Gott, Natur und Tintenfinger - Ralf-Andreas Gmelin - E-Book

Gott, Natur und Tintenfinger E-Book

Ralf-Andreas Gmelin

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Beschreibung

Als Fritz Philippi 1869 geboren wird, ist Wiesbaden ein kleines, gemütliches Landstädtchen, das seit Kurzem zu Preußen gehört. Als er nach Studium und Pfarrstellen in Breitscheid und Diez 1910 nach Wiesbaden zurückkehrt, ist seine Heimatstadt zu einer modernen Großstadt geworden. Im Westerwald wurde der umtriebige Pfarrer zum beliebten Schriftsteller. Unermüdlich sucht er nach Lösungen für die stürmischen Veränderungen seiner Zeit. Industrialisierung, Verelendung, Kommunismus und völkische Reaktion. Als Buch- und Zeitschriftenautor lässt uns Fritz Philippi eine Zeit erleben, die zum Fundament unserer Epoche geworden ist. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, verändert sich alles für den gestandenen Familienvater. Er lässt sich freiwillig als treuer Anhänger des Kaisers zum Feldpfarrer ernennen und an die Westfront versetzen. Dann kommt alles anders, statt Sieg die Niederlage. Als Leser werden wir Zeugen von ungeheuren Umwälzungen, politischen und theologischen.

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Tintenfeder und Tintenfass

möchten Sie da und dort daran erinnern,

was Schreiben um 1900 hieß.

Inhalt

Bd.1

Vorwort

Fritz Philippi, ein Leben mit der Tintenfeder

Kindheit, Schule und Studium

Pfarrer in der nassauischen Provinz

Pfarrer an der Ringkirche in seiner Heimatstadt Wiesbaden

Einsatz im Ersten Weltkrieg

Der Katastrophe literarisch begegnen

Die Jahre nach dem Krieg

Fritz Philippi nach der Heimkehr

Literarisch leben, Bücher und Beiträge

Aus der anderen Wirklichkeit, Theologie

Liberale Theologie

Gottesbild

Auferstehung

Ethik

Der Tod

Abschließende Betrachtung

Benutzte Literatur,

Index

Bd.2

Kirche und Kultur wohnen nun einmal

bei einander im Erdenhaus.

Eine intellektuelle Existenz im Spiegel

literarischer Arbeiten (Supplementband)

A. Vorwort

Als der Verfasser im Jahr 2001 als Pfarrer an der Evangelischen Ringkirchengemeinde in Wiesbaden seinen Dienst antrat, gehörte zu den damaligen Gemeinderäumen im Kaiser-Friedrich-Ring 3 ein offenbar von Wenigen geliebter Raum mit einer ungeheuren Regalwand, in der ungeordnet und kaum beachtet die papiernen Schätze einer über hundertjährigen Geschichte der Ringkirchengemeinde lagerten.

Von der Gemeindesekretärin, Petra Höhne, bekam er zudem einiges Material, das sie hätte vernichten sollen und stattdessen sicher verwahrt hatte. Es enthielt kostbare Hinweise auf die Gemeindegeschichte und löste im Nachhinein sein empörtes Kopfschütteln aus über die – vor seiner Zeit - angeordnete Vernichtung gemeindegeschichtlicher Unterlagen. Und zugleich gewann er Respekt vor der Verantwortungsbereitschaft einer Mitarbeiterin.

In diesen ersten Wochen seiner Pfarrertätigkeit in Wiesbaden schlug er in diesem Raum sein Dienstquartier auf, da die Pfarrdienstwohnung samt Amtszimmer noch nicht fertiggestellt war. In den Arbeitspausen widmete er sich einige Zeit den alten Unterlagen. Zu den auffälligeren Archivalien gehörte eine Zahl von Büchern mit dem Autorennamen „Fritz Philippi“. Nach einigen Recherchen wusste er, dass dieser Pfarrer der Ringkirchengemeinde von 1910 bis 1933 gewesen ist und auch als Dichter, Romanautor und Erzähler hervorgetreten war. So war der Gedanke geboren: Du müsstest aus dem Material „einmal etwas machen“, das dich zugleich einführt in die Gedankenwelt von einem, der fast hundert Jahre vor dir hier gewirkt hat.

Wie es so geht im Leben, kamen zuvor andere Projekte: Ein Kirchenführer musste für die Ringkirche verfasst werden1 – dazu mussten die Archivalien durchgesehen werden. Damals stellte er mit Bestürzung fest, dass die Bauakten der kunsthistorisch bedeutendsten Kirche Wiesbadens, der Ringkirche, verschwunden waren,- und niemand mehr wusste, wo sie gelagert wurden. Als diese Jahre später wieder aus dem Keller unter der Marktkirche auftauchten, war ihm selbstverständlich, dass er diese Akten ordnen, sie in ein Findbuch eintragen und elektronisch erfassen müsse. Heute bilden sie mit den weiteren Archivalien das Archiv der Evangelischen Ringkirchengemeinde, das im Pfarrhaus an der Ringkirche untergebracht ist. Dazwischen galt es noch, die Festschrift zum 25. Jubiläum der Ringkirche von Heinrich Schlosser neu heraus zu geben, freilich mit klärenden Verweisen.

Aus der Hand der Familie Natzel, Nachkommen des Pfarrers Fritz Philippi, bekam er dann wiederum einige Jahre später eine große Kiste mit weiteren Materialien zu Fritz Philippi. Sie enthielt neben weiteren Büchern einen handgeschriebenen Predigtband und eine Kriegsauszeichnung. Die Erinnerung an die alten guten Vorsätze wurde erneuert, aber wiederum standen andere Projekte vornean, zum Beispiel auch die Erfassung der alten Pfarrchronik der Ringkirchengemeinde, die – ähnlich wie die Bauakten – einige Jahre spurlos verschwunden war, aber dann wieder in seine Hände gekommen war.

Als dann im Jahr 2016 die „Stadtteilhistoriker“ in Wiesbaden ausgeschrieben wurden, und ein Abgabedatum gesetzt wurde, sprang er mit seiner Bewerbung auf diese wunderbare Initiative auf, hauptsächlich, um sich zu zwingen, den guten Vorsätzen termingerechte Taten folgen zu lassen. Diese erfolgreiche Bewerbung zeigte Wirkung: Zum Einen gab es vielfältige Unterstützung und guten Rat und zum Anderen ermöglichte sie viele Kontakte mit anderen Interessenten und ihren Projekten. Schließlich machte er sich umgehend daran, Fritz Philippi sorgfältig zu studieren, um den Zeitrahmen einzuhalten.

Von Fritz Philippi hatte er zuvor einige Gedichte und durch einen früheren Kontakt mit Westerwälder Philippi-Freunden auch einige seiner Dorf-Geschichten aus dem Westerwald kennen gelernt. Auch hatte sich in der Ringkirchen-Pfarrchronik einiges über Fritz Philippi gefunden, was einen freundlichen liberalen Theologen zeigte, der mit Humor und Menschenzugewandtheit seinen Dienst tat. Dass diese Eindrücke vor drei Generationen gewonnen worden waren, hatte er in der Folge erheblich unterschätzt. Die systematische Lektüre dessen, was er z.T. zu einem Lesebuch zusammentrug, zeichnete dann ein anderes Bild, als das, das sich seine Phantasie aus dem Wenigen eingebildet hatte. Philippi lebte von 1869 an. Sein Leben begann vor der Industrialisierung. Seine Heimat ist das Land Nassau, das gerade eben zu Preußen gekommen war. In seine frühe Kindheit fällt der siegreiche Krieg dieser Preußen von 1870/71. Europa läuft nun auf einen gewaltigen Nachfolge-Krieg zu, der die Welt dann von 1914 bis 1918 in eine grauenerregende Schlacht zieht, die alles verändern wird. Philippi erlebt sodann die Nachkriegsjahre von 1919 bis 1924 in denen er - wie viele - kaum einen klaren Blick auf die Zukunft bekommt, denn allenthalben herrscht das Chaos. - Das Leben seit seinem Geburtsjahr 1869 erforderte andere Menschen, andere Gedanken und andere Werte als das Leben, das der Verfasser seit 59 Jahren führte. - Abgesehen davon, dass er beim Grundwehrdienst in der Bundeswehr die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik unterstützen sollte, durfte er im tiefsten Frieden leben in einer in Europa unvergleichlich langen Friedensepoche. Manches, was dem heutigen Leser als unerträgliche Spekulation erscheint, lässt vergessen, dass Menschen vor 100 Jahren zu manchem Wissensgegenstand kaum wirkliche Sachkenntnisse besaßen.

Das Ergebnis meiner gründlichen Lektüre war eine herbe Enttäuschung: Ich wollte mir Fritz Philippi ganz anders vorstellen und fand mich zunehmend distanziert von seiner Person und dessen Werk. Verschärft wurde dieser Trend, als ich entdeckte, dass der Dichter und Schriftsteller noch eine weitere Dimension hatte. Er war ein emsiger Autor für unzählige Zeitschriften, zum Beispiel für „Die christliche Welt“, die die bedeutendste liberal-theologische Zeitschrift der damaligen Zeit war, aber auch für das nassauische „Evangelische Gemeindeblatt“, für Friedrich Naumanns „Die Hilfe“ oder die Münchener Zeitschrift „Jugend“. In diesen Beiträgen zeigte sich ein Intellektueller, der sensibel die Sorgen und Nöte seiner Zeit, seiner Kirche, der deutschen Literatur und seines Landes wahrnahm und öffentlich nach Lösungen suchte. Diese Suchbewegungen berührten dann auch meine eigenen Vorstellungen und meine eigene Theologie. Zunächst wollte ich, dass mich meine Arbeit nicht infrage stellt mit ihrer anderen Epoche und deren Wertvorstellungen, musste aber einsehen, dass man sich dem nicht verschließen darf, wenn man sich mit einer historisch-literarisch-theologischen Arbeit gleichsam dreifach aufs intellektuelle Glatteis begibt.

Abgesehen von der Wirkung auf ihren Erzähler besteht Geschichte aus dem Erzählen von Geschichten und beide, das Geschehene und das Erzählte suchen eine geheimnisvolle Nähe zueinander, ohne sich jemals vollständig zu decken. Dieser Erkenntnis folgt dieses Nachdenken über Fritz Philippi.

Bis zum Ersten Weltkrieg hatte mancher Intellektuelle eine Lösung der bedrängenden „sozialen Frage“ durch eine proletarische Revolution im Marx’schen Sinne gesucht. Innerhalb der evangelischen Kirchen hoffte man dem entgegen zumeist auf eine politische Lösung im christlichen Sinne - zunächst auch im Rahmen der Monarchie. Während des Ersten Weltkriegs waren solche Zukunftskonzepte zweitrangig, Kampf und Sieg gingen vor. Als sich dann die Niederlage abzeichnete, versank Deutschland in einem vielfältigen Strudel von unterschiedlichen politischen, weltanschaulichen und religiösen Angeboten – samt Gewalt auf den Plätzen.

Vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und damit auch nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland hatten viele politisch Wache die linke Option verloren. Nachdem die bürgerliche Revolution den russischen Bolschewiken die Arbeit abgenommen hatte, indem sie das Zarenregime stürzte, setzten sich dennoch die Bolschewiken gegen sie durch und nahmen Millionen von Toten in Kauf, zum Beispiel bei ihrer verfehlten Agrarpolitik – ganz abgesehen von den politisch motivierten Morden. Philippi war nach unserer Kenntnis niemals Sozialist, er nennt Sozialisten da und dort „Materialisten“. Auch Streiks und Demonstrationen betrachtet er in distanzierter Skepsis. Die Zukunftsvisionen, die in seinem Werk gezeichnet werden, zeigen ein Deutschland, das sich einsam einer Übermacht anderer Völker gegenüber sieht und darum besonderer Solidarität bedarf, die sich in einer besonderen Arbeitsmoral ausdrückt. In der verzweifelten Lage nach dem Ende des Krieges suchen viele – eine nationale Lösung, die zugleich auch die soziale Frage löst. Diese „völkischen“ Standpunkte klangen in meinen Ohren nach dem Pathos der späteren Nationalsozialisten oder der spanischen Falange. Obwohl von der aufrichtigen Sorge um die Zukunft der Menschen in seinem Land getragen, kam dem Verfasser Philippi – der im Jahr der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, 1933, starb – wie ein potentieller Nationalsozialist vor, was er nachweislich nicht gewesen ist.

Obwohl Philippi sich mit seinem Engagement als politisch wacher und weltanschaulich engagierter Denker zeigt, kostete seine Nähe zu völkischen Ideen ihn bei dem Autor erhebliche Sympathien.

Das Ergebnis seiner monatelangen Unzufriedenheit mit Fritz Philippi in seinem Entwurf hat im März 2017 Professor Dr. Stephan Weyer-Menckhoff, Mainz, gelesen. Er hat mit seiner Kritik geholfen, den historischen Abstand ohne Wertung wieder in den Blick zu nehmen, damit diese Arbeit ihrem Gegenstand, dem emsigen, zeitkritischen Dichter, Romanautor und Journalisten gerecht wird und sich nicht allein um das aktuelle Missbehagen ihres Verfassers dreht. Darum haben der Verfasser und diese Arbeit ihm sehr viel zu danken.

Die aktuelle Wiedergeburt völkischer Ideologien in den Vereinigten Staaten, in Ungarn, der Türkei oder im eigenen Land hatte beim Verfasser eine Überreaktion ausgelöst. Für diese derzeitige Rückkehr vieler Gesellschaften zu heilloser politischer Engstirnigkeit kann Philippi nichts und hat schon darum ein Recht, aus seiner und nicht aus unserer heutigen Epoche heraus beurteilt zu werden.

Den Nachkommen der Familie Philippi ist diese Arbeit sehr zu Dank verpflichtet für die Unterstützung, die sie mit Material und Überlassungen gewährt haben. Auch den Westerwälder Philippi-Freunden, vor allem Federico Fritz und Albrecht Thielmann übermittelt sie großen Dank für Anregungen und Material.

Den Aktiven der Stadtteilhistoriker dankt der Verfasser ebenso wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, des Wiesbadener Stadtarchivs, des Hessischen Haupt-Staatsarchivs Wiesbaden und der Landes- und Hochschulbibliothek Wiesbaden, ebenso wie der Seminarbibliothek der evangelisch-theologischen Fakultät in Mainz. Sie haben Anteil daran, dass diese Arbeit nicht in der Planung stecken geblieben ist und sich weiter entwickeln konnte. Der Aufgabe der Korrektur haben sich gewidmet: Dr. Ullrich Bischof, Manfred Gerber und Dr. Hermann Otto Geißler. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank für ihre Zeit, ihre Arbeit, ihre Geduld und ihre Ratschläge!

Allen, die der Verfasser – ob sie wollten oder nicht – während seiner Arbeit von seinen aktuellen Fragen, Aufgaben oder Nöten in Kenntnis gesetzt hatte, seine Frau, seine Kinder, Freunde, aber auch Gemeindeglieder, Gottesdienstbesucher oder Kollegen, dankt er für ihr geduldiges Zuhören und bittet um Vergebung, wenn er da und dort ihre Geduld etwas überstrapaziert haben sollte.

Den Lesern dieses Buches dankt er für den Mut, sich auf diese so andere Zeit einzulassen und wünscht ihnen Einsicht in zeitlose Fragen des Menschseins wie in zeitgebundene Problemfelder, die uns heute fern und manchmal erschreckend nahe liegen. Diese Arbeit hat bei ihrem Autor viele tiefgreifende Fragen ausgelöst. Wenn sie das auch bei ihrem Leser schafft, war die Mühe, sie zu schreiben bei ihm - und sie zu lesen bei Leser oder Leserin, nicht umsonst.

Am Ende dankt der Verfasser den Förderern der Wiesbadener

Stadtteilhistoriker für den Druckkostenzuschuss, ohne den es diese

Bände nicht gäbe.

Wiesbaden, im Sommer 2017,

Ralf-Andreas Gmelin

1 Mittlerweile in dritter Auflage: Ralf-Andreas Gmelin, Der Dom der kleinen Leute. ring edition, Ev. Ringkirchengemeinde, Wiesbaden, 2008.

B.I. Kindheit, Schule und Studium 1869 -1897

B. Fritz Philippi, ein Leben mit der Tintenfeder

I. Kindheit, Schule und Studium

Fritz Philippi wird in einem kleinen Landstädtchen mit preußischer Residenz und ein wenig Kurbetrieb am 5. Januar 1869 geboren. Seit der preußischen Annexion, 1866, nahm dieses Wiesbaden einen erheblichen Aufschwung, und die kleine Bäderstadt wird es bis zum Image einer „Weltkurstadt“ bringen. Die historische Bevölkerungsstatistik in Wikipedia zeigt für 1869 eine Zahl von weniger als 40.000 Einwohnern, Wiesbaden hatte also eine Größe, die heute der Größe von Limburg oder Hofheim entspricht. Die Stadt, in die Philippi hineingeboren wird und mit deren Bewohnern er über die Mutter vielfältig verwandt sein wird, ist nicht die gleiche, in die er 1910 zurückkehren wird. Sein Vater war aus Usingen gekommen und hatte in der Wiesbadener Hellmundstraße 37 eine Schlosserei eröffnet. Unter diesem Namen „Philippi“ arbeitet noch heute ein Metallbauunternehmen (mit familiären Wurzeln der heutigen Inhaber). Dort in der Hellmundstraße wuchs Fritz auf, zusammen mit vier Brüdern.

Fritz Philippi hat kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Erzählung „Der Armensarg“ für die Münchener Zeitschrift „Jugend“ geschrieben (Nr. 12, 21. März 1914) und damit seiner versunkenen Heimatstadt ein Denkmal gesetzt:

Wer unsere Stadt vor dreißig, fünfunddreißig Jahren gekannt hat, weiß, daß es sich im ehemaligen Tintenviertel bescheiden, aber anständig leben ließ – wie damals alle Leute gewohnt waren zu leben. Die Hausbesitzer, zumeist Handwerker, wohnten „ebener Erde“, hinten hinaus dehnten sich lange Höfe mit lärmfrohen Werkstätten. Die Meister gingen noch in der blauen Schürze und fegten ihre Straße selber. Und auch das Äußere ihrer Häuser war nüchtern, aber respektabel.

Damals wohnte Haus bei Haus in den besseren Stockwerken die Schreiberzunft, oder was sonst Tintenfinger hatte. Daher der Name Tintenviertel.

Die Meister und die Beamtenschaft hatten nachbarlich zwar mancherlei aneinander auszusetzen. Es konnte vorkommen, daß im „Heidelberger Faß“ der Stammtisch der Meister in rauhen Kehllauten sich räusperte: Man tausche noch lange nicht mit papiernen Tagelöhnern. Und der Stammtisch der Tintenfinger gab zurück: Man könne es im Stubenspucken und anderen ungebildeten Handwerksknoten gleichtun.

Aber einträchtig wandelte dann die Nachbarschaft vom Bierkrug in den Wirtshof, um einzugehen durch die Holztür mit dem herzförmigen Ausschnitt und der geheimnisvollen Nummer 0, und wandelte selbander im Männergespräch an den Nachtlaternen vorüber zum heimischen Tor und half sich aus mit dem Hausschlüssel.

Es waren auskömmlich gemütliche Zeiten im alten Tintenviertel.

Soweit schildert Philippi seine Kindheitserinnerung an ein Wiesbaden, das sich in den Jahren seiner Abwesenheit erheblich wandeln wird. Wie genau sich die Veränderungen abgespielt haben, wird Philippi bestenfalls indirekt mitbekommen haben, denn nach seinem Militärdienst wird er von 1888 bis 1909 zuerst als Student, dann als Pfarrer außerhalb von Wiesbaden leben. Der Erzähler Fritz Philippi benennt die Veränderungen in seinem Heimatviertel im Anschluss in der genannten Erzählung:

Dann aber kam über unsere Stadt das Baufieber. Wiesen, Gärten und Bäche wichen nach dem Wald hin, um asphaltnen Straßen und hohen klotzigen Häuservierecken Platz zu machen, an deren Außenseite sich wilde Phantasien in Schlangenlinien und unechter Plastik austobten. Alle Straßen wurden patriotisch benannt. So entstand das Generalsviertel.

Es kam im Heidelberger Faß zum Krach, der durch keine Versöhnungsgänge aus der Welt zu schaffen war. Papier und Tinte erhob sich und wanderte aus. Die allgemeine Meinung kam auf in der Beamtenschaft, sie bedürfe zur Bekundung ihres Patriotismus und im Standesinteresse, in einer besseren Gegend zu wohnen mit allem Zubehör, nämlich steinernen Nistkästen, Balkons genannt, und eines besonderen Eingangs für Dienstboten und Lieferanten.

Und im alten Tintenviertel? In die verlassenen Quartiere schob sich geringes Volk nach, war grau in grau anzusehen und trug Staub und Werktagsgeruch in den Kleidern. Bald zog sich über das ganze Viertel eine gemeinsame graue Altershaut, breitete sich über Gassen, Stiegen und Höfe. Die langen Höfe krochen in sich hinein und nahmen vorlieb zwischen eilig erbauten Mittel- und Hinterhäusern, wo kümmerliches Volk mit vielen Kindern billigen Unterschlupf suchte.

Trotz der gemeinsamen aschgrauen Haut war die Nachbarschaft dahin. Man kannte sich kaum, wechselte oft. Und jeder hatte mit sich zu tun.

Da wir aus dem Privatleben Philippis kaum Briefe oder andere persönliche Dokumente haben, sind wir auf seine veröffentlichten Texte angewiesen, um seine Jugend und Studienzeit zu erhellen. Im Jahr 1925 hat Philippi eine Schilderung dieser Zeit abgegeben, die im Wiesbadener Tagblatt veröffentlicht wurde, bevor der Roman „Vom Weibe bist du“ in Fortsetzungen abgedruckt wurde:

Ich bin als Wiesbadener „Virreche“2 geboren im damaligen Tintenviertel: vor 56 Jahren, wo sich in unserer Stadt noch gemütlicher leben ließ als heute. In meines Vaters Schlosserwerkstatt habe ich, wenn ich an schulfreien Nachmittagen „nichts zu tun“ hatte, oft den Blasbalg ziehen oder an der Drehbank das Schwungrad bedienen müssen, auch das „Schlosserkarrnchen“ durch die Gassen drücken. Die feinen Herrchen unter meinen Klassenkameraden schimpften mich „Schlossergesell“. Als ich das Gymnasium auf dem Luisenplatz schlecht und recht mit „genügend“ im Deutschen absolvierte, hatte ich‘s nicht bis zum Musterschüler gebracht. Dass ich aber Pfarrer werden wollte, löste einige Verwunderung in der Nachbarschaft aus. „Ich sei doch sonst nicht so dumm.“ Auch meine Universitätsjahre in Berlin, Tübingen und Marburg verliefen unauffällig ohne dass der Polizei etwas Nachteiliges über mich bekannt geworden wäre.

Als Durchschnittsmensch kam ich ins Pfarramt und wurde zum Schmerz meiner verwitweten Mutter, die als einzige von mir Besonderes erwartete, in das nassauische Sibirien, den Westerwald, geschickt.3 Ich sehe sie noch die erschrockenen Hände geben: „Hast du denn ein so schlechtes Examen gemacht?“ Auf dem Westerwald aber, in der ursprünglichen Stärkennatur, fand ich meine zweite Heimat. Dort kam ich ans Schreiben und als mein erstes Büchlein erschienen, schimpften meine Bauern. Aber ein Literaturpapst entdeckte mich als einen Schüler „Roseggers“4.

Seitdem bin ich ein mit Tintenfingern behafteter Pfarrer. Besagter Literaturpapst hat ausnahmsweise sich nicht geirrt als er behauptete, dass der Mensch und Künstler bei mir auf den Talar abgefärbt haben. Zur steifen Amtsperson habe ich keine Anlage. Auch als Pfarrer bin ich ein Menschensucher und, was ich unter diesen zweibeinigen seltsamsten Herrgottsgewächsen erlebte, habe ich in meine Botanisiertrommel, d.h. ins Buch gesteckt. Mein Amt ist der Mensch. Und weil ich bei allen großen Lebensereignissen hinzukommen darf als Menschenfreund, wüsste ich nicht, was ich lieber wäre. Religion und Kunst gehören zusammen.

Wir lesen, dass Philippi nicht wie die meisten Handwerkssöhne auf die Mittelschule, sondern auf das Gymnasium ging, das seit 1834 in Preußen zum Hochschulzugang berechtigte. Philippi erinnert sich später, dass ihm manchmal bereits bei Schulaufsätzen die Phantasie durchging und er frei erfundene Geschichten aufschrieb, die indessen bei seinen Lehrern auf geteilte Begeisterung trafen – und seiner Note eher abträglich waren.

Fritz Philippi wird während seines Universitätsstudiums der Theologie berühmte, nur wenig ältere Lehrer wie Adolf von Harnack (1851-1930) oder Martin Rade (1857-1940) finden. Das wird Folgen haben: Fritz Philippi wird bis ans Ende ein „liberaler“ Theologe bleiben und zu dem gehören, was damals die kirchliche „Linke“ hieß. Die Mehrheit der in der Kirche aktiven Verantwortungsträger gehörten der Gegenpartei der „Positiven“ an. Insbesondere die kleine nassauische Kirche mit ihren großen, ländlich konservativen Gebieten – wie dem Westerwald – war stark von den „Positiven“ geprägt. Ein Großteil solcher Pfarrer war den Liberalen feindlich gesonnen und drängte sie in eine „bildungsbürgerliche Minderheitenrolle“, wie Gangolf Hübinger das beschrieben hat.5 Innerhalb der kirchlichen Entscheidungsprozesse hatten es Liberale schwer und auch die „positive“ Publizistik hetzte mitunter hemmungslos gegen diese Richtung. Ruth Conrad schildert den Brief des Theologen Erich Klostermann, in dem sein Vater ihn davor gewarnt hat, im Tübinger Verlag Mohr-Siebeck zu veröffentlichen, weil der bekannt für seine liberale Richtung war: Er fürchtet, „daß Du damit auf die Siebeck‘sche Theologie festgelegt erscheinen kannst, und dann hast Du in Preußen, soweit ich die Stimmung kenne, kein Ordinariat in absehbarer Zeit zu erwarten.“6

Raum und Zeit werden Philippis Leben in sechs Epochen zerteilen, die nur schwer unter eine Hut passen:

Zuerst der behütete Beginn in der preußischen Provinzstadt Wiesbaden, einschließlich einer einjährigen Militärzeit in seiner Heimatstadt und dem anschließenden Studium an angesehenen Universitäten, 1869-1897;

zum anderen das Leben auf der rauen Hohen Heide in Breitscheid und Umgebung, 1897-1904,

als drittes die Begegnung mit den lebenden Toten im Gefängnis in Diez, 1904-1909.

Die vierte Epoche war die Vorkriegszeit in Wiesbaden, 1910-1915,

als fünfte folgt die Verwendung als Feldprediger an der Front meist bei Arras 1915 -1918 –

und schließlich endet Philippis Leben in der Zwischenkriegszeit, die noch an den Wunden des verlorenen Krieges trägt, 1919-1933.

Diese Arbeit hat als Schwerpunkt die Abschnitte vier bis sechs, in denen Philippi in Wiesbaden lebt und die Quellenlage günstig ist, weil er rastlos literarisch und journalistisch tätig ist.

Philippi studierte evangelische Theologie in Berlin, Tübingen und Marburg. Während der Tübinger Zeit schließt er sich einer der beiden Straßburger Burschenschaften zu Tübingen an, einer patriotischen Studentenverbindung der „Deutschen Burschenschaft“. Die Deutsche Burschenschaft hatte sich nach den Napoleonischen Befreiungskriegen gebildet, um sich für Demokratie und Einheit der deutschen Nation einzusetzen. An den Universitäten wollten ihre Mitgliedsbünde den „Pennalismus“ überwinden, eine raue Rauflustigkeit, die oft gefördert wurde von Zusammenschlüssen (Landsmannschaften) der Studenten verschiedener deutscher Herkunftsländer. Die Burschenschaften hielten es für unwürdig, dass sich junge Männer deutscher Herkunft gegenseitig duellierten. In Erinnerung an den militärisch unwirksamen, aber symbolisch gewichtigen militärischen Einsatz von Studenten gegen die napoleonischen Truppen im Lützow’schen Freicorps, das durch Gedichte seines in der Schlacht gefallenen Dichters, Theodor Körner, berühmt wurde, wurden die Burschenschafter zur Wehrbereitschaft angehalten, um die deutsche Nation gegen außerdeutsche Feinde verteidigen zu können. Gegründet worden war Philippis Verbindung in Straßburg, zog dann aber um nach Tübingen, wo zwei Burschenschaften dieses Herkommens noch heute existieren, die beide nicht zur Auskunft über einen ehemaligen Bundesbruder in der Lage sind.

Philippi absolviert nach der ersten kirchlichen Prüfung sein Vikariat in dem Dorf Altstadt bei Hachenburg und lebt 1893/94 wieder ein Jahr in seiner Heimatstadt Wiesbaden, weil er einen einjährigen Militärdienst im preußischen Füsilierregiment von Gersdorff ableistet. Er nimmt seine Vikariatstätigkeit wieder auf in Freiendiez, und schließlich eine Pfarrverwaltung an der Kirche St. Peter, die zwar am Rande der Stadt Diez steht, aber für Altendiez und einige andere Dörfchen zuständig ist.

Nach seiner Ordination am 7. Oktober 1894 – wenige Wochen bevor seine spätere Arbeitsstätte, die Ringkirche, eingeweiht wird, wird ihm vom zuständigen Generalsuperindendenten Karl Ernst7 geraten, zuerst eine Dorfpfarrstelle zu bekleiden. In die Stadt könne er, wenn er Erfahrungen gesammelt habe, immer noch gehen, - wenn er dann noch wollte. Ursprünglich hätte der junge Geistliche lieber dem Ange-bot Folge geleistet, an der Wiesbadener Marktkirche zu bleiben, wo man ihm eine Stelle angeboten habe. Er bekommt Bedenkzeit und schläft über den weisen Rat des „Pfarrergenerals“, wie er den Generalsuperintendenten in seiner Autobiographie nennt - und stimmt am nächsten Tag zu, in den Hohen Westerwald, nach Breitscheid zu gehen.

Fritz Philippi, im Chargenwix seiner Burschenschaft, vermutlich der Straßburger Burschenschaft Arminia zu Tübingen, ca. 1890, aus dem Besitz der Familie Philippi.

2 Selbstbezeichnung alter eingeborener Wiesbadener, „Vetterchen“.

3 Philippi wird 1897 nach Breitscheid in seine erste Pfarrstelle eingewiesen, wo er bis 1904 bleibt.

4 Peter Rosegger (eigentlich Roßegger; * 31. Juli 1843 in Alpl, Steiermark; † 26. Juni 1918 in Krieglach) war ein österreichischer Schriftsteller und Poet. Im Unterschied zu Philippi kam er aus bäuerlichen Verhältnissen und beschrieb volkstümlich das einfache Leben. Er vertrat eine nationale Haltung, auch wenn er sich von völkisch-antisemitischen Strömungen distanziert. (Vgl. wikipedia Rosegger, Peter (Art.))

5 Gangolf Hübinger, Protestantische Kultur im wilhelminischen Deutschland, in: IASL 16,1, 1991, 174-199.

6 Ruth Conrad, Lexikonpolitik, Die erste Auflage der RGG im Horizont protestantischer Lexikographie. Walter de Gruyter, Berlin, New York, 2006, 203.

7 Karl Ernst (1834-1902) folgte dem letzten Landesbischof der ehemals selbständigen nassauischen Kirche nach dessen Tod im Jahre 1882. Vgl. Heinrich Steitz, Geschichte der EKHN, III. Teil, Marburg ,1965,400.

B.II. Erste Pfarrstelle, Breitscheid, 1897-1904

Bevor Philippi nach Breitscheid geht – weder Eisenbahn noch Droschke erreicht den Ort im hohen Westerwald damals – heiratet er im Sommer 1897 in Limburg: Das Bild zeigt das junge Ehepaar Fritz und Elisabeth, geb. Zimmermann, deren Hochzeit in Limburg stattgefunden hatte. (Foto aus dem Privatbesitz von Thomas Philippi und Christiane Philippi-Stahl)

II. Pfarrer in der nassauischen Provinz

Philippi schreibt, dass seine Mutter sehr unglücklich über diesen Entschluss war, zumal sie als Städterin ein Leben auf dem Dorf als unvorstellbar ansah und an ihrem Sohn später immer wieder feststellen wird, dass er da oben „verbauere“. Er bewirbt sich im Februar 1897 für die Stelle und wird am 1. Juli Pfarrer im Hohen Westerwald. Schon am Sonntag darauf, den 4. Juli führt ihn der zuständige Dekan im Gottesdienst in sein Amt ein. Fritz Philippi führt ein beschauliches Leben als Dorfpfarrer und erlebt in Breitscheid die harten Auseinandersetzungen mit den regionalen Pietisten und später auch den Beginn der Industrialisierung. Die intellektuell etwas einsame Stelle, bei der er als einziger Akademiker einer lebenspraktischen, aber bildungsfernen Dorfbevölkerung gegenübersteht, hat zwei Folgen: Zum einen treffen sich einige gleichgesinnte Pfarrerkollegen regelmäßig zum „Weller Kranz“- dem Westerwälder Pfarrer-Kränzchen -, einer Art privatem Pfarrkonvent, wo man einerseits Klatsch und Tratsch austauscht, aber andererseits auch das diskutiert, was an Zeitfragen und theologischen Problemen anfiel. Zusätzlich beginnt Fritz Philippi mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit: Ab 1898 wird er regelmäßiger Kolumnist für die „Christliche Welt“, einem wichtigen Organ der theologischen Liberalen, das der Marburger Theologieprofessor Martin Rade in Zusammenarbeit mit seiner Frau Dora8 herausgibt. Dabei spielen Rezensionen eine Rolle, aber auch andere zunächst kleinere Kommentare. Wenig später beginnt Philippi mit der Erfindung von Dorfgeschichten aus dem Westerwald. Die ersten veröffentlicht er unter dem Titel „Einfache Geschichten“ im Jahr 1899. Mit diesen Westerwälder Dorfgeschichten trifft er den Geschmack weiter Kreise. Noch 1927, sechs Jahre vor seinem Tod wird ein Band solcher Geschichten erscheinen.

Der Erfolg dieser Geschichten hat eine tiefere Ursache, die mit der Bildungspolitik Preußens verbunden ist: Alles, was in Nassau nach 1866 gedacht und getan wird, hat seine Wurzel in der preußischen Politik. Michael Stürmer schildert die Veränderung der Bildungslage:

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in ganz Deutschland zu einer Bildungsexpansion, die nicht nur das Gefüge der Institutionen von der allgemeinen Volksschule bis zu den Akademien veränderte, neue Einrichtungen hervorbrachte, den Staat zu Forschungsinvestitionen verpflichtete und Inhalt wie

Umfang der allgemeinen Schulbildung veränderte, sondern auch zu einer Hauptkraft gesellschaftlichen Wandels wurde. Denn wer lesen konnte, erfuhr bald, daß das Leben anderswo leichter war als in der dörflichen Enge auf dem kargen Familienacker.9

Diese Zeilen kennzeichnen die Umbruchsituation, die für fast alle Menschen von großer Bedeutung waren, außer bei denen, die ganz weit draußen am Rande der Zivilisation lebten. So ist es kein Wunder, dass die von Philippi in seinen Westerwälder Geschichten geschilderten Formen religiösen Fundamentalismus‘ auf den Höhenzügen des Westerwaldes zu finden sind. Während ringsum die Bildungsangebote sprießen und den Horizont der breiten Menge erheblich weiten, dauert es hoch oben auf dem Berg länger und man fühlt sich dort verunsichert – gerade von der Welt der Bücher unten im Tal. – Auch die, die von dorthin entsandt wurden, um das Dorf und seine Bildungssituation zu bessern, der Pfarrer und der Lehrer, gehören auf einmal zu den Unsicherheitsfaktoren. Im Hinblick auf die Bewahrung des Väterglaubens bildet sich das Gemeinschaftswesen, das eifersüchtig auch die Prediger aus den eigenen Reihen holt, um jede Fremdbestimmung von der äußeren, intellektuell für sie nicht nachvollziehbaren Bücherwelt auszuschließen. Es entwickelt sich ein auf dem Gefühl aufbauender Fundamentalismus, nach dem die gebildete Welt der herkömmlichen Kultur feindlich gegenüberstehe und man dagegen eine „Wagenburg“ (Gilles Kepel) bilden müsse. Dieses Gegenbild entspricht dem, was Friedrich Wilhelm Graf als „harte Religionen“ bezeichnet:

Indem sie hohes religiöses Engagement, dichte Vergemeinschaftung, strikt zu beachtende soziale Normen und erhebliche Finanzmittel fordern, erschließen sie den in ihnen vergemeinschafteten Menschen in pluralistischer Unübersichtlichkeit und verängstigender Unsicherheit eine starke stabile Identität, krisensenresistente Welt- und Zeitdeutung, geordnete Familienstrukturen und dichte Netzwerke der Solidarität.10

Im damals wenig bildungsaffinen Westerwald, in dieser Welt derer, die die Bücherwelt als Bedrohung ansehen, wird Philippi zum Schriftsteller und Büchermacher. Kein Wunder, dass das Bekanntwerden seiner Autorenschaft im Dorf zum Vertrauensverlust und schließlich mit zu seinem Weggang führen wird.

Und was Philippi als Autor zugutekommt, ist ein verändertes Konsumentenverhalten der Leser. Während die „gehobene Literatur“ kaum neue Freunde findet, bedarf der Buchmarkt immer mehr trivialen Lesestoffes, um entsprechende steigende Bedürfnisse zu befriedigen.11

Philippi weiß, dass er Talent zum Fabulieren hat und so schreibt er mit den Erfahrungen aus seinen Dörfern Westerwälder Geschichten. Unbeschadet dessen, warum die Leser sie gern lasen, sind in ihnen Reflexionen verborgen über Konflikte, die sich im persönlichen Erleben rund um die Dorfgemeinschaft ergeben haben. Wie oben schon angedeutet, lässt sich das an den religiösen Auseinandersetzungen in seinen Geschichten deutlich ablesen, die denen entsprechen, die er später realistischer in seiner Autobiographie benannt hat. Während Philippi als Schriftsteller eine volkspädagogische Absicht verfolgt, werden seine frühen Schriften als Unterhaltungsliteratur verschlungen. Noch 1939 meinte Alfons Paquet in einer freundlichen Erinnerung an Fritz Philippi, dass dessen Literatur an einen sehr aufrichtigen Menschen um die Jahrhundertwende erinnerte.12 Damit umgeht er die zeitlich bedeutsame Periode des Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit mit Philippis Gedichten, Romanen und Theaterstücken und legt Philippi allein auf die Westerwälder und Zuchthausgeschichten fest. Mit seinen Geschichten aus der Provinz folgte Philippi – bewusst oder unbewusst - zudem einer Mode, die auch von anderen Autoren bedient wurde, wie Peter Rosegger oder Gerhart Hauptmann. Bücher versetzen ihre Leser in ein ganz anderes Leben, das Bauern, Heimwerker, Strafgefangene oder Arbeiter führen, irgendwo am Rande der Zivilisation. 1902 erscheint „Jörn Uhl“ von dem Pfarrer und Autor Gustav Frenssen und wird zum Bestseller der Epoche, ein Roman aus der Dithmarscher Gegend mit viel Lokalkolorit und im Volkston verfasst. Philippi erwähnt Frenssen13 und wird auch wahrgenommen haben, dass dieser sein Pfarramt niederlegen konnte, weil er sich vom Bücherverkauf hat ernähren können. Arthur Bonus, dessen theologische Arbeiten von Philippi mehrfach rezensiert wurden, war Pfarrer und Schriftsteller, der sich – allerdings nach einer schweren Brandverletzung – aus dem Pfarramt zurückziehen konnte.14 Ob Philippi ein Leben nur für die Literatur dem Pfarramt vorgezogen hätte, ist nicht bekannt. Während seiner Diezer Zeit bis 1910 wird er einmal das Angebot einer großen Tageszeitung bekommen, „in ihre Schriftleitung einzutreten“ und Redakteur zu werden. Philippi war allerdings zu sehr mit dem Pfarramt verwoben und fürchtete, dass er den nahen Kontakt zum Menschen vermissen würde – er lehnte ab.15

Erfolgszeichnungen von Otto Ubbelohde

Philippi hat Geschichten aus dem Westerwald bis 1927 neu verlegen lassen oder neu geschrieben, obwohl wir davon ausgehen können, dass die Themen seiner großen Romane ihm weit eher ein Anliegen gewesen sind, als das, was er in seinen Dorf- und Bauerngeschichten unterbringen konnte. Vielleicht ging es ihm ein wenig, wie dem grossen Marburger Jugendstilkünstler, Otto Ubbelohde16, dem nahezu Altersgenossen von Philippi: Mit seinen Zeichnungen zu den Grimmschen Märchen war er 1909 so berühmt geworden, dass er für diese wunderbaren kleinen Kunstwerke nur noch Hass empfand, weil unter ihnen sein künstlerischer Anspruch als Maler zu verschwinden drohte. „Es müsste nicht immer das blöde Federgekritzel sein. Ziegeldächer, Türmchen, Männeken. Es ist zum Heulen und zum Kotzen.“- Im Hinblick auf seinen literarischen Erfolg kommt auch Philippi kaum noch aus den Hütten