Frucht der Sünde - Marie Louise Fischer - E-Book

Frucht der Sünde E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Der Landgerichtsdirektor Dominik Wengersberg wird urplötzlich von seiner Vergangenheit eingeholt. Als er im Gerichtssaal auf einen straffällig gewordenen Jugendlichen trifft, muss er in ihm seinen eigenen unehelichen Sohn erkennen. Die kurze Liebesnacht, die er im Krieg als Soldat mit der von ihm verführten Gaby verbrachte und die er längst in der Erinnerung vergraben hat, ist also nicht ohne Folgen geblieben. Wengersbergs Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit geraten ins Wanken, sein Versuch, die Sünde durch eine gute Tat wieder auszugleichen, verursacht neue große Probleme. Denn als er den Sohn in seine Familie aufnimmt, setzte er seine Frau und seine drei Kinder großen Belastungen aus. Die Lage droht zu eskalieren, als Wengersberg dann sogar noch seiner ehemaligen Geliebten wiederbegegnet.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Frucht der Sünde

SAGA Egmont

Frucht der Sünde

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1957 by Zsolny Verlag

All rights reserved

ISBN: 9788711718797

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Landesgerichtsdirektor Dominik Wengerberg stand, nur mit der Unterhose bekleidet, vor dem Spiegel seines Badezimmers und rasierte sich mit dem elektrischen Apparat. Wie jeden Morgen hatte er sich von Kopf bis Fuß abgebürstet, warm und kalt gebraust, zehn Kniebeugen vor dem offenen Fenster ausgeführt und war nun mit sich selber und dem Tagesanfang sehr zufrieden.

Nur störte ihn, wie immer, auch heute früh, daß er nicht vor sieben Uhr ins Badezimmer konnte, denn bis zu diesem Zeitpunkt war es dauernd von den Kindern belegt. Das war natürlich unangenehm, ließ sich aber nicht ändern, denn die Kinder mußten um acht Uhr in der Schule sein, und er wäre der letzte gewesen, der eine so notwendige Einteilung nicht anerkannt hätte.

Übrigens war er selber gestern abend erst sehr spät ins Bett gekommen, weil er die Akten des Falles Herber studiert hatte. – Die Schuld des Mannes hatte ja von Anfang an klar auf der Hand gelegen – daß er die Ehe mit dieser Bardame gebrochen hatte, gab er auch offen zu –, aber da er kein Geständnis ablegen wollte, mußte der Fall noch gründlich daraufhin untersucht werden, ob die Indizien wirklich als beweiskräftig gelten konnten. Natürlich war er, Dominik Wengerberg, von vornherein überzeugt gewesen, daß sich keine entlastenden Momente für den Angeklagten finden lassen würden – wer zu einem Ehebruch fähig war, ging leicht auch noch einen Schritt weiter –, aber immerhin, er hatte sein Bestes getan. Er konnte mit sich zufrieden sein.

Er konnte überhaupt mit sich zufrieden sein. Er sah gut aus, und niemand hätte ihn, obwohl er die Vierzig schon um einige Jahre überschritten hatte, für älter als neununddreißig gehalten. Sein Kopfhaar war noch voll, an den Schläfen etwas angegraut, er war groß, hielt sich sehr gerade und hatte seine Anlage zum Bauch bisher immer noch mit Erfolg bekämpfen können. Ohne irgendeine Protektion hatte er es, kaum vierzigjährig, schon zum Vorsitzenden des Senats III des Land- und Strafgerichtes I gebracht. Er war bei Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen beliebt, sein Charakter galt als untadelig. Alle Welt, selbst die Angeklagten, achteten ihn, und er durfte ohne Überheblichkeit von sich sagen, daß er zwar nicht gnädig in seinen Urteilen war – gnädig war für ihn übrigens ein Wort mit einem sehr unangenehmen Beigeschmack, es klang ihm wie nachlässig, schlampig, unkorrekt, Eigenschaften, die er haßte – wenn er also auch nicht gnädig war, so war er doch immer und mit ganzer Kraft bemüht, gerecht zu sein. Ja, er durfte mit sich zufrieden sein.

Auch sein Privatleben war in Ordnung. Ein geregeltes und vernünftiges Privatleben war, das wußte er, die Voraussetzung für jeden beruflichen Erfolg. Die meisten Verbrechen, nicht nur die von Jugendlichen begangenen, entstanden aus einer Unordnung, aus einem Bruch in den häuslichen Verhältnissen. Ja, auch mit seinem Familienleben konnte er zufrieden sein, denn er war, wie im Beruf, auch seinen Angehörigen gegenüber äußerst gerecht.

Natürlich war es nicht ganz einfach, mit einer Frau wie Melanie zusammenzuleben, die mit Geld so wenig umgehen konnte und es niemals lernen würde, einen Haushalt korrekt zu führen. Es gehörte schon viel Nachsicht dazu, sich da nie zu einem groben Wort hinreißen zu lassen, aber Männer, die ihre Frauen anschrien oder gar schlugen, waren für Dominik Wengerberg geradezu ein Greuel. Außerdem mußte man als intelligenter Mensch ja wissen, daß Frauen eben doch keine – na ja, keine ganz vollwertigen Geschöpfe waren. Es gehörte sehr viel Strenge und natürlich auch sehr viel Gerechtigkeit dazu, um sie so zu erziehen, daß man mit ihnen Zusammenleben konnte.

Deshalb sah er auch seiner Tochter Anu manches durch die Finger, obwohl sie ja tatsächlich den Kopf voller Flausen hatte. Aber, na ja, ein Mädchen, und dazu erst fünfzehn Jahre, so etwas durfte man wohl wirklich nicht so ernst nehmen. Anders war es natürlich mit den Zwillingen. Jungen brauchten wirklich eine strenge Hand, sonst konnte nichts aus ihnen werden. Da war mit Güte oder Nachsicht oder Zärtlichkeit nichts getan. Er, Dominik Wengerberg, hatte selber eine schwere Jugend durchgemacht, sein Vater, aktiver Offizier, hatte ihm nichts geschenkt, und gerade diese Härte war ihm gut bekommen. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht beizeiten Selbstdisziplin gelernt hätte. Natürlich, die Millionen-Erbschaft, die er als junger Mann gemacht hatte, war ein Glücksfall gewesen, an dem er weder sich selber noch seiner Erziehung ein Verdienst zuschreiben konnte, aber schließlich – war eine plötzliche Millionen-Erbschaft nicht eine ungeheure Verlockung für einen jungen Mann? Würde nicht ein anderer, ohne seine festen Grundsätze, außer Rand und Band geraten sein, das Geld verspielt, vertan und verjubelt haben? Für ihn war Geld nie eine Versuchung gewesen. Er hatte durch die Erbschaft heiraten können, weit eher, als er gedacht hatte. Er hatte das große alte Haus im Park bezogen, nicht aus Übermut, sondern weil der Verkauf eines so altmodischen Objektes nur mit Verlust abgeschlossen werden konnte. Aber sonst hatte er nichts an seinem Leben geändert.

Wenn er da an den Fall des Toto-Königs dachte, den sein plötzlicher Gewinn ins Verderben geführt hatte – es war doch wirklich sonderbar, wie es kam, daß die Menschen zu Verbrechern wurden! Es gehörte doch so wenig dazu, nur ein bißchen Selbstdisziplin und Vernunft, um auf dem geraden Weg zu bleiben. Er wunderte sich immer wieder, daß es so schwer war, das anderen Menschen beizubringen. Dabei gab es doch wirklich nichts, was sich mit dem Gefühl eines wirklich guten Gewissens vergleichen ließ. Dominik Wengerberg wußte, daß ihm von all seinen Besitztümern sein gutes Gewissen doch bei weitem das Wertvollste war.

Ein Glück, daß er den Fall Herber so gründlich hatte klären können. Die Indizien waren lückenlos, ja, die Aussagen des Chauffeurs kamen fast einem Tatzeugnis gleich, er würde –

Aber in diesem Moment wurde er in seinen Gedanken unterbrochen.

Die Badezimmertür wurde leise, fast ängstlich geöffnet und Frau Melanie trat ein. »Guten Morgen, Dominik …«, sagte sie mit dem Versuch eines Lächelns. Mit der einen Hand hielt sie krampfhaft den seidenen geblumten Schlafrock zusammen.

»Was gibt’s!?« fragte er kurz und ohne sie anzuschauen. Er prüfte mit der Hand die Glätte seiner Rasur und zog dann den elektrischen Stecker aus der Dose.

»Ich muß mit dir sprechen, Dominik …«

»Jetzt!?« sagte er und manipulierte am Scherblatt des Apparates.

»Wir sind doch sonst nie allein … ich habe versucht, gestern abend wach zu bleiben, aber es ist dann doch wieder sehr spät geworden.«

»Ich arbeite nicht zu meinem Vergnügen die Nächte durch, Melanie!«

»Ich weiß, ich wollte dir ja nur sagen …«

Dominik Wengerberg hatte den Stecker wieder in die Dose gesteckt, und das Säubern des Rasierapparates verursachte einen Lärm, der jedes ihrer Worte schluckte.

»Entschuldige, bitte«, murmelte er, als der Strom wieder unterbrochen war, »sprich weiter!«

»Du weißt, daß Anu heute Geburtstag hat …«

»Natürlich. Aber ich denke, wir haben über ihre Geschenke und so weiter doch längst alles besprochen!«

»Ja, es ist alles besorgt, nur …«

»Nur?«

»Anu möchte so gerne eine richtige kleine Party geben!«

»Natürlich, das soll sie doch! Eine Geburtstagsfeier wie jedes Jahr.«

»Das ist es ja gerade …«

»Was ist es? Ich bitte dich, sag mir endlich einmal deutlich und unmißverständlich, um was es sich handelt und was du von mir willst! Es genügt mir vollkommen, wenn man den Angeklagten stets jedes Wort aus der Nase ziehen muß. Zu Hause wünsche ich eine klare und vernünftige Berichterstattung!«

»Sieh mal, Dominik, Anu wird heute fünfzehn Jahre … natürlich war sie noch in keiner Tanzstunde und all das … aber da gibt es eine oder die andere unter ihren Klassenkameradinnen, die kann schon tanzen, und natürlich haben die es den andern beigebracht … und gerade weil sie noch so jung sind, ist das für die Kinder eine ganz große Sache …«

»Ich verstehe noch immer kein Wort, Melanie … auf was willst du eigentlich hinaus?«

»Ihre Freundinnen haben zum Geburtstag auch Jungens einladen dürfen, und es ist ein bißchen getanzt worden und so, um neun Uhr war natürlich alles zu Ende. Die Eltern waren dabei … alles ganz harmlos, Dominik, wirklich ganz harmlos … und nun wünscht sich Anu halt so sehr, daß sie auch Jungens einladen darf!«

»Was für Jungens, wenn ich fragen darf?«

»Peter und Paul natürlich, und ein paar Freunde von ihnen.«

»Das ist also euer Plan?«

»Plan! Dominik … das wünscht sie sich eben! Mit fünfzehn Jahren wünscht man sich solche Sachen.«

»Und das erfahre ich heute, am Morgen ihres Geburtstages?« Dominik Wengerberg zog sein Hemd über den Kopf.

»Wann hätte ich es dir denn früher sagen sollen?«

»Nun, sehr einfach … gestern morgen oder vorgestern morgen oder vor vierzehn Tagen! Wenn du heute früh ins Badezimmer kommen kannst, dann hättest du es ja an einem anderen Tag auch gekonnt, nicht wahr? Und im übrigen hätte mich ja auch Anu selber darum bitten können.«

»Sie traut sich nicht.«

»Soll das heißen, daß sie … Angst vor mir hat? Willst du mir wirklich einreden, daß meine Tochter mich fürchtet?«

»Aber, ich bitte dich, Dominik … versteh mich doch nicht falsch …«

»Habe ich sie jemals angeschrien!? Habe ich sie jemals geschlagen?«

»Natürlich nicht, Dominik …«

»Ich glaube nicht, daß irgendein Kind sich einen gerechteren Vater wünschen kann, als ich es bin!«

»Du bist also einverstanden, Dominik, nicht wahr? Dann will ich gleich den Kindern Bescheid sagen, damit sie noch …«

»Nein, Melanie, ich bin durchaus nicht einverstanden. Du weißt sehr genau, daß ich ausdrücklich jedes, aber auch jedes Sondervergnügen für Peter und Paul verboten habe, bis sich ihre Französisch- und Lateinnoten entscheidend gebessert haben!«

»Aber, Dominik, ich bitte dich …«

»Haben sich ihre Noten gebessert?«

»Es ist doch Anus Geburtstag … nur ihretwegen …«

»Ich wünsche eine klare Antwort … haben sich die Noten gebessert? Ja oder nein?«

»Ich weiß es nicht …«

»Wenn sie sich gebessert hätten, würdest du es bestimmt wissen!«

»Du weißt genau, Dominik, daß die Jungen eine ausgesprochene naturwissenschaftliche Begabung haben … Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, das sind die Fächer, die ihnen liegen, und darin haben sie doch wirklich auch ausgezeichnete Noten, das mußt du doch zugeben. Sprachen liegen ihnen eben nicht!«

»Das ist durchaus keine Entschuldigung, liebe Melanie! Ein Mensch, der nur das gut macht, was er gerne tut, ist ein Taugenichts! Auf dem Gymnasium werden von den Schülern keine Genieleistungen verlangt, das, was dort gefordert wird, kann jeder durchschnittliche junge Mensch von normaler Intelligenz leisten … wenn er … hör gut zu, Melanie, denn das ist das Wichtigste! … wenn er nur die nötige Konzentration und Selbstdisziplin aufbringt. Und genau das ist es, was den beiden fehlt!«

»Es sind doch noch Kinder, Dominik!«

»Es sind junge Menschen. Vielleicht glaubt ihr, daß ich zu streng bin, aber ich fürchte, ich bin viel eher zu weich. Ich hätte mich als Junge mit solchen Noten niemals vor die Augen meines Vaters getraut.«

»Erwartest du etwa, daß sie wegen zwei Vieren ins Wasser gehen?« fragte Frau Melanie, deren Wangen rot vor unterdrückter Erregung geworden waren. »Das ist doch nun wirklich absurd!«

»Ich freue mich, Melanie, daß du so offen zu mir bist«, sagte Dominik Wengerberg, und seine Stimme blieb völlig gleichmütig. »Ich hätte sonst leicht vergessen, woher unsere Söhne jene laxe Auffassung von Pflichterfüllung … ich möchte es nicht schärfer ausdrücken … jene etwas leichtfertige Ader haben!«

»O Gott! Wirst du mir jetzt wieder meinen Vater vorwerfen?«

»Ich werfe dir nicht das geringste vor, ich stelle nur etwas fest.«

»Eine Feststellung, die du schon ziemlich oft gemacht hast … findest du nicht auch?«

»Eine Feststellung, die leider immer wieder stimmt. Aber ich glaube nicht, daß es Sinn hat, wenn wir uns in diesem Ton unterhalten.« Dominik Wengerberg hatte inzwischen Hemd, Hose, Schuhe und Strümpfe angezogen, jetzt band er sich die Krawatte um.

»Es wird wohl das beste sein, wir betrachten unsere morgendliche Plauderei hiermit als beendet.«

»Du willst also den Kindern wirklich den Spaß verderben?«

»Ich bin sicher, daß sie mir eines Tages dankbar dafür sein werden … wenn sie so weit sind, daß sie verstehen, warum ich es ihnen nicht erlauben konnte.«

»Wäre es nicht besser, wenn du selber mit ihnen reden würdest?«

Dominik Wengerberg nahm Weste und Jacke vom Bügel. »Ich sehe nicht ein, wie ich dazu kommen sollte … da sie es nicht für nötig befunden haben, mich selber darum zu bitten!«

»Bist du etwa deswegen beleidigt?«

»Ich bin niemals beleidigt, das solltest du wissen … beleidigt kann man nur von einem Menschen werden, mit dem man auf der gleichen Stufe steht, das wirst du von den Kindern wohl nicht behaupten können!«

»Und von mir noch weniger, nicht wahr?«

In der Diele warteten die Kinder, fertig angezogen, die Schulmappe unter dem Arm.

»Glaubst du, daß Mutti etwas erreicht?« fragte Peter.

»Nicht die Bohne … ganz ausgeschlossen!« erwiderte Paul.

»Warum stehen wir dann noch hier rum?«

»Vater muß es einfach erlauben! Es ist doch mein Geburtstag!« rief Anu.

»Da! Paßt auf! Mutti kommt!«

Frau Melanie kam, so rasch es ihre Pantoffeln erlaubten, die Treppe herunter. »Seht zu, daß ihr in die Schule kommt … schnell! Vater ist gleich unten!« sagte sie.

»Hat er es erlaubt?« fragte Peter.

»Mensch … wie kann man! Schau dir mal Muttis Gesicht an … und dann fragst du noch?« sagte Paul.

»Vati hat es nicht erlaubt?« fragte Anu, und als die Mutter den Kopf schüttelte, stiegen ihr die Tränen in die Augen: »Oh … wie gemein!«

»Hat er dich wieder beschimpft, Mutti?« fragte Peter.

»Bitte, Kinder, Vater hat seine Gründe, warum er …«, sagte Frau Melanie, aber dann spürte sie, wie ihre Stimme versagte, sie nickte den Kindern mit dem Versuch eines Lächelns zu und lief schnell in ihren kleinen Salon.

»Gründe! Wenn ich das schon höre … Gründe!« sagte Peter.

»Ich weiß genau, was er für Gründe hat!« rief Anu, halb weinend, halb wütend. »Es ist ihm lästig, wenn wir eine Party geben! Um sieben Uhr abends muß Ruhe herrschen, weil der Herr Landesgerichtsdirektor arbeiten will …«

»… und um Himmels willen, wir könnten ja vielleicht sogar erwarten, daß er sich um unsere Gäste kümmert!« rief Peter.

»Und außerdem … so eine Party kostet Geld, Kinder, vergeßt das nicht!« äffte Paul die Redeweise des Vaters nach. »Es bekümmert mich immer wieder, feststellen zu müssen, daß ihr keinerlei Begriff von dem Wert des Geldes habt!«

»Sehr richtig!« sagte Peter. »Ihr bildet euch immer ein, daß Geld dazu da ist, daß man sich etwas dafür kauft … ihr vergeßt ganz, daß eine Million gar keine Million mehr ist, wenn zehn Mark davon fehlen!«

»Ach, es ist so gemein!« rief Anu. »Alle aus meiner Klasse haben Jungens einladen dürfen, nur ich nicht! Ich habe eine Wut auf Vater … ich könnte ihn ermorden!«

»Ihr seid mal wieder recht ungezogen«, sagte Klara, die Hausangestellte, die gerade die Kaffeekanne für den Hausherrn ins Frühstückszimmer brachte, »überlegt ihr euch denn überhaupt, was ihr da redet?«

»Vater hat mir die Party verboten, Klara!« rief Anu.

»Und das ist so schlimm? Da sieht man, wie gut ihr’s habt … ihr müßtet mal richtige Sorgen haben!«

»Als wenn wir keine Sorgen hätten! Schon allein wegen dem blöden Latein und Französisch«, sagte Peter.

»Und daß wir nie tun dürfen, was wir gerne möchten!«

»Das ist nun mal so im Leben, Kinder … wenn’s anders wär, dann lebten wir ja im Himmel!

Aber ich finde, ihr habťs doch eigentlich recht gut! Das schöne Haus und die hübschen Kleider … und eine gute Schule dürft ihr besuchen … und die Mutti tut für euch, was sie kann …«

»… und die Klara kocht das beste Essen von der Welt!« sagte Peter und legte seinen Arm um Klara.

»Und der Vati hat euch sehr, sehr lieb!« sagte Klara.

»Der? Daß ich nicht lache!« rief Paul.

Peter hat Klara ganz schnell losgelassen. »Du spinnst ja, Klara«, sagte er.

»Über Vater könnt ihr mit Klara nicht reden!« rief Anu. »Sie ist ja in Vati verliebt, das weiß doch die ganze Straße!«

»Schäm dich, Anu … wie kannst du so etwas sagen?« sagte Klara empört.

»Und seht mal … jetzt wird sie sogar rot!« rief Paul.

»Erklär uns bloß, was du an ihm findest«, sagte Peter.

»Ich will euch mal etwas sagen, ein für allemal … ich bin nicht in euren Vati verliebt, ich habe ja meinen Leopold, und den werde ich heiraten! Aber ich muß schon sagen, daß ihr alle euch sehr, sehr häßlich gegen euren Vater benehmt! Er ist ein hochanständiger und feiner Herr … und ihr seid eine ganz ungezogene Bande! Ihr verdient gar nicht, daß ihr so einen Vater habt!«

Klara war ordentlich zornig geworden, und die Kinder lachten. Dann aber sah Peter den Vater oben an der Treppe erscheinen, er rief »Cave!«, und die drei stürmten zur Haustür hinaus. Klara brachte das Tablett ins Frühstückszimmer.

Na also, dachte Landesgerichtsdirektor Wengerberg, die Kinder sind ja ausgesprochen lustig … wahrscheinlich war diese Party nur wieder mal eine fixe Idee von Melanie, und jetzt sind sie froh, daß ihnen die Hüpferei erspart bleibt!

Aber er konnte eines gewissen Unbehagens nicht Herr werden …

Die Hausangestellte Klara Minimaier war vor einigen Jahren direkt aus dem Dorf als »Mädchen für alles« zu Familie Wengerberg gekommen. In der Metzgerei, im Kolonialwarenladen, in der Molkerei und beim Gemüsehändler wunderte man sich darüber, wie es kam, daß Klara so lange bei »den Millionärs«, wie Wengerbergs genannt wurden, ausgehalten hatte. Man war nicht mehr gewohnt, daß ein Mädchen sehr lange in ein und derselben Stellung blieb, und gar bei »den Millionärs« hatten die Hausgehilfinnen bisher stets sehr rasch gewechselt, keine war länger als drei Monate geblieben. Das große alte Haus, die drei schulpflichtigen Kinder, die nervöse Hausfrau und der überaus pedantische Herr Landesgerichtsdirektor, aus all dem entstanden Schwierigkeiten, mit denen bisher noch keine Hausangestellte fertig geworden war.

Nur Klara hatte durchgehalten, das war etwas, was die Leute nicht verstanden, und so suchten sie nach einer Erklärung. Die einfachste war die, daß Klara in Herrn Wengerberg verliebt war, und das war ja auch sehr einleuchtend, denn daß der Herr Landesgerichtsdirektor ein sehr gut aussehender Mann war, nach dem die Mädchen sich gerne die Köpfe verdreht hätten, konnte niemand leugnen.

Tatsache war, daß Klara wirklich zu einem guten Teil Herrn Wengerbergs wegen geblieben war. Er hätte es wahrscheinlich nicht begriffen, wenn man es ihm gesagt hätte, aber – er tat ihr leid. Sie spürte, daß er immer den besten Willen hatte, so gut und so gerecht wie nur möglich zu sein, und sie erkannte, daß seine Familie das einfach nicht begriff. Er war ein so kluger und so feiner und auch so gut aussehender Mann, der Herr Landesgerichtsdirektor, und doch hatten seine Kinder so gar nichts für ihn übrig und die Frau verstand ihn einfach nicht. Mußte man da nicht Mitleid mit ihm haben?

Aber auch Frau Melanie hatte es natürlich nicht leicht, weil sie ihren Mann so gar nicht verstehen konnte, und mit dem Haushalt wurde sie überhaupt nicht fertig, obwohl sie sich wirklich alle Mühe gab. Sie hatte es eben nicht gelernt, und sie würde es auch nie lernen können. Dafür aber konnte sie so wrunderschön Klavier spielen und so herrlich singen, daß Klara immer die Augen feucht wurden, wenn sie es hörte, selbst wenn es eigentlich ganz fröhliche Lieder waren. Nur schade, daß sie nie sang, wenn der Herr Landesgerichtsdirektor zu Hause war – warum eigentlich? Es war alles so verworren, aber jedenfalls war es doch ganz unmöglich, eine solche Herrschaft im Stich zu lassen, denn alleine wurde sie ja überhaupt nicht fertig.

Und dann die Kinder! Wer hätte ihnen die Knöpfe annähen und die Hemden und die Blusen bügeln, mit ihnen Spaß machen und mit ihnen schimpfen sollen? Das alles konnten die Eltern nicht, und deshalb waren die drei jungen Wengerbergs, obwohl sie manchmal schon recht wild und böse waren, doch eigentlich arme Kinder, und Klara hätte es einfach nicht übers Herz gebracht, fortzugehen und sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen.

Leopold Brenner, Klaras Verehrer, war Polizist. Er kam gewöhnlich jeden vierten Sonntag im Monat in die Stadt, aber heute, gerade als Klara Herrn Wengerberg den Frühstückskaffee gebracht und die Milch aufs Feuer gesetzt hatte, schellte es am Lieferanteneingang, und als Klara öffnete, stand Leopold draußen. Klara hatte nämlich heute Namenstag, und Leopold war schon um vier Uhr früh mit dem Motorrad losgefahren, um als erster zu gratulieren. Etwas verlegen hielt er ihr seinen Feldblumenstrauß entgegen und brachte sein Sprüchlein vor.

»Komm rein, wenn du schon da bist«, sagte Klara, durchaus nicht erfreut, »ich habe die Milch auf dem Feuer!« Sie liebte keine Überraschungen und gerade heute, an Anus Geburtstag, wo es ein festliches Mittagessen gab, Kuchen gebacken und Obstsalat bereitet werden mußte, kam ihr Leopolds Besuch recht ungelegen.

»Ich wünsch’ mir auch etwas zu deinem Namenstag«, sagte Leopold.

»So? Eigentlich dürfte ich mir ja wohl etwas wünschen!« sagte Klara, die Augen auf den Milchtopf gerichtet.

»Aber ich habe dich ja letztesmal gefragt, als ich da war, und da hast du gesagt, du willst nichts haben, aber ich darf mir was wünschen, wenn ich mag!«

»Habe ich das gesagt?«

»Ja … und deshalb will ich mir jetzt etwas wünschen!«

»Na schön!« Die Milch begann zu sieden, die Rahmhaut hob sich, Klara blies in den Topf und stellte ihn zur Seite, sie drehte die Flamme ab. »Was wünschst du dir also?«

»Daß du kündigst!« platzte Leopold heraus.

»Aber … warum denn? Ich habe doch meine Aussteuer noch nicht beisammen, das weißt du ganz genau!«

»Für den Anfang wird’s schon genügen! Unsere Eltern haben mit weniger begonnen!«

»Ja, wenn’s sein müßte, ging’s schon … aber es muß ja nicht sein.«

»So … muß es nicht sein? Und wenn ich nicht mehr länger warten kann?«

»Ach, Leopold, was redest du dir da ein«, sagte Klara und lachte.

»Ich red’ mir gar nichts ein! Zu Weihnachten habe ich dich gefragt, ob wir nun nicht endlich heiraten wollen … und zu Ostern auch noch einmal, und immer sagst du: ›Laß uns noch etwas warten!‹«

»Ist ja auch ganz richtig … laß uns noch etwas warten! Uns hetzt ja niemand!«

»Aber wir werden doch älter … von Jahr zu Jahr werden wir älter!«

»Da ist schon etwas dabei! Überhaupt … du bist noch viel zu jung zum Heiraten … mit fünfundzwanzig ist man noch viel zu jung!«

»Das ist ja gar nicht dein Ernst, Klara … du sagst ja gar nicht, was du denkst … wegen dem Herrn Wengerberg willst du nicht fort, weil du in ihn verliebt bist! Aber ich sage dir, mir gefällt dein Herr Landesgerichtsdirektor ganz und gar nicht!«

»Wer hat dir denn da einen Floh ins Ohr gesetzt?«

»Niemand! Ich mag ihn eben nicht.«

»Du kennst ihn ja gar nicht … wenn du den Herrn Doktor näher kennen würdest, dann müßtest du zugeben, daß er ein sehr, sehr guter Mensch ist!«

»Aha! Du willst damit wohl sagen, daß ich kein guter Mensch bin?«

»Ein großer Dummkopf bist du, das steht fest!«

»So gescheit wie dein Herr Landesgerichtsdirektor kann eben nicht jeder sein!«

»Ich glaube, Leopold, es ist besser, wir reden von etwas anderem«, sagte Klara ruhig.

»Daß ich gekommen bin, freut dich wohl gar nicht?«

»Schon … aber du siehst doch, ich habe Arbeit!« Klara holte eine große Schüssel, einen Behälter mit Mehl, eine Milchkanne, Eier und Zucker aus dem Schrank und stellte alles vor sich auf den Tisch.

»Schließlich ist doch heute dein Namenstag, Klara … und ich hatte mich schon so darauf gefreut!«

»Ich weiß nichts davon, daß wir uns für heute verabredet hätten!«

»Ich wollte dich eben überraschen.«

»Das hast du nun ja auch getan«, sagte Klara und begann den Teig zuzubereiten.

»Du bist so komisch, Klara … ich glaube, du verbirgst mir etwas!«

Klara lachte, nahm eine bunte Küchenschürze vom Haken, ging dabei nahe an Leopold heran und küßte ihn flüchtig auf die Wange.

»Ganz gewiß, Herr Polizist!«

Leopold gehörte zu den Leuten, die sich selber und das Leben sehr ernst nehmen, für Späße hatte er wenig Sinn, und so fragte er: »Bist du wirklich in Herrn Wengerberg verliebt?«

»Wie kommst du darauf?«

»Die Leute reden’s halt!«

»Du glaubst doch sonst nicht immer, was die Leute reden?«

»Ich sehe schon, du willst mir nicht antworten, aber ich will es jetzt wirklich wissen … bist du in Herrn Wengerberg verliebt? Ja oder nein?«

Klara legte den Kopf zur Seite und tat so, wie wenn das eine Frage wäre, über die sie ernsthaft nachdenken müsse. »Nein, Leopold«, sagte sie, »wenn ich es mir recht überlege … ich bin nicht in den Herrn Wengerberg verliebt.«

»Warum sagst du dann, daß er ein guter Mensch ist?«

»Weil er mir leid tut, sehr leid … aber das verstehst du nicht!«

»Warum soll ich das nicht verstehen … ich bin doch kein Idiot!«

Wütend sprang Leopold auf – Klara betrachtete ihn nicht ohne Wohlgefallen, er war schon ein schneidiger Bursche, und die Uniform saß ihm wie angegossen. »Ich habe doch Augen und Ohren«, brüllte Leopold, »ich kann doch hören und sehen … es paßt mir einfach nicht, daß der Herr Wengerberg dir leid tut, verstanden!? Du bist hier, um deine Arbeit zu tun, dafür wirst du bezahlt … und Schluß sonst!«

Klara lächelte. Sie hatte sich die bunte Küchenschürze umgebunden, die Ärmel aufgekrempelt, ein Tuch ums Haar gelegt, und wirkte so sauber und frisch, daß Leopold sie am liebsten abgeküßt hätte. Ganz nahe trat sie an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Eifersucht ist eine Leidenschaft, die eifrig sucht, was Leiden schafft!«

»Klara!« rief Leopold, und griff stürmisch nach ihren Händen.

»Du willst doch sicher gar nicht, daß wir uns streiten … nicht wahr, Leopold?«

»Versteh mich doch, Klara … ich will doch nur, daß wir bald heiraten!« Er zog Klara ganz nahe an sich.

»Bitte, Leopold, laß das, das geht hier doch nicht … ich bin ja im Dienst!«

»Und …? Deshalb kannst du deinem Verlobten keinen Namenstagskuß geben?« Er versuchte mit Gewalt, sie zu küssen.

»Bitte, laß! Es kann ja jemand kommen!«

»Ah, das ist es also! Davor hast du Angst … daß dein Herr Wengerberg kommt und sieht, daß du mich küßt!« Er schloß Klara nur noch fester in die Arme. »Ich will nicht, daß dieser Herr Wengerberg dir leid tut, hörst du, ich will nicht … oder es geschieht ein Unglück!«

Klara war ein starkes Mädchen, die es von Kindheit an gewohnt war, Tag für Tag schwere Arbeit zu verrichten. Mit einem gewaltigen Ruck riß sie sich los und stieß Leopold von sich. »Geh!« rief sie. »Geh! Wenn du so unvernünftig bist, dann will ich auch nicht, daß du länger hier bleibst! Und deine Blumen kannst du gleich mitnehmen!« – Sie nahm den Feldblumenstrauß und drückte ihn dem verblüfften Leopold in die Hand. »Hier … nimm und sieh zu, daß du fortkommst!«

Leopold war erschrocken, er wußte nicht, was er tun sollte, er begriff auch nicht, was er so Schlimmes verbrochen hatte. Er hatte Klara doch nur küssen wollen, was war denn dabei, sie war ja seine Braut. Irgend etwas stimmte mit Klara nicht, und sicher hing es mit Wengerberg zusammen. Seit sie hier im Dienst war, hatte sie sich immer mehr verändert. »Kündige doch!« bettelte er.

»Nein, ich werde nicht kündigen!«

»Klara … treibe es nicht zum Äußersten! Entweder Herr Wengerberg oder ich … du mußt dich entscheiden!«

»Mit Verrückten rede ich nicht … ein für allemal! Laß Herrn Wengerberg aus dem Spiel, der hat dir nichts getan! Und das eine sage ich dir … wenn du weiter so dumm daherredest, dann ist es sowieso aus zwischen uns … verstanden?«

»Klara, das ist doch nicht dein Ernst? Du willst, daß zwischen uns alles aus ist?«

»Ja, ich will!« rief Klara heftig, und leiser fügte sie hinzu: »Ich will mich nicht von dir beleidigen lassen!«

»Klara … überleg dir, was du sagst!«

»Ich hab’ es mir schon überlegt!« sagte Klara und begann energisch in ihrem Kuchenteig zu rühren.

Leopold stand da und wußte nicht, was er tun sollte. Richtig wäre es jetzt natürlich gewesen, die Hacken zusammenzuschlagen und zu gehen. Dann würde Klara ihr Benehmen bestimmt bereuen, es würde ihr schrecklich leid tun, daß sie ihn so behandelt hatte. Aber es ist meist viel schwerer, das Richtige zu tun, als das Richtige zu erkennen. Leopold konnte einfach nicht gehen, seine Füße hätten ihn nicht bis zur Haustür getragen, er konnte sich nicht so im Streit von Klara trennen. Außerdem wußte er sehr gut, daß er selber es gewesen war, der angefangen hatte. Weshalb eigentlich? Er hatte doch nicht einen Atemzug lang geglaubt, daß Klara ihn mit dem Herrn des Hauses betrogen haben könnte. Er kannte Klara doch schon von Kindesbeinen an, niemand wußte so gut wie er, daß sie alles andere als ein leichtsinniges Mädchen war. Nur seinetwegen war sie ja in die Stadt in Dienst gegangen, um sich eine Aussteuer zusammenzusparen. Nicht den kleinsten Luxus hatte sie sich all die Jahre gegönnt, Pfennig auf Pfennig hatte sie zur Sparkasse getragen. Und dennoch – verändert war sie. Sicherlich log sie nicht, wenn sie sagte, daß sie nur Mitleid für Herrn Wengerberg hätte, aber der Polizist Leopold Brenner wußte aus manchem Polizeibericht, den er in die Maschine diktiert bekommen hatte, daß aus Mitleid Liebe geworden war.

»Klara … ich bitte dich«, sagte er, »nimm doch Vernunft an! Glaube mir, du bist für die hier doch nur ein Dienstmädchen … weiter nichts! Du bist gerade gut genug, den Dreck aufzuwischen und die Schuhe zu putzen, und wenn du glaubst, die machen sich was aus dir, dann hast du dich schwer geirrt! Auch dein Herr Wengerberg ist ja nicht anders … der macht sich auch bloß einen Spaß aus dir, bilde dir nur ja nichts ein!«

Klara bohrte den Holzlöffel in die Teigschüssel und sah Leopold starr an. »Ich weiß, daß ich nur ein Dienstmädchen bin … das brauchst du mir nicht zu sagen! Aber ich bin froh, daß du es einsiehst, denn dann mußt du ja auch wissen, wie verrückt dein ganzes Gerede und deine Eifersucht ist!«

»Und wenn du in allem recht hättest, Klara … ich glaub’ dir ja, daß gar nichts ist zwischen dir und dem Herrn Wengerberg … aber ich kann nicht zulassen, daß die Leute über dich klatschen!« Klara pustete sich eine Haarsträhne, die aus dem Tuch gerutscht war, aus der Stirn und lachte. »Das stört dich? Mich nicht! Du weißt doch, wie der Fröschlbauer bei uns zu Hause immer sagt: ›Wer schimpft, der kauft‹!«

»Aber ich will das nicht, Klara! Ich will nicht, daß dieser Wengerberg, nur weil er mehr Geld hat als unsereiner … ich will nicht, daß er glaubt, er kann sich alles erlauben!«

»Du hast eben kein Vertrauen zu mir, das ist das Ganze!«

»Das ist doch nicht wahr, natürlich habe ich Vertrauen, jede Menge!«

»Was soll dann das dumme Gerede?«

»Du verstehst mich eben nicht!«

»Vielleicht nicht … aber ich mag dich leiden, das mußt du mir glauben.«

»Ist das wirklich wahr, Klara?«

»Natürlich … das solltest du längst wissen.«

»Ach, Klara, ich glaube, ich bin wirklich ein Dummkopf!«

»Sehr gut, daß du das einsiehst«, sagte Klara und rührte kräftig den schweren Teig.

»Kannst du heute einen freien Tag bekommen?« fragte Leopold hoffnungsvoll.

»Nein … wie kommst du denn darauf?«

»Weil du doch Namenstag hast. Da dachte ich … wir könnten zusammen ausgehen!«

»Du denkst ein bißchen viel … findest du nicht?«

»Ich sehe nicht ein, warum du heute nicht freihaben sollst!«

»Weil es nicht geht, deshalb nicht!«

»Aha! Ich verstehe! Der gnädige Herr braucht seine lauwarme Milch, und die mußt du ihm ans Bett bringen!«

Sie hatten beide nicht gehört, daß sich die Türe geöffnet hatte und Landesgerichtsdirektor Dominik Wengerberg in die Küche getreten war, die Aktentasche unter dem Arm, den Hut in der Hand. Sie schraken zusammen, als Wengerberg grüßte. »Guten Morgen, Herr Brenner! So früh schon auf den Beinen?«

Klara errötete und beugte sich tief über die Teigschüssel. – Hoffentlich hatte Wengerberg Leopolds Geschwätz nicht gehört!

Der Polizist nahm Haltung an, schlug die Hacken zusammen und legte die Daumen an die Hosennaht. »Jawohl, Herr Doktor, ich wollte meine Braut …«, er verbesserte sich, »ich wollte Klara …«, er stotterte, »ich bin schon sehr früh von meiner Dienststelle weggefahren, weil Fräulein Klara doch heute Namenstag hat!«

Dominik Wengerberg ging durch die Küche auf Klara zu. »Meine Glückwünsche, Fräulein Klara«, sagte er herzlich, »alles Gute, was der liebe Gott verschenken kann, soll er Ihnen geben!«

»Danke schön, Herr Doktor«, sagte Klara leise.

»Ich denke, Sie möchten diesen Tag gerne mit Ihrem Herrn Bräutigam verbringen, nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Doktor, das wäre schön!« sagte Leopold rasch, die Hände noch immer an der Hosennaht.

»Das geht doch heute nicht, Herr Doktor«, sagte Klara, »wo die Anu doch Geburtstag hat!«

»Nun, die Party ist abgeblasen … darüber können Sie ganz beruhigt sein.«

»Ich weiß. Und die Kinder sind sehr, sehr traurig darüber.«

»Sie haben sich wohl mit meiner Frau besprochen, was?«

»Nein … aber ich habe es Ihren Kindern angemerkt!«

»Ich bitte Sie, Fräulein Klara … durften Sie eine Party geben, als Sie fünfzehn Jahre alt wurden?«

»Sie wissen, daß es so was auf dem Dorf gar nicht gibt, Herr Doktor … dafür hatten wir aber manchen Spaß, den Ihre Kinder nicht kennen.«

»Nun, ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen, aber ich glaube, daß ich von Pädagogik doch noch etwas mehr verstehe als Sie! Jedenfalls fällt die Party heute aus, und Sie können sich ohne weiteres einen schönen Tag mit Herrn Brenner machen.«

»Danke, Herr Doktor …«, sagte Klara zögernd.

»Aber …?« – »Seien Sie mir nicht böse, Herr Doktor, aber ich kann heute unmöglich fort. Anu hat doch fünf Schulfreundinnen eingeladen, und da muß Kuchen gebacken und der Tisch gedeckt werden und …«

»Kann das nicht einmal meine Frau allein machen?«

Klara blickte Herrn Wengerberg gerade in die Augen. »Nein, Herr Doktor, das kann sie nicht!«

Eine kleine Stille entstand.

»Nun, wie Sie meinen, Klara«, sagte Dominik Wengerberg endlich, »ich gebe zu, ich verstehe von diesen Dingen nichts. Aber dann möchte ich Ihnen doch wenigstens auf eine andere Weise am heutigen Tag eine Freude bereiten!«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Herr Doktor«, sagte Klara sehr nett, »aber danke schön, ich habe alles … ich habe wirklich alles, ich brauche nichts!«

»Aber … irgendeinen Wunsch werden Sie doch haben?«

Welch ein Teufel plötzlich in Leopold fuhr, hätte er später selber nicht zu sagen gewußt, er erschrak vor seiner eigenen Stimme, als er sich plötzlich laut und deutlich sagen hörte: »Ich verbiete Klara, von Ihnen Geschenke anzunehmen … daß Sie es nur wissen!«

Dominik Wengerberg war nicht weiter erstaunt, er lächelte flüchtig. »Bravo, bravo, Herr Brenner … warum freundlich, wenn’s grob auch geht? Allerdings dürfte einem Polizisten eigentlich so etwas nicht passieren, mein lieber Freund … Sie dürfen froh sein, daß ich nicht Ihr Vorgesetzter bin!«

»Ach, Herr Doktor«, sagte Klara, »hören Sie gar nicht auf ihn! Er weiß ja nicht, was er redet! Er hat Sie bestimmt nicht beleidigen wollen!«

Leopold sah im wahrsten Sinne des Wortes rote Kreise vor Augen, immer mehr und mehr rote Kreise, die auf ihn eindrangen.

»Nein, ich habe Sie bestimmt nicht beleidigen wollen, Herr Doktor, da hat die Klara ganz recht … nur die Wahrheit habe ich Ihnen sagen wollen, einmal muß ich Ihnen die Wahrheit sagen! Wenn wir nämlich auch keine studierten Leute sind und keine Millionäre, die Klara und ich … aber Menschen sind wir auch, und wir lassen keinen Spaß aus uns machen!«

»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen …«, sagte Dominik Wengerberg, ehrlich verständnislos.

»Was ich will!? Ich will nicht, daß Klara auch nur noch einen Tag bei Ihnen im Dienst bleibt! Sie sind schuld, daß wir nicht heiraten … Nur Sie! Ihretwegen bleibt die Klara im Haus. Aber damit Sie es wissen, Herr Doktor, ich lass’ mir die Klara von Ihnen nicht nehmen … unsereiner ist auch ein Mensch!« Leopold war ganz außer Atem geraten, sein Gesicht war glühend heiß.

Dominik Wengerberg sah ihn verwundert und amüsiert an.

»Mir scheint, Sie sind betrunken, Herr Brenner«, sagte er ruhig.

»Guten Tag!« Er drehte sich um und verließ die Küche.

Unwillkürlich lief Klara einige Schritte hinter ihm her bis zur Tür. Sie rief: »Herr Doktor … Herr Doktor …«, dann blieb sie stehen.

»Der weiß jetzt wenigstens Bescheid … dem hab’ ich’s gegeben!« sagte Leopold, immer noch kochend vor Zorn.

Unversehens drehte Klara sich um, holte aus und schlug Leopold kräftig mit der flachen Hand ins Gesicht. »Ich will dich nie mehr sehen!« rief sie.

Leopold stand, die Hand auf der Wange, wie eine Salzsäule da und starrte Klara an. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war. Klara hatte ihn geschlagen? Was hatte er ihr getan?

»Geh!« rief sie wütend. »Auf was wartest du denn noch!? Geh, habe ich gesagt … geh, aber schnell!«

Die Stadt war voll Sonne. Auf den Straßen drängten sich die Menschen. Polizisten bahnten den Straßenbahnen und den zahllosen Autos den Weg. Überall war Lärm, überall war Hast.

Das Oberlandes- und Strafgericht I ragte mit seiner großen kupfernen Kuppel über die Dächer der Häuser – der Bau war schon vor vielen Hunderten von Jahren entstanden, früher einmal hatten Mönche darin gelebt. Vom Volksmund wurde er das »graue Haus« genannt.

Im dritten Stock des zweiten Blockes, am Ende eines langen Korridors, lag das Dienstzimmer des Landesgerichtsdirektors Dominik Wengerberg. Die Fenster waren fest geschlossen – die Sonne brachte es an den Tag, daß viel Staub auf den Scheiben klebte. Aber Wengerberg, der zu Hause kein Staubflöckchen übersah, merkte es nicht einmal. Er wußte, daß Staub, verbrauchte Luft, der durchdringende Geruch von altem Papier nun einmal zu der Atmosphäre eines Amtsgerichts gehörten, und er liebte diese Atmosphäre. Er liebte es, sich in die Akten zu vertiefen, komplizierte Fälle zu studieren, das Für und Wider zu erwägen, Beschlüsse zu fassen, und er wollte dabei in keiner Weise gestört sein.

Er hatte nie darüber nachgedacht, aber im Grunde war es wirklich so, daß er sich zwischen seinen Akten am wohlsten und glücklichsten fühlte – glücklicher als am Abendbrottisch mit seiner Familie, viel glücklicher als an einem freien Sonntag, denn dann wurde die Sehnsucht nach dem Gericht schon fast übermächtig, und viel glücklicher auch als im Gerichtssaal, denn dort gab es zuviel Menschen, die das logische Denken störten. Zugegeben, es gab Fälle, die ihm Höhepunkte seltenen Genusses schenkten – wenn der Angeklagte ein wirklich gerissener Verbrecher war, der nicht kläglich an die Gefühle der Schöffen appellierte, wenn der Verteidiger ein fähiger Kopf, der Staatsanwalt ein routinierter Könner war – aber wie selten waren solche Gelegenheiten. Niemals auch konnten sie ihn mit jenem wohligen Behagen erfüllen, das ihn durchrieselte, wenn er in der Stille seines Dienstzimmers oder seiner häuslichen Studierstube saß und die Welt der Akten wirklicher für ihn wurde als das tägliche Leben.

Dominik Wengerberg tat Hut und Mantel in einen schmalen Wandschrank, holte seinen schwarzen Talar heraus, den er auch während der Schreibtischarbeit im Gerichtsgebäude zu tragen pflegte, nahm den Fall Herber aus seiner Aktentasche und legte ihn als erledigt beiseite. Dann übersah er mit einem einzigen liebevollen Blick den mit grünem Linoleum bespannten Tisch, auf dem sich die Aktenbündel türmten. Auf fast allen stand zu lesen: »Eilt!« oder »Haftsache«!

Direkt vor seinem Platz lag ein Akt, der offensichtlich neu hinzugekommen war, lose Blätter auf blauem Packpapier, darauf ein Handschreiben von Dr. Mühlbauer, dem Ersten Staatsanwalt, der ihm, dem Vorsitzenden des Senats III, unter anderem schrieb: »Weil ich weiß, sehr verehrter Herr Kollege, daß Sie äußerst gerecht empfinden, bitte ich Sie, in diesen Akt Einsicht nehmen zu wollen. Es handelt sich um einen Fall, der dieser Tage vor dem Jugendgericht abgeurteilt worden ist, aber da der Verteidiger, der Freispruch beantragt hatte, Berufung eingelegt hat, ist der Angeklagte vorerst in Untersuchungshaft geblieben. Sie werden feststellen, daß der Fall, menschlich gesehen, sehr klar liegt – das übliche Delikt eines schlecht beaufsichtigten haltlosen jungen Menschen aus zweifelhaftem Milieu, wie wir es tagtäglich erleben. Juristisch gesehen jedoch liegt der Fall äußerst kompliziert, so daß die Berufung, die der Herr Verteidiger einlegte, nicht ganz ohne Berechtigung erscheint. Ich wäre Ihnen für eine kurze Fixierung Ihrer Ansicht sehr dankbar!«

Das klang verlockend – juristische Komplikationen, das war gerade das, was er liebte. Er ließ sich in den Sessel mit dem längst zusammengedrückten Roßhaarpolster fallen und begann, in den losen Bogen zu blättern. Aber er war noch nicht ganz bei der Sache, das Gespräch mit seiner Frau, Anus unvernünftiger Geburtstagswunsch, die Vorwürfe des Polizisten Brenner, das alles ging ihm noch im Kopf herum.