Haldor im Frühlingstal - Karl Friedrich Kurz - E-Book

Haldor im Frühlingstal E-Book

Karl Friedrich Kurz

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Beschreibung

Erdverbunden und voller seit Generationen überlieferten Bräuche und Lebensweisen sind die Leute von Solbö. Aber irgendwann wirbeln neue Zeiten die uralten Strukturen durcheinander. Auf einmal verkaufen die Bauern ihr Land gegen märchenhafte Aktien. Sogar Ornulf am Hang gewinnt mit Spekulationen: Sein neues Haus mit zehn Fenstern, Veranda und hoher Steintreppe ist schon regelrecht mehr als eine Villa. Nur am Hofbauer Haldor Enge scheint die Zeit vorbeizugehen. In keiner Weise kümmert er sich weder um den fernen Kriegslärm und den blutigen Wahnsinn noch um den unerhörten Segen und den gewaltigen Fortschritt in diesem Fjord. Er hat zwei Knechte, die sich gleich ihm nicht auf die Wunder der Konjunktur verstehen. Die drei leben auf ihre Weise ihre guten Tage und es fehlt ihnen an nichts. Nur auf seine Kinder Margit und Dagfinn wartet Haldor vergeblich. Als Margit in Seidenbluse und hohen Schuhen in den Stall ging und Dagfinn im schönsten Sonntagsstaat auf dem Feld arbeitete, kam es zum Streit und beide gingen fort. Haldor Enge gilt deswegen als starrhalsig und ist nicht beliebt am Strand von Solbö. Obwohl seine Kinder zurückkommen, begegnen ihm die Leute mit Hass und Neid. Eines Tages wird Bauer Helmer tot aufgefunden. Die Indizien, dass überhaupt ein gewaltsamer Tod vorliegt, sind mehr als dürftig. Trotzdem gelingt es den Bewohnern von Solbö mit Gewalt, Haldor und seinem Sohn einen Mord anzuhängen. Die Sage von Solbö – Lehrstück über die dunklen Urgründe der menschlichen Seele und eine Volksdichtung aus Norwegen.-

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Karl Friedrich Kurz

Haldor im Frühlingstal

Roman

Saga

Haldor im Frühlingstal

German

© 1937 Karl Friedrich Kurz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711518502

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Nyheim

Die Zeit geht. — Der Bauer Haldor Enge verlor die Hoffnung nicht und wartete ... Es ging Jahr um Jahr ...

Haldor Enge wohnt auf seinem Einödgaard zuoberst im Frühlingstal und wird immer älter; aber er glaubt an die Zukunft. Sein Haar ist darüber dünn und ganz weiss geworden; doch sein Kinn blieb breit und seine Nase kräftig — ho — und wenn er den Brustkorb wölbt und seine Stimme über den Hof hin erschallen lässt, mit Befehlen und Anweisungen, dann dröhnt es so mächtig, dass die nahen Felsenwände Antwort geben ...

Der Solböstrand und alle Welt lachte einst über Haldor Enge, den Hofbauern, den Unermüdlichen und Eigenwilligen, und meinte, dieser Mann müsse in der Entwicklung um mehrere Schritte zurückgeblieben sein. Dass er den schönen Engegaard, unten am Solböstrande, an Mons Bauge verkaufte, nun, das war noch seine Sache. Viele haben damals, gleich ihm, verkauft und Gottes Erdboden verschachert um Geld und Scheine und märchenhafte Aktien. Es zeigte sich ja bald, dass es Dreckgeld war, jammervolle Papiere ...

Jedoch gerade in der Zeit der schönsten Blüte, in der Zeit, da die goldene Woge herrlich über den Strand schlug und alle alten Überlieferungen über den Haufen warf und die erstaunten Menschen hoch emporhob und glücklich und reich machte und alle Dinge verzauberte — zu dieser Zeit wühlte und grub Haldor Enge am Rande der grossen Wildmark und kümmerte sich in keiner Weise weder um den fernen Kriegslärm und blutigen Wahnsinn, noch um den unerhörten Segen und den gewaltigen Fortschritt in diesem Fjord. Nein, Haldor Enge baute Wege und zog Gräben. Er hatte zwei Knechte — gewiss zwei schwachsinnige Menschen, die sich, gleich ihm, nicht auf die Wunder der Konjunktur verstanden ... Und so gruben denn diese drei und hatten wahrlich eine kindische Freude, wenn zwischen den braunen Felsen eine neue Wiese entstand oder ein kleiner Acker. Drei einfältige Arbeitstiere — sie gingen nur noch selten hinunter an den Strand von Solbö, weil die Welt ihnen so fremd geworden, weil das Gespötte der Leute ihnen lästig fiel.

Aber sie lebten auf ihre Weise ihre guten Tage und es fehlte ihnen an nichts ... Sie machten sich nur ein wenig lächerlich und verkauften, wie ehedem, ihre Waren: Milch, Butter, Eier, Fleisch, Kartoffeln und Birkenholz. Ja, damit trieben sie ihren spasshaften Handel, wo andere mit ihren Aktien von selber immer reicher und reicher wurden ... Sie nannten ihren Einödgaard Nyheim ...

Und sie lebten also ganz auf ihre eigene Weise. Sie lebten wie im Märchen, mit kräftiger Kost und viel frischer Luft; abends legten sie sich nieder und schliefen — ohne besondere Freuden, Erwartungen und Aufregungen, sie hatten nicht wilde Träume von Bankkursen. Allen dreien, den Knechten so gut wie dem Hofbauern lag immer nur der Gaard im Sinn. Sie blieben somit völlig altertümliche Landbewohner und Erdmenschen — eine Rarität, eine fast ausgestorbene Rasse ...

Sogar Ornulf am Hang lachte über diese komischen Nyheimleute. Seht, Ornulf besass in grauer Vorzeit dort am Hang den kleinen Gaard — knapp drei Kühe und ein halbes Dutzend Schafe ... Jesus — auch dieser Ornulf war einmal Landmann. Aber er war auch ein Mann, der sich wach hielt. Er erkannte die Zeichen der Zeit, bemerkte als einer der ersten die gute Veränderung in den Weltläufen und nutzte sie aus. Ohne zu zaudern liess er Gaard und Landwirtschaft fahren und kaufte Spekulationspapiere, tat einen kühnen Schritt. Und es glückte — einen Tag gewann er tausend Kronen und den andern Tag gewann er zweitausend Kronen. So konnte es gar nicht fehlen, Ornulf am Hang musste unbedingt gross und mächtig werden, Ornulf, der einmal einer der Geringsten war, der keinen Krämer duzen und kaum den Vogt auf offener Strasse anreden durfte ... Bald hatte dieser Mann so viele Wertpapiere in seiner Tasche, dass er von den Renten geschwollen und üppig wurde und sich an der Hauptstrasse ein Haus mit zwei Türen und zehn Fenstern bauen durfte. — Hei, ein Haus mit Fenstern auf sämtlichen vier Seiten und einem fremdländischen Knie im Dach, ein fast unmögliches Haus, das schon mehr eine regelrechte Villa war, mit Veranda und hoher Steintreppe, mit Säulen am Eingang. Und es musste selbstredend ein Zaun an den Weg und ein unnötiges Tor in den Zaun — Herr des Himmels — es wurde alles miteinander so unerhört grossartig, dass man es sich kaum grösser hätte vorstellen können.

Der Hofbauer Haldor Enge musste an diesem lästerlichen Übermut vorbeifahren, wenn er mit seinen erbärmlichen Waren zum Strande hinunter wollte. Haldor Enge drehte natürlich seinen Kopf scharf nach der andern Seite. Aber Ornulf war doch noch nicht so gross, dass er einen Haldor Enge einfach hätte übersehen dürfen. Unmöglich — überhaupt stand doch Ornulf jetzt tagtäglich hinter dem Fenster und rauchte seine Meerschaumpfeife wie ein Pastor. Deshalb kam er auf den Einfall, vor sein unerhörtes Gartentor hinauszutreten und den Hofbauern zu grüssen „Guten Morgen, du Haldor ... ja, du fährst Waren“, musste er sagen. Und da er auf eine solche höfliche Anrede keine Antwort erhielt, musste er weiter fragen: „Ich wundere mich nur, welcher Art Produkte du dort in deiner grossen Kiste hast, du Haldor ...“

Nein. Der Hofbauer dreht sein Gesicht noch ein wenig mehr zur Seite. Aber keine irdische Macht vermag Ornulf aufzuhalten. „Ja, du Haldor — mit mir verhält es sich nämlich so, dass mein Weibervolk so mancherlei verwendet und nötig hat in der Küche ... Ich bin sicher, dass du dir davon gar keinen Begriff machen kannst ... Ja, und hier stehe ich also vor dir und bekenne, dass es sogar mir selber bald zuviel wird, so wie sie es treiben, seit die Dienstmagd zu uns gekommen ist. Oh, du — und ich kann des Nachts schon gar nicht mehr schlafen wegen dem überfüllten Magen. Und, du Haldor, wenn es sich in deiner grossen Kiste dort zufällig um Butter handeln sollte, so steht hier vor dir wahrlich ein Mann, der imstande und willens wäre, dir dafür einen guten Preis zu zahlen ... Und ich will nicht zu viel behaupten, aber ich offeriere dir blank zwanzig Kronen für das Kilo ...“

Aber nein. Diesem Hofbauern gegenüber ist alle Vornehmheit nutzlos. „Butter? Ja, gewiss ist es Butter.“ „Aber weisst du denn nicht, dass alles rationiert ist und abgeliefert werden muss?“ fragt Haldor wütend. „Ja — ha ... Und die gesegnete Obrigkeit ... Man wird dir nicht mehr als fünf Kronen geben, du Haldor ... Und das bleibt ein schreiendes Unrecht — so wie du darum schuftest und dich abrackerst ... Und wenn es doch Gott sei Dank Leute in der Welt gibt, die einen anständigen Preis zahlen wollen und können ... Warte!“

„Nein, sag ich! Nimm die Hand vom Pferd weg! Was kümmert es denn dich und den Satan, wie ich arbeite und schufte ... und ich verkaufe dir die Butter nicht ...“ —

„Fünfundzwanzig!“ ruft Ornulf. —

„Nichts — fahr zur Hölle, du Lauspelz!“ sagt der Hofbauer.

„Sagst du das?! — Jetzt verklage ich dich!“ ruft Ornulf. —

„Nur zu — klage du!“ ruft Haldor Enge und bleibt rein unmöglich.

Ornulf mag nun auf der Strasse stehenbleiben und vor Wut lachen. „Hahaha — Was seid denn ihr noch für eine Menschenrasse, dort oben in euerer Ödmark? Seid ihr überhaupt noch Christenwesen, möcht ich wissen ...“ Oh, für die Nyheimleute wurde es in diesen Tagen sehr verdriesslich am Strande von Solbö.

Haldor lieferte also seine Butter ab; er bekam knapp fünf Kronen dafür. Der Staat setzte zum Exempel Höchstpreise auf Butter — zum Teufel ... Aber warum, zum Teufel, setzte derselbe Staat dann nicht auch Höchstpreise für Tabak? Überhaupt, warum liess der Staat all dieses verdammte Getriebe mit den Spekulationspapieren zu und machte nicht hundert neue Gesetze und verbot es? So ungefähr fragt Haldor Enge sich selber und ist ein finsterer Mann, der nicht viel reden mag in der verkehrten Welt vom Solböstrande.

Hingegen die Worte, die Haldor Enge nicht zurückhalten konnte, sondern fallen liess, waren kräftige und unzweideutige Worte. Man verstand sie und verstand sie doch nicht richtig, man wunderte sich über so viel Unvernunft bei einem alten Manne. Aber es war in gewissem Sinne auch wieder lustig, solches zu vernehmen — die überwundene Anschauung aus längst entschwundener Zeit ...

„Er ist vollständig verrückt und wunderlich — haha!“ riefen die Leute und lachten. „Fortschritt, alter Mann!“ riefen sie munter. „Wir andern haben uns also aufgerafft — wir gehen mit der Zeit ...“ Worauf Haldor Enge noch ein starkes Wort fallen lassen musste. Dann fuhr er wieder das Tal hinauf. Er war unveränderlich und unverbesserlich, mit Flüchen und bösen Worten geladen und ohne tieferen Respekt gegen Obrigkeit und Weltordnung ...

Die Leute standen in Friesaks Kramladen und schauten ihm nach. „In seinen gottvergessenen Ödlandsgaard — da passt er gerade noch hin“, sagten sie zueinander. „Und dieser Mensch kann niemals zu schicklichen Menschen passen, so brutal und rückständig, wie er ist ... Habt ihr gesehen?“ fragten sie, „er trug wahrhaftig seine Fellmütze, jetzt zur Mittsommerzeit ... Haldor Enge im Frühlingstal! Er steht einzig da in seiner Art — Gott bewahre uns alle vor ihm!“

Ach, man hatte über Haldor Enge wahrlich genug zu reden und zu lachen, in jenen schönen Jahren, die so schnell dahinschwanden. Der ganze Strand belustigte sich. Haldor Enge war ja allerdings niemals der Mann, der sich auf der Nase herumtanzen liess; er wurde mit der Zeit immer mehr aufbrausend und böse. Wenn es zum Beispiel ein junger Bursche wagte und es gar zu weit trieb mit dem Gespötte, dann konnte es in Friesaks Kramladen leicht vorkommen, dass Haldor Enge sich blitzschnell umdrehte und einem jungen Burschen eine braune, harte und unheimlich grosse Faust unter die Nase hielt und mit den Augen funkelte und mit den Zähnen knirschte. Und es war da kein Bursche am ganzen Solböstrande, der gewagt hätte, es dann noch weiter zu treiben. Nein. Sie wurden alsbald klein und zahm, und es trat Stille ein in Friesaks Kramladen. In dieser Stille vernahm man Haldor Enge: „Sag nur noch ein einziges Wort ... Ich will dich zermalmen, Knabe!“

Und es war nicht länger spasshaft. „Man sollte ihn nicht mehr unter schickliche Menschen lassen!“ riefen die Leute, wenn Haldor Enge gegangen war. „Denn er wird schlimmer und schlimmer. Und er ist jetzt schon so brutal, dass es rein gefährlich ist ...“

Mein Gott, Haldor Enge war nicht beliebt am Strande von Solbö. „Erinnert ihr euch noch, wie er seine eigenen Kinder misshandelte und vom Hofe vertrieb?“ fragten die Leute. „Er ist ein Tier! Er ist schlimmer als ein Tier. Er ist kolossal ...!“

Seine eigenen Kinder — ach ja. Das ist es eben, worauf Haldor Enge wartet. Er wartet auf die Rückkehr von Margit und Dagfinn. Sie liefen ihm vom Hofe fort. Haldor war vielleicht gar zu streng und hitzig und gewiss ziemlich grob mit Worten. Nur eine kleine, lächerliche Begebenheit war die Ursache ... Als der Sohn Dagfinn an einem Montagmorgen in vollem Sonntagsstaat den grossen Acker bei der Strasse pflügte, wurde Haldor Enge rasend. Als die Tochter Margit am gleichen Montagmorgen in Seidenbluse und dünnen Florstrümpfen und mit hochstöckligen Lackschuhen zum Melken in den Stall ging, wurde Haldor Enge rasend. Haldor war so hackend und kochend wütend, dass er dem Sohne Dagfinn den hohen, steifen Kragen und den bunten Schlips vom Halse riss. Und er riss der Tochter Margit die feine Seidenbluse von den Schultern, drehte sie um und trat ihr die hohen Absätze von den Stöckelschuhen. Und zu der Handlung sagte er nach seiner Art viele kräftige Worte und verging sich schwer gegen die Majestät des Kindes — überhaupt gegen die Kultur. Das sollte ihm nicht vergessen und verziehen werden.

Dagfinn liess an jenem unglücklichen Morgen Pflug und Pferde auf dem Acker stehen, verwünschte laut seine Ahnen und lief davon. Margit liess den Melkkübel im Stich, weinte und lief ebenfalls davon. Noch am gleichen Tage fuhren beide mit dem Postdampfer in die Stadt und verschwanden in der Ferne.

So wurde es also der Welt offenbar, welch grässlicher Tyrann dieser Haldor Enge war und wie er gegen sein eigen Fleisch und Blut wütete. Die armen Kinder — sie hatten eine Nacht durchtanzt ... Und sollte es vielleicht ein Verbrechen sein, mit steifem Kragen und buntem Schlips einen Acker zu pflügen? Oder sollte es wohl ein Verbrechen sein, in Seidenbluse und Lackschuhen die Kühe zu melken? Der Himmel sei diesem Vater gnädig ...

Nun, der Vater hat es bald bereut; er büsste wahrlich schwer für sein hitziges Geblüte ... Wären die Kinder ihm nicht davongelaufen, dann hätte er niemals, niemals seinen schönen Engegaard unten am Strand jenem Windhund Mons Bauge, dem Totengräberbub und Grossgauner verkauft. Nein, das soll Gott wissen! Es war eine fürchterliche Strafe. Jenes gute Stück Erdreich herzugeben für Papiere! Heiliger Boden war es, über den alle Vorfahren, soweit es an diesem Solböstrande eine Geschichte gab und man zurückdenken konnte, hinweggegangen und ihren Schweiss und ihr Leben vertropften ... Viele Menschen waren über das Engeland hingegangen; Männer und Frauen hatten sich selber geopfert und in Demut ihre Zeit gedient — und alles das nur, damit Haldor, der späte Sprössling, den Boden hergeben sollte, an einen Menschen wie Mons Bauge, dessen Vater nichts war als ein Totengräber und Hungerbäuerlein, dessen Grossvater ein elender Häusler gewesen und von dessen weiteren Vorfahren man überhaupt nichts wusste ... Es war eine wahrhaft höllische Strafe. Doch es sollte noch nicht Strafe genug sein ...

Was weiss der Solböstrand und das Frühlingstal von den vielen bösen Nächten, die Haldor Enge zugemessen wurden? Die Leute sind überall sehr schnell in ihrem Urteil und leichtfertig mit ihrer Abneigung; aber sie wissen so wenig vom Hintergrund der Dinge. Wenn Haldors Bett eine Zunge hätte und erzählen könnte, würde man einiges erfahren. Man würde Unglaubliches vernehmen, von Seufzen und Stöhnen und friedlosem Hin- und Herwerfen. Denn dieser Hofbauer Haldor liebte trotz allem seine Kinder. Haldor Enges viele Vorfahren mussten alle ihre Kinder lieben, darum opferten sie sich selber und schafften den Kindern ein schönes Heim und vertropften das eigene Leben auf der Scholle ... Es liegt doch ein tieferer Sinn auch in diesem. Alle die vielen Vorfahren sind streng gewesen gegen ihre Kinder und erzogen sie mit Prügeln und Härte, denn solches war Sitte in ältester Zeit. Hat nicht Gottvater selber seinen treuen Knecht Hiob geschlagen und streng gezüchtigt, nur weil er ihn so sehr liebte?

Soweit es sich um Haldor Enge handelt, nahm er seine Strafe auf sich und büsste. Er selber fand vielleicht, dass Gott ihm da sehr viel auferlegte — Gott, der doch sein Herz kennen sollte ... Ja, da konnte Haldor Enge hin und wieder auffahren und hitzig werden. Und wenn die Leute am Strande ihn zu allem Übel noch foppten, konnte er wohl seine mächtige Faust ballen und knurren. Er nannte die Leute vom Solböstrande „Schofelisten“. „Oh, ihr verfluchten Schofelisten!“ knurrte er, und hasste sie aus aufrichtigem Herzen.

Dann zog er ins oberste Frühlingstal hinauf, vergass sich selber, seine Ahnen und den stolzen Engegaard und richtete seine Blicke auf das Heideland und auf den neuen Boden. Nicht für nichts nannte er das neue Land Nyheim. Er wollte seinen fernen Kindern eine neue Stätte schaffen. Er lehnte sich im Trotze auf gegen die unverständige Welt, die er kaum kannte ... Aber die Welt hastete ruhelos weiter — und nun schritt sie über ihn hinweg.

Haldor Enge war so sicher, dass die ferne Welt seine Kinder einmal wieder von sich stossen und ihm zurückgeben musste. Darum zog er die vielen Gräben im obersten Frühlingstal, baute eine gute Fahrstrasse bis vor sein Haus, vergrösserte Stall und Scheune, verschönerte das Wohnhaus. Er strich das Wohnhaus sogar in reiner Vermessenheit mit weisser Ölfarbe an und setzte ihm ein graues Schieferdach auf, das glatt lag und schimmerte und noch seine Kindeskinder überdauern sollte.

Des Abends sass Haldor Enge mit seinen beiden Knechten und den beiden Mägden in der Grossstube. Die Mägde spannen Wolle, genau wie in den fernen Tagen, ehe Mons Bauge seine Tuchfabrik an diesem Strande gründete. Die Männer schnitzelten Holzschuhe und kauten Tabak dazu und bespuckten den eisernen Ofen. Es roch in dieser Stube nach wirklichem Menschendasein, nach Landwirtschaft und Weltabgeschiedenheit.

Dieserart ging die Zeit auf Nyheimen. Ja, die Zeit ging — über den Solböstrand ging sie mit unerhörtem Glanze und übermenschlichem Reichtum, sie brachte Fortschritt und Entwicklung und verhiess eine Zukunft ohne Grenzen ... Doch völlig unvermutet rollte die goldene Woge wieder davon und verebbte. Zurück blieb ein sorgenvoller Zustand. Und ein Jammer sondergleichen erhob sich.

Mons Bauge, der das neue Leben und alle Schönheit brachte, verschwand. Alle strahlende Zukunft verschwand. Alle Reichtümer und alle Träume zerflossen in nichts ... Das neue Leben? Es war ein wundervolles Märchen — auf einmal war das Märchen zu Ende und die harte, hässliche Wirklichkeit begann abermals. Ein Mann wie Ornulf vom Hange verlor mit allen seinen Wertpapieren auch noch seine zehnfenstrige Villa und die Dienstmagd — es war in der Tat eine grausame Prüfung. Bald hatte dieser Mann Ornulf nicht einmal mehr billigste Margarine aufs Brot, sondern nur Tränen. Noch viel weniger hatte er Zucker in den Kaffee ... Er fiel unvermittelt aus allem Luxus der Gemeinde zur Last. Heute sitzt er mit seinem Weib im Altersheim von Akerud und der volle Magen bereitet ihm keine schlaflosen Nächte mehr.

Das Schicksal spinnt unermüdlich seine Fäden und hat verwunderliche Launen. Mit dem Volk von diesem Solböstrande sprang das Schicksal doch gar zu lustig um. Es gab ihm zuerst viel, machte die, die wenig hatten, wohlhabend und die Wohlhabenden reich — dann auf einmal nahm es ihnen alles wieder, auch das Wenige, was sie vordem besessen. Kein Mensch kann solche Ungerechtigkeit ruhigen Sinnes hinnehmen. Die Leute kamen viele Wochen lang nicht mehr aus Empörung und Zähneklappern heraus. Das Volk vom Solböstrande sollte aus unerforschlichen Gründen überaus hart gezüchtigt werden; es wurde mit unnötig viel Leid geschlagen.

Bald war man hier ebenso klein, wie man vor kurzem noch gross gewesen. Und alle waren jetzt um vieles ärmer. Der geringe Besitz war mit Schulden vertauscht — die Lasten drückten ungeheuer und machten die Leute demütig. Es fiel nun keinem mehr ein, über Haldor Enge, den ewigen Hofbauern, zu spotten, den Mann zu verachten, der sich eigensinnig an seinen Erdboden klammerte und weder gehoben noch gesenkt werden konnte von der gleissenden Woge. Seht, dieser Haldor Enge ging völlig unberührt durch die Zeit des Märchens und des Glanzes hindurch. Nun stand er auch vom Elend unversehrt da ...

Ei, gewiss, die Menschen vom Solböstrand und die Menschen vom Frühlingstal überlebten schliesslich die Ebbe irgendwie ... sie lebten einfach weiter. Dabei mussten sie sich allerdings wieder vieles abgewöhnen, was der Wohlstand ihnen geschenkt. Und sie gewöhnten es sich ab und wurden wieder anspruchslos und gottgefällig. Aber es bleibt doch ein grosses Unglück, zu fallen und arm zu werden.

Einige taten öffentlich Busse und bereuten ihre Sünden und klagten mit zitternder Stimme die Welt und das lasterhafte Leben an. Einige klagten nur Mons Bauge, den Grossgauner und die Zeitläufte an, ohne an die eigene Schuld zu denken ... Oh, es entstand grenzenlose Verwirrung an allen Ecken und Enden.

Haldor Enge aber blieb genau so, wie er immer gewesen — ein Mann mit breitem Kinn und dunkeln, funkelnden Augen. Er wurde durch Krieg und Friedensschluss weder besser noch schlimmer, weder reicher noch ärmer. Allerdings, man liebte ihn noch immer nicht am Solböstrande. Nein, weit entfernt. Man liebte ihn jetzt noch weniger als vordem. Solange die Millionen rollten und die Leute im Überflusse schwelgten, durften sie über den Einödbauern aus ehrlichem Herzen lächeln und konnten ihm das Seine gönnen. Jetzt aber gönnten sie ihm das Seine nicht länger, denn der Mangel schnitt ihnen schmerzhaft ins eigene Fleisch. Sie meinten wohl, ganz nach Menschenart, irgendwie sei hier ein Unrecht geschehen. Weshalb, in des Herrn Namen, sollte ein brutaler Mensch und ein Mann, der sogar seine eigenen Kinder vom Hof vertrieb, nicht ebenfalls Mangel leiden? Aber nein. Haldor Enge hat jetzt auf seinem Gaard mehr als zwanzig Milchkühe, drei Pferde und wohl ein halbes Hundert Schafe. Haldor Enge hat keine Schulden auf seinem Gaard. Wo bleibt hier die gepriesene Gerechtigkeit? Wenn doch so viele rechtschaffene Menschen vollends niedergeschlagen werden ...

In seiner Einfalt blieb Haldor Enge das, wozu er auf diese Welt kam — jetzt ist er Herr über ein gewaltiges Stück Wildmark, Herr über einen ganzen Berg ... „Was tat er eigentlich dafür?“ fragten die Leute unter sich und schüttelten missbilligend die Köpfe. Und dermassen gingen also die Jahre mit ihren Freuden und Leiden — es vergingen ihrer volle sechs ...

In Nyheimen kamen sie auf die tolle Idee, eine Mühle und Säge zu bauen. Eine Mühle? Ja. Da stürzte sich doch ein weisser, mutiger Wasserfall über die hohen Felsen und erfüllte die ganze Gegend mit Gepolter und Getöse. Das tat er seit ungezählten Jahrhunderten. Die Menschen beachteten ihn gar nicht, sondern liessen ihn nach seinem Gutdünken weiter fauchen und brausen. Und das ging nun so lange, bis Haldor Enge im Frühlingstal erschien; der konnte nicht, wie alle die andern, an dem starken, mutigen Wasserfall vorbeigehen und ihn ungestört tosen lassen, sondern musste sich sogleich seine Gedanken machen. Schon im Winter hatte er die Grundmauer angelegt. Aber es kam dann so vieles dazwischen, und immer wieder etwas Neues. Meistens rief das Land und brauchte alle Arme. Dann, als man endlich bauen wollte, waren nicht genug Balken da. Gar manches stellte sich diesem Werk entgegen. Aber nun soll es vollbracht werden. Überall liegen Haufen von Bohlen und Brettern herum. Es soll hier nicht nur eine elende Klappermühle, es soll eine neuzeitliche Säge erbaut werden. Wahrhaftig die blanke Zirkelscheibe mit den vielen Zähnen und andere Maschinenteile sind schon angekommen.

Was will Haldor Enge mit diesem ungeheueren Werk? Ach, er will wohl im Grunde gar nichts weiter, als seinen Willen durchsetzen und dem starken Bach Zügel anlegen. Er denkt an nichts Besonderes, weder an grosse Einkünfte noch ferne Möglichkeiten; er denkt höchstens so: In meinem Wald stehen heute wirklich gute Tannen und Lärchen und Föhren ... ei, gar nicht so wenige ... und ich habe sie nun manches Jahr gepflegt und geschont. Bald werden die jungen nachwachsen und ihren Raum fordern. Warum aber sollte ich mit den Stämmen den langen Weg ins Tal und mit dem geschnittenen Holz den noch längeren Weg bis nach Nyheimen herauf machen? ...

Mehr dachte Haldor Enge gewiss nicht. Er wollte nur unabhängig werden vom Tal. Er wollte auf sich selber gestellt sein. Da er aber die Mittel und die Macht dazu hatte, konnte er sein Werk vollbringen.

*

Ein Frühherbstabend

Es ist ein Abend im Frühherbst ... ein stiller Abend mit unbegreiflich viel Frieden und einer silbernen Klarheit in der Luft ... Da hat man einen weiten Blick durchs Frühlingstal hinunter. Wenn einer die Strasse heraufkommt, sieht man ihn von weitem; und wenn es ein Fremder sein sollte, ein Mann mit braunem, hohem Hut und dunklem, langem Mantel, dann vergisst man möglicherweise die Arbeit und dreht den Kopf hinüber. Denn man ist in diesem Tal doch, wie überall in der Einsamkeit, so von Herzen neugierig.

„Bessere mich!“ wispert der Knecht Tollak und pufft den Knecht Sigurd in die Seite, „was soll das nun bedeuten ...?“

Auch der Hofbauer Haldor Enge hat sich aufgerichtet. Auf einmal fährt es ihm wie ein heisser Strahl in den Rücken. Seine Augen sind immer noch scharf und sicher; daran fehlt es wahrlich nicht. Aber er muss jetzt seine Hand über die Augen legen. Und so steht er ein Weilchen und sein breites Kinn beginnt zu arbeiten und zu beben.

Doch mit einem scharfen Rucke wendet der Hofbauer sich wieder seinem Bauwerk zu und hämmert wild drauf los. In diesem Falle dürfen die Knechte nicht länger müssig herumstehen. Nein, nein — aber die Knechte, von welcher Menschenrasse sie auch immer herstammen mögen, sind auch nur fleischliche Wesen. Es schoss doch auch ihnen heiss und kribbelig in den Rücken, denn sie verstehen ja alle beide, dass hier sogleich etwas vor sich gehen wird ... Drei Männer arbeiten; aber sie arbeiten nur mit fahrigen Händen. Bis der Knecht Tollak es unbedingt nicht länger aushalten kann, sondern rufen muss: „Peitsche mich — aber er ist es!“ Und damit nicht genug, wendet der Knecht Sigurd sich zurück und ruft seinem Hofbauer zu: „Haldor Enge — dort kommt der Sohn Dagfinn zurück ...“

Leider hat Haldor Enge zu dieser Stunde es mit einem Firstbalken zu tun, der sowohl verhext wie verzaubert sein muss, der will sich weder mit Güte noch mit Strenge fügen und einpassen lassen. Es handelt sich hier vielmehr um ein ganz und gar verfluchtes Holz, das nur emporgewachsen ist, die armen Menschen zu verdriessen und ihnen unnütze Arbeit zu bereiten, so dass sie nicht Auge und Ohr haben können für anderes. Und es geht wahrlich einzig und allein auf diese Weise, dass der Hofbauer der Strasse und jeder fremden Erscheinung auf der Strasse, ja, der gesamten Welt seinen breiten Rücken zukehren muss. Wie hätte er da bemerken können, dass ein junger Herr auf den Nyheimgaard ging? Wie hätte er es sehen können, dass die Mägde die Hände über den Köpfen zusammenschlugen? Nichts — nichts ... Haldor Enge knurrt wütend: „Beim Hunde — hast du je so etwas erlebt? Dreimal habe ich schon davon abgesägt ... und jetzt ist er also zu kurz ...“

Nein, mit diesem verzauberten Firstbalken ist durchaus nichts anzufangen ... Aber welch ein sonderbarer Abend. — Dem erzürnten Hofbauern streckte sich von hinten her eine Hand hin, so dass er verwundert aufschauen muss. Weiss er vielleicht, worum es sich hier handelt? Nein. Wie hätte er denn beim Tosen des Baches nahende Menschentritte hören sollen, an diesem Ort, wo das Moos fussdick über allen Steinen liegt?

„Guten Abend, Vater“, sagt jemand. „Gott segne dir deine Arbeit!“ sagt jemand. — „Guten Abend ...“ Aber dieser Hofbauer kämpft doch mit einem verhexten Firstbalken und steht in andern Gedanken. Und der Bergbach brüllt noch lauter als sonst. Der Hofbauer ruft: „Ja — siehst du — er sollte eigentlich sechs Ellen und fünf Zoll haben ... Pein und Tod! ... Aber jetzt hat er also ganze zwei Zoll zu wenig ...“

So redet an diesem klaren Herbstabend der Vater Haldor Enge, und fährt fort in seiner Arbeit ... „Du glaubst es wohl nicht ... aber dieses Holz hat wahrlich den Teufel im Leib ... Ja, ja, wie du wohl selber bemerken kannst, soll hier eine Säge und Mühle hingestellt werden ...“

Und wenn nun das mit dem zu kurzen Balken nicht passiert wäre, hätte an diesem Abend, bei diesem Herrenswetter der Dachstuhl noch aufgerichtet werden können ... Oh, dieser Haldor Enge, der unbesiegliche Hofbauer! Nur einen hastigen Blick aus den äussersten Augenwinkeln warf er auf seinen Sohn Dagfinn. Er nahm sich nicht einmal soviel Zeit, den Kopf ganz nach rückwärts zu drehen. Nein, er steht nur so da und kratzt sich unter dem Mützenrand und verwünscht mit bösen Worten die zwei Zoll, die am Balken fehlen.

Neben dem Hofbauern steht Dagfinn, braungebrannt von südlichen Sonnen, breit in den Schultern und mit einem überlegenen Lächeln. „Nimm es nur mit Geistesgegenwart und Seelengrösse!“ ruft Dagfinn. „Morgen, Vater, wirst du noch immer dein Herrenswetter haben — sonst will ich nicht länger Seemann sein und mich auf die Aspekte am Himmel verstehen ...“

Ja, dieser Haldor Enge! Sechs Jahre lang hat er auf den grossen Augenblick gewartet und ihn herbeigesehnt in tausend bösen Nächten. Aber er weiss ja wohl, dass sein Bett keine Zunge hat; darum darf er jetzt seinen Rücken ein wenig strecken und seinen Kopf ein wenig heben. „Bist du Seemann geworden?“ — „Das will ich meinen!“ ruft Dagfinn.

Darauf schweigt Haldor Enge und überlegt sich etwas und lässt sich gut Zeit dazu. Dann fragt er und schaut seinem Sohn auf einmal mitten ins Gesicht: „Wo kommst du her?“ Aber der Sohn Dagfinn ist nicht einer, der die Augen niederschlägt vor einer schnellen Frage. Ho, dieser Sohn musste durch die Schule des Lebens gehen. Da wuchs er in seiner Weise und wurde reifer. Seine Augen lächeln noch immer. Ja, und jetzt eben komme er aus einem Lande, das Argentinien heisst.

„Und warum bist du zurückgekehrt?“ fragt der Hofbauer.

„Warum ich zu euch hinauffuhr, fragst du? — Ja, siehst du, Vater, ein reiner Zufall ... Wir lagen vor zwei Wochen in Hamburg ... ja, und da hörte ich Möwen schreien ... Du kannst es wohl gar nicht verstehen, aber die Möwen schrien anders, als die Möwen auf anderen Meeren ... Und es wehte ein frischer Nordwind. Und es fuhr ein kleiner Blechkasten von einem Dampfer an uns vorbei, er kam von Haugesund mit Klippfisch ... Er roch so stark nach der Heimat ...“

„Wo hast du deine Schwester?“ fragt der Hofbauer. — „Margit? — Sie dient doch dort unten ... in einer Stadt im Süden ... Ich habe ihre Adresse im Koffer. — Doch, wenn es der Fall sein sollte, dass es dir nicht passt, Vater ... dann kann ich auch ebensogut gleich wieder davonfahren ... Heute nacht geht das Postschiff ...“

Ungefähr in dieser Weise ging das Wiedersehen vor sich. Es ging doch ziemlich anders, als Haldor Enge es sich gedacht. Keine Spur von Reue und verlorenem Sohn, nichts von Säuehüten und Lammfell um die Hüften, keine salzigen Tropfen in den Augen — rein gar nichts von Zerknirschung. Oh, nein. Es wurde vielmehr eine ganz unbiblische und alltägliche Begebenheit, ein kleines Gespräch vor einem Mühlenbau am Bach im obersten Frühlingstal ... Ein junger Seemann kehrte ins Vaterhaus zurück; und er tat dies grösstenteils zu seinem eigenen Vergnügen — keine Notwendigkeit trieb ihn hierher, nicht einmal eine überwältigende Sehnsucht. Es ist wohl nur eine flüchtige Laune ... Und, guter Vater Haldor, nur ein kleines Wort, nur ein leiser Wink — dann marschiert dein Sohn wieder die Strasse hinunter und fährt davon. Die Welt ist wahrlich immer noch gross genug und das Meer ist noch so strahlend blau von Abenteuern ... „Du kannst bleiben“, sagt der Hofbauer schnell.

Aber dann musste der Firstbalken doch noch gelegt werden ... Und das war nun trotzdem ein wenig wunderlich. Ein junger Seemann stand ein paar Schritte abseits, betrachtete den Wasserfall sehr genau und den braunen Felsenberg über dem Wasserfall und den reinen Herbsthimmel über dem Berg. Er lächelt nicht mehr in Überlegenheit und im Selbstvertrauen der Jugend. Wahrscheinlich hatte auch er sich diese Sache ziemlich anders vorgestellt. Sollte es denn wirklich so wenig bedeuten, wenn ein Sohn aus dem fernen Lande Argentinien bis in dieses oberste, einsamste Frühlingstal, von dem niemand in der Welt eine Ahnung hat, hinaufreist? Soll der junge Seemann hinfort im weichen Moosteppich stehen, das nordische Wasser brausen hören und Zeuge sein, wie ein zu kurzer Firstbalken auf eine kleine Sägemühle gelegt wird?

Und jener alte, eigenwillige Mann, Haldor Enge, der unermüdliche Landmann ... er verlor an einem Tage seine beiden Kinder und seinen schönen alten Hof und verliess die Stätte, die ihm vom Schicksal bestimmt war. Er wanderte allein für sich im Schatten der Felsenberge, als der Strand im Sonnentaumel und Goldrausch flimmerte; kein Hohn, kein Glanz brachte ihn von seinem Wege ab ... In unmenschlichem Trotz krümmte er seinen Rücken und schuf neues, grünes Land aus der Heide ...

Ein junger brauner Seemann hat gewiss schon mancherlei gesehen in der Welt; doch es wird ihm rein unbehaglich, wie der alte Hofbauer dort oben zwischen den Sparren seine Axt schwingt ... Und wenn man es richtig betrachtet, wird Dagfinn Enges Heimkehr schliesslich trotzdem noch zu einer kleinen Begebenheit ...

Mancherlei geschah ja schon vordem. Aber die seltsamen Ereignisse auf Nyheimen nahmen doch erst ihren Anfang, als der Sohn Haldor Enges aus der weiten Welt wieder am Strand von Solbö erschien.

*

Die Perlennadel

Oh, es begann im Grunde mit diesem und mit jenem — unter anderm begann es auch damit, dass in Birger Vaarda der Grössenwahn fuhr, dass er eines Morgens aufwachte und den Entschluss fasste, bei Hylnes eine Dampfschiffsbrücke zu bauen, ein unerhörter Einfall! Hylnes liegt doch noch keine Wegstunde vom Solbölande entfernt ... Haha — wohnen denn überhaupt Menschen in Hylnes? „Ich habe sie gezählt“, sagt Birger Vaarda, „wir sind nahe an die zweihundert Ansitzer, alles in allem.“ — „Haha!“ lachen sie. „Da hast du die Schafe und die Hühner alle mitgerechnet, du Birger.“ — „Nein — nur die Kinder ... Und nun überlegt es euch doch einmal, wie viele Fuhren ihr machen müsst im Jahr, mit Mehl und Fleisch und allem ... den weiten Weg hin und her zum Solböland; wie viele Stunden ihr euch in einem einzigen Jahr ersparen könnt. Ja, denkt doch einmal darüber nach, ihr guten Leute ...“

Das taten sie, die Leute vom Hylnesstrande; sie nahmen sich die Zeit dazu. An Gedanken und Meinungsäusserungen hat es wahrlich noch niemals gefehlt in dieser Gegend. Von jeher war es so, dass man lange um eine Sache herumging, ehe man sich daran machte, man betrachtete sie genau von allen möglichen Seiten — und man fand dann immer noch etwas mehr zu sagen.

Hingegen dieser Birger Vaarda war ja rein besessen von seiner Idee. Er sagte: „Und wenn ihr mir auch nicht mit einer einzigen Handreichung beistehen wollt, so schreckt mich das nicht. — Dann fange ich allein an“, droht er. „Nur zu, du!“ sagen sie und nicken höhnisch.

Da sollte Birger Vaarda also seinen Willen haben. Er fing allein an. Dabei zeigte sich allerdings, dass Birger Vaarda nicht Hafergrütze in den Knien, sondern, dass dieser Bursche, obschon er noch keine dreissig Sommer zählt, schon Bein in der Nase hat. Und Birgers Nase ist sowohl lang wie dick.

Aber das Schicksal hat auf Birger Vaarda ein scheeles Auge gerichtet. Es wählte ihn aus zu besonderen Taten. Es schaukelte ihn kräftig hin und her. Jetzt erhebt er ihn zum Führer und Häuptling, obschon er nicht von hoher Herkunft ist.

Kann man hier überhaupt von Herkunft reden? Jens, sein Vater, wurde doch nur so an diesen Strand geworfen. Kein Mensch wusste, woher er kam. Jens — er zog heran gleich der Wolke am Himmel. Und nach kurzem gab es irgendeine Sache mit Inga. Und daraus wurde eine Hochzeit und Kindstaufe — fast alles auf einmal. Jens übernahm die Regierung auf dem kleinen Gaard Vaarda. Unnötigerweise und überraschend ward der Knabe Birger in diese Welt hineingesetzt. Man könnte glauben, dass Jens nur zu diesem Zwecke aus dem Unbekannten hervorgetreten sei; denn wenige Wochen, nachdem Birger in die Welt gesetzt war, verschwand Jens daraus. Jens verschwand eigentlich nicht spurlos. Man fand seine irdische Hülle am Strande. Jens war doch Fischer — ein Mann, der sein Leben und seine Zukunft ganz aufs Meer setzte. Da hat ihn also das Meer genommen ...

Im Meer liegt, heute wie ehedem, das Märchen und die bittere Wirklichkeit. Das Meer gibt sowohl Glück wie Tod. Es schafft Männer und vernichtet sie, in göttlicher Laune.

Jens war in seiner Art ein Mann; soviel ist sicher. Er trotzte dem Südsturm. Aber der Sturm war stärker und schlug ihn ...

Birger wuchs heran und es zog auch ihn aufs Meer. Noch ehe er konfirmiert war, tat er mit beim Winterfischfang, verdiente und sparte und legte Geld auf Geld. Es floss neben dem Vaterblut auch das Blut seiner Mutter in ihm, gutes, dickes Bauernblut.

Und dann, auf dem Winterfischfang, in einer schwarzen Nacht, brauste eine mächtige Woge über Deck, fasste Birger Vaarda, hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen das Gangspill. Und da lag er mit eingedrückten Rippen. Das Meer hätte ihn töten können, mit einem einzigen Prankenhieb. Doch das sollte nicht geschehen. Das Meer zeichnete ihn nur. Birger kam bald wieder auf die Beine. Allerdings sollte er nicht wieder der frühere Birger werden; seine Kraft war gebrochen ... In einer Art Auflehnung wollte er nun die Landungsbrücke bauen.

Birger setzte von jeher eine unheimliche Fahrt in alles, was er unternahm. Nun, da er diesen Brückenbau einmal auf sich genommen, ging er ihn sogleich an mit gesenkter Stirn. Trotzdem wurde es ein klägliches Beginnen. Das Meer blieb Birger Vaarda weiterhin feindlich gesinnt. Es spülte die Balken und Gerüste, die er darein stellte, sogleich wieder fort. Auf diese Weise konnte es also nicht gehen. „Und das kannst du dir doch wohl selber denken“, sagten die Nachbarn. „Bist du nicht länger bei Verstande, du Mensch? Spar dein gutes Geld!“

Doch Birger war klar genug in seinem Verstande; er wusste, was er wollte. Weiterhin trotzte er dem Meer. Er liess einen Taucher kommen und sparte sein Geld nicht. Der Taucher schuf nun die solide Unterlage; langsam fügte er Stein an Stein. Oh, es war ja ein wirklicher Taucher mit Kupferhelm auf dem Kopfe und Bleisohlen an den Schuhen — wenn er sich ins Wasser hinabsinken liess, stiegen Blasen hoch. Es war das reine Abenteuer auf Hylnes. „Dort wirft Birger Vaarda sein gutes Geld ins Meer“, sagten die Nachbarn. „Er ist total verrückt.“

Es wurde wahrlich manches Wort geredet in dieser Angelegenheit. Sogar der Krämer Friesak schwieg nicht und sagte: „Das wird niemals angehn.“ Der Krämer hatte dabei natürlich einen unbehaglichen Hintergedanken. Aber Birger Vaarda liess sich durch keine Worte einschüchtern, er liess seinen Taucher unbeirrt in die Meerestiefe hinabgleiten. Da musste mit der Zeit die Landungsbrücke erstehen. Sie wuchs langsam und sicher aus der Tiefe herauf. Das Meer wütete nicht übel dagegen; aber es wusste sich für dieses eine Mal an den grossen Steinen die Zähne ausbeissen ...

Zu dieser Zeit kehrte also Dagfinn Enge ins Frühlingstal zurück. Die Leute vergassen darob Birger Vaardas frevlerische Landungsbrücke und wandten sich gierig der letzten Neuigkeit zu. Es wurde am ganzen Strande bekannt, dass der Sohn Dagfinn, nachdem er Wasserfall, Berg und Himmel gründlich betrachtet, seinen feinen Rock auszog, mit seinen gelben Schuhen in den Dachstuhl kletterte und kräftig mithalf, den verfluchten Firstbalken zu legen. Und damit war der verlorene Sohn wieder da — im Grunde durfte es wohl gar nicht anders zugehen.

Der Sohn sass mit einem Male wieder am Tisch und erzählte von fernen Ländern und gottlosen Hafenstädten. Die Knechte hörten es und traten einander auf die Füsse. Die Mägde staunten und kicherten, manchmal empörten sie sich laut über die Ausgelassenheit der fremden Weltmädchen. Der Hofbauer lauschte den Reden seines Sohnes und tat keine Frage. Dabei wurde er schläfrig und gähnte.

Aber dennoch und trotzdem war nun der Sohn wieder da. Und es wurde viel lebhafter auf Nyheimen als ehedem. Mit aller Welt Geheimnissen und Unheimlichkeiten war dieser Sohn im Vaterhaus erschienen. Der Knecht Tollak fuhr an den Strand und holte eine Schiffskiste und einen langen Koffer mit gelben Beschlägen — Gott allein weiss, welcher Art Reichtümer dort verborgen lagen.

An den drei ersten Tagen zum Exempel trug Dagfinn drei verschiedene Anzüge. Er trug seidene Schlipse und machte sich über alle Massen fein und weltmännisch. Jeden Augenblick konnte er aus seiner Westentasche eine dicke, schwere Golduhr mit Deckel ziehen. Diese Uhr hing an einer goldenen Kette, und die Kette lief durch ein Knopfloch der Weste über die ganze Brust hinweg. Natürlich trug Dagfinn Enge auch einen Goldring mit Stein am Finger. War dieses denn nicht schon sehr viel und fast mehr als genug? Nein.

An Dagfinns Rockkragen stak eine Nadel mit weisser Perle. „Und was soll das denn sein?“ fragte Tollak, der Knecht. Dagfinn antwortet darauf nicht ohne weiteres. Er antwortet überhaupt nicht, sondern legt nur seine Hand über die Perlennadel. Es konnte demnach keine Kleinigkeit sein.

Oh, wie wurden da die Knechte und Mägde neugierig. „Gewiss ist auch die Nadel von Gold?“ musste Borghild fragen. „Und ganz gewiss hast du sie in einem ungeheuer fernen Lande gekauft?“

Hierauf zog Dagfinn seine Hand noch immer nicht zurück. Ach, er schüttelte nur ein wenig den Kopf und lächelte über die Einfalt der Magd. „Wo denkst du nur hin, du Borghild! Eine solche Perlennadel lässt sich nicht kaufen ...“

Wie? Dann muss Dagfinn sie also wohl geschenkt bekommen haben — vielleicht sogar von einem dieser gottlosen Frauenzimmer, die keinen Funken von Scham mehr im Leibe haben? Aber nein. Dagfinn lächelt weiter. Mit der Liebe hat das nicht das allermindeste zu tun. „Es ist ein Zeichen“, sagt er leise.

„Du grosses Mirakel — was für etwas?“ wundert sich Borghild, die Magd. „Nein, nein — man darf darüber nicht reden“, sagt Dagfinn. „Und zudem würdest du das ja doch niemals verstehen, altes Mädchen.“

Es handelt sich hier also um das schwärzeste Geheimnis und jedenfalls um etwas, was im Frühlingstal niemals aufgeklärt werden kann. „Höchstens so viel darf ich dir vielleicht verraten“, sagt Dagfinn, „dass ich damit durch alle Länder der Erde und ganz bis ans Ende der Welt fahren kann. Und ich werde an allen Orten mächtige Freunde finden. Wenn ich je in Not geraten sollte, so darf ich sie nur anrufen, dann werde ich sogleich Hilfe finden ...“

„Du Herr im blauen Himmelreich!“ schreit die alte Magd. Nun gleitet Dagfinns Hand sachte nieder. Und dort steckt sie, die wunderbare Perlennadel — es ist unfassbar. Es ist das leibhaftige Märchen.

Hierauf wird es still in der Stube. „Morgen wollen wir mit dem Grund von Tuland anfangen“, sagt Haldor Enge in diese Märchenstille hinein. „Ist Dynamit da?“ — „Dynamit, Lunte, Zündhütchen — alles ist da“, erwidert der Knecht Tollak, reisst sich von fernen Weltwundern los und ist mit einem Schritt und mit ganzer Seele beim Erdboden von Nyheimen. „Ich denke, wir sollten zuerst einen tiefen Hauptgraben anlegen. Denn es steht dort oben höllisch schlecht mit dem Gefälle.“ — „Das müssen wir wohl“, bestätigt der Hofbauer.

Aber der Knecht Sigurd mit seinen zwanzig Sommern ist noch lange nicht fertig mit den Geheimnissen der Fremde. „Was müsstest du nun tun, wenn du in Not geraten solltest, du Dagfinn?“ — „Wie? Was ich tun müsste? — Habe ich euch denn nicht bereits erklärt, dass es bei Todesstrafe verboten ist, auch nur ein einziges Wort darüber zu verlauten ... Und hiermit frage ich dich, Sigurd: Hast du, Knabe, vielleicht in deinem Leben jemals vernommen, was Mafia ist?“ — „Was?“ — „Oder die schwarze Hand, zum Exempel?“ — „Du allmächtiger Gott!“ schreien die Mägde. — „Und wenn einer etwas sagt“, fährt Dagfinn Enge leise und düster fort, „ja, wenn er kaum so viel, wie mit dem Auge zwinkert, dann ist er auch schon hin und geliefert ... Die schwarze Hand erwischt ihn überall und erwürgt ihn. Und sie macht ihm mit dem Messer ein Kreuz auf die Stirn. — In Chikago kannst du es jederzeit erleben, dass sie am hellichten Tage auf offener Strasse niedergeknallt werden ...“

„Herr im Himmel!“ kreischen die Mägde. „Das muss ich aber sagen ...“, stammelt der Knecht Sigurd. „Gibt es denn in jenem Lande weder Polizei noch Obrigkeit?“ Worauf Dagfinn Enge nur überwältigend lacht. Dagfinn wurde in der Ferne doch so wissend und makellos grossartig. Ja, es gibt ungeheuere Sachen in der fremden Welt.

Im obersten Frühlingstal wird ob dem ein Hofbauer abermals müde und übelgelaunt; sein Gähnen schallt durch die Stube. Gleich geht er in die Kammer.

Da liegt er nun wieder in seinem Bett und grübelt ein wenig nach und denkt an den Sohn. Nein, nein — Haldor Enge ist noch immer nicht ganz zufrieden ... Immerhin, wenn auch nicht alle von Dagfinns Geschichten nach des Vaters Geschmack sind, so ist doch der verlorene Sohn wieder da. Und einiges ist besser geworden, als es früher war ... Kinder, die kein Heim und kein Vaterhaus mehr haben, kommen doch so leicht auf Abwege ... Aber was nun Nyheimen anbetrifft, so ist es ein schönes Vaterhaus ...

Und wenn man mit dem Boden von Tuland beginnen will, so muss man zuerst einen grossen Stein sprengen, denn sonst kann das Grundwasser niemals abfliessen. Ja — und jetzt fragt es sich also, ob die Steinbohrer geschärft sind ... „Mafia“, murmelt der Hofbauer. „Warte ein wenig! Ei, dieses Wort hat man wohl schon irgendwo gelesen ...“ Denn Nyheimen liegt sozusagen immer noch in der Welt. — Dann mag nicht alles erlogen sein, was der Sohn Dagfinn erzählt. Einiges Mag sogar stimmen. Nein, nein — man darf nicht zu hart richten ... Aber ganz gewiss wird der Hofbauer eine Stunde früher aufstehen müssen, weil die Steinbohrer nicht geschärft sind. „Und wenn es dann nur Kohlen in der Schmiede gibt“, murmelt Haldor.