Nähe bestätigte sich die erste Vermutung. Der Mann war erschossen worden.

Christoph schätzte ihn auf etwa vierzig Jahre. Am linken Arm trug der Tote eine teuer aussehende goldene Armbanduhr. Offensichtlich hatten es der oder die Täter nicht auf den Raub von Wertgegenständen abgesehen.

Die inzwischen eingetroffene Drehleiter fuhr die Stützen aus, der Maschinist rangierte den mit zwei Feuerwehrmännern besetzten Rettungskorb an der Spitze der Drehleiter bis zu dem Toten. Die auf dem Hafengrund wartenden Kameraden befestigten den Leichnam und deckten ihn mit einer Plane ab, bevor er in die Höhe gezogen wurde und an Land schwebte. Dort wurde er auf einer anderen Plane vorsichtig abgelegt.

»Keine Schaumbildung vor der Atemöffnung. Er war also schon tot, als er ins Wasser fiel. Vermutlich«, relativierte Große Jäger. »Lange kann er dort nicht gelegen haben. Keine Waschhautbildung.«

Der Oberkommissar tauchte vorsichtig mit seinen großen Händen in die Innentasche des Sakkos und förderte ein Portemonnaie sowie einen Kugelschreiber ans Tageslicht. »Parker«, sagte Große Jäger und legte das Schreibgerät an die Seite. Er warf einen ersten Blick in die Geldbörse. »Schätzungsweise zweihundert Euro.«

»Andere Währungen?«

»Nein.« Der Oberkommissar besah sich die Scheine genauer. »Hier lebt der europäische Gedanke. Sie sind unterschiedlicher Herkunft.« Mit einem Blick auf den Toten meinte er: »Die Scheine sind von der Bundesbank herausgegeben, andere stammen aus Holland und Italien.«

»Keine Schweizer?«, fragte Christoph.

»Nein, keine Schw…« Große Jäger stutzte. »Tühnkopp. Die haben doch gar keine Euros.« Er fand noch Kreditkarten. »Die sind italienischer Herkunft«, sagte er. »Wenn der Aufdruck stimmt, heißt der Mann Maurizio Archetti.«

Er setzte die Suche in den Seitentaschen des Sakkos fort. »Interessant«, murmelte er halblaut und hielt die elektronische Zimmerkarte eines Husumer Hotels in der Hand. »Der Tote hat sich etwas geleistet«, stellte Große Jäger fest. Er setzte die oberflächliche Untersuchung fort. »Die Finger weisen keine Abwehrverletzungen auf. Er hat sich also nicht gewehrt.« Nachdem er sich über den Hinterkopf gebeugt hatte, sagte er: »Ich will der Rechtsmedizin nicht vorgreifen, aber es sieht wie ein aufgesetzter Schuss aus.«

»Eine Hinrichtung?«, fragte Christoph ungläubig.

Sie nutzten die Wartezeit bis zum Eintreffen der Spurensicherung und suchten die Umgebung ab, liefen gebückt an der Kaimauer entlang und versuchten, Verdächtiges auf dem Gehweg und am Straßenrand zu entdecken.

»Nichts«, stellte Christoph fest. »Wenn er hier erschossen wurde, haben die Täter die Patronenhülse mitgenommen.«

»Muss es hier gewesen sein?«, warf Große Jäger ein.

»Davon gehe ich fast aus. Es ist viel Blut ausgetreten. Damit würde man nicht nur das mögliche Transportfahrzeug beschmutzen, sondern auch die Leute, die ihn transportiert haben.«

»Hmh«, überlegte der Oberkommissar. »Das letzte Hochwasser war heute Morgen um halb neun. Da strömen hier noch nicht die Massen vorbei, aber wenn man jemanden erschossen hätte, wäre das nicht unbemerkt geblieben. Niedrigwasser war demnach etwa um drei Uhr nachts. Niemand wirft eine Leiche ins leere Hafenbecken. Also muss er zwischen schätzungsweise halb vier und sechs Uhr ermordet worden sein.«

»Was treibt sich ein gut angezogener Fremder zu dieser frühen Stunde am Husumer Hafen herum?«, überlegte Christoph laut und sah auf, als der weiße Mercedes Vito der Flensburger Spurensicherung eintraf. Als Erster stieg deren Leiter, Hauptkommissar Jürgensen, aus.

»Moin, Klaus«, begrüßte ihn Große Jäger und fuhr Jürgensen über die millimeterkurz geschnittenen Haare. »Soll ich dir einen Termin mit einem unserer Prädikatslandwirte machen? Niemand versteht vom Düngen so viel wie die. Da wachsen auch die Haare wieder.«

»Der Herr segne den Tag, an dem du als Leiche aufgefunden wirst«, erwiderte Jürgensen und trat hinter den Sichtschutz. »Habe ich mir gedacht«, entfuhr es ihm, als er die durch den Schlick verkrustete Leiche sah. »Mehr könnt ihr nicht an der Westküste.«

»Wir würden dir gern den Gefallen tun und den Toten durchspülen. Dazu müssen wir auf die Flut warten. Im Gegensatz zu euch an der Ostsee tauschen wir zweimal täglich das Wasser aus.«

»Habt ihr den selbst geangelt?«, wollte Jürgensen wissen und zeigte auf den Toten.

»Die Sportfischergruppe der Husumer Feuerwehr war dabei behilflich. Wir wollen dich nicht meckern hören, schon gar nicht, dass du in den Mudd da unten hineinmusst. Das hat Christoph für dich erledigt.« Große Jäger wies auf Christophs verkrustete Schuhe hin.

»Was haben wir da?«, wurde Jürgensen ernst.

»Vermutlich einen aufgesetzten Schuss«, antwortete Christoph.

»Eine Hinrichtung?«, fragte Jürgensen erstaunt.

»Wir haben sogar eine erste Spur, die zum Täter führt«, erklärte Große Jäger. Als Christoph und Jürgensen ihn erstaunt ansahen, fuhr er fort: »Das muss ein Flensburger gewesen sein. Unsere Leute tun so etwas nicht.« Bevor jemand antworten konnte, verschwand er hinter dem Sichtschutz.

Das Hotel lag zentral und führte die vier Sterne zu Recht. Es war bei Touristen, aber auch Geschäftsreisenden beliebt und stellte eine Bereicherung für die Stadt dar. Die junge Frau an der Rezeption sah auf, als die beiden Beamten das Foyer betraten. Ein skeptischer Blick streifte Große Jäger, dessen Schmerbauch über der schmuddeligen Jeans hing und die Gürtelschnalle verdeckte.

Christoph bat darum, den Hotelmanager sprechen zu dürfen. Die junge Frau sagte: »Einen Moment, bitte«, und kehrte kurz darauf mit einem grau melierten Mann im dunklen Anzug wieder.

»Sommerkamp«, stellte er sich vor und deutete geschäftsmäßig eine Art Verbeugung an. Dabei verzichtete er auf einen Händedruck.

Christoph hielt die Zugangskarte hoch, die sie beim Toten gefunden hatten und die er an sich genommen hatte, nachdem die Spurensicherung sie analysiert hatte. »Die ist von Ihrem Haus?«

»Ja.« Ein kurzer Blick reichte Sommerkamp.

»Können Sie mir sagen, wer dieses Zimmer gebucht hat?«

»Natürlich.« Sommerkamp nahm die Karte und führte sie in ein Lesegerät ein. »Maurizio Archetti heißt der Gast. Er ist gestern angereist.« Der Manager blickte über den Brillenrand. »Darf ich fragen, ob etwas passiert ist?«

»Wir vermuten, dass Herrn Archetti etwas zugestoßen ist.«

»Ein Unfall?« Es klang erschrocken.

Die beiden Beamten ließen die Frage unbeantwortet.

»Wie hat sich der Gast angemeldet?«, wollte Christoph wissen.

»Über ein Hotelbuchungssystem. Er hat sich mit seiner Kreditkarte legitimiert.«

»American Express?«, fragte Große Jäger.

»Ja. Aber wieso, ich verstehe nicht …«

Eine solche Kreditkarte hatten sie im Portemonnaie des Toten gefunden.

»Wir möchten gern das Zimmer sehen«, bat Christoph.

»Kommen Sie«, zeigte sich der Hotelier hilfsbereit und führte sie in einen der großzügigen und modern eingerichteten Räume.

Vom Doppelbett war eine Seite benutzt. »Der Zimmerservice war heute hier?«, fragte Christoph und zeigte auf die gemachten Betten.

»Sicher.« Sommerkamp nickte.

»Wann ist Archetti gestern eingetroffen?«

»Gegen achtzehn Uhr.«

»Hat er im Restaurant oder in der Bar etwas zu sich genommen?«

»Nein.«

»Für welchen Zeitraum ist das Zimmer reserviert?«

»Zwei Nächte.«

Christoph war erstaunt, wie präzise sich Sommerkamp die Daten bei seinem kurzen Blick auf den Bildschirm gemerkt hatte. Es klang professionell.

Sie warfen zunächst einen Blick ins Bad. Eine Zahnbürste steckte im Becher. Zahnpasta, zwei Herrendüfte, Aftershave und ein elektrischer Rasierapparat boten keine Überraschung. Die Kulturtasche war aus feinem Leder. Darin fanden sich ein Näh- sowie ein Manikürset und Bürstchen für die Zahnzwischenräume. »Kein Kamm?«, wunderte sich Christoph.

»Habe ich auch nicht«, knurrte Große Jäger.

Auf dem Nachttisch lag eine Halbbrille. Christoph schmunzelte, als er die englische Ausgabe des »Playboy« entdeckte.

»Schwul war er nicht«, stellte Große Jäger fest.

Die Reisetasche war von Hermès. Große Jäger hob das zweite Paar Schuhe an. »Sieht aus wie handgenäht.«

Die Edeljeans, der Pullover und die drei Hemden, die Archetti in den Schrank gehängt hatte, stammten ebenfalls aus guten Herrenausstattergeschäften.

»Es sieht nicht so aus, als hätte er sich die Termine des Winterschlussverkaufs merken müssen«, sagte Große Jäger und interessierte sich für einen Aktenkoffer, der neben dem Schreibtisch stand. Die Zahlenschlösser waren nicht gesichert.

Der Oberkommissar öffnete den Koffer. »Da ist ein Tablet«, erklärte er. »Ein iPad, genau genommen. Das Ladekabel. Und ein Stapel Papiere.«

Vorsichtig nahm er sie heraus und legte sie auf den Schreibtisch. »Entweder ist Archetti sein richtiger Name, oder die Unterlagen sind durchgängig gefälscht, da alle Papiere und Dokumente, die wir gefunden haben, auf Archetti lauten. Das Flugticket zeigt, dass er gestern, von Amsterdam kommend, um halb drei Uhr in Hamburg eingetroffen ist. Er ist mit der KLM geflogen. In Fuhlsbüttel hat er sich einen Leihwagen genommen, einen Mercedes C200. Den wollte er vier Tage behalten.«

»Das heißt, Archetti hatte noch einen weiteren Termin nach Husum«, sagte Christoph. Er sah den Hotelmanager an. »Wir müssen noch die Spurensicherung herschicken. Können Sie sicherstellen, dass in der Zwischenzeit niemand den Raum betritt?«

»Natürlich«, versicherte Sommerkamp. »Wollen Sie mir nicht sagen, was passiert ist?«

»Wir gehen davon aus, dass Herr Archetti erschossen wurde.«

»Mein Gott. Und das hier – in Husum?« Sommerkamp war blass geworden.

Christoph nickte. Dann rief er Hauptkommissar Jürgensen an.

»Ich habe auch etwas«, erklärte der Leiter der Spurensicherung. »Wir haben drei Meter von der Kaimauer entfernt Blutspuren gefunden. Da sind schon viele Leute drübergelatscht. Trotzdem. Das ist euch Nordfriesen wohl entgangen«, lästerte Jürgensen. »Kein Wunder. Ihr habt ja auch Fischaugen.«

»Niemand ist so gut wie du«, erwiderte Christoph.

Dann kehrten er und Große Jäger zur Dienststelle zurück. Was wollte Archetti in Husum? Mit wem war er verabredet? Außer der Kreditkarte hatten sie keine weiteren Dokumente gefunden, die etwas zur Identität aussagten. Hatte er Familie? Wer musste benachrichtigt werden? Die Beamten der Husumer Kripo würden ausschwärmen und die Stadt durchforsten, in Restaurants und Cafés nachfragen, ob man Archetti gesehen hatte.

ZWEI

Der Besprechungsraum war schlicht eingerichtet. Zwei zusammengeschobene Tische, Holzstühle mit einem Stahlrohrgestell, ein Whiteboard und das Plakat, das für den Polizeidienst warb. Erste Hauptkommissarin Frauke Dobermann hatte sich an die Kargheit des Raumes gewöhnt. Sie sah noch einmal auf ihre Notizen, die handschriftlichen und jene im Notebook gespeicherten, und schloss ihren Vortrag ab.

»Wir müssen diesem Unwesen auf andere Weise Herr werden. Nur wenige Betroffene trauen sich, Anzeige zu erstatten. Die Opfer sind ältere Menschen, die zudem eingeschüchtert werden. Wenn die örtlichen Kollegen die Ermittlungen aufnehmen, machen die Täter den Laden zu und eröffnen am nächsten Tag unter einem anderen Namen einen neuen.«

»Sie haben leider recht«, stimmte der schwergewichtige Hauptkommissar Nathan Madsack zu. »Aber wie wollen Sie das für die Täter lukrative Geschäft mit den Betrügereien bei den Kaffeefahrten unterbinden?«

»Indem wir das Verfahren an uns ziehen und es als das betrachten, was sich dahinter verbirgt: ein organisiertes Verbrechen.«

»Dem der Boden entzogen wäre, wenn niemand mehr an solchen Veranstaltungen teilnähme«, mischte sich Kriminalhauptmeister Jakob Putensenf ein. »Warum sind die Menschen so dumm?«

Diese Frage konnte Frauke nicht beantworten. Sie sah Kriminaloberrat Michael Ehlers fragend an. »Wenn Sie einverstanden sind, werden wir einen Vorschlag erarbeiten, wie man dieser Betrugsmasche begegnen kann.«

Ehlers räusperte sich. »Da wäre noch etwas.« Er drehte verlegen seinen Kugelschreiber, als ihn die vier Mitarbeiter der Ermittlungsgruppe ansahen.

»Sie erinnern sich an Dottore Alberto Carretta?«

»Niemand leidet unter Demenz«, sagte Frauke. Wie zufällig sah sie Putensenf an. »Den haben wir als Patron der ›Organisation‹ lange genug gejagt. Es war ein schweres Stück Arbeit, bis wir ihn überführen konnten. Dafür sitzt er jetzt in der JVA Celle ein. In Anbetracht seines Alters wird er dort auch das Zeitliche segnen.«

Erneut räusperte sich Ehlers. »Es war nicht Celle, sondern Meppen.«

»Wieso?«, mischte sich Putensenf ein. »Der Knabe ist ein schweres Kaliber. Der gehört nach Celle. Dort sitzen die dicken Hunde.«

Frauke hob ihren Zeigefinger. »Sie sagten war in Meppen, nicht er ist.«

»Nach seiner Verurteilung –«, begann Ehlers.

Putensenf unterbrach ihn. »Der hat ›lebenslänglich‹ bekommen. Außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt.«

»Nach seiner Verurteilung«, setzte der Kriminaloberrat ein weiteres Mal an, »war Carretta ein Vierteljahr in Meppen inhaftiert. Man hat auf seinen Gesundheitszustand und das hohe Alter Rücksicht genommen.«

»Nicht zu glauben. Wer alt ist, darf ungestraft morden.«

»So ist das nicht, Herr Putensenf.«

»Jakob, halt endlich mal die Klappe«, mischte sich Madsack ein und sah Putensenf an.

»Ist er aus den Gründen entlassen worden, die Herr Putensenf nannte?«, fragte Frauke.

»Neiiin«, erwiderte Ehlers gedehnt. »Es gab andere Gründe.«

»Welche?«, fragte Frauke.

Der Kriminaloberrat hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Die kenne ich auch nicht.«

»Dann sehen wir uns die Akte an«, beschloss Frauke.

»Zu der haben weder Sie noch ich Zugang. Die ist zur geheimen Verschlusssache erklärt worden.«

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte Frauke empört. »Gut! Dann werden wir Dottore Carretta persönlich befragen, sofern er sich nicht in seine Heimat geflüchtet hat, wo die Zitronen blühen.«

Ehlers verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das ist nicht mehr möglich. Carretta ist vorgestern ermordet worden.«

Frauke sah ihren Vorgesetzten ungläubig an.

»Er war auf der Oste angeln. Das ist ein kleiner Fluss, der etwa gegenüber von Brunsbüttel in die Elbe fließt, na ja, nicht ganz, sondern ein Stück weiter westlich.«

»Wo sind wir gelandet?«, empörte sich Putensenf. »Der Clanchef einer Verbrecherorganisation fängt in aller Seelenruhe kleine Fische, nachdem man ihn hat laufen lassen und er in seinem ganzen Verbrecherleben nur große an Land gezogen hat. Weiß man schon Näheres?«

»Nein«, sagte Ehlers. »Der Mord geschah in der Nähe von Neuhaus. Zuständig ist die Kripo Oldenburg, zu der die Polizeiinspektion Cuxhaven gehört. Ich habe mir gedacht, dass Sie ohnehin keine Ruhe geben, wenn Sie von Carrettas Tod erfahren, und sich deshalb vor Ort erkundigen.«

»Gut«, sagte Frauke. »Schwarczer und ich werden uns umsehen.«

»Wieso Sie beide?« Putensenf war unzufrieden.

»Madsack versteht es, Dinge aus dem Innendienst heraus zu organisieren, und Sie, Putensenf, sind der Einzige, der undercover bei einer Rentnereinkaufstour mitfahren kann, ohne dass es auffällt.«

»Muss das sein?« Putensenf hatte sich an den Kriminaloberrat gewandt.

Der nickte. Dabei zeigte sich ein spöttisches Lächeln auf seinem Gesicht. »In Ihrem Team ist alles in weiblicher Hand.«

»Armes Deutschland«, moserte Putensenf. »Kanzlerin, Verteidigungsministerin, Bischöfin und eine Frau als Ermittlungsgruppenleiterin bei der Polizei. Nicht nur bei der Polizei – sogar bei der Kripo.«

Frauke streckte den Zeigefinger in seine Richtung. »Sie sind arm dran. Vergessen Sie bei Ihrer Aufzählung nicht Ihre Ehefrau, die zu Hause das Regiment führt.«

Putensenf sah nicht glücklich aus, als ihn die anderen angrinsten.

Frauke nutzte die Fahrt, um mit der Oldenburger Kripo zu telefonieren, während Schwarczer den Audi der Fahrbereitschaft Richtung Cuxhaven steuerte.

»Heinrichs«, hatte sich der Oldenburger Hauptkommissar vorgestellt. »Spaziergänger haben das Ruderboot mit dem Außenbordmotor an der Brücke über die Oste bei Geversdorf gefunden. Das ist nicht weit von Neuhaus entfernt. Es trieb dort an der Böschung herum, und sie sahen von der Brücke aus einen leblosen Körper. Zunächst glaubten sie, der Angler habe gesundheitliche Probleme, und haben den Rettungsdienst alarmiert. Die haben festgestellt, dass der Angler, ein älterer Mann, tot war. Gemeinsam mit der herbeigerufenen Streife sahen sie, dass der Tote erschossen wurde. Wir haben die Ermittlungen aufgenommen. Zeugen gibt es keine. Das Boot wurde flussabwärts im Yachthafen Neuhaus gemietet. Der Bootsverleiher erinnerte sich an einen freundlichen älteren Herrn, der schon ein paarmal Kunde bei ihm war. Gesprochen haben sie aber nie miteinander, abgesehen von den Modalitäten zur Bootsmiete. Der Angler hatte seine Ausrüstung dabei. Auf dem Parkplatz haben wir das Auto sichergestellt. Es war auf Stéphane Ruffier zugelassen. Es handelt sich um einen Ford Galaxy.«

»Wie heißt der Tote?«, unterbrach Frauke den Oldenburger Kollegen.

Heinrichs wiederholte den Namen.

»Merkwürdig. Warum hat er sich eine französische Identität zugelegt?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Wir kennen ihn unter einem anderen Namen. Eigentlich ist er Italiener.«

»Das haben wir noch nicht feststellen können. Nach unseren Ermittlungen wohnte er seit Kurzem in Cuxhaven, und zwar …« Es entstand eine kleine Pause. »In einem teuren Apartmenthaus direkt am Strand. Wir haben die Nachbarn befragt. Ruffier war ein unauffälliger Mitbewohner. Man ist sich nur gelegentlich begegnet. Besucher sind nicht aufgefallen.«

»Also weiß niemand, woher er stammt und warum er nach Cuxhaven gezogen ist?«, fragte Frauke.

»Das ist zutreffend. Wir haben die Wohnung durchsucht, aber nichts Verdächtiges gefunden. Vielleicht hat er etwas mit der Seefahrt zu tun. Unter seinen Unterlagen haben wir Seekarten von der Elbmündung gefunden, auf dem sichergestellten Rechner viele Schiffsbilder. Offenbar haben ihn die Schiffe und die Elbe von der Mündung bis auf Höhe Brunsbüttel interessiert.«

»Die Schleusenanlagen?«

»Ja«, bestätigte Heinrichs. »Die scheinen Ruffier besonders fasziniert zu haben.«

»Ich verstehe allerdings nicht, weshalb Ruffier mit dem Anglerboot flussaufwärts gefahren ist. Dort findet sich nur Landschaft pur. Er hätte in die andere Richtung gemusst, wenn er sich für die Elbe und Brunsbüttel interessiert hätte«, sagte Frauke.

»Der Mann war nicht sehr bewandert. Er kannte weder die Region, noch war er mit dem Umgang mit Wasserfahrzeugen vertraut. Wir haben mit dem Menschen vom Yachtclub gesprochen. Ruffier wollte – angeblich – zum Angeln auf die Elbe. Das erschien dem Einheimischen aber zu gefährlich. Die Strömung in der Elbe ist so kräftig, da geraten Sie schnell in eine Notsituation. Wer damit nicht vertraut ist, kann leicht in die Nordsee hinausgetrieben werden, wenn er nicht zuvor in die Fahrrinne gerät oder das leichte Boot kentert. Das konnte der Yachtclubmensch nicht vertreten. Außerdem … was sollte jemand, der offensichtlich auch vom Angeln nichts verstand, in der Elbe fangen? Darum hat er den alten Mann, wie er sagt, angelogen und ihm die falsche Richtung flussaufwärts gewiesen.«

»Schicken Sie bitte alle sichergestellten Sachen zum LKA nach Hannover«, bat Frauke.

»Heißt das, wir sollen den Fall abgeben?«, wollte Heinrichs wissen.

»Bleiben Sie bitte am Ball. Es wäre gut, wenn Sie mich über Ihre Fortschritte informieren würden.«

»Das ist aber keine Einbahnstraße«, sagte Heinrichs.

Frauke versicherte ihm, dass sie ihrerseits die Oldenburger Kripo unterrichten würde. Zum Abschluss bat sie, dass Heinrichs ihr ein Foto des Toten auf das Smartphone senden sollte.

Sie waren schon hinter Bremerhaven, als das Foto eintraf.

»Das ist Dottore Alberto Carretta«, sagte Frauke zu Schwarczer. »Warum ist der mit einer neuen Identität in Cuxhaven untergeschlüpft? Und wer hat sie ihm verschafft? Dieselben Leute, die für seine Entlassung gesorgt haben? So, wie wir ihn kennengelernt haben, interessierte er sich weder für Schiffe noch fürs Angeln.«

Schwarczer antwortete nicht. Wie immer.

Für die etwas mehr als zweihundert Kilometer benötigten sie über zwei Stunden.

Die Kernstadt Cuxhavens konzentrierte sich auf das Gebiet an der Elbe und dem Hafengelände, während die touristisch geprägten Stadtteile sich wie an einer Kette am Wattenmeer entlangzogen. Aus dem Weltraum ähnelte es fast einer Sichel.

Carrettas Unterkunft lag in einem großen halbkreisförmigen Gebäudekomplex in der Nordfeldstraße. Man musste die teilweise einfallslosen Betonklötze nicht unbedingt mögen, die den Ortsteil Döse an dieser Stelle prägten. Man hätte sie auch in einer seelenlosen Wohnsiedlung einer beliebigen Großstadt finden können.

Die »Kurparkresidenz« ragte architektonisch heraus. Der Planer hatte den Gebäudekomplex so angelegt, dass von fast allen Wohnungen des Halbrunds der Blick aufs Wasser führte. Das half offenbar nur bedingt. Nicht nur die Schilder, die auf ein Vermietungsangebot verwiesen, auch die zugeklebten Fenster der leeren Ladenlokale wirkten befremdlich. Dafür gab es ein reichhaltiges Angebot an Parkplätzen, und gegenüber warb ein rustikal wirkender Miniaturgolf-Park um Kunden.

Die Suche nach dem Hausmeister dauerte eine Weile. Er wohnte an einem anderen Ort und tauchte eine halbe Stunde später auf.

»Schon wieder Polizei?«, fragte er mürrisch. »Ich habe noch anderes zu tun, als für Sie den Türöffner zu spielen.«

»Gehört das nicht zu Ihren Aufgaben? Sie werden nicht für das Sonnenbad auf Ihrem Balkon bezahlt«, sagte Frauke. »Unsere Zeit ist noch kostbarer. Also los. Öffnen Sie die Tür.« Dem ihr zugeworfenen bösen Blick maß sie keine Bedeutung bei.

Die von Carretta – oder für Carretta? – angemietete Wohnung lag im, so fand Frauke Dobermann, schönsten Teil des Hauses. Von der verglasten Loggia aus hatte man einen phantastischen Blick über das Wasser.

Der Hausmeister bemerkte den umherschweifenden Blick der beiden Polizisten.

»Toll, nicht wahr? Die Hauptfahrrinne führt unweit der Kugelbake entlang. Bei klarem Wetter können Sie die Schiffe beobachten. Mit dem Ding da«, er zeigte auf ein Fernrohr, das auf ein Stativ montiert war, »haben Sie einen wunderbaren Blick rechts rüber nach Friedrichskoog drüben in Schläfrig-Holzbein und links bis nach Neuwerk.«

Frauke Dobermann sah durch das Gerät, verstellte ein wenig die Okulare und stellte fest, dass man mit dem Fernrohr wirklich detailliert entfernte Dinge betrachten konnte. Sie richtete es auf ein kleineres auslaufendes Schiff, justierte nach und war erstaunt.

»Das überrascht mich«, sagte sie. Dann richtete sie das Gerät auf die Kugelbake, ein hölzernes dreißig Meter hohes Seezeichen, das nicht nur das Wahrzeichen Cuxhavens ist, sondern auch das Wappen der Stadt ziert.

»An diesem stark befahrenen Seefahrtsweg war die Kugelbake ein wichtiger Orientierungspunkt«, setzte der Hausmeister seine Erklärung fort. »Dort endet die Elbe, und es beginnt die Nordsee. Na ja, die Nautiker sagen dazu Außenelbe.« Er streckte den Arm aus. »Die Elbe ist hier achtzehn Kilometer breit. Ganz schön, was? Und wenn Sie sich an die Kugelbake stellen, haben Sie den nördlichsten Punkt Niedersachsens erreicht. Nicht nur das. Östlich ist das Mündungsgebiet der Elbe, westlich das der Weser. Hier vereinigen sich also symbolisch die beiden miteinander konkurrierenden Flüsse und damit auch Hamburg und Bremen.«

Von hier oben sah man auch ohne optische Hilfe den Strom der Touristen, die auf dem Damm Richtung Kugelbake wanderten.

Geradeaus, direkt vor dem Seedeich, dehnte sich der feine weiße Strand fast endlos aus. Auf ihm wimmelte es von Urlaubern, die zwischen den Strandkörben hin- und hereilten oder ins Wasser gingen, das zwischen den Buhnen an den Strand plätscherte.

Sie bedankten sich beim Hausmeister und schickten ihn fort.

»Carretta hat in Hannover gewohnt. Wir haben bei ihm nie einen Bezug zum Meer festgestellt. Seine hannoversche Unterkunft war unauffällig und in einem bürgerlichen Viertel. Ganz anders als dieses Domizil«, überlegte Frauke laut.

»Er hat nicht mehr viel Zeit gehabt. Möglicherweise wollte er den Ruhestand an diesem Ort genießen«, antwortete Schwarczer und strich versonnen mit der Hand über das helle Eichenholz der Anrichte. »Massiv«, stellte er fest.

»Die ganze Einrichtung ist teuer. Sie werden hinter den Schränken keine Aufkleber mit einem blau-gelben Elch finden.«

»Carretta war nicht unvermögend.«

»Sein Geld und alles andere ist im Zuge des Prozesses eingezogen worden. Nein, Schwarczer. Die Entlassung aus dem Strafvollzug, der andere Name, dieses Domizil in Cuxhaven und das plötzliche Interesse für die Schifffahrt … Das passt nicht zusammen.«

Sie fanden keine weiteren Hinweise. Es gab keine Papiere, keinen Computer oder Handy, das Telefon schien unbenutzt zu sein. Die Inhalte der Schränke und des Kühlschranks ergaben keine Anhaltspunkte. In der Küche fanden sich vier Flaschen Rotwein. »Der alte Herr war Gourmet«, stellte Schwarczer fest.

»Sprechen Sie nicht von einem ›Herrn‹«, wies ihn Frauke zurecht. »Carretta war ein Schwerkrimineller. Er trägt die Verantwortung für den Tod vieler Menschen.« Sie verharrte einen Moment am Fenster. »Heinrichs von der Oldenburger Kripo sprach doch von Schiffsfotografien. Haben Sie irgendetwas entdeckt?«

Schwarczer schüttelte den Kopf.

»Kommen Sie, wir fahren zurück nach Hannover«, entschied Frauke.

Auf der Rückfahrt rief sie noch einmal in Oldenburg an.

»Wie kommen Sie darauf, dass sich der Tote für maritime Motive interessierte?«

»Wir haben seinen Fotoapparat gefunden«, erklärte Heinrichs.

»Wo?«

»Eine nagelneue Nikon. Ich war überrascht, dass die Kamera mit einem Zoomobjektiv bestückt war, das eine Brennweite von achtzehn bis dreihundert Millimetern hat.«

»Ich bin kein Hobbyfotograf«, sagte Frauke.

»Wenn Sie das Fotografieren nicht professionell betreiben, können Sie damit alles abdecken. Das ist wesentlich mehr als die Knipser von Tante Trude im Urlaub.«

»Sie haben mir noch nicht gesagt, wo Sie die Kamera gefunden haben. In der Wohnung?«

»Nein. Wir waren überrascht, dass sie mit im Boot lag.«

»Das ist eigenartig«, stimmte Frauke zu. »Wer auf einer Angeltour ist, pflegt im Allgemeinen keine teuren Fotoapparate mitzuführen. Und die Bilder?«

»Das war die zweite Überraschung. Es gab nur den einen Chip. Der steckte in der Kamera. Anhand der laufenden Systemnummern für die Bilder konnten wir feststellen, dass es die ersten Aufnahmen waren. Offensichtlich hatte der Tote erst mit dem Fotografieren begonnen. Dafür sprechen auch die ersten zehn Bilder. Da hat er die Wohnungseinrichtung und wahllos Motive von seinem Balkon aus gewählt. Ich vermute, er hat geübt und sich mit den Funktionen der Kamera vertraut gemacht.«

Es wurde immer rätselhafter.

In Hannover ließ sie sich von Schwarczer bei der Staatsanwaltschaft absetzen.

Der Eingang am Volgersweg konnte nur von Bediensteten benutzt werden. Frauke wählte deshalb den Weg über das Landgericht am anderen Ende der weitläufigen Anlage. Den streng gesicherten Zugang überwand sie durch Vorzeigen des Dienstausweises. Rechts führte die Treppe zum Zuschauerbereich des Schwurgerichtssaals, der überregionale Popularität dadurch gewonnen hatte, dass in ihm gegen den ehemaligen Bundespräsidenten, seinen Pressesprecher und weitere Personen aus dessen Umfeld verhandelt wurde.

Durch endlose Gänge und über eine der zahlreichen Treppen fand Frauke zum Büro von Staatsanwalt Holthusen.

Im Unterschied zu den großzügigen und nahezu luxuriös ausgestatteten Arbeitsräumen der Fernsehstaatsanwälte residierte Holthusen in einem engen Büro, das mit Akten überladen schien. Staatsanwalt Holthusen mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein, schätzte Frauke. Er war von kleiner, gedrungener Statur. Das runde Gesicht wurde durch einen Schnäuzer verziert, der überhaupt nicht zur ungesunden roten Gesichtsfarbe passte, die auf Bluthochdruck schließen ließ. Selbst durch das schüttere Haar schimmerte die rote Kopfhaut durch.

»Frau Dobermann.« Holthusen sah auf und begrüßte sie mit einem laschen Händedruck.

Er saß über eine der zahlreichen Akten gebeugt, die überall in dem engen Raum verteilt lagen, in den Regalen an der Wand, auf Schreibtisch und Fensterbank und sogar auf dem Fußboden.

»Dottore Alberto Carretta ist aus der Haft entlassen. Man hat ihm eine neue Identität verschafft. Warum? Wer hat das veranlasst?«, stieg Frauke ohne Vorrede in das Thema ein.

Holthusen stand auf, umrundete den Schreibtisch, legte die Akten vom Besucherstuhl neben den Schreibtisch und sagte: »Bitte.«

Frauke blieb stehen. »Machen wir es kurz. Wer mischt da mit? Was wird hier gespielt?«

Der Staatsanwalt schenkte ihr einen müden Blick. Ein Hauch Traurigkeit lag darin. »Ich habe es auch nur zufällig erfahren und war genauso erstaunt wie Sie. Ich kann Ihnen versichern, es ist ohne unser Zutun geschehen.«

»Haben Sie einen Blick in die Akte geworfen?«

»Nein. Das geht nicht. Die ist zur Verschlusssache erklärt worden.«

Gleiches hatte Frauke bereits von Hauptkommissar Heinrichs gehört.

»Wir sprechen von einem Intensivstraftäter. Sie wissen, was sich Carretta alles hat zuschulden kommen lassen. Sie haben damals die Anklage vertreten.«

»Niemand zweifelt daran, dass Urteil und Strafmaß richtig waren. Es gibt Dinge, die können und müssen wir beide nicht verstehen.«

»Ist Carretta als Kronzeuge angetreten? Hat man ihn deshalb einer Sonderbehandlung zugeführt?«

»Davon wüsste ich«, sagte Holthusen. »Warum interessieren Sie sich plötzlich für diesen Fall?«

»Carretta ist erschossen worden.«

Jetzt war der Staatsanwalt erstaunt. »Davon habe ich noch nichts gehört.«

»Offenbar gibt es Interessenten, denen daran gelegen ist, möglichst viel zu vertuschen. Wäre Carretta als Kronzeuge angetreten, würde seine Ermordung Sinn machen. Es läge im Interesse anderer Hintermänner, ihn zum Schweigen zu bringen, um seine Aussagen zu vermeiden.«

Holthusen kratzte sich den Haaransatz über dem Ohr. »Bestimmt. Davon hätte ich gehört. Hier liegen andere Gründe vor.«

»Sie meinen …« Frauke zögerte kurz. »Sie meinen, es könnten Aspekte der Staatssicherheit mitspielen?«

»Das wäre der einzige denkbare Grund. Ja.«

»Das ist doch lächerlich. Ich will einen Mord aufklären. Und Sie?«

Holthusen ließ sich die Einzelheiten vortragen. »Das fällt in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Stade.«

»Und wenn die auch gebremst wird?«

»Tja.« Holthusen hob die Hände zu einer hilflosen Geste.

»Wenn niemand die Ermittlungen aufnimmt, wir beide aber davon wissen, wäre es Strafvereitelung im Amt«, sagte Frauke.

»So einfach ist das nicht.«

»Doch, Herr Holthusen.« Frauke stand auf. »Also! Klemmen wir uns hinter die Mordermittlung, oder?« Es klang drohend.

Holthusen seufzte. »Ich könnte mit dem Oberstaatsanwalt –«

»Nein!«, unterbrach ihn Frauke. »Sie und ich – wir nehmen die Ermittlungen auf. Ich spreche mit Ehlers. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Sie beugte sich über den Schreibtisch. »Wir müssen ja nichts an die große Glocke hängen.«

Der Staatsanwalt kapitulierte. »Gut«, stimmte er zu.

Frauke kehrte ins Landeskriminalamt zurück und suchte ihren Vorgesetzten auf. Sie berichtete von den bisherigen Ergebnissen und der Übereinkunft mit dem Staatsanwalt. Unerwähnt ließ sie, in welcher Art und Weise sie Holthusen »überzeugt« hatte.

»Wenn der Staatsanwalt zustimmt, bleibt uns keine andere Möglichkeit«, erklärte Ehlers. »Das ist eine hochbrisante Sache. Ich gehe davon aus, dass alle Beteiligten strenges Stillschweigen bewahren.«

»Für mein Team garantiere ich es«, erklärte Frauke.

Trotz mancher Unzulänglichkeit ihrer Mitarbeiter war sie sich in diesem Punkt sicher.

Deshalb ersparte sie sich eine Ermahnung, als sie kurze Zeit später das Team zu einer Dienstbesprechung zusammenrief und den Sachstand vortrug.

»Putensenf spricht mit der Rechtsmedizin«, ordnete Frauke an.

»Mit Dr.Bunsenbrenner?«, fragte der Kriminalhauptmeister.

»Dr.Bruntzenbanner«, korrigierte Frauke. »Wer Putensenf heißt, sollte nicht über andere Namen spotten.«

Putensenf bellte. Frauke ignorierte es. Sie kannte diese Art Anspielung auf ihren Familiennamen.

»Bruntzenbanner.« Putensenfs Aussprache ähnelte einem Grunzen. »Die Süddeutschen nehmen uns die Energie und gut ausgebildete junge Leute weg und schicken uns dafür ihren Atommüll und Bunsenbrenner.«

»Ich verstehe die Südländer. Jemanden wie Sie möchte ich auch nicht haben. Außerdem ist Dr.Bruntzenbanner Österreicher.«

»Noch schlimmer«, stöhnte Putensenf.

»Madsack versucht herauszufinden, ob unter Carrettas neuem Namen Ruffier etwas bekannt ist. Immerhin ist ein Auto auf ihn zugelassen. Uns interessieren Handyverträge, Mietverträge, Bankkonten und Kreditkarten. Was ist über die Vita des angeblichen Ruffier herauszufinden?«

»Okay«, nickte Madsack und brachte mit einer heftigen Kopfbewegung das Doppelkinn zum Schwingen.

»Schwarczer nimmt Kontakt zum KTI auf.«

»Die sind bestimmt noch nicht so weit vom Kriminaltechnischen Institut«, mischte sich Putensenf ein.

»Nicht jeder ist so langsam wie Sie«, belehrte ihn Frauke. »Also, Schwarczer. Ballistik. Auswertung des Rechners und der Fotografien. Was hat Carretta fotografiert? Und wann?«

»Und was machen Sie?« Putensenf sah Frauke mit fragendem Blick an.

»Es wird allmählich öde, Putensenf. Sie stellen immer die gleiche Frage. Dabei kennen Sie die Antwort.«

»Oooh neee.« Putensenf verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Sie gehen Schuhe kaufen.«

DREI

Raimund Bielefeldt war eine stattliche Erscheinung. Obwohl sie sich noch nie begegnet waren, kannte Christoph den Geschäftsführer und Sprecher gleich mehrerer Verbände und Interessengruppen. Mit großem Eifer setzte er sich erfolgreich für die Belange der Wirtschaft an der Westküste und im Bereich Unterelbe ein.

Bielefeldt hatte sich am frühen Morgen telefonisch gemeldet und erschrocken gezeigt.

»Ich habe mich vorgestern mit Maurizio Archetti getroffen. Wir haben abends zusammen gegessen. Und jetzt lese ich in der Husumer, dass er tot ist. Stimmt das?«

Christoph bestätigte es. »Ist es Ihnen möglich, zu uns zu kommen?«

»Selbstverständlich. In zwanzig Minuten.«

Auf die Minute pünktlich betrat Bielefeldt das Büro und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Christoph musterte den Mann mit der randlosen Brille und dem gepflegten dunklen Bart.

»Ich bin erschüttert«, begann Bielefeldt. »Das ist nicht zu glauben. Man sitzt mit einem Menschen zusammen, trinkt einen guten Wein und … Kurz darauf wird er ermordet. Das geht einem an die Nieren.«

»Sie waren mit Archetti verabredet?«, fragte Christoph.

»Ja. Der Termin war seit Langem vereinbart. Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand aus Brüssel zu uns an die Westküste kommt.«

»Aus Brüssel?«, fragte Christoph. Das Flugticket war für Amsterdam nach Hamburg ausgestellt.

»Ja.« Bielefeldt sah Christoph erstaunt an. »Archetti ist Mitarbeiter bei der EU-Kommission.«

»War er in offizieller Mission in Husum?«

»Sie meinen, er habe mich privat besucht?« Bielefeldt schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin ihm vorgestern das erste Mal begegnet. Mich hat es auch überrascht, dass Brüssel einen Spitzenbeamten hierher entsandt hat. Sicher ist es ein brisantes Thema, aber üblicherweise schert es die Eurokraten nicht. Es ist schwer für uns, in Kiel oder Berlin Gehör zu finden. In Brüssel schon gar nicht.«

»Um was ging es bei Ihrem Treffen?«

»Schleswig-Holstein ist nicht sehr reich mit industriellen Perlen gesegnet. Es gibt einen tüchtigen und erfolgreichen Mittelstand. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an vielen Stellen krankt. Insbesondere die Infrastruktur ist marode. Die Bundesländer haben sich werbewirksame Slogans einfallen lassen. Zum Beispiel Baden-Württemberg: ›Wir können alles außer Hochdeutsch.‹ Über uns lästert man: ›Schleswig-Holstein. Das Land der einstürzenden Brücken.‹ Gerade hier im Norden zeigt sich, dass wir zunehmend abgekoppelt werden. Die Eisenbahn wird fast noch mit Holz betrieben, seit Jahrzehnten warten wir darauf, dass unsere einzige Verkehrsader, die B5, von der buckeligen Kurvenpiste zu einer Hauptstraße ausgebaut wird, unsere Häfen verkommen, die Küstenautobahn endet vor einer Einflugschneise für Fledermäuse, von den maroden Brücken über den Nord-Ostsee-Kanal ganz zu schweigen. Und wenn das ganze Geld in den Ausbau der Fehmarnbeltquerung sowie die Hinterlandanbindung an der Ostküste fließt, können wir bald nur noch mit dem Geländewagen unterwegs sein. Andere Fahrzeuge kommen nicht mehr über die zerfallenen Straßen. Zugegeben, das Problem ist auch hausgemacht. Meine Mitstreiter und ich werden oft gescholten, dass wir dem zuständigen Landesbetrieb Straßenbau und Verkehr Planungsfehler und Inkompetenz vorwerfen. Aber ehrlich … Professionell ist es nicht, was von dort kommt. Die Leute, die draußen ihre Arbeit verrichten, sind okay. Es ist wie bei einem Fisch. Mit dem Kopf können Sie nichts anfangen.«

»Das haben Sie mit Archetti besprochen?«

Bielefeldt nickte ernst. »Nicht nur das. Brüssel ist fern. Und wir sind eine Randregion. In Deutschland, aber auch für die EU-Kommission. Natürlich haben wir ein unvergleichliches Privileg, in einer Landschaft zu leben, in der die Natur uns überreichlich beschenkt. Jahrhunderte haben die Menschen hinterm Deich mit der Natur gelebt. Dann erschienen Fanatiker auf der Bildfläche, die den Landwirten ein anderes Bewirtschaftungskonzept aufzwingen und den Küstenfischern das Revier wegnehmen möchten. Hat irgendjemand den Wachtelkönig gesehen? Nein. Hätte man auf die Ökos gehört, würde es in Hamburg keine prosperierende Luftfahrtindustrie geben. Viele tausend Arbeitsplätze wären vernichtet worden, und auch all die Menschen, die indirekt daran hängen samt Familien, wären brotlos und hätten unendlich viel Zeit, nach dem Wachtelkönig zu suchen. Ökologie ist wichtig. Aber man darf den Menschen und seine Bedürfnisse nicht vergessen. In dieser Region werden wir immer weniger. Junge Leute ziehen weg, weil sie keine Arbeitsplätze finden. Nur die Alten bleiben. Und mit jedem Senior stirbt auch ein Stück Land, ein bisschen Zukunft. Dagegen müssen wir etwas unternehmen. Das ist unser Anliegen. Deshalb haben wir das Gespräch mit Brüssel gesucht.«