Weihnachtswunder im Café am Meer - Clara Morgenfeld - E-Book
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Weihnachtswunder im Café am Meer E-Book

Clara Morgenfeld

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Beschreibung

Zwischen Nordseewind, Lichterglanz und dem Duft von Sanddorn und Zimt entfaltet sich ein neues Kapitel der beliebten Reihe „Das Café am Meer“ – voller Wärme, Gemeinschaft und leiser Magie. Ein Advent voller erster Male. Als Lina Bergmann, ehemalige Marketingmanagerin und inzwischen Herz und Seele des kleinen Cafés am Meer in Sandhagen, auf dem Dachboden von Tante Mimi eine alte Kiste mit vergilbten Zetteln entdeckt, ahnt sie nicht, dass sie einen ganzen Winter verändern wird. Denn in der Kiste steckt ein Adventskalender, handgeschrieben – 24 Aufgaben, jede ein „erstes Mal“. Gemeinsam mit Ben, dem stillen Schreiner, Hella, der exzentrischen Operndiva, Sima, der lebensfrohen Köchin, Finn, dem jungen Filmemacher, und Paul, dem weisen Imker, beschließt Lina, den Kalender im Café lebendig werden zu lassen. Jeden Tag öffnen sie einen neuen Zettel – und mit ihm ein kleines Abenteuer, ein Gefühl, eine Erinnerung. Mal bringt der Tag Lachen und Chaos in der Küche, mal Tränen und Versöhnung am Meer. Es wird gesungen, getanzt, geschrieben, vergeben. Es entstehen Brücken zwischen Menschen, die sich verloren glaubten – und ein Dorf, das lernt, dass Gemeinschaft aus Geschichten wächst. Zwischen Plätzchenduft und Schneetanz, Barfußläufen und stillen Gesten führt Linas Weg zurück zu Vertrauen, Liebe und Frieden. Und an Heiligabend, als sie den letzten Zettel öffnet, steht darauf: „Erstes Mal: Vertraue dem Leben.“ Ein Satz, der alles verändert – und den Kreis schließt, den Mimi einst begann. „Weihnachtswunder im Café am Meer – Ein Kalender voller erster Male“ ist mehr als ein Roman – es ist ein literarischer Adventskalender, ein Mitmachbuch voller Herz, Hoffnung und kleiner Wunder. Ein Buch über das Ankommen durch Vertrauen, über die Kraft des Alltäglichen und über die Magie, die entsteht, wenn Menschen füreinander da sind. Sanft, poetisch und voller nordischer Atmosphäre lädt dieser Roman dazu ein, selbst mitzumachen – jeden Tag ein wenig mehr zu staunen, zu geben, zu leben. Für Leser:innen von Janne Mommsen, Julie Leuze und Anne Barns. Ein Herzensbuch für lange Winterabende – warm wie Kerzenlicht, echt wie der Wind am Meer.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Weihnachtswunder im Café am Meer

Ein Kalender voller erster Male

Clara Morgenfeld

Erste Auflage 2025

© 2025 Clara Morgenfeld

Alle Rechte vorbehalten

1. Dezember – Der Dachbodenfund

Der erste Adventsmorgen roch nach kaltem Staub und Vanille. Draußen lag die See wie eine gespannte, graue Decke unter dem Himmel, und im Haus von Tante Mimi knarrten die Dielen, als atmete das Holz lange Erinnerungen aus. Lina stand unten im Flur und zog die Wollmütze tiefer, obwohl sie sie gleich wieder absetzen würde. Die kleine Glühbirne über der Treppe summte, als wolle sie vorwarnen: Hier oben wartet etwas.

„Bereit?“ rief Hella aus der Küche und kam dann mit zwei Tassen in den Flur, der Schal mit den winzigen goldenen Sternen um ihren Hals. Eine Wolke aus Zimt und Tee umgab sie.

„Bereit, so bereit man sein kann, um einem Dachboden zu begegnen“, antwortete Lina und nahm die Tasse dankbar an. Ihre Finger waren kalt; selbst der Dampf schien ein Versprechen.

Hella blinzelte zu der Luke unter der Decke. „Deine Tante hat dort oben halbe Bühnen und ganze Geschichten versteckt. Requisiten des Lebens.“

Lina lächelte schräg. „Und Motten, sehr viele Motten.“

„Motten sind nur die Statisten. Den Applaus bekommen die Erinnerungen.“

Das Seil der Bodentreppe war rau unter Linas Hand. Sie zog. Ein leises Rumpeln und ein ausrollender Atem des Hauses, dann fiel die Treppe herab, als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet. Ein Luftstoß brachte den Geruch von alten Büchern und Wachs und etwas, das nach Salz roch, als hätte die See selbst irgendwann die Stufen hinaufgefunden.

„Ich gehe zuerst“, sagte Hella und stellte ihre Tasse auf den unteren Treppenabsatz. Ihr Mantel raschelte, ihre Bewegungen waren die einer erfahrenen Bühnenfrau in der Gasse: konzentriert, ahnungsvoll. Lina folgte. Die Stufen gaben mit einem gutmütigen Stöhnen nach. Oben war es halbdunkel, nur das kleine Fenster an der Giebelseite ließ ein schüchternes Winterlicht hinein, werden und vergehen über den Staubflocken, die in der Luft schwebten wie Schneeflocken, die das Haus nicht verlassen wollten.

„Hallo, Mimi“, sagte Hella in den Raum hinein, und etwas an ihrer Stimme machte Linas nackte Handgelenke prickeln.

„Hallo, Mimi“, wiederholte Lina leise. Sie trat näher ans Fenster und wischte mit dem Handrücken über das Glas. Draußen sah man das Dach des Nachbarn und weit dahinter die angedeutete Schaumlinie der Brandung.

„Schau“, sagte Hella und zeigte auf eine Reihe Kisten, sauber beschriftet: „Sommerkleider“, „Nähzeug“, „Fotos“, „Weihnachten“. Daneben eine Blechdose, rund und verbeult, mit einem verblassten Schriftzug, den Lina als Kind immer entziffert hatte: Karamellbonbons.

„Die Dose kenne ich“, murmelte Lina. „Darauf durften wir nicht sitzen. ‚Der Deckel hält nur noch mit zwei Erinnerungen‘, hat Mimi gesagt.“

„Dann öffnen wir besser mit behutsamen Fingern.“ Hella bückte sich, ihre Knie knirschten ein wenig, und Lina kniete neben ihr. Der Boden war kalt.

Die Dose war nicht verschlossen, nur der Deckel klemmte. Hella drehte ihn, Lina zog, und dann gab die Metallkante nach, mit einem Geräusch wie eine aufatmende Geige.

Innen lagen Knöpfe, ein gefaltetes Taschentuch mit Häkelkante, ein kleiner Porzellanhund mit abgebrochenem Ohr. Und ein Bündel Papier, mit einer roten Kordel zusammengebunden.

Lina atmete aus, als hätte sie eben erst bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. „Oh.“

Hella legte die Finger auf das Papierbündel, hielt inne, als müsse sie höflich um Erlaubnis fragen, und nickte dann fast unmerklich. „Deinem Blick nach zu urteilen, sind das keine Steuerunterlagen.“

„Nein“, sagte Lina, aber ihre Stimme hatte diesen Ton der achtjährigen Lina, die an Weihnachten hinter dem Vorhang der Wohnzimmertür lauschte, ob jemand ans Fenster klopfte. Sie löste die Kordel, die sich überraschend glatt anfühlte, obwohl die Farbe an manchen Stellen gebleicht war. Zettel, unterschiedliches Papier, manche mit Eselsohren, manche auf karierten Blättern, andere auf zerbrechlichem Dünndruckpapier, das nach altem Brot roch. Auf jedem stand oben eine Zahl. 1 bis 24, nicht in Ordnung, eher ein kleines Chaos, das nach Ordnung suchte.

„Ein Adventskalender“, flüsterte Lina, und das Wort zog ein leises Licht in den Raum. Ihre Finger glitten über die Ziffern, über die schwungvolle Handschrift, die sie kannte: Tante Mimi schrieb, als hätte sie es eilig, schön zu sein.

Hella stieß die Hände in die Hüften, als wollte sie den Moment vergrößern. „Mimi und ein Adventskalender? Das passt. Aber warum hier? Warum nicht fertig?“

„Vielleicht war es nicht die Zeit“, sagte Lina, „oder nicht der Mensch.“ Sie hob den Zettel mit der 1. „Oder es war für jemand anderen bestimmt.“

„Lies“, sagte Hella. Es klang nicht wie ein Befehl, eher wie ein Segen.

Lina stellte sich ins Lichtfleckchen unter dem Fenster und las laut: „Tu heute etwas, das du immer aufgeschoben hast.“ Sie spürte, wie die Worte sich setzten, als hielten sie nach ihrer Schwerkraft Ausschau. „Es ist… einfach. Und mutig.“

Hella nickte, die Augen weich. „So war sie. Einfach und mutig.“

Lina legte den Zettel zurück und nahm den mit der 2. Ein spitzer Atemzug der Vergangenheit ging durch sie. „Backe etwas, das du noch nie probiert hast.“ Sie kicherte, unerwartet. „Sima wird das lieben.“

„Sima wird die Küche in Flammen setzen, und es wird herrlich riechen“, sagte Hella feierlich.

Der Zettel mit der 3 raschelte zwischen Linas Fingern. „Schreib jemandem, den du vermisst.“ Die Buchstaben hatten etwas Wellenhaftes, als wären sie schon einmal ans Meer getragen worden. Lina schluckte den Kloß hinunter, der plötzlich da war. Sie dachte an ihre Mutter, an die Reise, die sie mit den Filmrollen angetreten war, an die Antworten, die gekommen waren, und die, die nie kommen würden. Ein leiser Schmerz. Kein Feind.

„Manchmal stehen die richtigen Sätze auf den falschen Zetteln“, sagte Hella. „Und finden trotzdem zur richtigen Zeit.“

Lina nickte und legte die 3 auf den Stapel, als berühre sie etwas Lebendiges. Ihre Finger zitterten nicht, aber das Zittern war da, irgendwo in ihrer Mitte. Die 4, die 5, Zettel um Zettel – kleine Aufforderungen zum Leben: Geh barfuß, sing laut, gib etwas weiter, das dir wichtig war. Ein Plan, aber keiner, der abgehakt werden wollte; ein Faden aus Mut.

Hella beugte sich vor, nahm die 7, lächelte. „Singen. Natürlich.“ Sie blinzelte Lina an. „Das Universum hat Humor.“

Lina legte die Zettel zurück in die Dose, schob den Porzellanhund beiseite, als wolle sie ihm Platz machen neben all den Worten. Sie setzte sich zwischen die Kisten, der Staub kringelte sich und setzte sich auf ihre Jeans. In ihrem Kopf schob sich eine Idee zusammen, erst wie eine Wolke, dann mit Kontur. Das Café. Der Dezember. Das Dorf. Türen, die sich öffnen.

„Hella“, begann sie, und die Luft im Raum schien aufmerksamer zu werden. „Was, wenn… wir diesen Kalender nicht im Stillen machen, nur für uns? Was, wenn wir ihn für alle öffnen? Für Sandhagen, für die Gäste. Jeder Tag eine kleine erste Mutprobe.“

Hellas Augen bekamen diesen Glanz, der zwischen Übermut und Rührung pendelte. Sie trat einen Schritt zurück, knickste zum Spaß vor der Dose und hob dann theatralisch die Hände, als dirigierte sie unsichtbare Geigen. „Vielleicht war das Mimis Art, das Leben neu zu beginnen – jeden Tag ein bisschen.“ Sie sprach den Satz langsam, vorsichtig, als wolle sie ihn nicht fallen lassen.

Lina atmete auf, als hätte jemand die richtige Note getroffen. „Ja. Und wir könnten… wir könnten im Café jeden Morgen den Zettel des Tages enthüllen. Ein kleines Ritual. Eine Schüssel mit Sand, und wir ziehen die Zahl heraus. Finn könnte… ich weiß nicht… eine digitale Wand bauen. Aber vielleicht ist analog besser. Papier in Händen.“

Hella lachte leise. „Die Hände und die Herzen. Und vielleicht am Abend ein kleiner Kreis, wer will, erzählt, wie es war, sein ‚erstes Mal‘ des Tages.“

„Ein Mitmachkalender“, sagte Lina, und das Wort schmeckte süßherb. „Mit echten Gesichtern.“

Von unten her drang das ferne Geräusch einer Tür, der Wind hatte sie kurz angehoben und wieder zurückfallen lassen. Das Haus erinnerte sich, dass es lebte. Die Heizungsrohre knackten, als nähmen sie an einer Diskussion teil.

„Wir brauchen einen Platz im Café“, sagte Hella. „Wo es niemand übersehen kann. Ein Bogen aus Lichtern. Vielleicht die alte Garderobe umfunktionieren? Man kann Karten stecken. Die Leute schreiben etwas auf, einen Satz, eine kleine Zeichnung. Am Ende des Tages hängen wir die Ergebnisse der Mutproben dort aus. Ein Wandteppich des Dezembers.“

„Und für diejenigen, die nicht schreiben wollen, vielleicht ein Glas mit getrockneten Hagebutten, eine pro gemachtem ersten Mal“, fügte Lina hinzu. „Ein wachsender roter Sternenstaub. Und… oh! Die alte Setzletterpresse von Tante Mimi. Wir könnten Schlagworte drucken. ‚Wagen‘, ‚Singen‘, ‚Teilen‘.“

Hella nickte, nickte immer noch. „Das Café als Bühne, auf der das Leben die Regie übernimmt. Du weißt, wie viel ich das liebe.“

Lina hob die Dose vorsichtig, als trüge sie ein Tier, das schlafen sollte, und schob sie in eine Tasche. Die Zettel mit den Zahlen 1 bis 24 hatte sie getrennt. Die 1 lag oben, sichtbar. Das machte ihr Mut. Ein Anfang, der sich wie ein Handschlag anfühlte.

„Haben wir noch Kerzen im Café?“ fragte sie, als sie die Bodentreppe wieder hinunterstiegen. Das Licht war jetzt kühler, die Luft ein bisschen feuchter. Ein paar Schneeflocken hatten am Fenster getanzt, jetzt klebten sie wie vergessene Konfetti am Glas.

„Wir haben Kerzen, die Kerzen haben Kerzen, und irgendwo hat Paul doch noch diese Bienenwachstaler“, antwortete Hella. „Ich frage ihn. Wenn der Advent in einem Geruch wohnt, dann im Bienenwachs.“

„Und in Vanillemilchreis“, sagte Lina, halb im Scherz, halb in einem ernsthaften Versprechen an ihre eigene Kindheit.

Im Flur setzte Hella ihr Mützchen auf, das immer ein bisschen schief saß. „Was ist mit Ben?“ fragte sie beiläufig, als würden die Buchstaben zufällig aus ihrer Tasche fallen.

„Ben…“ Lina tastete nach Worten wie nach einem Handschuh, der in einer Jackentasche steckt. „Ben ist da. Aber manchmal ist ‚da‘ weit weg. Ich weiß nicht, ob er heute Lust auf Mutproben hat.“

„Mut ist nicht immer laut“, sagte Hella. „Manchmal ist Mut, mit seinem Werkzeugkoffer aufzutauchen und zu sagen: ‚Ich repariere heute nur den Hocker.‘ Mehr nicht.“

Lina lächelte und fühlte das Ziehen, das Hoffnung verursachte. „Vielleicht fängt sein Dezember mit einem Hocker an.“

Sie traten hinaus in die klare Luft. Die Kälte biss zärtlich in ihre Wangen. Über den Dächern war der Himmel ein unentschiedenes Blau, das in Richtung Meer heller wurde. Möwen zogen Striche in die Luft. Die Welt wirkte aufgeräumt und bereit.

Auf dem Weg zum Café blieb Lina kurz stehen. Sie drehte sich um und blickte zu Mimis Fenster. Hinter der Scheibe bewegte sich nichts; und doch war da ein Gefühl, als nicke jemand.

„Danke“, sagte Lina – zu wem auch immer. Dann ging sie weiter.

Das Café am Meer empfing sie mit dem Duft der ersten frischen Brötchen und einem leichten Aroma von Kaffee, das Sima offenbar bereits in die Luft gemalt hatte. Durch die Scheibe fiel das Licht auf den Tresen, und auf dem Holz standen die kleinen Kratzer, die Geschichten erzählten: Hier lag einmal ein nasses Seil, da kippte ein Kinderschuh, dort blieb ein Sandkorn für immer.

„Ihr seht aus, als hättet ihr einen Schatz gefunden“, begrüßte Sima sie, die Haare zu einem unruhigen Knoten gebunden, die Hände mehlbestäubt, die Wangen gerötet. „Und wenn es etwas ist, das man essen kann, küsse ich eure Schuhe.“

„Nicht essbar, aber nahrhaft“, sagte Hella und schob Sima die Tasche zu. „Zettel. Mimis Handschrift.“

Sima hielt inne, strich sich reflexhaft die Hände an der Schürze ab, als wollte sie sauber sein, um die Vergangenheit zu berühren. „Darf ich?“

„Du musst“, sagte Lina, und das klang mehr nach Einladung als nach Aufforderung.

Sima zog die Dose heraus, öffnete sie, sah die Zahlen, lächelte, dieses helle, unerwartete Lächeln, das Dinge leichter machte. „Ein Adventskalender. Natürlich hat eure Mimi nicht mit Schokolade gearbeitet.“

„Heute ist der erste“, sagte Lina. „Wir beginnen heute. Hier, mit allen. Möchtest du…“ Sie verstummte, plötzlich unsicher, ob sie zu klein dachte, zu groß, zu früh.

„Ich möchte die Küche in Flammen setzen“, sagte Sima, „und der Flammenschein wird vanillig sein. Sag mir, was auf der Eins steht.“

Lina zog die 1 hervor und las: „Tu heute etwas, das du immer aufgeschoben hast.“

Sima blies die Luft aus. „Dann räume ich endlich die Gewürzschublade. Oder ich rufe meine Schwester zurück. Oder… nein, nein, ich habe es. Ich schreibe die Zutatenliste leserlich.“

Sie lachten alle drei, und das Lachen war wie ein Fenster, das sich öffnete. „Wir machen das öffentlich“, sagte Lina dann, lauter, als gälte es, das Café einzubeziehen. „Jeden Morgen um neun ziehen wir den Zettel. Wer da ist, ist da. Jede*r kann mitmachen. Am Abend sammeln wir Geschichten. Kleine Sätze, ein Wort. Wir hängen sie auf. Den ganzen Dezember über.“

„Und ich mache am Sonntagabend Lichterpunsch“, sagte Sima, „und jemand bringt Musik.“

„Mara“, warf Hella ein. „Mara könnte am siebten…“ Sie blätterte in einem unsichtbaren Kalender. „Perfekt.“

Die Glocke an der Tür bimmelte, und Paul trat ein. Seine Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen, eine feine Spur von Schnee auf dem Mantel. Er roch nach kalter Luft und Honig.

„Guten Morgen“, sagte er und hob eine kleine Holzkiste. „Bienenwachstaler, wie bestellt. Ich habe deine Gedanken gehört, Lina, bevor du sie ausgesprochen hast.“

„Typisch Paul“, sagte Hella. „Er spricht Bienenisch.“

Paul stellte die Kiste auf den Tresen und musterte die Dose, die Zettel, die Gesichter. Seine Augen wurden weich. „Mimi“, sagte er, und in nur einem Wort lag alles: Vergangenes und Gegenwart, Trauer und Heiterkeit. „Was habt ihr vor?“

Lina erklärte es, und während sie sprach, sah sie, wie sich Pauls Schultern ein wenig hoben, als könnte er sich an einen warmen Ofen lehnen. „Mut in kleinen Portionen“, sagte er dann. „Das ist die richtige Dosierung, wenn es kalt wird.“

„Du kommst doch heute Abend?“ fragte Hella. „Wir sammeln Sätze.“

„Sätze habe ich genug“, sagte Paul, „ich übe mich im Weglassen. Vielleicht schreibe ich nur ‚Ja‘.“

Sie standen einen Moment schweigend zusammen, und das Schweigen war nicht leer, sondern gefüllt wie ein Glas mit klarem Wasser. Draußen zog ein Windstoß die Wolken in ein neues Muster. Finn kam herein, den Rucksack halb offen, Kopfhörer um den Hals.

„Was habe ich verpasst?“ fragte er und sah die Runde, die Dose, die Zettel und war sofort im Bilde. „Oha. Vintage-Challenge.“

„Analog-Challenge“, korrigierte Hella.

„Wir machen das so und so“, sagte Lina und skizzierte den Plan, und Finn nickte, nickte, und in seinem Kopf klickten bereits Dinge. „Ich baue euch eine Projektion“, sagte er. „Jeden Abend fünf Bilder vom Tag. Wer will, kann anonym etwas ins Mikro sprechen. Es wird nicht im Netz landen, versprochen. Nur für uns. Und am Ende gibts einen Zusammenschnitt.“

„Ein Mosaik der ersten Male“, sagte Paul, als würde er einen Honigrähmchenrahmen in etwas Neues einsetzen.

„Und jetzt“, sagte Hella, schnippte die Hände, „brauchen wir einen Platz für das Ritual. Linien. Licht. Eine kleine Bühne, aber ohne Schuhe bitte, es ist Advent.“

Lina sah sich um. Der alte Garderobenständer in der Ecke, die Fensterbänke, der Bereich vor der Theke, wo der Morgen immer am klügsten war. Dann blieb ihr Blick an der Wand neben der großen Landkarte hängen, auf der jemand in einer Laune der letzten Monate die Orte der Roadtour mit roten Stecknadeln markiert hatte. Ein halber Kreis aus Erinnerungen, der nach Vollendung suchte.

„Dort“, sagte sie. „Die Karte bleibt. Aber die Stecknadeln weichen den Lichtern. Und darunter die Tafel. Heute: ‚Tu etwas, das du aufgeschoben hast.‘ Wir schreiben es mit Mimis Schrift. Oder so ähnlich.“

„Ich kann ihre Hand nachzeichnen“, sagte Hella. „Nicht perfekt. Aber mit Liebe.“

Sie begannen zu räumen, zu rücken, zu messen. Paul brachte aus der Kiste die Wachstaler, deren Geruch den Raum veränderte, als wären sie kleine, gelbe Sonnen. Finn schraubte die Lampe über der Ecke ein Stück herunter, damit ein wärmerer Kegel auf die zukünftigen Sätze fallen würde. Sima stellte eine Schale hin und füllte sie mit Hagebutten, die sie „für etwas Rot“ gesammelt hatte. Lina legte die Dose in die Mitte eines Tisches, daneben einen kleinen Teller mit Karamellbonbons, eine Hommage an den Deckel, der sie hierher geführt hatte.

Als die Uhr über der Theke neun schlug, saßen drei Gäste bereits an ihren Stammplätzen: Frau Claussen mit dem Strickzeug, Herr Brandt, der früher Hafenmeister war und immer so tat, als hätte er es nie aufgegeben, und ein junges Paar, das auf einer Karte suchte, wie man von hier auf die Hallig kam, ohne nass zu werden.

Lina holte tief Luft. Das Geräusch ihrer eigenen Einatmung war ihr plötzlich kostbar. „Guten Morgen“, sagte sie, und ihre Stimme war klarer, als sie sich fühlte. „Willkommen im Dezember. Wir beginnen heute etwas Neues – und Altes. Es ist…“ Sie zeigte auf die Dose. „…Tante Mimis Adventskalender. Jeden Tag öffnen wir einen Zettel. Eine kleine Aufgabe. Ein erstes Mal.“

Hella trat neben sie, nicht hinter sie. „Erste Male sind die Würze des Lebens. Und wir haben viele Teller.“

Ein Lachen, warm. Paul trat vor, stellte ein kleines Brett auf den Tresen, darauf der Zettel mit der 1. Die Handschrift vibrierte fast im Licht. „Tu heute etwas, das du immer aufgeschoben hast.“

„Nicht groß denken“, sagte Lina. „Klein ist gut. Eine Schublade aufräumen. Jemanden anrufen. Ein Glas Wasser trinken, wenn man nur Kaffee trinkt. Ich…“ Sie hielt kurz inne, suchte ein eigenes Versprechen. „Ich werde heute die Gästebuch-Ordner sortieren. Ich schiebe das seit Monaten auf. Und ich schreibe meiner Tante einen Brief. Nicht, um ihn zu verschicken. Sondern um ihn zu schreiben.“

„Ich werde meine Schwester anrufen“, sagte Sima sofort. Ihre Stimme war sanft und fest zugleich. „Und die Gewürzschublade muss trotzdem dran glauben.“

„Ich werde die Kerzenständer polieren“, sagte Frau Claussen und legte Strickzeug und Zunge für einen Moment beiseite. „Und meinem Enkel sagen, dass ich stolz auf ihn bin. Das schiebe ich immer auf, weil ich denke, er weiß es.“

„Ich werde im Kopf aufhören, aufs Meer zu schimpfen“, sagte Herr Brandt, „und stattdessen hingehen und ihm zuhören.“

Finn hob die Hand. „Ich werde meinem Vater eine Sprachnachricht mit nur einem Satz schicken. Nur einem. Ohne Erklärung.“

Hella trat einen Schritt zur Seite, damit der Lichtkegel die Gesichter erreichte. „Vielleicht schreiben wir heute Abend hier an die Wand einfach das Wort, das vom Tag übrig blieb. Ein einziges. ‚Geschafft‘. ‚Gewagt‘. ‚Noch nicht‘ ist auch erlaubt. Wir sammeln keine Siege, sondern Schritte.“

Die Glocke bimmelte, und ein weiterer Gast betrat das Café, schneeflockengesprenkelt, interessiert, bereit. Die Kaffeemühle begann zu brummen. Das Leben spielte leise Hintergrundmusik. Lina spürte, wie sich in ihr ein Knopf löste, der dort gar nicht hingehörte. Es war die feine Aufregung eines ersten Wortes, eines ersten Blicks.

Sie trat einen Schritt zurück, um das Ganze zu sehen: die Lichter, die Zettel, die Gesichter und die Möglichkeit, dass etwas wachsen würde, jeden Tag ein bisschen. Der Dezember stand wie eine offene Tür vor ihnen.

Als der Vormittag dahinfiel, tastete Lina sich in den Nebenraum, wo der alte Aktenschrank stand. Die Gästebücher warteten dort wie schlafende Fische in einem stillen Becken. Sie zog eines heraus, blätterte. Ein kurzer, brennender Stich: Eintrag von der Roadtour – eine kleine Zeichnung einer Möwe, darunter eine Telefonnummer, die sie nie angerufen hatte. Heute würde sie Ordnung hineinschreiben, nicht, um etwas zu schließen, sondern um Platz zu machen.

Sie nahm einen Stift, den, der am besten gegen die Kälte anschrieb, und begann zu sortieren. Hella summte im Raum nebenan, Sima klapperte mit Tassen, Paul stellte eine Kerze nach der anderen hin, Finn probte ein Mikro, ohne etwas zu sagen. All das ergab zusammen einen Klang, mit dem ein Monat beginnen konnte.

Als Lina am frühen Nachmittag die letzten Zettel in neue Mappen gelegt hatte, trat Ben durch die Hintertür. Er schob die Mütze hoch, strich sich eine Schneeflocke aus dem Bart, die dort zögerte, zu schmelzen. Sein Blick fiel auf die Ecke mit den Lichtern, auf die Dosengeschichte, die an der Wand begann.

„Was macht ihr da?“ fragte er, seine Stimme ein wenig rau vom Draußen.

„Wir beginnen neu“, sagte Lina und sah ihn an, nicht zu lang, nicht zu kurz. „Kleines Format. Täglich. Advent in Mut.“

Ben nickte so langsam, als überprüfe er jeden Muskel vor der Bewegung. „Klingt nach viel für wenig“, sagte er und versuchte ein Lachen, das fast ehrlich war. „Ich kann die Lichterkette ordentlicher hängen. Sonst erträgt das mein innerer Schreiner nicht.“

„Tu heute etwas, das du immer aufgeschoben hast“, sagte Hella von der Seite, „zum Beispiel eine Lichterkette gerade hängen.“

Ben zog die Augenbraue hoch, grinste und ging zur Leiter. Lina spürte eine warme, leise Welle. Vielleicht war das genau die richtige Größe für heute.

Gegen Abend, als der Himmel noch einmal aufhellte, nur um dann plötzlich in ein frühes Dunkel zu kippen, standen die Ersten wieder da, wie verabredet. Mit Schals und Geschichten, mit Zögern und Mut. Lina zündete die erste Bienenwachskerze an und stellte sie auf das Brett. Die Flamme war klein und entschlossen.

„Heute war ich mutig, indem ich nichts gesagt habe, obwohl ich alles wusste“, sagte eine alte Frau, und alle ahnten, warum.

„Heute habe ich angerufen“, sagte Sima später und wischte sich heimlich die Augen. „Es war spät. Und richtig.“

„Heute habe ich den Hocker repariert“, sagte Ben und zuckte mit der Schulter, als sei das nichts. Aber in seinem Blick lag ein Millimeter Öffnung, der gestern noch verschlossen war.

Lina schrieb an die Tafel: „Begonnen.“ Darunter in kleinerer Schrift: „Nicht perfekt.“

Hella räusperte sich, trat vor und strich mit der Hand über die Dose auf dem Tisch. „Es gibt Kalender, die geben Schokolade“, sagte sie, „und Kalender, die geben Zeit. Dieser hier gibt uns… uns. Und falls jemand fragt, warum wir das tun: Weil das Leben nicht wartet, bis wir fertig sind.“ Sie lächelte in die Runde, und in ihrem Lächeln steckte die ganze Bühne der Welt.

Das Meer rauschte, als hätte es es ebenfalls verstanden. Und irgendwo, oben im Dachboden von Tante Mimi, setzten sich die Staubflocken wieder, zufrieden über das, was sie in Bewegung gebracht hatten. Der erste Tag des Dezembers schloss seine Augen und öffnete die der anderen.

Lina blies die Kerze nicht aus. Sie ließ sie brennen, als Zeichen, dass etwas begonnen hatte, das brennen wollte. Und als sie später, spät, im Dunkel des Cafés noch einmal an der Wand vorbeiging, fiel ihr Blick auf das Wort „Begonnen“. Es wirkte größer geworden. Vielleicht hatte es heimlich geatmet.

„Morgen“, flüsterte sie in den Raum, „morgen backen wir etwas, das wir noch nie probiert haben.“ Und der Raum antwortete mit einem Duft, der noch gar nicht da war: Sanddorn, Zimt, und ein Hauch von Mut.

2. Dezember – Das erste Mal beginnen

Der Morgen trat leise ein, wie jemand, der eine Tür nur einen Spalt öffnet, um zu schauen, ob schon jemand wach ist. Über dem Hafen hing ein Frühlicht, das mehr versprach, als es hielt, und im Café am Meer war die Welt noch halbdunkel: Stühle auf den Tischen, Gläser wie kleine Monde im Regal, ein dünner Faden aus Kaffeeduft, der aus der Maschine vorglühte.

Lina schloss auf. Das Schloss klickte, als hätte es einverstanden genickt. Sie hängte die Mütze an den Haken, blieb einen Moment stehen und sah zur Wand mit den Lichtern, zur Landkarte, unter der gestern Abend „Begonnen“ stand. Die Kerze war heruntergebrannt, ein kleiner See aus Wachs lag im Teller, als Beweis, dass Zeit wirklich etwas tut.

„Guten Morgen, Mut“, murmelte sie, und ihr Atem bildete eine Wolke, die sofort wieder unsichtbar wurde.

Sima kam aus der Küche, ein Knoten aus Dampf und Zimt um sie. „Du bist zu früh.“ Sie grinste. „Oder ich zu spät.“

„Es ist der zweite Dezember.“ Lina hob die Dose an, die auf dem Tresen gewartet hatte, als wäre sie ein Haustier, das die Nacht über brav alleine blieb. „Heute ist die Eins nicht mehr unsere ganze Aufgabe. Heute ist die Eins ein Echo. Wir ziehen die Zwei um neun.“

Sima stellte zwei Tassen hin, schenkte Kaffee ein, der wie ein Anfang duftete. „Was immer die Zwei ist – ich hoffe, sie verlangt nicht, dass ich Liedtexte auswendig kann. Das ist Hellas Metier.“

„Ich glaube, die Zwei wird etwas, das knusprig endet“, sagte Lina und versuchte zu lächeln, auch wenn die feine Anspannung in ihrem Brustkorb sich anfühlte, als trüge sie eine neue Bluse, die noch nicht ihren Körper kennt.

Sima stützte sich an die Theke. „Und du? Was ist dein ‚Tu-es-jetzt‘?“

Lina drehte den Becher in beiden Händen. „Die Gästebücher. Ich habe gestern begonnen. Heute ordne ich die Roadtour in einen Ordner, ohne zu weinen. Vielleicht nur ein bisschen. Und…“ Sie zögerte, sah zu dem leeren Platz neben der Landkarte, wo am Abend die Worte der Menschen hängen würden. „Heute sage ich es laut. Dass der Kalender öffentlich wird. Jeden Morgen, jeden Abend. Kein heimliches Spiel, kein Projekt, das im Nebenraum bleibt.“

Sima nickte langsam, als würde sie einen Teig prüfen: elastisch, bereit. „Dann bereite ich die Bühne vor. Lichter, Tafel, eine Schale für Hagebutten. Und eine zweite für Karamellbonbons, falls Mut Zucker braucht.“

Die Tür öffnete sich mit einem weichen Bimmeln. Paul trat ein, den Kragen hochgeschlagen, den Bart von winzigem Reif bepudert. Er hielt ein Notizbuch in der Hand, an dessen Seiten Kanten aus verschiedenfarbigen Papieren hervorlugten.

„Morgengruß“, sagte er und stellte sein Buch wie ein kleines Tier auf den Tresen. „Wenn der Tag eine Welle ist, dann sind die ersten Minuten der Kamm. Man sollte ihn nicht verpassen.“

„Wir sind drauf“, sagte Sima, „und es ist windstill.“

Paul blätterte. „Ich habe gestern Abend geschrieben. Nicht viel. Nur: Ja. Es hat gereicht.“ Er sah zur Dose. „Ist Mimi schon wach?“

„Mimi ist immer wach, wenn es um sowas geht“, antwortete Hella, die in diesem Augenblick hereinschwebte, den Sternenschal noch, als sei es eine Uniform. „Ich habe geträumt, sie hätte mir die Zwei ins Ohr geflüstert. Aber ich bin nicht sicher, ob es Backen oder Wagen war. In meinen Träumen spricht viel das A.“

Lina lachte, und das Lachen löste etwas in ihr. „Wir lüften um neun das Geheimnis. Bis dahin…“ Sie wollte weiterreden, doch die Tür bimmelte erneut und Finn steckte den Kopf herein, die Mütze schief, die Augen hellwach wie zwei Lampen.

„Ich habe eine Idee“, sagte er noch im Türrahmen. „Keine Angst, analog bleibt analog. Aber wir könnten ein kleines Heute-Board machen: ein Holzrahmen mit Papierclips. Jede*r, der morgens da ist, nimmt sich einen Clip. Abends hängt man ein Wort drunter, eine Polaroid, einen Zettel. Und ich…“ Er hielt inne, die Hände in der Luft, als dirigierte er. „…ich mache eine stille Leinwand auf dem Laptop, der neben der Tafel steht. Kein Internet, nur hier. Wer will, spricht ein Wort ins Mikro. Ein Wort. Mehr nicht. Wir merken uns Klänge.“

„Was, wenn das Erste Mal einfach heißt, dass man wieder anfängt?“ fragte Finn dann, halb zu sich, halb zu Lina. Der Satz hing im Raum wie der erste Ton einer Probe, der zeigt, welche Tonart der Tag hat.

Lina sah ihn an, überrascht darüber, wie sehr dieser Satz passte, als hätte jemand von außen die Konturen ihres Morgens nachgezeichnet. „Dann fangen wir wieder an“, sagte sie. „Jeden Tag.“

Sie rückten Stühle, zogen die Tafel unter die Landkarte, entzündeten zwei Kerzen. Sima band ein dünnes Seil mit kleinen Wäscheklammern zwischen zwei Nägel; es sah aus wie eine fröhliche Notenlinie, die auf Worte wartete. Paul kritzelte an den Rand seines Notizbuchs: Schwelle.

Kurz vor neun war das Café halbvoll. Frau Claussen saß schon mit einem neuen Strang Wolle, der aussah, als könne er selbst leuchten. Herr Brandt blätterte in der Zeitung, tat aber nur so. Zwei Handwerker, die auf einer Baustelle am Hafen arbeiteten, bestellten heiße Schokolade, weil Kaffee ihnen auf nüchternen Magen zu viel Welle war. Ein kleines Mädchen mit einem roten Filzhut hielt die Hand ihrer Mutter und sah mit großen Augen auf die Dose, als sei darin ein Tier, das gleich herausgekrochen käme.

Lina trat vor die Tafel. Die feine Unruhe in ihr setzte sich in Bewegung, aber ohne zu wackeln. „Guten Morgen, ihr Lieben“, sagte sie. „Gestern haben wir die Eins gezogen: Tu heute etwas, das du immer aufgeschoben hast.“ Sie sah in Gesichter, die gestern Abend schon da gewesen waren, und in neue Gesichter, auf denen stand: Wir schauen uns das mal an. „Heute machen wir weiter. Und wir machen es gemeinsam.“

Sie sah zu Hella. Hella machte eine kleine, übertriebene Handbewegung, die irgendwo zwischen Vorhang auf und Vorhang weg lag. „Lina, meine Liebe – das Wort.“

Lina hob die Dose mit beiden Händen, wie eine Schale. Sie öffnete sie, suchte die Zwei, die sie gestern schon in der Hand gehalten hatte. Sie fühlte den Karton, die Tinte. Dann hielt sie den Zettel hoch.

„Backe etwas, das du noch nie probiert hast.

---ENDE DER LESEPROBE---