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Dieser erstmals 1968 erschienene Band versammelt Kolumnen Luise Rinsers, die ursprünglich in der Zeitschrift ›Für Sie‹ veröffentlicht wurden. Die Themen, die Rinser in bewährter Manier mitten aus dem Leben greift und mit Hilfe anschaulicher Beispiele verdeutlicht, haben in den Jahren seither nichts von ihrer Aktualität verloren: »Jedermann hat Angst, ein Zurückgebliebener zu sein, ein Altmodischer, Konservativer, einer, der nicht mitzählt, weil er im hektischen Rennen nicht mehr vorne liegt. Es gab vermutlich keine Epoche in der Entwicklung der Menschheit, die ein derartiges Tempo hatte und derart viel und unerhört Neues brachte.« – Muss man dem etwas hinzufügen? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2016
Luise Rinser
Dieser erstmals 1968 erschienene Band versammelt Kolumnen Luise Rinsers, die ursprünglich in der Zeitschrift ›Für Sie‹ veröffentlicht wurden. Die Themen, die Rinser in bewährter Manier mitten aus dem Leben greift und mit Hilfe anschaulicher Beispiele verdeutlicht, haben in den Jahren seither nichts von ihrer Aktualität verloren: »Jedermann hat Angst, ein Zurückgebliebener zu sein, ein Altmodischer, Konservativer, einer, der nicht mitzählt, weil er im hektischen Rennen nicht mehr vorne liegt. Es gab vermutlich keine Epoche in der Entwicklung der Menschheit, die ein derartiges Tempo hatte und derart viel und unerhört Neues brachte.« – Muss man dem etwas hinzufügen?
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Elend und Größe dieser [...]
Der Tod von eigener Hand
Die Bedeutung des Zweifels
Was ist Sünde?
Es reut mich
Unstillbare Sehnsucht
Demut
Was ist nach dem Tod?
Kranke besuchen
Der überforderte Mensch
Gutgetarnter Egoismus
Führe uns nicht in Versuchung
Nicht altern können
Über den Neid
Gelassenheit als Heilmittel
Ehrfurcht
Toi – toi – toi unberufen …
Vom Umgang mit jungen Menschen
Pünktlichkeit
Kann man Sicherheit kaufen?
Über das Mitgefühl
Geiz und Habsucht
Bin ich frei?
Können Sie lieben?
Über den Glauben
Was ist das: ein Heiliger?
»Ich bekenne …«
Elend und Größe dieser Welt:
sie bietet keine Wahrheiten,
sondern Liebesmöglichkeiten.
Es herrscht das Absurde,
und die Liebe errettet davor.
ALBERT CAMUS
Täglich können wir in den Zeitungen lesen, daß Frau X. oder Herr Y. sich das Leben nahmen. Solche Notizen lesen wir seufzend, lassen die Sache dahingestellt und denken allenfalls: Hätte der Arme doch die Telefonseelsorge angerufen! Wenn der freiwillig Abgeschiedene eine Person des öffentlichen Lebens war, beschäftigt man sich etwas länger mit dem Fall. Als die berühmte Filmschauspielerin Marylin Monroe sich vergiftete, dachte man über die möglichen Ursachen nach.
Doch nicht nur die Monroe, auch andere Menschen haben labile Nerven, eine unglückliche Kindheit, zerbrochene Ehen, dunkle Ängste und zerstörte Illusionen. Trotzdem bringen sie sich nicht um, sondern leben tapfer weiter. Waren die Probleme der Monroe schwerer als die der andern? Waren sie tatsächlich unlösbar und untragbar, so daß nur mehr der Tod zu wählen blieb? Ich lasse die Frage offen und wende mich anderen, mir bekannten Fällen von Selbstmord zu.
Ein Zwanzigjähriger stürzte sich aus dem Fenster und hinterließ einen Zettel mit der Nachricht, daß er das Abitur zum zweiten Male nicht bestanden habe. – Eine Vierzehnjährige sprang in den Fluß und ertrank; von ihrer Freundin erfuhr man, daß sie schwanger war. – Eine junge Frau vergiftete sich mit Schlaftabletten, weil sie den Mann ihrer Liebe nicht bekam. – Der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter schnitt sich die Kehle durch, man sagt, weil er wußte, daß er unheilbar krank sei; er war gläubiger Christ und hatte ein bürgerliches Leben in strenger ethischer Zucht geführt.
Der Dichter Heinrich von Kleist schrieb einige Tage, bevor er sich und seine Freundin erschoß: »… daß meine Seele durch die Berührung mit der ihrigen [nämlich jener Freundin, mit der er starb] zum Tod ganz reif geworden ist … und daß ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt.« – Goethe, der den klassischen Selbstmörderroman »Werthers Leiden« schrieb, läßt Werther sich erschießen, weil die geliebte Lotte mit einem andern verlobt ist. Er schreibt an sie vor dem Tod: »Daß ich Dich liebe, daß ich Dich aus den Armen Deines Mannes in die meinigen reißen möchte – Sünde? Gut, und ich strafe mich dafür. Ich gehe voran …« – Ein älterer Beamter starb, weil er, wie er in seinem Abschiedsbrief schrieb, »es satt hatte, täglich das gleiche zu tun.«
Man könnte noch viele andere Fälle anführen und die allerverschiedensten Todesmotive. Aber das ist unnötig, denn alle [soweit es sich nicht um Selbstopfer handelt, wie etwa bei den Buddhisten in Vietnam] lassen sich auf ein Motiv zurückführen. Es heißt: Verlust der Hoffnung.
Werther starb, weil er nicht hoffen durfte, Lotte zu gewinnen, und weil ihm das Leben ohne sie wertlos war. Der Schüler starb, weil er nicht hoffen konnte, das Abitur zu machen, und weil ihm diese Unfähigkeit der Beweis schien für seine Lebensunfähigkeit überhaupt. Kleists euphorische Heiterkeit war nichts anderes als das Vorgefühl der Befreiung vom unerträglichen Lebensschmerz; auf eine andere Art der Erlösung konnte er nicht hoffen.
Wenn ich sage, das wahre Motiv jedes Selbstmords sei Hoffnungslosigkeit, so meine ich damit nicht, daß die Selbstmörder die Hoffnung auf diese oder jene Wunscherfüllung verloren; ich meine vielmehr, daß sie aufhörten, überhaupt zu hoffen.
Ich weiß von Ärzten, daß Patienten, die klar wußten, daß ihr Tod nahe war, dennoch nicht verzweifelten. Unter ihnen waren solche, die an das Fortleben nach dem Tode glaubten. Aber es waren auch andere, Nichtgläubige, und auch sie »hofften«. Worauf? Daß ihr Glaube an den Sinn des Lebens und Sterbens einer großen Wahrheit entspreche. Solange ein Mensch bewußt oder unbewußt an den Sinn dessen glaubt, was ihm widerfährt, kommt er nicht ernstlich in die Versuchung des Selbstmordes. Der Selbstmörder ist ein Mensch, der den Glauben an den Sinn verloren hat.
Bei aller Barmherzigkeit, die wir dem einzelnen entgegenbringen, müssen wir dennoch sagen, daß der Selbstmord eine furchtbare Fehlhandlung ist. Denn: der Selbstmörder läßt sich aus der Realität fallen. Er nimmt seine momentane Lage für eine dauernde und irreparable. Er gibt das Vertrauen in sich, in andere, ins Leben, in Gott auf. Er macht einen Augenblick großen Leidens absolut, er denkt nicht über ihn hinaus. Sie werden sagen: Aber wenn der Mensch wirklich nicht mehr kann? Ich stelle die Gegenfrage: Warum kann er nicht mehr? Weil er das Nicht-mehr-Können von langer Hand her vorbereitet hat. Weil er nämlich sein Leben auf eine Illusion gebaut hat. Weil er eine falsche Lebenserwartung hatte.
Wenn jemand bestimmte Vorstellungen von sich und seinem Glück aufgeben und sich nicht darauf versteifen würde, dann könnte er niemals zum Tode verzweifeln, denn er hätte eine Wesensmitte, eine Weltmitte, in der er immer wieder Geborgenheit fände.
Viele Menschen machen bloße Selbstmordversuche. Es mag sonderbar erscheinen, daß sie, ohne es zu wissen, einen zu dünnen Strick nehmen, um sich zu erhängen, oder eine zu kleine Dosis Schlaftabletten. Aber diese potentiellen Selbstmörder wollen gar nicht wirklich sterben; sie wollen entweder etwas erpressen oder nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Oder aber sie wollen eine Erfahrung machen, die sie freilich erst im wirklichen Sterben machen werden: das Zurücktauchen in den Lebensstrom, das Trinken aus der geheimnisvollen Quelle, die Erneuerung, die Erlösung. Aber diese Erfahrung kann und darf nicht vorweggenommen werden. Unser aller Aufgabe ist das schlichte Durchhalten bis zum Ende.
»Sünde ist doch kein Wort, das ins Wörterbuch eines modernen Menschen gehört, sondern in ein überlebtes moraltheologisches System«, sagte mir ein Mädchen, das mir erzählt hatte, es lebe in wilder Ehe mit einem Freund, schlafe aber auch mit einem anderen Mann, der verheiratet sei. Ich fragte sie, warum sie ausgerechnet mir das erzähle. Sie sagte: »Weil ich ein blödsinniges Schuldgefühl habe, aber zugleich weiß, daß dieses Gefühl aus einem andressierten Gewissen kommt und nicht aus eigener Einsicht. Ich werde diese Dressur nicht los, und allmählich macht mich dieser Zwiespalt ganz krank. Ich bin also zu Ihnen gekommen, weil ich weiß, daß Sie in diesen Fragen modern denken. Sie sollen mich befreien von meinen Schuldgefühlen.«
Ich fragte sie, ob sie denn nicht besser zu einem Psychotherapeuten ginge. Sie meinte lachend, so weit sei es denn doch noch nicht gekommen mit ihr. »Noch nicht«, sagte ich, »aber dieses Noch-nicht bedeutet, daß Sie damit rechnen, es könne eines Tages doch kommen.« – »Ja«, antwortete sie, »und deshalb bin ich jetzt bei Ihnen.« – »Was Sie von mir wollen, ist also eine Art Vergebung Ihrer Sünden?«
Sie rief: »Sünde?!« Und dann sagte sie den eingangs erwähnten Satz. Sie fuhr fort: »Sünde ist etwas Relatives, weil es ja nur relative Moralen gibt und nicht eine allgemeingültige Moral. Wenn ein Mohammedaner Wein trinkt, so sündigt er, weil seine Religion ihm Wein zu trinken verbietet. Dafür darf er mehrere Frauen haben, was dem Christen streng verboten ist.« – »Ja«, sagte ich, »und bei den Kopfjägern im afrikanischen Busch galt es als ehrenvolle Pflicht, Skalps zu bringen, so wie es bei christlichen Soldaten ehrenvolle Pflicht ist, sogenannte Feinde zu töten.« – »Also gibt es Verstöße gegen menschliche Übereinkünfte, die keine allgemeine Gültigkeit haben. Aber das sind keine Sünden.«
Ich fragte: »Wie nennen Sie Raubmord? Vergewaltigung? Mißbrauch von Kindern? Freiheitsberaubung politisch Andersdenkender? Bombenabwürfe auf Zivilbevölkerung?« – »Also gut, ich räume ein, daß es Sünden gibt. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß es Sünder gibt, das heißt Menschen, die mit vollem Bewußtsein und freiem Willen Böses tun; sie handeln unter innerem Zwang.« – »Möglich. Das im einzelnen Fall herauszufinden, ist Sache der Gerichtsmediziner und Psychologen oder der allerhöchsten richterlichen Instanz, die wir Gott nennen.« – »Ich glaube, daß es keine Sünden gibt, sondern nur Fehlhandlungen, die aus Fehlhaltungen kommen, die angeboren oder anerzogen sind. Der Mensch handelt so, wie er ist, und er ist so, wie er eben geworden ist unter dem Einfluß der Umwelt.«
»Der Mensch als mechanisches Ergebnis aus Erbanlage, Erziehung, Umwelt – ist das nicht ein bißchen armselig? Lohnt es dann, Mensch zu sein, wenn man nur Marionette von Trieben und andressierten Triebhemmungen ist? Denken Sie einmal nach: Standen Sie nie an einer sittlichen Wegkreuzung? Haben Sie nie gefühlt, daß Sie ja oder nein sagen können aus freier Wahl?«
Ehe ich fortfahren konnte, rief sie: »Jetzt weiß ich, was Sünde ist: Etwas tun, was dem eigenen Wesen widerspricht und schadet.«
»Ein gefährlicher Satz, der eine Wahrheit enthält. Ich frage Sie: Weiß man immer, was dem eigenen Wesen entspricht und was nicht? Tiere wissen es aus Instinkt. Der Mensch hat kaum mehr Instinkt, er hat dafür das Gewissen.«
»Aber es ist dem Menschen unmöglich, nichts Böses zu tun. Sogar Heilige sündigen. Aber vielleicht sind die Sünden der Heiligen eben objektiv geringer.« – »Ich würde anders sagen. Es kommt nämlich nicht auf die einzelnen Sünden an, sondern auf die Gesamthaltung, auf die Grundentscheidung eines Menschen. Wir alle neigen zum Ausbrechen aus den rechten Ordnungen. Es kann von uns nicht faktische Sündelosigkeit erwartet werden. Aber es wird erwartet, daß wir uns grundsätzlich zum Guten entscheiden. Und in der Tat sehnen wir uns alle danach, gut zu sein.« »Dann wären wir ja alle keine Sünder.« – »Oh doch. Kennen Sie das Lutherwort: Simul justus et peccator – Gleicherweise Gerechter und Sünder? Das ist der Mensch. Aber man kann sich auch zum Bösen entscheiden.« – »Sie meinen, wenn man eine sogenannte Todsünde begeht?«
»Ich würde vorsichtig sein mit diesem Ausdruck und lieber von schweren Sünden reden. Es kann nämlich sein, daß der schwere Sünder erschüttert umkehrt, während einer, der nur sogenannte läßliche Sünden begeht, also ein bißchen lügt, ein bißchen betrügt, ein bißchen verleumdet, ehebricht, neidisch und hartherzig ist, langsam und unvermerkt den Seelentod stirbt. Indem er sich lässig für das kleine unauffällige Böse entschied und das Unbehagen, das ihm sein Gewissen zuerst verursachte, zum Schweigen brachte, schneidet er sich vom Guten, vom Leben im Geiste ab. Sie, meine Liebe, sind eben dabei, Ihr Unbehagen, das heißt die Mahnung Ihres Gewissens zu töten.« – »Ich? Aber ich will doch, im Gegenteil, zu geistiger Freiheit gelangen.« – »Um ohne Unbehagen sündigen zu können. – Sagen Sie: Haben Sie in der Schule auch gelernt, man soll nicht sündigen, weil die Sünde Gott beleidige?«
»Ja, den Unsinn habe ich auch gelernt. Als ob man Gott beleidigen könnte!«
»Und wenn man es doch könnte? Man müßte die Sache nur anders formulieren und etwa sagen: Wer sündigt, beleidigt das Wesen des Menschen, das heißt: was den Menschen zum Menschen macht, nämlich sein göttliches Teil. Und wenn man dann sagt, daß er den Geist der Gemeinschaft stört, also die göttliche Weltenordnung, dann hat der Satz doch wohl recht, meinen Sie nicht? Würde Ihnen als Motiv für eine Änderung der Menschheit genügen, wenn sich in eben dieser Menschheit allmählich das Bewußtsein durchsetzte, daß man um des Göttlichen willen gut sein müsse? Ja? Und wenn sie daraus einiges ableiten würden für Ihr ganz persönliches Leben?« – »Es ist aber recht mühsam, so zu denken und danach zu leben.« – »Sündigen ist auch nicht bequem, meine Liebe, es scheint nur anfangs so. Und Sie wollten doch die gesellschaftliche Moral übersteigen? Sie wollten doch Freiheit? Geistige Freiheit wird teuer erkauft.«
Jeder von uns hat schon gedacht: »Es reut mich, daß …« Vieles und vielerlei reut uns: daß wir ein zu teures Kleid kauften, ein billiges Grundstück zu erwerben versäumten, uns sinnlos betranken, einen falschen Beruf oder einen falschen Ehepartner wählten, einen Bittenden im Stich ließen und so fort.
Was heißt denn eigentlich: es reut mich? Es heißt: Ich sehe ein, etwas Dummes und Falsches gemacht zu haben, etwas, das ich ungeschehen machen möchte; ich ärgere mich über mich selbst.
Es ist aber ein Unterschied, ob es mich reut, ein Grundstück nicht gekauft oder einen Freund beleidigt zu haben. Die Sprache gibt uns ein Mittel in die Hand, den Unterschied auszudrücken. Wir haben zwei Wörter, die sehr ähnlich sind und die wir darum oft falsch gebrauchen: reuen [besser gereuen] und bereuen. Es reut mich, eine Chance verpaßt zu haben, aber ich bereue, nicht geholfen zu haben.
Das Gereuen ist das Wissen und der Ärger darüber, daß man sich einen Vorteil entgehen ließ, sich »danebenbenahm« oder sich Sympathien verscherzte, kurz: daß man durch eigene Unachtsamkeit einen Verlust erlitt, der nicht mehr oder nur schwer einzuholen ist. Reue ist etwas ganz anderes. Nehmen wir an: Eine Frau, die bislang ihrem Manne treu war, hat ihn betrogen. Eines Tages spürt sie ein scharfes Unbehagen. Sie »wacht auf«, sie fühlt, daß es so nicht weitergeht. Zunächst hat sie vielleicht einfach plötzlich Angst, daß ihr Fehltritt entdeckt wird, daß ein Skandal entsteht, daß ihr Mann sich scheiden lassen könnte. Das ist keine Reue, aber sie kann damit beginnen, wenn sich in diese Angst Scham mischt, die Scham über ihre Schwäche und die Bestürzung darüber, daß sie fähig war, Böses zu tun.