German Glückskind - Reinhard Moh - E-Book

German Glückskind E-Book

Reinhard Moh

4,9

Beschreibung

Dieses Buch-Projekt ist die Antwort (und seine Therapie) des Autors auf seine Lungenkrebserkrankung, die er mit der Hilfe des Evangelischen Klinikums Bethel in Bielefeld zu besiegen versucht. Dabei setzt er nicht allein auf die Medizin, sondern vertraut auch den Selbstheilungskräften, die er mit Hilfe einer an seine Seite gestellten Kunsttherapeutin zu aktivieren versucht. Daraus ist sein Herzensprojekt - seine Lebensgeschichte anhand ausgewählter Episoden niederzuschreiben - entstanden, das ihn noch einmal an wichtige Stationen seines Lebens zurückführt. Mit diesem Buch lässt uns der Autor an seinen spannenden, prägenden und glücklichen Momenten der ersten 25 Jahre seines Lebens ungeschminkt teilhaben und uns gemeinsam in vergangene Zeiten zurückreisen. Der Autor beschreibt den Zeitgeist und die Kultur der 50er, 60er und frühen 70 er Jahre mit viel Leidenschaft, liebevollen Details und immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die Orte seiner Jugend und des Erwachsenwerdens sind heute Sehnsuchtsorte für ihn geworden. Die Musik war ein treuer Begleiter und führt nicht nur ihn zurück in vergangene Zeiten, die aber nicht nostalgisch, sondern zeitgemäß und mit viel Humor in Szene gesetzt wird. Er hatte immer Glück mit den Orten und den Menschen die er treffen und deren Leben er eine kurze Zeit begleiten durfte. Er fühlt sich heute als German Glückskind und es sollten noch weitere glückliche Jahrzehnte folgen ...

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Seitenzahl: 215

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Zu diesem Buch

Alles beginnt im Jahr 1950 in Heidelberg. Von da an geht es schon im zarten Alter von zwei Jahren auf eine wunderbare, aufregende Odyssee durch die noch junge Republik mit einer ersten Heimat als Kind in der damaligen DDR. Es folgt der Übergang in die zweite Heimat in den Westen Deutschlands als Kind, das Heranwachsen in den aufrührenden Zeiten des allgemeinen Aufbruches der Jugend und die Zeit der Orientierung und Suche nach sich selbst als junger Erwachsener. Dabei führen die ersten 25 Lebensjahre den Autor nicht nur auf eine spannende Reise vom Kindsein zum Erwachsenwerden mit allen Höhen und Tiefen, sondern auch quer durch Deutschland vom Osten über den Süden, hoch hinauf in den Norden und wieder zurück.

mit freundlicher Unterstützung und Mitarbeit von

Sandra Ehrler,

Ulrike Koch, Annette Rooch

sowie allen meinen lieben Zeitzeugen

„Nur wer sich ändert bleibt sich treu“ schreibt Wolf Biermann am 02.03.2017 in das Klassenbuch!

„Der Wolf und der Reini“

Für Heike

Inhalt

Wie alles begann

Meine erste Heimat

Übergang in meine zweite Heimat

Mein Kindsein im Westen

Meine frühe Jugend und die Liebe zum Sport

Meine frühe Jugend und die Liebe zum Leben

Aufbruch in ein anderes Leben

Als aus Reinhard Billy wurde

First Love

Beinahe Face-to-Face mit den Beatles

Erwachsenwerden als Bürger in Uniform

Szenen einer zu frühen Ehe

Die Welt dreht sich, das Leben geht weiter

Gehe nicht über Los, ziehe die Karte der Freiheit

Nagold und kein Weg zurück

Mein SWF 3

Ende einer zu frühen Ehe

Die Legende Nagold

Der Abschied und der Morgentau

Hamburger Deern

Ein kurzer Ausblick 12 Jahre später

Discographie meiner ersten 25 Jahre

FotoGraphie

Prolog

Januar 2017, mein Leben ist großartig, auch mit einem Lungenkrebs in meinem Körper! Der Liebe in der Beziehung zu meiner 28 Jahre jüngeren Lebenspartnerin, mit der ich schon seit mehr als fünfzehn Jahren zusammen bin, kann der Krebs nichts anhaben. Im Gegenteil: Wir glauben, dass er eines schönen Tages aus unserem Leben verschwindet.

Diese und andere schöne Gedanken über das vielfältige Glück in meinem Leben gingen mir so im Kopf herum, als ich Sandras Hand nahm und im milden Winterwind („Lady in Black“ von Uriah Heep) zielstrebig im Gelsenkirchener Zoo auf die Schimpansen-Familie hinter Schloss und Riegel zusteuerte.

Von Weitem sah ich schon einen lebhaften Affen, der lustig mit einem abgeknabberten Weidenstock spielte und wohl wollte, dass ein Verwandter von ihm vor der Glasscheibe auf sein Spiel eingehen würde. Keiner der anderen Besucher war spontan bereit, aber mich musste er nicht zweimal bitten.

Sandra nahm ihre Nikon, oder war es eine Canon, und hielt auf dem Boden sitzend fest, wie wir beide, nur getrennt von etwas Glas, Spaß am gegenseitigen Demonstrieren unserer Intelligenz hatten. Als ich dann meinen Zeigefinger an die Schreibe legte, schmiegte er sich mit seinem Mund daran und schaute mir mit vertrauensvollem klaren Blick direkt in die Augen. Ein Bild für die Götter, ein besonderer magischer Augenblick, fand Sandra, und ein unglaublicher Glücksmoment in meinem Leben.

Freundschaft über Grenzen hinaus, Gelsenkirchener ZOOM, Jan. 2017

Als wir gehen mussten, leider viel zu früh, schauten wir uns am Ausgang noch einmal zu unserer neuen Freundin, der Schimpansen-Lady, um, sahen ihre strahlenden braunen Augen und waren tief gerührt, als sie uns zum Abschied freudig zuklatschte.

Was für eine Persönlichkeit und was für ein Glück, ihr nach 67 Jahren begegnet zu sein.

++++EILMELDUNG++++EILMELDUNG++++EILMELDUNG++++

Gratulation! Schimpansen-Song stürmt die Charts.

Also, da laust mich doch der Affe – nein sorry, der Schimpanse.

Unsere Schimpansen-Lady Jahaga und ihre vier affenstarken Kollegen sind im April 2017 die Nr. 1 der iTunes- und Amazon-Charts in Deutschland mit ihrem Song „Menschen Leben Tanzen Welt“.

Jan Böhmermann alias Jim Pandzko, das geniale Songwriter Schimpansen-Quintett aus Gelsenkirchen, Sandra und ich hoffen auf den Echo 2018.

Gut gemacht, Jahaga!

Und wir legen sehr viel Wert darauf, dass wir Dich und Dein Show-Talent bereits im Januar im ZOOM entdecken durften. Weiter so!

Wie alles begann

Meine Geburt fand vier Tage vorher statt, aber erst am 22. Mai 1950 schrieb das Standesamt Heidelberg: „Die Gertrud Moh, geborene Jopke, evangelisch und wohnhaft bei ihrem Ehemann dem Hilfsarbeiter Karl Hans Moh auch evangelisch, in Dilsberg, Ortsteil Rainbach, Kreis Heidelberg im Haus Nummer 21 hat am 18. Mai 1950 genau“, es kann auch ein paar Minuten später gewesen sei, denn ich wurde ja so was wie ein Spätzünder, „um 15 Uhr zwanzig einen Knaben geboren. Das Kind hat folgende Vornamen erhalten: Reinhard Walter.“ Unterschrieben hatte ein Vertreter des Standesbeamten. Es könnte sein, dass ich wohl nicht so wichtig war, und das tut auch ein bisschen weh. Scherz!

Lange habe ich geglaubt, dass mein Lieblingssänger Jackson Browne am selben Tag und Ort geboren wurde wie ich. Später stellte sich raus, dass ich mir das nur so ausgemalt habe. Er war zwar auch in Heidelberg geboren und auch 1950, aber eben nicht am selben Tag. Schade! Außerdem war ich lange davon überzeugt, dass ich im weltberühmten Heidelberger Schloss das Licht der Welt erblickt habe, was ich mir aber leider auch nur eingebildet hatte. Natürlich bin ich, wie die meisten Menschen, in einem Krankenhaus geboren. Aber vielleicht hat meine Mutter ja in der Wäscherei des Schlosses gearbeitet, das lässt sich heute leider nicht mehr genau feststellen. Auf jeden Fall ist meine Vorliebe für frisch gewaschene Wäsche prägnant, und noch heute mit 67 Jahren komme ich an keinem Waschsalon vorbei. Ich liebe Waschsalons, das Drehen der großen Trommeln mit den Fenstern, größer als die Bullaugen auf dem größten Luxusliner, und die noch größeren Gucklöcher der Trockner. Sandra, meine langjährige Partnerin und immer noch Begleiterin in meinem Leben, zieht schon die Augenbrauen hoch, wenn ich nur frage, ob und wo es denn einen Waschsalon in unserem nächsten Urlaubsort gibt. Einen Salon, am Gardasee war es glaube ich, haben wir zum Beispiel mal komplett unter Wasser gesetzt. Sie ist auch jedes Mal genervt, wenn wir wieder nicht das nötige Kleingeld für die Automaten bei uns haben und dann eine, wie sie sagt, „Tingel-Tour“ durch die umliegenden Läden machen müssen, um die nötigen Münzen zusammen zu bekommen, die sich dann zu allem Überfluss auch gerne mal in den Geldeinwürfen verklemmen. Trotzdem: Sobald die Wäsche sauber, trocken und eingetütet ist, ist die Welt wieder in Ordnung und es stellt sich dann doch Zufriedenheit ein, dass man diese Aufgabe wieder einmal erfolgreich gemeistert hat.

Aus dem Jahr 1955, mein Vater hatte sich inzwischen als Soldat bei der auf Adenauers Betreiben hin neu gegründeten Bundeswehr verpflichtet, gab es eine Abschrift der Geburtsurkunde, unterschrieben von einem Oberleutnant im Juli in Eschwege. Entweder wurde diese Abschrift dafür benötigt, dass mein Vater den Antrag für das Kindergeld einreichen konnte oder dass belegbar war, dass ich Bundesbürger war und aus der DDR ausreisen durfte. Denn zu dieser Zeit war ich schon Jungpionier, das wurden nämlich alle Erstklässler in der DDR. Als Jungpionier bekam man das begehrte blaue Halstuch, das mit blauer Hose zu bestimmten Feiern oder zum Fahnenappell in der Schule getragen werden musste. Auch ein blaues Käppi gehörte zur Kleidung. Ich besuchte also die 1. Klasse und trug stolz, wie jedes andere Kind, das Halstuch. Die Abschrift konnte daher nichts mit meiner Ausreise zu tun gehabt haben.

Eine zweite Abschrift fand ich dann später, und die war aus dem September des Jahres 1956. Diese war dann wohl tatsächlich für meine Ausreise gedacht, denn danach war es vorbei mit Jungpionier und "Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!". Das sagte der Lehrer zu Beginn des Unterrichts, worauf die Klasse antwortete: "Immer bereit!".

Auch in den ersten 25 Lebensjahren sind die Dinge nicht immer so, wie sie uns zu dem Zeitpunkt erscheinen. Wie wir die Welt sehen, hängt sicher auch von der Zeit ab, in der wir so leben, als Kind aufwachsen, in die Schule gehen, eine Lehre absolvieren oder gar studieren. Später sollte für Jungs die Bundeswehr kommen und danach eine feste Anstellung, dann sollten sie Vater werden und auf die Rente warten. Zwischendrin Rasen mähen, nur am Samstag, und zusehen, wie der Ansatz am Bauch größer und größer werden würde.

Die Mädels wurden in den Haushalts- oder Brautschulen auf die Ehe vorbereitet und zarte Bande zum anderen Geschlecht wurden in den spießigen Tanzschulen geknüpft. Das hatte sich aber Mitte der Sechziger erledigt, denn die Jugend wurde durch die „Neue Zeit“, die es so noch nie vorher gab, wach geküsst und man nannte die Jüngeren jetzt „Teenager“ und die älteren „Twens“.

Oh Gott, war das spannend, aufregend und neu! Heute gibt es keine Musik, die nicht schon einmal komponiert wurde, kein Buch, das nicht schon mal irgendwie geschrieben worden ist oder gar einen Film, der nicht schon einmal abgedreht worden wäre.

Natürlich begann alles schon Mitte der Fünfziger in Amerika, dem Sehnsuchtsland der deutschen Jugend Ende des Jahrzehntes. James Dean und Natalie Wood im Film “Rebel Without a Cause” machten den Anfang, und der Rock`n Roll mit Bill Haley und dem King folgten und lösten eine Massenbewegung gleichbedeutend einer Stampede aus. Diese Welle schwappte dann auch über den Großen Teich hinüber zu uns, und Anfang des neuen Jahrzehntes ging es dann mit der eigentlichen Revolution der Jugend weiter, aber das wissen ja alle, wer und was der Auslöser war, welche Auswirkungen das hatte, und was es mit uns und der Gesellschaft weltweit in den folgenden Jahrzehnten machen sollte.

Wen das Leben eines Glückskindes nun interessiert, sollte einfach den nachfolgenden Zeilen folgen. Die Rückschau auf meine Lebensgeschichte hilft mir heute sehr, mit dem Krebs zu leben oder ihn vielleicht eines Tages zum Teufel zu jagen. Ich kann mein Leben mit dem Wissen von heute noch mal neu betrachten, mit vielem Frieden schließen, und vielleicht unterstützt das Heilen der Seele ja auch die Heilungskräfte des Körpers.

Meine erste Heimat

Meine Kindheitserinnerungen sind eng verbunden mit meiner Oma und Uroma, genannt „Mohnoma“. Die hatte ein kleines Hexenhaus, das ich später als junger Erwachsener noch einmal sehen durfte. Genau wie die Mauer vor dem Bauernhof war für mich als kleiner Steppke alles riesig und groß. Die Oma bekam ihren Spitznamen, weil sie am Wochenende immer einen Mohnkuchen buk, aber auch ihre Mohnknödel waren ein Traum. Ob wir dadurch damals alle wöchentlich ein- oder zweimal high wurden, weiß ich nicht mehr. Jetzt bin ich 67, da ist noch nicht alles vorbei, und habe drei Generationen meiner Familie miterlebt. Das war mir früher nie so bewusst, und heute empfinde ich es als Privileg, viele erlebt zu haben. Glück gehabt.

Wann, wie und warum ich als kleines Kind, und mit wie viel Jahren eigentlich genau, aus Heidelberg im Westen in die Deutsche Demokratische Republik im Osten gekommen bin, weiß keiner mehr so genau. Die, die es wissen könnten, sind leider schon gestorben. Das ist also nicht mehr zu klären. Da wir zu der Zeit vier Kinder waren, war wohl einer zu viel an Bord, und meine Eltern konnten wohl noch nicht alle sattkriegen. Oder hatte ich damals schon gesundheitliche Probleme? Gekränkelt habe ich ja meistens, auch heute noch. Im Rückblick kommt mir die Tatsache, dass ich so früh zu meinen Großeltern kam, schon etwas seltsam vor. Der tatsächliche Grund lässt sich heute auch nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, da meine Eltern und meine Oma nicht mehr leben, und Zeitzeugen wie meine Schwester Irmtraud sich nicht daran erinnern können. Es ist aber naheliegend, dass, wie auch heute bei vielen Familien, wirtschaftliche Gründe eine Rolle gespielt haben. Damit wäre ich dann wohl einer der ersten Wirtschaftsflüchtlinge, die vom Westen in den Osten rüber machten, obwohl die Flucht in die andere Richtung damals sicher deutlich häufiger vorkam.

Irgendwann befand ich mich dann in Meltewitz Nr. 2, Kreis Wurzen nah bei Leipzig, auf dem Bauernhof der Familie Wünsche, die meine Großeltern nach dem Krieg aufgenommen hatte. Ernst und Edith Wünsche waren herzensgute Menschen. Sie hatten zudem noch eine Tochter namens Heidrun, ein Jahr älter als ich, und damit war meine Kindheit eigentlich vollkommen.

Beide waren wir Glückskinder, da uns nichts und niemand etwas anhaben konnte und wir eine tolle Kindheit hatten, die ich heute jedem Kind auf dieser Welt von ganzem Herzen wünsche. Hier war man sicher für einige Jahre.

Meine erste Familie lebte auf einem Vierkanthof. Das waren die Wünsches mit Heidrun und die Jopkes mit mir. Meines Opas Vorname war Ernst, ein Jahrhundertmann mit zwei dieser unsäglichen Weltkriege im Gepäck, die er als Bürde mit sich herumtrug. Er sprach wenig mit mir, heute verstehe ich das. Im Gedächtnis bleibt, dass er grauschwarze Haare hatte, und jeden Morgen sah ich ihn rasierend vorm Spiegel stehen. Er trug Hosen mit Hosenträgern, die aber locker an den Seiten hingen und erst später, nach dem ersten Kaffee, umgelegt wurden. Ich glaube, er musste sehr hart auf dem Feld arbeiten, genau wie meine Oma, denn das war die Gegenleistung für die Bleibe, Speis und Trank auf dem Hof. Sie gehörten jetzt zur Familie, und ich war glücklicherweise mittendrin. Als mein Opa starb, war mir noch nicht bewusst, dass zum Leben auch das Sterben gehört. Das wurde mir zum ersten Mal später, als ich mit 18 Jahren zur Bundeswehr kam, richtig klar, und spätestens da war „Schluss mit lustig“.

Eines der starken Bilder der Erinnerung ist der große Turm in Leipzig, den man immer bei „In aller Freundschaft“, einer Arztserie aus dem Fernsehen, sieht. Dieses Bild, das sich wie ein Wahrzeichen in mir festgesetzt hat, als ich es als Kind zum ersten Mal sah, löst jetzt jeden Dienstagabend ein starkes Gefühl von Heimat in mir aus.

Die Bilder, die ich von meiner Oma in Erinnerung habe, sind stark und immer allgegenwärtig. Meine Oma, Jahrgang 1900, gehörte zu den 1,2 Millionen Schlesiern, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges flüchten mussten. Da regen wir uns heute über ein paar tausend Flüchtlinge in der Woche auf. Damals haben die Deutschen das auch geschafft, aber die Flüchtlinge hatten es am Anfang genauso schwer wie heute, und erst Jahre später gab sich das dann.

Ihr Vorname war Emma, heute hören wieder viele Mädchen auf diesen Namen. Sie hatte den gleichen Geburtsnamen wie der Nachname meiner Mutter nach ihrer Heirat und war aber auch gleichzeitig die Mutter meiner Mutter. Das wusste ich aber damals noch nicht. Emma Jopke, geborene Moh, das fand ich immer witzig. Ich habe es leider immer versäumt herauszufinden, wer aus welcher Linie stammt.

Meine Großmutter, deren Reisepass aus der DDR mit der Nummer 1750408 ich heute noch immer besitze, war mittelgroß und hatte hell leuchtend graue Haare, die sie streng zurückgekämmt trug. Ihre blaugrauen Augen strahlten Stärke und Zuversicht aus, und ihr Herz und ihre Güte waren größer, höher und breiter als der höchste Berg der DDR, der Brocken. Eine wertvolle Brosche hielt ihre Bluse zusammen und für mich sah es so aus, als ob das ein Zeichen von Ordnung signalisieren sollte und ich sicher sein konnte, dass in ihrer Nähe mein Leben nicht in Unordnung geraten könne.

Meine geliebte Oma Emma Jopke

Es gab nur einmal ein Ereignis, wo ich so richtig den Arsch versohlt bekommen habe. Womit? Mit Recht! Was war passiert? Ich ging, obwohl es verboten war, auf das Eis des noch nicht ganz zugefrorenen Dorfteiches, bin eingebrochen und wurde gerade noch so mit langen Stangen, an die ich mich klammern konnte, gerettet. Wer kennt das nicht? „Habe ich doch nicht mit Absicht gemacht“, muss ich wohl unter den Tränen der Tracht Prügel gemurmelt haben. Heute noch träume ich, dass ich auf dünnem Eis einbreche, und anstatt mich sofort auf den Bauch zu legen, laufe ich zur Mitte, und hinter mir bricht das Eis immer weiter, wie im Film. Während meiner Hatz zur Mitte, wo das Eis ja dicker sein musste, wache ich immer auf. Heute verstehe ich, wenn jemand zu einer anderen Person sagt: „Ganz dünnes Eis“.

Zu den starken Bildern gehört natürlich noch die Familie Wünsche, der Bauernhof, der Ort Meltewitz, die vielen Tiere und die weiten Felder. Die waren bunt, manchmal gelb vom Weizen, und die Ähren sahen aus wie geflochtene Mädchenzöpfe. Es gab auch Felder mit Wildblumen, die so bunt waren, als ob hunderte von Künstlern diese Landschaft im Frühjahr bis zum Sommer gemeinsam gemalt hätten. Die Düfte und das Friedliche der Natur sind unvergessen. Das alles hat sich fest und unauslöschlich in mir eingebrannt.

Später, als ich wieder zurück zu meiner Familie im Westen kam, sind wir immer als Kinder in den Sommerferien zu meiner Oma gefahren und verbrachten eine unbeschwerte Zeit. Meine Mutter begleitete uns allein, da mein Vater ja als Berufssoldat nicht in die DDR einreisen durfte.

Der Alltag allein mit meiner Oma, Opa starb irgendwann, war ein Traum. Das Leben auf dem Bauernhof war jeden Tag spannend, und Emma passte auf mich auf, damit mich auch ja kein Fuchs stehlen konnte, so wie er das oft bei unseren Hühnern machte. Einmal in der Woche, meist freitags, wurde geschlachtet, Frettchen wurden gejagt und ich half mit, das Heu einzufahren. Jeden Nachmittag gab es Tee aus einer Emaille- oder Blechkanne. Zum Tee gab es immer so dicke „Bemmen“, also ein Butterbrot mit grober Leberwurst. Lecker. Da steh ich heute noch drauf, aber dieser besondere Geschmack des Brotes und der Wurst kam später nicht mehr zurück. Mit Heidrun hatte ich schon meine erste Freundin und das schon als Kind. Wenn das mal kein Omen sein sollte für mein späteres Leben.

Das Schlachten im Hof war als Kind immer ein Erlebnis, aber wenn Opa Wünsche den Bolzen an das Gehirn des Schweines hielt, um es zu betäuben, mussten wir Kinder kurz den Hof verlassen. Wir sollten halt nicht sehen, wie Ernst Wünsche den anschließenden Kehlenschnitt ausführte. Später erklärte man Heidrun und mir, dass das Tier ausblutet und den Schnitt nicht mehr spürt. Das Schlachten mit den frischen warmen Würsten habe ich heute noch fest gespeichert und obwohl ich weiß, was drin ist und wie ungesund es sein soll, esse ich heute noch mit Vorliebe Wurst und vieles, was ein Metzger so für uns bereithält, wenn man Glück hat, einen in seiner Nähe zu haben. Vegetarier gab es nicht in der DDR und auf dem Dorf schon gar nicht, denn Mangelwirtschaft war ein Fremdwort in der verschworenen Dorfgemeinschaft.

Hunger kannte ich also nicht, und ein Höhepunkt für uns Kinder in dieser Zeit, aber auch später, war das mehrmalige Klingeln des Eismannes. Der hielt mit seinem Wagen mit drei Rädern, das eine vorne, die anderen beiden hinten, direkt vor unserem Hoftor. Das vordere Rad war für sein Fahrrad und die hinteren zwei waren mit dem Eiswagen verbunden, der wie ein Kasten aussah und auf dem in großen roten Buchstaben das Wort „Eis“ von Hand aufgemalt war. Drei Deckel aus porzellanähnlichem Material verbargen die einzige Süßigkeit, die wir so hatten oder an die ich mich noch erinnern kann. Und immer, wenn das Klingeln zu hören war, öffneten sich wie von einem unsichtbaren Zauberstab dirigiert die grün gestrichenen Hoftore und Seitentüren der Nachbarshöfe. Hinaus stürmten wir und die anderen Kinder mit jeweils drei silbernen Groschen in der Hand.

Vorne auf den Münzen stand die 10 und das Wort Pfennig, die Zahl wurde flankiert von zwei Eichenblättern. Auf der Rückseite war das Wappen der DDR, Hammer und Zirkel abgebildet. Die Münzen waren so leicht, dass man aufpassen musste, sie nicht zu verlieren, denn sie bestanden vorwiegend aus Leichtmetall.

Eine riesige Traube von Kindern bildete sich innerhalb einer Minute um den Eismann herum. Der füllte immer in der gleichen Reihenfolge die Eiskugeln mit seinem Portionierer in die Waffel. Vanille, Erdbeere und in der Mitte oben drauf Schokolade. Schmackofatz!

Wir wohnten auf der rechten Seite der vier Kanten, eine Stiege führte hinauf in die gute Stube, ein Plumpsklo gab es auch, und als Toilettenpapier benutzte man die schon gelesenen Zeitungsausgaben des Neuen Deutschland (das offizielle Organ der DDR und einzige Zeitung) und das war hart - im wahrsten Sinne des Wortes. Später, als ich lesen konnte, habe ich immer nur den Sportteil gelesen, wenn wir regelmäßig in den Sommerferien aus dem Westen zu Besuch kamen. Mit drei oder vier Jahren konnte ich noch nicht lesen und wischte mir deshalb meinen Po auch ohne große Gedanken mit dem Zeitungspapier ab.

Geschlafen haben Oma und Opa und ich in einem Zimmer. Es war kalt im Winter, aber der Ofen in der guten Stube gab tagsüber genug Wärme ab, denn Opa sorgte für genügend Holz. Auf die Fensterscheiben malte der Winter seine kleinen und großen Sterne. Im Schlafraum gab es keinen Ofen, es war bitterkalt, und die Bettdecke war klamm und wie festgefroren. Oma aber brachte mir eine Wärmflasche und zog mir zur Nacht noch eine Ohrenmütze über. So eine, wie Soldaten sie trugen. Sie gehörte meinem Opa Ernst, war zu groß, schützte aber meinen kleinen Dickkopf.

Auf den Morgen freute man sich, denn dann füllte Oma die Waschschüssel mit heißem Wasser, das sie vorher auf der Herdplatte des Ofens zum Kochen gebracht hatte. Frischer Malzkaffeeduft stieg mir in die Nase und als ich aufstand, gab es für mich Kakao und das leckere Landbrot mit Marmelade. Opa war schon im Stall oder auf dem Feld, und ich war mit Oma allein. Das gefiel mir sehr und es fühlte sich warm und geborgen an.

Wenn der Schnee dann da war, holten Heidrun und ich unsere Schlitten heraus und ließen uns durch das Dorf bis zur Kirche ziehen. Dort war der einzige kleine Hügel zum Rodeln in der sonst flachen und kargen Landschaft.

Das war ein Spaß, und manchmal ließ ich es mir nicht nehmen, meine Freundin Heidrun allein zum Kirchberg zu ziehen, um dann mit ihr in rasanter Fahrt zwanzig Meter hinab zu fahren. Da brach dann immer großer Jubel von uns und den anderen Kindern aus dem Dorf aus. Wir waren sehr glücklich in meiner Idylle auf Zeit!

Wenn der Schnee dann eines Tages über Nacht weg war und die Sterne an den Fensterscheiben sich zusammenzogen und immer kleiner wurden, kam der Frühling und weckte den Hof und ihre Bewohner nach dem langen Winterschlaf auf. Man hörte wieder die Fuhrwerke über holpriges Kopfsteinpflaster rumpeln, um die Milchkannen, die vor dem Hof standen, mit lautem Geschepper auszutauschen. Es kam wieder das bunte Leben des Hofes zum Vorschein, und alle lachten und strahlten wieder. Die bunten Kopftücher der Frauen wirkten aus der Ferne wie kleine Farbtupfer auf einem Gemälde von Monet. Die jungen Herren hingen wie magisch angezogen an den Rockzipfeln der Mädchen und umwarben sie wie Bienen, die von Blüte zu Blüte fliegen.

Schaute man aus dem kleinen zugigen Fenster in der Stube oder dem Schlafraum, kletterten in Windeseile grüne Ranken die Fassade hinauf und das Gras im Garten stülpte wieder sein knallgrünes Kleid über. Jetzt wurde es langsam Sommer und die Vorfreude auf warme und lange Tage nahm zu. Direkt vor den Fenstern unserer Stube stand ein Kirschbaum mit Sauerkirschen. Er war fast 10 Meter hoch und hatte eine runde und lockere Baumkrone. Der Baum wuchs und im Laufe der Jahre ragten seine Zweige weit zu beiden Fenstern hinein. Das störte aber nicht, denn sie waren so schwach, dass man sie mit bloßer Hand zur Seite drücken konnte, wenn man die Fenster schließen wollte. Im Juli bediente ich mich dann ohne große Anstrengung und Opa sammelte die Kirschen in einem Korb, damit Oma sie einkochen und einwecken konnte. „Der nächste Winter kommt bestimmt“, sagte sie immer zu mir und lächelte mich fast spitzbübisch an.

Oma, Opa und ich auf unserem Hof, 1953/54

Die Wäsche wurde wieder im Freien gewaschen, hing jetzt immer im Hof auf einer Leine, und der milde Sommerwind machte aus ihnen bunte wehende Fahnen. Für die Sommersonne war der Rest ein Kinderspiel. An jedem Sommerabend saß das lustige Völkchen der Feldarbeiter mit uns allen auf dem Hof um Wünsches Gartentisch herum, aß, lachte und trank Bier. Ein Höhepunkt des Abends war das gemeinsame Singen des Schlagers „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ von Rudi Schuricke. Aber sie wandelten den Text genial um in „Wenn bei Capri die rote Flotte im Meer versinkt“, was natürlich schon in den Anfangsjahren der DDR ein großes Risiko war, denn es gab sicher schon den einen oder anderen, der bei Guck und Horch in Lohn und Brot stand. Opa Wünsche musste zur Sicherheit eingreifen und stimmte dann einfach feuchtfröhlich „Auferstanden aus Ruinen“ an, denn man wusste ja nie. Heidrun und ich tranken Brause, die wir immer selbst am Nachmittag aus der Dorfgaststätte holten und mit unserem Taschengeld bezahlten, das wir uns durch unsere Mitarbeit auf dem Feld oder Hof verdient hatten. Heidrun war für das Eiersammeln zuständig und ich kümmerte mich um die Gänse, die im Hintergarten lebten und fröhlich schnatterten. Der Garten lag hinter der großen Scheune, eine kleinere war direkt nebenan. Ein schmaler Bach, mit einem Zaun so groß wie ich damals, zur Straße hin machte das Ausbüchsen der Tiere unmöglich. Ging man durch die Scheune, musste man an Traktoren und Pferdefuhrwerken vorbei. Im Stockwerk darüber wurde das Heu eingelagert und für uns war es ein toller Ort, um uns dort hin und wieder vor den Erwachsenen zu verstecken, denn es kam schon vor, dass wir ab und zu mal Blödsinn gemacht haben. Wir waren halt Kinder - und wir waren glücklich.

Wenn man als Kind das große Glück hat, auf einem Bauernhof aufwachsen zu dürfen, ist das ein wertvolles Geschenk des Lebens. Es war zusammen mit der liebsten Großmutter der Welt das erste Fundament in meinem Leben und half mir immer wieder nach Niederlagen aufzustehen, stürmische Lebenszeiten zu verkraften, und verlieh mir die Fähigkeit, „Glück“ aufzuheben, wenn es vor mir lag.

Fußball war in beiden Teilen des Landes der Sport, der die Menschen bewegte. Dass Deutschland 1954 Fußball-Weltmeister wurde und sich ein ganzes Land dadurch veränderte, haben mir wohl alle verschwiegen, obwohl meine Oma immer auf Piek und Ulbricht, die Parteibonzen, wie ein Rohrspatz schimpfte.