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Goldene Tage im Café am Meer – Manchmal schenkt der Wind Antworten, die das Herz braucht Lina kehrt nach einem heißen Sommer voller Veränderungen in das kleine Küstendorf Sandhagen zurück. Das Café am Ende der Straße, ihr Rückzugsort und Herzstück des Dorflebens, erwartet sie mit vertrauten Düften, freundlichen Gesichtern und der stillen Erinnerung an vergangene Tage. Doch nicht alles ist so friedlich, wie es scheint: Alte Streitigkeiten, unerwartete Gäste und neue Herausforderungen rufen Lina auf den Plan. Während draußen der Herbstwind über die Wellen jagt, entdeckt Lina zwischen Kürbissen, Kerzen und duftenden Apfelkuchen die kleinen Wunder des Alltags. Sie lauscht Geschichten, die das Dorf zusammenhalten, erlebt Momente des Lachens und der Nähe, und spürt die Kraft der Erinnerungen, die wie Wegweiser durch das Leben führen. Ben, der stille Helfer mit Herz und Humor, steht ihr dabei näher als je zuvor – doch auch alte Sehnsüchte, berufliche Angebote aus der Stadt und Geheimnisse aus der Vergangenheit stellen Lina vor Entscheidungen, die alles verändern könnten. Zwischen Marktständen voller Äpfel, Abenden am Feuer und einem Café, das im Regen seine Geschichten flüstert, lernt Lina, dass das Glück oft in den kleinen Momenten steckt: in einem Lachen, das durch den Nebel dringt, in einer Umarmung im Donnern des Herbststurms, oder in einem Kuss im Licht des Sonnenuntergangs. „Goldene Tage im Café am Meer“ erzählt von Freundschaft, Liebe, Mut und der Sehnsucht nach Heimat. Ein Roman über die Kraft der Begegnungen, die Wärme der Gemeinschaft und die Schönheit eines Lebens, das sich Schritt für Schritt entfaltet. Perfekt für alle, die Herzgeschichten, Küstenidylle und den Zauber kleiner Cafés lieben – und die daran glauben, dass manchmal der Wind die Antworten bringt, die das Herz braucht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
–
Manchmal schenkt der Wind Antworten, die das Herz braucht
Clara Morgenfeld
Erste Auflage 2025
© 2025 Clara Morgenfeld
Alle Rechte vorbehalten
Der Sommer war gegangen, fast unmerklich, und doch war er fort. Lina merkte es am ersten Atemzug des Tages, als sie die Tür des Cafés öffnete. Die Luft war nicht mehr weich und salzig wie noch vor Wochen, sondern klar und kühl, als hätte das Meer über Nacht beschlossen, einen neuen Ton anzuschlagen. Ein Hauch von Rauch lag in der Ferne, irgendwo hatte jemand den Kamin angezündet.
Vor der Tür lagen die ersten Blätter verstreut, gelb und rot, als hätte jemand mit einem Pinsel Farbkleckse auf den grauen Boden getupft. Das Café wirkte im Morgenlicht anders – weniger verspielt, ernster, aber auch behaglich, wie ein Raum, der Menschen einladen wollte, wenn es draußen ungemütlich wurde.
Lina rieb sich die Arme. Der Übergang hatte sie überrascht. Gestern noch war sie barfuß durchs Dorf gelaufen, hatte das letzte Eis in der Sonne gegessen, und heute fröstelte sie, obwohl sie eine Strickjacke übergezogen hatte. „Der Herbst ist da“, murmelte sie halblaut, fast ehrfürchtig.
Drinnen war es still. Auf den Tischen lagen die frisch gewaschenen Decken, die sie im Sommer kaum gebraucht hatten. Jetzt aber würde sie sie bereitlegen – für Gäste, die draußen sitzen wollten, trotz der Kälte. Das Café fühlte sich an wie ein schlafender Freund, den man sanft wecken musste.
Sie stellte den Wasserkocher an, schaltete die Kaffeemaschine ein, hörte das vertraute Brummen und Knacken. Alltägliche Geräusche, die ihr Halt gaben. Während sie die Tassen aus dem Regal nahm, fiel ihr Blick auf das kleine Fenster zur Straße hinaus. Ben stand dort, auf der anderen Seite, die Hände in den Hosentaschen, den Blick ins Leere gerichtet.
„Schon wach?“ rief sie durch den Türspalt.
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn aus Gedanken gerissen, und nickte nur. Dann kam er herüber, schob die Tür auf und trat ein. Der Wind brachte den Geruch von feuchtem Holz mit hinein.
„Früh heute“, sagte er.
„Der Herbst lässt einen nicht länger schlafen.“ Lina lächelte vorsichtig. Sie wusste, dass er in letzter Zeit schweigsamer geworden war. Manchmal schien er an etwas zu tragen, das schwerer war als all die Holzbretter, die er täglich bewegte.
Ben nickte, sagte aber nichts. Er nahm eine Tasse, goss sich Kaffee ein und setzte sich an den Tisch neben dem Fenster. Ein Bild, das vertraut war – und doch lastete etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen.
Draußen begann das Dorf zu erwachen. Ein Fahrrad klapperte vorbei, ein Hund bellte, und irgendwo schlug eine Tür. Sandhagen im Herbst klang anders – weniger heiter, gedämpfter, fast wie ein Atemholen.
Lina sog die kühle Luft ein und spürte, wie in ihr eine seltsame Mischung aus Wehmut und Vorfreude wuchs. Der Sommer war voller Wendepunkte gewesen: das Chaos im Café, die kleinen Erfolge, das nächtliche Geständnis von Ben, der Kuss im Regen. Doch der Herbst fühlte sich an, als hielte er eigene Antworten bereit – Antworten, die sie noch nicht einmal zu erahnen wagte.
„Ein kühler Morgen,“ dachte sie, „aber vielleicht genau der richtige, um etwas Neues zu beginnen.“
Als Lina später am Vormittag durch das Dorf ging, fiel ihr sofort auf, wie sich alles verändert hatte. Im Sommer war Sandhagen voller Stimmen gewesen, Kinder hatten gelacht, Urlauber hatten mit Sand an den Schuhen nach dem Weg zum Strand gefragt. Jetzt, im Herbst, war es leiser, fast vertraulicher, als gehöre der Ort wieder nur den Menschen, die hier lebten.
Die Häuser wirkten anders im herbstlichen Licht. Die weißen Fassaden, die im Juli gleißend gestrahlt hatten, schimmerten nun weich, beinahe gedämpft. Über manchen Gartenzäunen rankten sich orangefarbene Kürbisse, und an den Fenstern tauchten erste Lichterketten auf – nicht die hellen, flackernden aus der Weihnachtszeit, sondern kleine, warme Glühbirnen, die den beginnenden Abend vertreiben sollten.
Lina blieb vor dem Blumenladen stehen. Frau Martens, die Besitzerin, stellte gerade große Eimer mit Astern und Dahlien hinaus. Dunkelrot, violett, goldgelb – es war, als hätte der Sommer seine letzten Farben zusammengenommen und in diese Blüten gegossen.
„Na, Lina!“ rief Frau Martens fröhlich. „Dein Café hat doch sicher Platz für einen Strauß, oder?“
Lina lachte. „Platz habe ich, ja. Ob ich das Geld dafür habe, ist eine andere Frage.“
Die Blumenhändlerin winkte ab. „Ach, komm schon. Nimm sie. Ein Café braucht im Herbst Farbe. Sonst sitzt doch keiner bei dir, wenn es draußen grau wird.“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, fischte sie ein paar besonders kräftige Blüten aus dem Eimer und band sie schnell mit einem Stück Bast zusammen.
Lina nahm den Strauß, überrascht von der Geste. „Danke, wirklich. Ich bringe später Kuchen vorbei.“
„Mach das. Apfelkuchen! Mit Streuseln!“ Frau Martens lachte, und in diesem Moment fühlte sich das Dorf für Lina noch ein Stück mehr nach Zuhause an.
Weiter unten, am Dorfplatz, traf sie auf zwei Männer, die Bretter abluden. Ben war auch da, seine Jacke voll Staub, und half beim Stapeln. Es war Holz für die Bühne des Herbstfestes, wie Lina sofort erkannte. Ein Fest, das jedes Jahr stattfand, aber für sie dieses Mal eine andere Bedeutung haben würde.
„Brauchen wir so viel?“ fragte sie, als sie nähertrat.
Ben schaute auf. „Das Fest soll größer werden dieses Jahr. Markus Hansen will Sponsoren einladen. Presse auch.“ Er verzog den Mund, als schmeckte ihm der Gedanke nicht besonders.
Lina nickte langsam. Sie wusste, dass Markus immer noch über das Café nachdachte – und über den Grund, auf dem es stand. Und doch war da auch eine neue Energie im Dorf. Menschen packten an, brachten sich ein, schmückten, planten.
Als sie zurück zum Café ging, den Blumenstrauß im Arm, sah sie es klarer als zuvor: Der Herbst war nicht nur die Zeit des Rückzugs, sondern auch des Neuwerdens. Farben, die anders leuchteten, Feste, die Menschen zusammenbrachten, Fragen, die auf Antworten warteten.
„Neue Farben im Dorf“, dachte sie, „und vielleicht auch in mir.“
Am Nachmittag setzte sich Lina ans große Fenster des Cafés. Es war ihr Lieblingsplatz geworden – eine alte Bank mit Kissen, von der aus man den Dorfplatz beobachten konnte. Draußen zogen Wolken über den Himmel, grau und schwer, aber hin und wieder brach ein Sonnenstrahl durch und tauchte die Fassaden in goldenes Licht.
Vor dem Fenster saß Frau Martens, die Blumenhändlerin, mit einer dampfenden Tasse in der Hand. Sie hatte es sich angewöhnt, nach Feierabend bei Lina hereinzuschauen. „Dein Café ist ein guter Ort zum Durchatmen“, sagte sie oft, und jedes Mal fühlte sich Lina bei diesen Worten ein Stück sicherer.
„Die Dahlien machen sich gut“, bemerkte Lina und deutete auf die Vase auf dem Tresen.
„Sag ich doch“, antwortete Frau Martens. „Blumen sind nicht nur Dekoration. Sie erzählen Geschichten. Jeder Strauß sagt: Hier lebt jemand, hier wird es warm.“
Noch während sie sprach, öffnete sich die Tür, und Herr Petersen, der ehemalige Fischer, trat ein. Seine Mütze hing ihm schief auf dem Kopf, und sein grauer Bart war zerzaust. „Na, Mädchen“, brummte er, „hast du auch was Starkes? So’n Herbst zieht in die Knochen.“
Lina lachte. „Kaffee stark oder Rum stark?“
„Beides wär mir am liebsten.“ Er setzte sich ans Fenster, direkt gegenüber von Frau Martens.
So ergab es sich, dass die drei eine halbe Stunde dort saßen – Lina hinter der Theke, die beiden Alten am Fenster – und über das Wetter, die Pläne fürs Herbstfest und das Leben redeten.
„Früher“, sagte Petersen, „da haben wir nach dem Sturm die Netze repariert. Heute bestellt man Fische aus der Stadt. Kein Wunder, dass alles anders wird.“
„Nicht alles“, widersprach Frau Martens. „Schau dir Lina an. Ein Café im Herbst zu führen, das braucht Mut. Das ist so etwas wie…“ Sie überlegte kurz. „Wie Netze flicken, nur eben für Menschen.“
Lina hielt mitten in der Bewegung inne, als sie Milch in eine Tasse goss. Netze flicken für Menschen – das klang so, als würde ihr Café mehr bedeuten, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Draußen lief Ben vorbei, die Ärmel hochgekrempelt, ein Stapel Bretter auf der Schulter. Er nickte kurz durchs Fenster, und Lina erwiderte den Gruß. Frau Martens folgte ihrem Blick und lächelte wissend.
„Der Junge arbeitet zu viel“, murmelte Petersen. „Aber er hat ein gutes Herz. Hab gehört, er macht das alles fürs Fest. Damit Sandhagen zeigt, was es kann.“
„Manchmal sind es die Gespräche am Fenster, die ein Dorf lebendig machen“, fügte Frau Martens hinzu. „Hier sitzen, sehen, wie die Leute vorbeigehen, und merken: Wir gehören alle zusammen.“
Lina lächelte still. Ja, genau das spürte sie. Es war mehr als Kaffee und Kuchen. Es war dieses Gefühl von Nähe, das sich durch Worte, Blicke und Geschichten am Fenster spann. Ein feines Netz, das hielt.
In den letzten Tagen war Ben anders gewesen. Lina hatte es sofort bemerkt, auch wenn er sich Mühe gab, es zu überspielen. Normalerweise kam er jeden Nachmittag kurz vorbei, trank einen Kaffee, ließ sich auf einen Stuhl fallen und erzählte vom Holz, das er zurechtsägte, oder von den Plänen fürs Dorffest. Doch nun wirkte er stiller, in sich gekehrter.
An diesem Morgen stand er vor der Tür des Cafés, die Hände tief in den Taschen, die Schultern leicht hochgezogen. Lina begrüßte ihn mit einem Lächeln, doch er erwiderte es nur flüchtig.
„Kaffee?“ fragte sie.
„Gern“, murmelte er, und seine Stimme klang tiefer als sonst.
Sie stellte die Tasse vor ihn, und er umklammerte sie, als würde er die Wärme dringend brauchen. Es dauerte, bis er den ersten Schluck nahm. Lina setzte sich ihm gegenüber, obwohl sie eigentlich noch etwas zu tun hatte. Die Gästezahl hielt sich in Grenzen – ein paar Spaziergänger, die sich nach einer heißen Schokolade sehnten, zwei ältere Damen mit Kürbissuppe – nichts, was ihre Anwesenheit unbedingt verlangte.
„Alles in Ordnung?“ fragte sie schließlich.
Er hob den Blick, als habe er nicht damit gerechnet, dass sie die Frage stellte. „Ja. Klar.“ Dann senkte er den Blick wieder und zeichnete mit dem Finger Kreise auf den Tisch.
Lina ließ die Stille stehen. Früher hätte sie versucht, das Gespräch sofort wiederzubeleben, jetzt wusste sie, dass manchmal genau das Schweigen die Tür öffnete.
Nach einer Weile atmete er tief aus. „Ich bin einfach… müde. Der Hof, die Arbeit fürs Fest, die ganzen Vorbereitungen. Es ist, als würde der Herbst nicht nur draußen die Blätter nehmen, sondern auch bei mir irgendetwas.“
Sie sah ihn an. Die Worte waren leise, fast zu leise, aber sie trafen sie.
„Du musst nicht alles allein tragen“, sagte sie vorsichtig.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und er lächelte kurz, ohne dass es seine Augen erreichte. „Manchmal geht’s nicht anders.“
Lina wollte mehr sagen, doch da kam Herr Petersen herein und bestellte lauthals seinen doppelten Espresso. Der Moment zerrann, und Ben schwieg wieder. Doch bevor er ging, legte er die Hand auf den Tresen und sah sie kurz an – ein Blick, schwerer als jedes Wort.
Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, blieb Lina einen Moment lang stehen. Sie spürte, dass in seinem Schweigen mehr lag als Müdigkeit. Etwas, das er noch nicht teilen wollte.
Und während draußen die ersten Blätter wirbelten und der Wind stärker wurde, fragte sie sich, wie viel sie wirklich über Ben wusste – und wie viel er vor der Welt verschwieg.
Der Morgen war ungewöhnlich still. Ein feiner Nieselregen hing in der Luft, und der Wind hatte die bunten Blätter über die Dorfstraße geweht, sodass sie in kleinen Haufen an den Rändern lagen. Lina trat vor die Tür des Cafés, den Schal eng um die Schultern gezogen. Sie wollte nur schnell den Briefkasten leeren, bevor die ersten Gäste kamen.
Der alte Metallkasten quietschte, als sie ihn öffnete. Meistens fand sie darin nur Werbeflyer oder Rechnungen. Doch diesmal lag ein einzelner Umschlag darin, weiß, mit einer Handschrift, die sofort auffiel: schwungvoll, altmodisch, beinahe wie gemalt.
Ihr Herz klopfte schneller, als sie den Umschlag in die Hand nahm. Auf der Vorderseite stand: Für Lina. Kein Absender. Kein Stempel. Jemand hatte ihn persönlich eingeworfen.
Sie zögerte. Kurz überlegte sie, den Brief in die Schürze zu stecken und später zu öffnen. Aber die Neugier gewann. Mit vorsichtigen Fingern riss sie den Umschlag auf.
Die ersten Worte ließen sie innehalten.
„Liebe Lina, wenn du das liest, ist es wohl an der Zeit, dass du eine Spur entdeckst, die ich dir hinterlassen habe.“
Es war Mimis Handschrift. Keine Sekunde zweifelte sie daran. Ihr Atem stockte. Mimi. Ihre Tante, deren Tod sie hierher zurückgeführt hatte, in dieses kleine Dorf, in dieses Café. Sie hatte schon einmal einen Brief von ihr gefunden, damals, als sie das Café zum ersten Mal betrat. Doch dieser hier war neu – oder besser: er war alt, aber bisher verborgen gewesen.
„Manchmal schweigen wir über Dinge, die wir lieber ausgesprochen hätten. Vielleicht aus Angst, vielleicht, weil wir glauben, der richtige Moment käme später. Wenn du das liest, dann ist später jetzt.“
Lina sank auf den Stuhl neben der Tür, die Hand hielt das Papier so fest, als könnte es ihr entgleiten. Jeder Satz war wie ein Echo aus der Vergangenheit.
„Ich weiß, dass du oft gezweifelt hast, ob du hierher gehörst, ob du je deinen Platz finden würdest. Ich habe diesen Ort geliebt, aber ich wusste, dass er nicht leicht zu tragen sein würde. Deshalb wollte ich dir etwas hinterlassen, was dir Kraft gibt: die Erinnerung daran, dass Heimat nicht nur ein Ort ist, sondern die Menschen, die man dort findet.“
Lina schluckte. Tränen brannten in ihren Augen, doch gleichzeitig breitete sich ein leises Lächeln auf ihren Lippen aus.
Der Brief war nicht lang, nur eine Seite. Aber am Ende stand etwas, das ihr Herz noch schneller schlagen ließ:
„Und wenn du denkst, dass du allein bist – schau dich um. Manche Antworten liegen direkt vor dir, in einem Blick, einem Lächeln, einer stillen Hand, die dich hält.“
Sie faltete das Papier sorgfältig zusammen. Eine seltsame Wärme durchströmte sie, obwohl der Regen inzwischen stärker geworden war und ein kühler Wind durch die Straße wehte.
Als sie aufstand, sah sie über die Dächer hinweg. Ihr Blick blieb an der Werkstatt von Ben hängen. Dort brannte Licht. Ein kleines, stilles Zeichen, dass er da war – vielleicht genau der, den Mimi meinte.
Zurück im Café legte Lina den Brief nicht in eine Schublade, sondern in das kleine Regal hinter der Theke, wo schon andere Erinnerungen standen: eine alte Kaffeemühle, ein Foto von Mimi, ein Kochbuch mit vergilbten Seiten. Der Brief gehörte dazu, nicht versteckt, sondern sichtbar.
Kurz darauf betrat Frau Ehlers das Café, tropfte Regen von ihrem Mantel und bestellte einen heißen Tee. Lina begrüßte sie herzlich, aber in ihrem Inneren war noch alles erfüllt von den Worten, die sie gerade gelesen hatte.
Ein Brief, ein paar Zeilen – und doch fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein.
Vielleicht, dachte sie, hatte Mimi ihr auch nach ihrem Tod noch Wege geöffnet. Und vielleicht war dies nur der erste von mehreren Spuren, die noch auf sie warteten.
Am nächsten Morgen hing etwas in der Luft, das Lina sofort zurückversetzte – nicht in ihre Kindheit, sondern in jene Nachmittage, an denen sie ihre Tante Mimi in der Küche des Cafés besucht hatte. Ein warmer, süßer Duft zog durch den Raum, als hätte jemand heimlich gebacken.
Dabei war Lina allein. Sie stand am Tresen, sortierte Tassen, während der Ofen hinter ihr sachte knisterte. Sie hatte gestern Abend noch spontan einen Apfelkuchen vorbereitet – eine ihrer wenigen Lieblingsrezepte, die sie von Mimi gelernt hatte. Heute war der Tag, an dem er gebacken werden sollte.
Sie atmete tief ein. Zimt, Butter, Äpfel, Vanille – ein Duft, der sich wie eine Umarmung im ganzen Café ausbreitete. Er war so dicht, dass man beinahe glauben konnte, die Wände selbst würden ihn einsaugen.
Lina lächelte. „Genau so muss es sich für Mimi angefühlt haben,“ dachte sie. Damals, wenn sie sonntags schon früh angefangen hatte, den Teig auszurollen, während im Radio alte Schlagermelodien liefen und sie mit einem Holzlöffel den Takt klopfte.
Für Lina war es mehr als ein Kuchen. Es war ein Stück Zuhause, ein Versuch, die Vergangenheit wieder in die Gegenwart zu holen.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah hinaus auf die Straße. Der Regen hatte nachgelassen, und die Blätter klebten bunt an den Pflastersteinen. Ein paar Kinder liefen mit Gummistiefeln vorbei, lachten und spritzten Wasser auf die nassen Fenster.
In diesem Moment ging die Tür auf, und der erste Gast des Tages trat ein: Herr Martens, der Postbote, mit rotem Gesicht und noch feuchten Haaren vom Regen. Er schnupperte und blieb wie angewurzelt stehen.
„Frau Lina,“ sagte er und zog die Mütze vom Kopf, „das riecht ja, als hätte der Himmel seine Bäckerei hierher verlegt.“
Lina lachte. „Apfelkuchen. Möchten Sie ein Stück, wenn er gleich fertig ist?“
„Wenn Sie mich fragen,“ antwortete er mit einem Augenzwinkern, „das ist die beste Nachricht, die ich heute zustelle.“
Während sie weiter mit Tassen klapperte, bemerkte Lina, dass immer mehr Nachbarn hereinschauten – einige nur, um den Duft einzuatmen, andere, um sich einen Kaffee zu bestellen und dabei neugierig in Richtung Küche zu schielen. Es war, als hätte der Kuchen das Dorf zusammengerufen.
Und plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das Mimi oft gesagt hatte: „Ein Café ist kein Ort für Rezepte. Es ist ein Ort für Erinnerungen. Die Rezepte sind nur der Anfang.“
Die Worte klangen jetzt nach, während der Apfelkuchen im Ofen goldbraun wurde. Lina verstand, dass es nicht nur darum ging, das Café am Laufen zu halten. Es ging darum, Momente zu schaffen, an die man sich noch lange erinnern würde – genauso wie dieser Duft, der jetzt alle zusammenführte.
Als die Uhr ein leises Klingeln von sich gab, holte sie den Kuchen heraus. Der Teig war perfekt aufgegangen, die Äpfel glänzten, der Zimt hatte eine dünne, süße Kruste gezaubert. Einen Augenblick lang stand Lina einfach nur da und ließ den Anblick auf sich wirken.
Sie schnitt das erste Stück ab, stellte es auf einen Teller und trug es Herrn Martens an den Tisch. Er nahm die Gabel, probierte und schloss die Augen.
„So,“ murmelte er, „schmeckt Kindheit.“
Lina spürte ein Ziehen im Herzen. Ja – genau das war es. Nicht der Kuchen selbst, sondern das Gefühl dahinter.
Und während sich nach und nach die Stimmen der Gäste im Raum vermischten, wusste sie: Vielleicht war sie auf einem guten Weg, Mimi tatsächlich ein kleines Stück lebendig zu halten.
Nachdem die letzten Gäste gegangen waren und nur noch der süße Duft des Apfelkuchens in der Luft hing, setzte sich Lina an den alten Holztisch am Fenster. Ein paar leere Tassen standen noch herum, daneben die Krümel vom Nachmittag. Sie schob alles beiseite und griff nach einem Gegenstand, der den ganzen Tag in ihrer Tasche auf sie gewartet hatte: Mimis Rezeptbuch.
Es war mehr als nur ein Kochbuch. Schon der Einband verriet seine Geschichte – abgewetztes Leder, ein kleiner Riss am Rücken, die Ecken rundgedrückt vom ständigen Blättern. Als Lina mit den Fingern darüberstrich, meinte sie fast, die Wärme der Hände ihrer Tante noch zu spüren.
Langsam schlug sie es auf. Die Seiten waren vergilbt, an manchen Stellen mit Mehlstaub gesprenkelt, an anderen klebte noch ein winziger Tropfen Schokolade oder ein Ring aus Kaffee. Aber das Schönste war Mimis Handschrift: schwungvoll, mit kleinen Schnörkeln, manchmal so hastig hingeworfen, dass man zweimal hinschauen musste, um die Worte zu entziffern.
„Zwei Äpfel mehr, wenn Gäste bleiben.“ „Niemals sparen am Zimt.“ „Ein Schuss Rum für schlechte Tage.“
Lina musste lächeln. Es war nicht nur eine Sammlung von Rezepten, es war ein Tagebuch des Alltags. Zwischen den Zeilen standen kleine Notizen, Erinnerungen, manchmal auch Namen von Menschen, die vermutlich irgendwann ein Stück von diesem Kuchen, jenem Brot oder jener Torte bekommen hatten.
Sie blätterte weiter. Da war das Rezept für den Mohnkuchen, den Mimi immer sonntags gebacken hatte, wenn ihre Freundinnen vom Chor nach der Messe vorbeikamen. Und daneben, in roter Tinte, eine Erinnerung: „Anna hat heute zum ersten Mal wieder gelacht.“
Plötzlich spürte Lina, wie ihre Augen brannten. Sie konnte förmlich sehen, wie Mimi damals am Tisch saß, lachte, den Teig knetete, Geschichten erzählte und dabei dieses Buch neben sich liegen hatte – nie als Pflicht, sondern als Begleiter.
Mit einem tiefen Atemzug lehnte Lina sich zurück. Es war seltsam, wie sehr man einen Menschen in solchen Details wiederfinden konnte. Nicht in großen Gesten oder Erinnerungen an besondere Tage, sondern in den kleinen Dingen: einer schiefen Notiz, einem Fettfleck am Rand, einer hingekritzelten Erinnerung zwischen zwei Mengenangaben.
Sie blätterte weiter und blieb an einer Seite hängen, die fast ganz leer war. Nur ein Satz stand dort: „Manchmal ist das Leben kein Rezept. Manchmal ist es ein Versuch.“
Lina fuhr mit dem Finger über die Tinte, die schon leicht verblasst war. Es war typisch Mimi – nicht alles festlegen, auch Raum für das Ungeplante lassen. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Das Buch fühlte sich in ihren Händen an wie ein Vermächtnis. Es war, als hätte Mimi gewusst, dass es eines Tages Lina sein würde, die diese Seiten aufschlagen und nach Antworten suchen würde. Und vielleicht, dachte Lina, waren diese Antworten gar nicht in den genauen Grammangaben oder Backzeiten zu finden, sondern in den Zwischenräumen, in der Haltung, mit der Mimi das Leben betrachtet hatte.
Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Wieder war da der Restduft des Apfelkuchens, gemischt mit dem Papiergeruch des alten Buches. Ein Gefühl breitete sich in ihr aus: nicht nur Traurigkeit, sondern auch eine Art Geborgenheit.
Lina schlug die letzte Seite auf. Dort klebte ein kleiner Zettel, offenbar nachträglich hineingeschoben. Die Schrift war noch unordentlicher als sonst, fast so, als sei sie in Eile geschrieben worden.
„Für dich, Lina. Falls du dich jemals fragst, ob du das schaffst: Ja. Du schaffst es. Immer.“
Der Kloß in ihrem Hals wurde größer, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie legte die Hand auf den Zettel, so als wollte sie die Worte festhalten, sie einprägen, bevor sie davonflogen.
Es war, als würde Mimi selbst durch die Seiten hindurch sprechen – als hätte sie vorausgeahnt, dass Lina eines Tages hier sitzen und genau diese Bestätigung brauchen würde.
Langsam klappte sie das Buch wieder zu. Es lag nun vor ihr wie ein Schatz, ein stiller Begleiter für alles, was noch kommen sollte. Und während draußen der Wind Blätter gegen die Scheibe trieb, wusste Lina: Solange sie Mimis Rezepte hatte, hatte sie auch ein Stück von ihr – und vielleicht auch den Mut, ihr eigenes Rezept für das Leben zu finden.
Der nächste Morgen begann harmlos. Lina hatte beschlossen, eines der Rezepte aus Mimis Buch auszuprobieren – den berühmten Pflaumenkuchen, der jedes Jahr im Herbst die Nachbarschaft ins Café gelockt hatte. Die Pflaumen waren frisch vom Markt, der Teig bereit, und Lina summte leise vor sich hin, während sie die Backform einfettete.
Doch gleich beim ersten Schritt lief etwas schief: Sie griff nach der Zuckerdose und merkte zu spät, dass der Deckel locker saß. Mit einem lauten Plumps landete die Hälfte des Inhalts auf der Arbeitsfläche, auf dem Boden und – zur Krönung – auf ihrer Schürze.
„Na wunderbar“, murmelte sie und wischte vergeblich mit der Handfläche über die klebrigen Kristalle. Statt aufzuräumen, griff sie nach dem Mehl, nur um festzustellen, dass der Beutel unten ein Loch hatte. Ein weißer Staubregen legte sich über den Tisch, die Rezepte und schließlich über Lina selbst.
In diesem Moment betrat Ben die Küche. Er blieb wie angewurzelt in der Tür stehen, musterte sie und zog nur eine Augenbraue hoch. „Willst du backen oder dich als Schneemann verkleiden?“
Lina prustete los, und schon war die Katastrophe nicht mehr ganz so schlimm. Sie schüttelte die Haare aus, was natürlich nur dafür sorgte, dass eine neue Wolke aus Mehl durch den Raum stob und Ben mitten ins Gesicht traf.
„Jetzt siehst du selbst nicht besser aus“, konterte sie lachend.
Ben tat so, als würde er streng schauen, doch die Lachfalten um seine Augen verrieten ihn. „Ich glaub, Mimi hätte das Rezept ein bisschen… ordentlicher angegangen.“
„Mimi hatte auch mehr Übung“, gab Lina zurück. „Und vermutlich kein Loch im Mehlbeutel.“
Sie arbeiteten schließlich doch weiter, doch die Pannen hörten nicht auf. Ein Ei landete auf der Arbeitsplatte statt in der Schüssel, die Pflaumen flutschten ständig aus den Händen, und beim Versuch, den Kuchen in den Ofen zu schieben, verbrannte Lina sich leicht die Finger.
„Aua!“ Sie schüttelte die Hand und biss die Zähne zusammen.
Ben griff sofort nach einem nassen Tuch und legte es ihr sanft auf die Haut. „Langsam, Lina. Das Café wird nicht davonlaufen, wenn du dir eine Minute Zeit nimmst.“ Seine Stimme war so ruhig, dass sie für einen Moment alles andere vergaß.
Doch bevor es zu ernst werden konnte, passierte die nächste Panne: Die Backform kippte leicht zur Seite, und ein Teil des Teigs schwappte heraus – direkt auf Bens Schuh.
Sie hielten beide inne, schauten zuerst auf den klebrigen Schuh, dann einander an. Einen Herzschlag lang war Stille, dann brachen beide gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.
Es war dieses befreiende Lachen, das man nicht steuern konnte, das alles andere mit sich riss – die Unsicherheit, die Trauer, die Zweifel. Für einen Moment war nur dieses Chaos wichtig, und dass sie es gemeinsam erlebten.
Als der Kuchen schließlich – halbwegs unversehrt – aus dem Ofen kam, war er weder besonders hübsch noch perfekt aufgegangen. Aber er duftete köstlich, und als sie das erste Stück probierten, war er saftig und süß, genau wie in Mimis Erinnerungen beschrieben.
„Na siehst du“, sagte Ben mit einem zufriedenen Nicken, „am Ende zählt der Geschmack, nicht der Weg dorthin.“
„Oder die Schuhe“, fügte Lina lachend hinzu.
Sie setzten sich an den Küchentisch, jeder mit einem Teller Kuchen vor sich. Während draußen der Wind die ersten Blätter über den Hof trieb, fühlte es sich für Lina plötzlich so leicht an. Als hätte dieser chaotische Vormittag etwas von der Schwere genommen, die seit Wochen auf ihr lastete.
Missgeschicke konnten nerven, sie konnten anstrengend sein – doch manchmal, so stellte Lina fest, waren sie genau das, was man brauchte: eine Erinnerung daran, dass das Leben nicht perfekt sein musste, um schön zu sein.
Und während Ben noch ein Stück Kuchen abschnitt, dachte sie, dass Mimi wahrscheinlich genau das gewollt hätte – ein Café voller Lachen, auch wenn zwischendurch mal ein Schuh klebrig wurde.
Der Nachmittag war ruhig. Ein paar Stammgäste saßen auf der Terrasse, tranken Kaffee und ließen sich von den ersten kühlen Herbstwinden nicht stören. Lina hatte gerade die Tassen aus der Küche geholt, als sie bemerkte, dass ein älterer Herr den Weg zum Café heraufging. Er stützte sich schwer auf seinen Stock, trug eine Schirmmütze und einen wettergegerbten Mantel, der schon bessere Tage gesehen hatte.
„Guten Tag, die junge Dame“, sagte er mit fester Stimme, als er die Tür öffnete. „Ist das hier noch immer das Café von Mimi?“
Lina nickte überrascht. „Ja – also, es war ihr Café. Ich… ich führe es jetzt weiter.“
Der Mann lächelte, und für einen Moment blitzte in seinen Augen etwas Warmes auf. „Das hätte Mimi gefallen. Ich bin Johann Thomsen. Manche nennen mich noch Hans. Ich war… nun ja, man könnte sagen, ein treuer Gast. Vor vielen Jahren.“
Lina bot ihm einen Platz am Fenster an, und er setzte sich langsam, vorsichtig, als wären die Bewegungen schwer geworden mit den Jahren. Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee hin, dazu ein Stück von dem Pflaumenkuchen, der am Vormittag trotz aller Pannen gelungen war.
„Danke, Kind“, sagte er und strich sich mit der Hand über den Bart. „Weißt du, ich habe hier so manches Stück Kuchen gegessen. Und ich habe Mimi mehr Geschichten erzählt, als sie vermutlich hören wollte.“
Lina lächelte. „Das kann ich mir vorstellen. Sie hatte eine Art, Menschen zum Reden zu bringen.“
Johann nickte und schien in Gedanken abzutauchen. „Ich war Fischer, fast mein ganzes Leben. Als ich noch jung war, kam ich oft nach einer Nacht draußen auf dem Meer direkt hierher. Mimi hat mir dann heißen Kaffee hingestellt, ohne dass ich etwas sagen musste. Manchmal hat sie nur genickt, und das war genug. Sie konnte zuhören, ohne zu urteilen.“
Er nahm einen Bissen vom Kuchen, kaute langsam und seufzte dann leise. „Fast so wie früher. Es schmeckt, als wär sie noch hier.“
Lina spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Es war schön zu hören, dass der Geschmack Erinnerungen wachrufen konnte, aber es machte auch bewusst, wie groß die Lücke war, die Mimi hinterlassen hatte.
„Erzählen Sie mir mehr von ihr“, bat Lina schließlich. „Ich kenne sie ja nur als meine Tante. Aber das Café war ihr Leben, und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich noch gar nicht alles von ihr weiß.“
Johann lehnte sich zurück, sein Blick wanderte aus dem Fenster, wo das Herbstlicht durch die bunten Blätter fiel. „Mimi hatte ein Herz, das größer war als dieses Dorf. Aber sie hat es nie hinausgetragen – sie wollte, dass die Menschen hierherkommen. Und weißt du, sie hatte ein Talent: Sie konnte jede noch so traurige Geschichte in etwas verwandeln, das Hoffnung schenkte.“
Er lächelte bei der Erinnerung. „Ich weiß noch, als mein Boot bei einem Sturm fast verloren ging. Ich saß hier, durchnässt, verzweifelt, und dachte, das war’s. Mimi hat mir eine Decke gegeben, einen Kuchen hingestellt und gesagt: ‚Solange du atmen kannst, kannst du auch neu anfangen.‘ Das hab ich nie vergessen.“
Lina lauschte gebannt. Diese Worte klangen so sehr nach Mimi – schlicht, aber tief.
Eine Weile sprachen sie noch über kleine Episoden: Feste im Sommer, Winterabende bei Kerzenschein, und wie Mimi es verstand, Menschen miteinander zu verbinden, die sonst kaum ein Wort gewechselt hätten.
Als Johann sich schließlich erhob, stützte er sich schwer auf seinen Stock, doch sein Lächeln wirkte leichter. „Mach weiter so, Kind. Das Café braucht dich – und das Dorf auch. Mimi hätte gewollt, dass hier noch viele Geschichten erzählt werden.“
Lina begleitete ihn zur Tür und sah ihm nach, wie er langsam den Weg hinunterging. Ein leiser Wind wirbelte Blätter über den Hof, und sie dachte, dass Mimi vielleicht wirklich noch da war – in den Erinnerungen der Menschen, in den Rezepten, im Duft von Kaffee und Pflaumenkuchen.
Und vielleicht, so spürte Lina zum ersten Mal an diesem Tag, war sie nicht nur die Erbin eines Cafés, sondern auch die Hüterin all dieser Geschichten.
Der Abend senkte sich langsam über Sandhagen, und die letzten Gäste waren gegangen. Lina räumte die Tische ab, stellte die Stühle ordentlich zurück und wischte über die Holzflächen, die noch den Glanz der letzten Sonnenstrahlen einfingen. Das Café lag still, nur das Knacken des alten Balkens in der Ecke war zu hören, wenn sich das Gebälk mit der kühlen Nachtluft zusammenzog.
Eigentlich war sie müde – der Tag hatte viel Kraft gekostet. Die Missgeschicke am Vormittag, das Chaos beim Kuchenbacken, der unerwartete Besuch des alten Johann Thomsen – alles hatte sie aufgewühlt. Und doch war da jetzt ein anderes Gefühl in ihr: ein ruhiges, sanftes Leuchten, das sie nicht genau benennen konnte.
Sie stellte sich an die große Fensterfront und sah hinaus. Das Dorf lag in ein goldenes Abendlicht getaucht, und über den Feldern schwebte ein Hauch von Nebel. Der Wind trug den Geruch von feuchter Erde und Herbstlaub hinein. Für einen Moment hatte Lina das Gefühl, als würde das Café sie umarmen – als hätte es eine eigene Seele, die ihr zuflüsterte: „Du bist hier richtig.“
Lina legte die Hand auf die alte Fensterbank, spürte das raue Holz unter den Fingerspitzen. Es war, als berührte sie nicht nur das Material, sondern auch die vielen Jahre, die hier schon vergangen waren. Die Stimmen, die Geschichten, das Lachen der Gäste – alles schien noch im Raum zu schweben, als hätte das Café sie gespeichert.
Langsam ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, zündete eine kleine Kerze an und atmete tief durch. Mit dem schwachen Licht wirkte der Raum fast feierlich, beinahe sakral. Es war kein kaltes Geschäft, das sie übernommen hatte – es war ein Ort voller Leben, Erinnerungen und Wärme.
Ihre Gedanken schweiften zu Johann. Seine Worte hatten sie tief berührt: „Mimi hätte gewollt, dass hier noch viele Geschichten erzählt werden.“ Sie spürte, dass es nicht nur um Kaffee oder Kuchen ging, sondern darum, Menschen etwas zu geben, das größer war – ein Gefühl von Geborgenheit, von Dazugehören.
Lina nahm einen Schluck Tee, den sie sich schnell noch aufgebrüht hatte. Er schmeckte nach Apfel und Zimt, und die Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie dachte an die letzten Wochen, an ihr Zögern, an die Unsicherheit, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und jetzt, in diesem Augenblick, war da kein Zweifel mehr.
Vielleicht, so dachte sie, bestand das Glück nicht aus großen Gesten, sondern aus genau solchen Momenten: Ein Raum, der gefüllt war mit Kerzenlicht, Erinnerungen und dem Versprechen, dass morgen neue Geschichten hinzukommen würden.
Sie hörte Schritte auf dem Hof. Ben kam noch einmal vorbei, um nach den Fensterläden zu sehen. Er trat ein, nickte ihr nur zu und begann wortlos, die schweren Holzläden zu schließen. Doch als er sie so am Tisch sitzen sah, blieb er stehen. „Alles gut bei dir?“ fragte er leise.
Lina lächelte. „Ja. Ich glaube, alles ist gut.“
Er sah sie einen Moment lang an, als wolle er ihre Worte prüfen, und dann schmunzelte er. „Dann ist das Café bei dir in den richtigen Händen.“
Als er gegangen war, blieb Lina noch eine Weile sitzen. Draußen war es nun dunkel, und die Kerze flackerte im Luftzug. Doch statt Leere fühlte sie Wärme. Sie war nicht allein, nicht in diesem Haus, nicht in diesem Dorf.
Und so schloss sie die Augen, lauschte dem Knistern des Holzes und wusste: Dieses Gefühl von Wärme würde sie durch alle kommenden Tage tragen.
Der Morgen begann mit einem eigentümlichen Schweigen. Als Lina die Tür des Cafés öffnete, schlug ihr keine sanfte Brise entgegen, sondern eine schwere, drückende Luft. Der Himmel über Sandhagen wirkte wie mit grauer Kreide verschmiert, die Sonne schien sich hinter dichten Schichten aus Wolken zu verstecken. Weit draußen am Horizont türmten sich dunkle Gebilde auf, die unheilvoll wirkten.
Lina blieb einen Moment auf der Schwelle stehen und sog die Luft tief ein. Sie schmeckte salzig, stärker als sonst, und in der Ferne hörte sie das Rauschen des Meeres – wilder, unruhiger. Es klang, als sei das Meer selbst ungeduldig.
„Es kommt ein Sturm,“ murmelte Ben, der plötzlich neben ihr auftauchte. Sie hatte nicht gehört, wie er sich näherte. Er trug seine Jacke locker über die Schulter und blickte hinaus auf die Wolkenfront. „Manchmal kündigt sich der Herbst nicht mit buntem Laub an, sondern mit einem Schlag gegen die Küste.“
Lina nickte, fühlte sich gleichzeitig beklommen und lebendig. Stürme hatten sie schon immer fasziniert, doch hier am Meer wirkten sie größer, mächtiger, als würde die Natur ihre eigene Sprache sprechen – eine, die man besser ernst nahm.
Im Café war es warm, doch das Licht hatte sich verändert. Es fiel gedämpft durch die Scheiben, und die Schatten in den Ecken wirkten länger, als sie sollten. Lina zündete vorsorglich einige Kerzen an, obwohl es erst Vormittag war. Der Gedanke, dass vielleicht bald Regen gegen die Fenster peitschen würde, ließ sie frösteln.
Während sie die Kaffeemaschine vorbereitete, schweiften ihre Gedanken ab. Dunkle Wolken am Himmel – dunkle Wolken auch in ihr? Seit Tagen spürte sie, dass Ben etwas beschäftigte. Sein Schweigen war schwerer geworden, nicht unfreundlich, eher wie ein Stein, den er mit sich herumtrug. Sie wollte ihn fragen, doch gleichzeitig zögerte sie. Vielleicht war der Sturm draußen nur ein Spiegel dessen, was zwischen ihnen hing.
Die ersten Gäste kamen, Bauern vom Feld, die den Tag nicht mehr draußen verbringen konnten. Ihre Stiefel waren mit Erde bedeckt, und ihre Stimmen klangen lauter als sonst, als wollten sie das Wetter übertönen. Einer von ihnen meinte: „Wenn das so weiterzieht, dann sind wir morgen abgeschnitten.“ Lina reichte ihnen Tassen mit dampfendem Kaffee, froh darüber, dass das Café ein Zufluchtsort war – ein Ort, an dem Wärme und Geborgenheit trotz des drohenden Sturms Platz fanden.
Doch während sie durch die Fenster blickte, konnte sie den Anblick nicht ignorieren: Die Wolken ballten sich dichter, der Wind ließ die Baumkronen wanken, und das Meer rollte mit weißen Schaumkämmen auf den Strand zu. Es war, als würde eine Grenze überschritten, als stünde etwas bevor, das man nicht aufhalten konnte.
Am Nachmittag, als die Gäste gegangen waren, trat Lina mit einer Tasse Tee nach draußen. Der Wind zerrte an ihrem Haar, und sie musste die Tasse festhalten, damit sie nicht überlief. Sie blickte hinaus aufs Meer, das wie ein einziges dunkles Tuch wirkte, von grauen und schwarzen Wellen durchzogen. Ein Anblick, der zugleich furchterregend und majestätisch war.
„Manchmal,“ sagte eine Stimme hinter ihr – es war Ben –, „brauchen wir Stürme, damit wir uns daran erinnern, wie stark wir sind.“
Lina drehte sich zu ihm um. Sein Blick war ernst, aber in seinen Augen glomm ein Funken, als hätte er etwas gesagt, das nicht nur aufs Wetter passte. Sie wollte etwas erwidern, doch der Wind nahm ihr die Worte. Stattdessen standen sie schweigend nebeneinander, die Tassen in der Hand, und sahen den Wolken entgegen, die nun endgültig die Sonne verschluckten.
Und tief in ihr wusste Lina: Der Herbst brachte nicht nur Regen und Wind – er brachte Prüfungen. Für das Café. Für sie. Vielleicht auch für ihr Herz.
Der Sturm hatte die Nacht über das Dorf fest im Griff gehabt. Regen trommelte gegen die Fenster, und das Pfeifen des Windes hatte Lina immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Am Morgen war es stiller geworden, doch die Ruhe fühlte sich nicht wie Entspannung an – eher wie das kurze Luftholen, bevor es erneut losging.
Lina trat barfuß in die Küche, den dicken Pullover übergestreift, und setzte Wasser für Kaffee auf. Das Café musste heute trotzdem öffnen, dachte sie, selbst wenn kaum jemand kommen würde. Gerade an solchen Tagen brauchten die Menschen Wärme – und Gesellschaft.
Als sie ihre Tasse in der Hand hielt, hörte sie das leise Klacken des Briefkastens. Sie runzelte die Stirn. Um diese Uhrzeit? Meist kam die Post doch später. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, öffnete die Tür und sah, wie der Wind ein paar nasse Blätter durch die Gasse wirbelte. Im Kasten lag nur ein einziger Umschlag, unscheinbar weiß, aber sauber und ordentlich adressiert.
Zurück im Café setzte sie sich an den großen Holztisch, drehte den Umschlag in den Fingern. Absender: Hamburg. Schon der Anblick des Wortes ließ ihr Herz schneller schlagen. Hamburg – ihre alte Heimat, das Leben, das sie zurückgelassen hatte. Mit einem Ruck öffnete sie den Umschlag.
Die Buchstaben auf dem Papier wirkten streng und nüchtern:
„Sehr geehrte Frau Jansen, wir möchten uns noch einmal herzlich bedanken, dass Sie sich bei uns beworben haben. Aufgrund aktueller Entwicklungen in unserem Team möchten wir Ihnen mitteilen, dass die Stelle in unserem Verlagshaus wieder vakant wird. Sollten Sie weiterhin Interesse haben, freuen wir uns auf eine Rückmeldung.“
Lina las den Text drei Mal, als müsse sie erst begreifen, was er bedeutete. Ein Job. In Hamburg. Ein Platz, von dem sie einst geträumt hatte. Stabilität, Karriere, ein Gehalt, das keine Sorgen kannte. All das, was hier in Sandhagen noch so zerbrechlich wirkte.
Sie legte das Papier auf den Tisch, starrte auf die klaren Druckbuchstaben. Plötzlich hörte sie hinter sich das Klirren von Tassen – Ben war hereingekommen. „Was ist das?“ fragte er beiläufig, deutete mit einem Nicken auf den Umschlag.
Lina schüttelte den Kopf. „Nur… Post.“ Ihre Stimme klang zu schnell, zu dünn. Sie konnte ihm nicht sofort erzählen, dass ihre alte Welt anklopfte. Dass die Entscheidung, die sie geglaubt hatte, längst getroffen zu haben, plötzlich wieder im Raum stand.
Ben sagte nichts. Er räumte Geschirr in die Regale, stellte Wasser auf. Aber Lina spürte, dass er sie ansah. Dieses Schweigen zwischen ihnen war schwerer als jede Frage.
Sie nahm den Brief wieder in die Hand, diesmal fester, als könne sie dadurch die Worte verschwinden lassen. Hamburg. Ein Wort, das so viel bedeutete: Kindheit, Studium, Träume – und auch die Rastlosigkeit, die sie hier am Meer hinter sich lassen wollte.
Die Glocke über der Tür klingelte, ein älterer Fischer trat ein, triefend nass vom Regen. „Morgen, Lina,“ sagte er, zog seinen Hut. „Gibt’s was Warmes?“
Sie zwang sich zu einem Lächeln, nahm ihm die Jacke ab, stellte Kaffee auf den Tisch. Und während sie ihm zusah, wie er die Hände an der Tasse wärmte, spürte sie den Zwiespalt noch deutlicher. Hier war das Leben, das sich warm und lebendig anfühlte. Aber dort war das Versprechen von Sicherheit, von geordneten Wegen.
Draußen zog der Himmel wieder dunkler zu. Ein neuer Schauer prasselte auf das Dach. Lina stand da, den Brief in der Hand, und wusste: Dieser Sturm war nicht nur aus Regen und Wind gemacht. Er war auch aus Erinnerungen und Entscheidungen geformt.
Und sie ahnte, dass er noch lange nicht vorbei war.
Der Regen hatte Sandhagen fest im Griff, doch schlimmer als die Wetterlaunen schien an diesem Tag die Stimmung unter den Dorfbewohnern zu sein. Als Lina am späten Nachmittag die Tür des Cafés öffnete, wehte ihr nicht nur feuchte Herbstluft entgegen, sondern auch erhitzte Stimmen, die von der kleinen Gasse herüberhallten.
Neugierig – und mit einem mulmigen Gefühl – trat sie hinaus. Vor dem Tante-Emma-Laden hatten sich mehrere Leute versammelt. Sie erkannte Frau Kröger, die resolute Besitzerin, die mit verschränkten Armen und erhobener Stimme sprach. Gegenüber stand Herr Petersen, der Fischer, und schüttelte den Kopf, während er wild gestikulierte. Dazwischen mischten sich weitere Stimmen – manche laut, manche beschwichtigend.
„Das Café zieht uns die Kundschaft ab!“, rief Frau Kröger und sah Lina direkt an, als sie näherkam. „Früher kamen die Leute zu mir für ihren Kaffee, für ihre Brötchen. Jetzt sitzen sie bei dir und trinken Cappuccino.“
Lina stockte der Atem. So offen hatte ihr noch niemand Vorwürfe gemacht. „Frau Kröger, das kann doch nicht… ich meine, es ist doch etwas völlig anderes,“ versuchte sie vorsichtig. Doch schon meldete sich Herr Petersen zu Wort: „Unsinn! Endlich haben wir einen Ort, an dem man zusammenkommen kann. Dein Laden bleibt trotzdem wichtig, Kröger! Ohne dich hätten wir nichts im Dorf.“
Doch Frau Kröger ließ sich nicht beruhigen. „Ein Dorf verträgt nicht alles doppelt. Erst stirbt die Bäckerei, dann mein Laden. Und am Ende? Da sitzen wir alle auf der Straße!“
Die Stimmen wurden lauter. Ein paar Jugendliche, die zufällig vorbeikamen, mischten sich lachend ein, einer rief: „Ach, das Café ist das Beste, was Sandhagen je hatte!“ – was die Wogen natürlich nicht glättete.
Lina fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sie wollte weder jemanden verdrängen noch eine Spaltung im Dorf verursachen. Im Gegenteil – sie war hierhergekommen, weil sie den Zusammenhalt so geschätzt hatte. Und nun war es ihr Café, das den Keil zwischen die Menschen zu treiben schien.
Da trat Ben neben sie. Er hatte das Stimmengewirr wohl vom Café aus gehört. „Hört mal,“ sagte er ruhig, aber bestimmt, „wir sind doch alle aufeinander angewiesen. Das Café nimmt niemandem etwas weg. Es bringt uns Gäste ins Dorf, Menschen von außerhalb, die vielleicht auch bei dir, Kröger, einkaufen. Anstatt gegeneinander zu arbeiten, sollten wir das nutzen.“
Ein Murmeln ging durch die Menge. Manche nickten, andere blieben stur. Frau Kröger jedoch senkte schließlich den Blick, ohne etwas zu sagen. Sie wandte sich ab und ging zurück in ihren Laden, die Tür fiel mit einem lauten Schlag ins Schloss.
Lina atmete tief durch. Der Rest der Leute zerstreute sich langsam, manche klopften ihr aufmunternd auf die Schulter, andere blieben skeptisch. Nur Herr Petersen blieb noch kurz stehen. „Mach dir nichts draus,“ sagte er leise. „Die Kröger hat’s schwer, ihr Mann ist krank, und das Geschäft läuft nicht mehr so wie früher. Da sieht sie in allem Konkurrenz.“
Als Lina wenig später wieder im Café stand, die Tür hinter sich geschlossen hatte, spürte sie die Nachwirkungen dieses Augenblicks. Zum ersten Mal zweifelte sie daran, ob ihre Anwesenheit im Dorf wirklich nur Gutes brachte. War sie eine Bereicherung – oder eine Bedrohung für das, was hier über Jahre gewachsen war?
Ben legte ihr eine Hand auf den Rücken. „Lass dich nicht unterkriegen,“ sagte er. „Streit gehört dazu. Aber glaub mir: Mehr Leute stehen hinter dir, als du denkst.“
Lina nickte, doch innerlich war sie aufgewühlt. Der Sturm draußen hatte sich gelegt – aber in Sandhagen war ein anderer entfacht, und sie wusste nicht, wie lange er noch toben würde.
Die Nacht hatte sich wie ein schwerer Mantel über Sandhagen gelegt. Im Café war es still, nur das leise Ticken der alten Uhr an der Wand füllte den Raum. Lina saß allein an einem der Tische, eine dampfende Tasse Tee vor sich, die sie längst nicht mehr anrührte. Der Streit vom Nachmittag hallte in ihrem Kopf nach wie ein Echo, das sich nicht vertreiben ließ.
Sie hatte geglaubt, im Dorf angekommen zu sein. Hatte gedacht, dass die Menschen ihre Bemühungen sehen, dass sie spürten, wie sehr sie das Café nicht nur für sich, sondern für die Gemeinschaft wiederbeleben wollte. Und doch hatte der Blick von Frau Kröger sich in ihr Herz gebohrt: anklagend, voller Enttäuschung, vielleicht sogar Angst.
„Bin ich wirklich schuld daran?“, murmelte Lina, mehr zu sich selbst als in den Raum hinein. Sie erinnerte sich an ihre ersten Tage hier, an das Staubschlaf-Café, an Mimis Handschrift in jeder Ecke. Damals hatte es sich nach einem Geschenk angefühlt, nach einem neuen Anfang, nach Hoffnung. Doch heute… heute schien es, als würde sie etwas zerstören, statt aufzubauen.
Der Tee war inzwischen kalt geworden, doch Lina nahm die Tasse trotzdem in beide Hände, als wolle sie sich an ihr festhalten. Ein Gedanke kroch in ihr hoch, den sie monatelang erfolgreich verdrängt hatte: Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Vielleicht hatte Hamburg doch recht – mit seinen Angeboten, seiner Sicherheit, seiner klaren Struktur. Dort hätte sie nicht um ihre Daseinsberechtigung kämpfen müssen.
Ein Windstoß ließ die Scheibe erzittern, und Lina hob den Blick. Draußen peitschte der Regen gegen die Fenster, als wollte auch das Meer ihr sagen: „Du gehörst nicht hierher.“ Sie atmete tief durch, doch die Enge in ihrer Brust ließ sich nicht vertreiben.
Da klopfte es leise an der Tür. Sie zuckte zusammen, stand auf und öffnete. Ben stand draußen, durchnässt vom Regen, eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. „Du bist ja noch hier,“ sagte er sanft, als er eintrat und die Tropfen von seiner Jacke abklopfte.
„Wo sollte ich auch hin?“ Linas Stimme klang brüchiger, als sie wollte. Sie setzte sich wieder an den Tisch, Ben folgte ihr.
Er musterte sie einen Moment, dann legte er die Hände auf den Tisch, als wolle er die richtigen Worte suchen. „Du zweifelst wieder, nicht wahr?“