Herr Erlings Magd - Karl Friedrich Kurz - E-Book

Herr Erlings Magd E-Book

Karl Friedrich Kurz

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Beschreibung

Mit der Liebe zu Bertina, Tochter des Pächters Asbjörn, die den zurückhaltenden Herrn Erling in nicht mehr ganz jungem Alter geradezu überwältigt, beginnt die unglaubliche Kongshaugen-Saga. Sie erzählt von drei Familien, die über Generationen hinweg in Erfolg und Niederlagen, in Liebe und Hass, im Leben und im Tod miteinander verbunden bleiben. Alles beginnt an dem Tag, als Bertina Schloss Kongshaugen betritt, auf dem Herr Erling das Erbe seines hochangesehenen Vaters weiterführt. Die schönen Kleider, den Schmuck: Nichts nimmt das stolze Mädchen an, das nur ihre Liebe schenken will. Als Schloss und Vermögen verloren sind, verschwindet Herr Erling. Mit Bertinas Sohn Einar, der seinen Vater als alten Mann noch kennenlernen wird, beginnt die Geschichte der drei Töchter Marlenes, die damals als Dienstmädchen auf Kongshaugen mit argwöhnischen Augen Herrn Erling und Bertina beobachtete. Der leidenschaftliche Halfdan, der kluge Kaufmann Thor, Arne Wijk, der junge Richter, der mysteriöse Nils Heidam und auch Einar verstricken sich in Liebe, Eifersucht und Konkurrenz zu den Töchtern. Am Ende werden alle ihr Glück finden, so wie der alte Asbjörn: Dem hatte Herr Erling einst als Ersatz für die Tochter zwei junge Mädchen auf den Hof geschickt – vier nackte Beine in einem heißen Sommer – eine weitere Geschichte ...Ein verschwenderisch erzählter Mehrgenerationen-Roman!-

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Karl Friedrich Kurz

Herr Erlings Magd

Roman

Saga

Herr Erlings Magd

© 1947 Karl Friedrich Kurz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711518441

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Der alte Autun rettet Kongshaugen

Vater und Sohn

Das Städtchen liegt nicht dort unten im heissen Herzen der Welt, wo das Leben unbändig und unbegreiflich dahinbraust, nein, es liegt am öden Gestade einer einsamen Felsenküste. Aber es ist dennoch das, was man hierzulande einen aufblühenden Ort zu nennen pflegt; also eine Ansiedlung, von der der Staat seine guten Steuern erhebt. Die Bevölkerung lebt von allerlei Handel und Verkehr, von verschiedener Art Umsatz. Einige ziehen ihre Beamtengehälter, Arzt und Apotheker leben hier, wie anderorts, von den Kranken; es gibt Handwerker und Lediggänger — kurz, das Städtchen regt sich und gedeiht auf seine Weise.

Auf den ersten Blick mag es fast seltsam erscheinen, dass diese Ortschaft gerade hier zwischen den Klippen und Felsen und nicht sonstwo liegt; als ob sich nicht Raum im Überfluss fände nach allen Richtungen hin. Sie muss nach unerforschlichen Gesetzen entstanden sein und nicht aus Notwendigkeit. Aber hinfort liegt sie nun da, seit Menschengedenken. Krieg und Friede, Himmelssegen und Erdennot fuhren darüber hin; sie überlebte beides. Nie zog sie die Gier fremder Eroberer auf sich und forderte auch nicht in anderer Weise das böse Schicksal heraus.

Noch erinnern sich alte Leute sehr wohl der Zeit, da das ganze Land verschuldet und verkümmert war, da das Staatsgeld, trotz aufgedruckter Kronen und Löwen, kaum noch einen gangbaren Wert hatte. Die Alten erinnern sich auch noch der Zeiten, da die schwerfälligen Raasegeljachten der Küste entlang kreuzten, bis zum Sinken gelastet mit rechtschaffenen Heringstonnen und Mehlsäcken. Damals legten die Bauern und Fischer ihr Vermögen in Silberlöffeln an, so dass sie jederzeit ihren Reichtum in der Truhe vorweisen konnten.

Die Jugend kümmert sich heute nicht sonderlich um Truhen und Silberlöffel und auch nicht um die Erzählungen der Alten. Die Jugend schaut ein wenig mitleidig über die Schulter zurück auf das, was einst gewesen.

Und doch gab es selbst in dieser kleinen Stadt beachtenswerte Ereignisse. Es gab sowohl Hochkonjunktur als Krisentage, genau wie in andern Weltstädten.

Der Kaufmann Nikolaj Hankö zum Beispiel wandelte unter einem freundlichen Gestirn. Ausserdem war er gewiss schon von sich aus ein strebsamer und tüchtiger Mensch, der sein Geschäft, durch kluge Ausnutzung der vorhandenen Umstände, in wenigen Jahren derart in die Höhe brachte, dass er unten am Hafen die gewaltigen Lagerhäuser bauen konnte und bald der grösste Fischaufkäufer und Fischtrockner der Gegend wurde. Nikolaj wurde ein Händler von Format, ein Fischhändler, der seine Ware auf eigenen Schiffen verfrachtete, vom Lagerhaus direkt ins Ausland führte und dementsprechend ungeheure Prozente zog. Da musste er natürlich reich und immer reicher werden.

Als er so viel Vermögen angesammelt hatte, dass es sich nicht mehr in seinen Truhen bergen liess, kaufte er alles Land hinter der Kirche — wahrlich ein weites Land mit zwei Haupthöfen und fünf Aussenwerken und einem richtigen See dazu. Um den See und alle Äcker und Wiesen und Weiden zogen sich dunkle Föhrenwälder, bis zu den Klippen im Norden, die steil ins Meer abfallen.

Nikolaj Hankö fühlte sich da so gross und sicher in seinem Reichtum, dass er aus lauter Übermut auf dem Hügel am See ein Haus mit Erkern und vielen Giebeln baute, ein grosses Haus mit vielen Fenstern; es glich einem Schloss. Er nannte es Kongshaugen, und er schaltete und waltete darauf in Wahrheit als ein grosser Herr, als ein kleiner König.

Durch den Wald am Hügel zog er verschlungene Wege, die eigentlich keinen andern Nutzen taten, als dass sie hin und her liefen; er nannte es Park. Ausserdem hielt er Pferde und eine zahlreiche Dienerschaft. Alle Pferde waren schwarze Hengste, und die Dienerschaft sprach sehr leise und behutsam, wenn der Herr in der Nähe war.

„Nikken mit dem Barte“ nannten die Leute im Städtchen diesen gewaltigen Herrn und schauten zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, weil ihnen sein rascher Aufstieg als ein Wunder erschien. Aber sie waren nicht wenig stolz auf ihn und missgönnten ihm weder Reichtum noch Grösse. Obschon er zuweilen mit Strenge regierte, fügten sie sich ohne Murren seinem Willen und beugten ihre Nacken vor dem Bevorzugten. Das fiel ihnen um so leichter, da Nikolaj Hankö nicht von Anfang an auf ihrem Boden aufwuchs und daher nie völlig ihresgleichen gewesen.

Unscheinbar und als Fremder tauchte er eines Tages im Städtchen auf, schritt die Gassen auf und nieder und sah sich um, erwarb ein Grundstück, gründete seinen Fischhandel und wurde dann bald das, als was er sterben durfte. Und als er tot war, ehrten die Leute ihn noch mehr. Sie nannten ihn unter sich nur noch „Grossbart“ und spannen hundert kleine Geschichten um sein wunderbar erfolgreiches Leben.

Nach Herrn Nikolaj kam Herr Erling, der Sohn. Dem Sohn erzeigte sich die Konstellation der Gestirne minder gnädig. Zwar erhielt dieser Sohn und Erbe und Stammhalter eine überaus flotte Erziehung; an seiner Ausbildung wurde wahrlich nicht gespart. Alle möglichen Schulen, sowohl im Inlande wie im Ausland, musste er besuchen; schon mit vierzehn Jahren trug er einen dicken, goldenen Siegelring am Zeigefinger der rechten Hand, und bei den geringsten Anlässen trug er schon damals einen schwarzen Frack mit langen Schwänzen. Nach seiner Rückkehr aus England zog der junge Herr Erling sogar an jedem gewöhnlichen Abend seine Alltagskleider aus und setzte sich, zum Erstaunen der ganzen Dienerschaft, in seinem schwarzen Frack an den Tisch.

Aber an das grosse Haus auf Kongshaugen, das schon vordem mehr als dreissig Fenster und zwei Türen hatte, liess er einen Flügel mit weiteren zwanzig Fenstern und zwei weiteren Türen anbauen. Die Leute anerkannten guten Herzens auch den neuen Herrn und bewunderten ihn, und sie sagten unter sich: „Kongshaugen — das ist jetzt schon mehr als kolossal ... Passt nur auf, der junge Herr Erling stellt unsern guten alten Grossbart noch in den kalten Schatten ...“

Wenn Herr Erling sich auf etwas ausgezeichnet verstand, so war es das, sich dem Volk als ein echter Häuptling zu zeigen. Nicht umsonst hatte er seine teure ausländische Bildung erworben; er brachte einen Hauch der grossen Welt in diese kleine Küstenstadt. Kaum hatte er die Herrschaft über Kongshaugen angetreten, liess er sich aus England einen Haushofmeister kommen, eine würdige und prachtvolle Persönlichkeit, die den Befehl über die gesamte Dienerschaft übernahm und vom Morgen bis zum Abend weisse Handschuhe trug. Es hiess, der Oberdiener höre auf den Namen John und er behalte seine weissen Handschuhe an, wenn er des Morgens dem Herrn Kinn und Oberlippe glattrasiere. Das mag sich nun wirklich so oder auch anders verhalten, jedenfalls ging es zu jener Zeit auf Kongshaugen hoch her.

Herr Erling hob sich in jeder Beziehung über die Vergangenheit empor; darum hielt er anstatt der schwarzen Hengste des Vaters nur noch schneeweisse Schimmel. Im übrigens erwies er sich als ein gütiger und überaus rundhändiger Herr; etwas hochmütig vielleicht, ein wenig überlegen — aber lieber Himmel, wie sollte ein Mann, den das Geschick schon vom ersten Tage an auf einen so hohen Platz stellte, seinen Kopf nicht stolz auf den Schultern tragen dürfen?

Niemand kam eigentlich so richtig dahinter, wie es zuging und warum es auf einmal so sonderbar wurde auf Kongshaugen. Nein unbegreiflich wurde es. Irgendwo musste sich ein Fehler eingeschlichen haben; denn die Rechnung stimmte nicht länger. Herr Erling machte nicht mehr die glänzenden Geschäfte seines Vaters. Von ihm konnte man auch kaum erwarten, dass er, wie der alte Grossbart, bei jedem Wetter in der Zugluft seiner Lagerhäuser stand, wo es scharf nach Fischen roch. Herr Erling vertraute seinem Stern und überwachte nicht den gemeinen Lauf des Handels, zu dem seine Bildung und sein schwarzer Frack keineswegs harmonierten.

Für Herrn Erling passte es höchstens, einige Stunden auf seinem Privatkontor zu sitzen und hin und wieder ein Telegramm in die Welt hinauszusenden. Und wenn man es ganz genau nehmen wollte, hatte er wohl nicht einmal dieses nötig, und es geschah vielleicht mehr zum Zeitvertreib. Zumeist waren es überflüssige Depeschen, die keinerlei Gewinn brachten.

Das Leben auf Kongshaugen war glänzend, doch der Handel schlief ein. Wozu brauchte Herr Erling da seine Schiffe? Die Schiffe lagen unten im Hafen, mit Tauen angebunden und schaukelten sich zuweilen aus Langerweile ein wenig im Wasser; es waren träge Schiffe. Herr Erling tat recht daran, dass er sie alle miteinander verkaufte und sein Geschäft vereinfachte. Wenn sich keine Käufer mehr melden wollten, brauchte er auch keine Fische mehr zu trocknen; Herr Erling vereinfachte den Betrieb noch mehr und schloss die Lagerhäuser. Es ging auch so.

Eine Zeitlang ging es sogar ausgezeichnet. Aber dann, es ist fast zun Lachen, wollte es nicht mehr weiter gehen.

Wenn der Kontorist Autun nicht unerwartet eingegriffen hätte, würde das Leben und Treiben auf Kongshaugen auch weiterhin in jeder Beziehung schön und angenehm gewesen sein, weder Keller noch Vorratshaus waren leer. Autun, der alte Kontorist, aber hatte sicherlich zuviel Galle im Blut; er schlich umher mit grünem Gesicht und schwermütigen Augen, stand plötzlich in allen Winkeln wie das böse Gewissen und gab nicht nach mit Seufzern und düstern Anspielungen, bis er es soweit brachte, seinen jungen Herrn in einer stillen Nachtstunde auf sein Kontor zu locken.

Der alte, treue Autun — er stammte noch aus der Zeit des Herrn Nikolaj, hatte seinen grossen Anteil an allem Aufstieg und Glanz. Er war so sehr mit Kongshaugen verwachsen, dass er es einst versäumte, unter den Mädchen des Städtchens Umschau zu halten. Altmodisch und bis zum Weinen sorgenvoll, wies er nun mit seinem welken Finger auf ein paar Zahlenreihen im Hauptbuch, auf ein paar schlimme Zahlen, die selbst dem überlegenen und lebensfrohen Herrn Erling schreckhaft in die Augen fallen mussten. „Hier stehen wir“, sagte Autun mit zittriger Stimme. „Wir stehen hart am Abgrund ...“

Das war ein grober Faustschlag vor die Stirn. Herr Erling sank in den Stuhl hinter dem Tisch. Dann sassen sie lange beisammen, die beiden, blätterten in Büchern, schrieben Auszüge, rechneten. Dabei brachten sie heraus, dass zwar noch nicht alles verloren sei, doch dass es höchste Zeit sei, den Kurs zu ändern — allerhöchste Zeit.

Etwas musste sogleich geschehen, etwas Durchgreifendes, das nach allen Seiten hin verschlug und ausgab. Noch hielten sich ja die Schulden und die Guthaben ungefähr im Gleichgewicht. Allerdings: die Schulden waren sicher; die Guthaben waren weniger sicher. Wollte man aber das Ganze mit freundlichen Augen betrachten, so blieb noch ein gewisser Überschuss für Kongshaugen, und Herr Erling war noch kein Bettler, nein.

„Mach was du für gut hältst, lieber Autun“, erklärte Herr Erling. „Ich lege alles in deine treuen Hände.“

„Fürs erste müssen wir uns einschränken“, sagte Autun.

„Jawohl, ja“, stimmte Herr Erling, erschüttert, ergeben, aber noch ziemlich ahnungslos zu. „Schränke nur ein, Autun.“

„An Kongshaugen zehrt zuviel unnütze Dienerschaft — viel zu viele Nichtstuer und Tagediebe treiben sich herum. — Die müssen fort.“

„Wieso das?“ erkundigte sich Herr Erling, schon etwas unbehaglich.

Aber der alte Kontorist Autun hatte sich auf einmal verändert. Seine grauen Augen waren hart und unheimlich geworden, er hatte einen Stahlblick bekommen. „Ein Zimmermädchen, eine Köchin — und Schluss.“

Ei, das war eine neue Sprache.

„Aber in des Herrn Namen, lieber Autun ...“

„Auch Ihre Reitpferde müssen fort. Der ganze Hofbetrieb muss vollständig umgestellt werden auf Milchwirtschaft und Schweinezucht ...“

„Jetzt glaube ich, du bist verrückt, guter Autun!“

„So, wie wir jetzt das Gut betreiben, kostet es uns über zwanzigtausend Kronen im Jahr ... Wir dürfen uns das nicht länger leisten ... Der Park muss aufgeforstet werden.“

„Was?“ fragte Herr Erling mit mattem, ungläubigem Lächeln. „Der unschuldige Park?“

„Auch den können wir uns nicht länger leisten ... Wenn wir richtig wirtschaften auf Kongshaugen, kann das Gut sechstausend im Jahr abwerfen ...“

„Sechstausend ...“, wiederholte Herr Erling mit leiser Verachtung.

Aber da wurde er geradezu fürchterlich, der alte Autun; wie ein harter Feldherr beugte er sich über den Tisch hin, lang, schmal, dunkel; wahrlich, er trug einen gelben Totenkopf zwischen den Schultern. Seine Stimme hatte allen Klang verloren, seine Worte wurden zu Hammerschlägen. Sicherlich hatte er sich diese Angelegenheit gründlich überlegt, hatte alle Möglichkeiten kalt und sorgsam abgewogen in hundert schlaflosen Nächten. Wie das schwere Verhängnis selber kam es jetzt über seine Lippen und erfüllte das ganze Kontor mit Kälte und Grauen.

In dieser nächtlichen Stunde begann Herr Erling sich zu fürchten vor dem alten Autun, darum blieb sein Widerspruch matt. „Jetzt gehst du zu weit, Autun“, sagte er; oder er sagte: „Du übertreibst es ...“

Das drang nicht bis zu Autun hin; Autun war ganz und gar mit Zahlen und Plänen angefüllt. „Wir haben vier Pachthöfe auf Kongshaugen, wir haben viele Hausplätze in der Stadt — kein Mensch zahlt uns Zins dafür ... seit drei Jahren, Herr Erling ... seit Sie hier die Leitung übernahmen ...“

„Was in aller Welt kann denn ich dafür?“ fragte da, ernstlich empört und zugleich hilflos, Herr Erling. „Die Leute kommen zu mir und bitten um Aufschub. Und die Zeiten sind schlecht, Autun ... kein Verdienst, da der Fischhandel stilliegt ... In dieser Beziehung mag ich eine gewisse Verantwortung tragen ...“

„Jawohl, der Fischhandel hat völlig aufgehört“, erklärte Autun ohne jede Scheu. „Aber die Pachtschillinge machen zusammen elftausend Kronen jährlich. Da Sie das Fischgeschäft aufgaben, können wir auf die Pachten nicht mehr verzichten.“

„Nein? Wenn die Leute doch kein Geld haben ...“

„Die Zinsen müssen eingetrieben werden“, sagte Autun, „sonst werden wir von Kongshaugen verjagt. Eins von beiden.“

„Solches hätte mein Vater niemals getan ...“

„Ihr Vater hatte das nicht nötig. Heute aber steht alles auf eines Messers Spitze. Entweder Sie geben mir Vollmacht, dass ich Ihnen das Erbe Ihres Vaters rette, oder ...“ Hier stockte Autun, und seine Blicke irrten suchend an den Wänden entlang.

Endlich verstand Herr Erling, dass es um grosse Dinge ging, und fragte leise: „Oder?“

„Oder ich werde morgen dieses Haus verlassen müssen. Ich habe alles geordnet. Sie wissen es vielleicht nicht; aber morgen wird von uns eine grosse Summe gefordert — und die Kasse ist leer ...“

Das nahm Herrn Erling den Atem. Autun aber fuhr flüsternd fort, als handle es sich um ein Geheimnis: „In diesem Raum sitze ich nun mehr als fünfzig Jahre lang, und Hunderttausende rollten durch meine Finger. Ich möchte nicht dabei sein, wenn ein Wechsel nicht eingelöst werden kann auf Kongshaugen.“

Ja, das wurde ein Fall aus grosser Höhe — gütiger Himmel ... Auch Herrn Erlings Blicke irrten nun an den Wänden entlang. Aber schliesslich blieben sie wieder auf dem alten Autun haften, auf dem treuen Kontoristen, der plötzlich auf seinem Stuhl zusammengesunken war und nun einem Sünder glich, der auf kein Erbarmen mehr hoffte. Dieser Anblick griff Herrn Erling ans Herz, tief senkte er sein Gesicht, und seine Hand glitt suchend über den Tisch hin, über alle die schlimmen Bücher und Papiere. „Autun“, bat er still, „du darfst nicht fortreisen ... Verlass mich nicht ...“

Nicht die Furcht vor dem grossen Wechsel, nicht die Furcht vor dem grauen Schicksal war es, die Herrn Erling in dieser Stunde klein und demütig machte. Nein, es war die Furcht, Autun, den Vertrauten seines Vaters, den Freund seiner eigenen Jugend, zu verlieren.

Denn bis zu dieser Stunde war stets Autun da, wenn das Leben dem jungen Herrn sich ein wenig unfreundlich zeigte. Und wenn der selige Herr Nikolaj seine buschigen Brauen zusammenzog und streng auf seinen lebensfrohen Sohn schaute, schob sich zuverlässig Autun dazwischen und wendete die Gefahr ab. Soweit Herr Erling zurückdenken konnte, ging Autun auf Kongshaugen herum, alt, mager, gebeugt; aber als der gute Geist des Hauses. „Autun“, flüsterte Herr Erling, „Autun ...“

Wahrlich, es fiel dem alten Autun schwer; aber er wich nicht zurück. „Ich kenne nur diese eine Möglichkeit zur Rettung“, sagte er mit geschlossenen Augen. „Und Sie müssen sich in dieser Nacht entscheiden.“

„Kein Wort mehr, Autun ... Alles soll nach deinem Willen geschehen ... Aber der Wechsel ...?“

Autun fiel noch mehr in seinem Stuhl zusammen; er griff verschämt in seine Brusttasche, und dann lag das Geld auf dem Tisch. Autun hatte das Unmögliche möglich gemacht; es war sein ganzes Vermögen. „Für morgen und für übermorgen wird es genügen“, meinte er mit seinem früheren stillen Lächeln, und war abermals der gute Geist und Retter in der Not.

Für den fröhlichen Herrn Erling wurde es dennoch eine scharfe Lektion und die erste bittere Lebenserfahrung.

„Sie dürfen es nicht allzu schwer nehmen“, tröstete Autun. „In ein paar Jahren legen Sie mir dieses Geld wieder auf den Tisch.“

„Wir müssen ein Dokument aufsetzen“, erklärte Herr Erling.

„Wozu? — Das hastet jedenfalls nicht.“

Sie setzten einen Schuldschein auf und wurden einig in allen Dingen. Der Kontorist Autun hatte nun die Gewalt über Kongshaugen. Damit begann eigentlich die Geschichte.

Autun nahm die Fäden in seine Hand

Am andern Morgen schon nahm der alte Kontorist Autun alle Fäden in seine Hände. Er löste den grossen schlimmen Wechsel ein, schrieb scharfe Mahnbriefe, kündigte Verträge und trieb ausstehende Gelder ein. Von Kongshaugen herunter fegte ein kalter Wind und schreckte die Leute auf. „Was ist denn los?“ wunderten sich die Leute und kamen aufs Kontor. Dort begegneten sie Autuns Stahlblick. „Er hat über Nacht seinen Verstand vollständig verloren“, meinten die Leute und fürchteten sich.

Autun verjagte die überflüssigen Diener und Lediggänger von Kongshaugen, machte keine Umschweife, zahlte ein Monatsgehalt und fertig. Der alte Kontorist fiel über Kongshaugen wie das Fegefeuer, hielt grossen Gerichtstag und Reinigung. Oh, wie die Leute sich fürchteten vor dem umgewandelten Autun, der bis dahin ungefährlich und gegen jedermann gefällig gewesen, der bis dahin im Schatten wandelte und nichts bedeutete im festlichen Getriebe.

Überraschend trat Autun aus dem Schatten hervor und schwang seine Rute. Er verkaufte Herrn Erlings weisse Reitpferde ohne Mitleid. Als Hausknecht blieb nur noch Magnus zurück, ein ernster Mann, der gleich Autun auf Kongshaugen aufgewachsen und alt geworden und nichts anderes von dieser Welt kannte.

Es steckte aber doch noch ein letztes Fünklein Erbarmen in Autuns Herzen, obschon er mit verkniffenem Gesicht hinter seinen Büchern sass. Herr Erling kam ins Kontor und stellte ein paar Fragen; mit einemmal stutzte er und lauschte zum Fenster hinaus: „Hörst du es auch? Es wiehert im Stall ...“ Aber er beherrscht sich schnell und fragt: „Sollten das vielleicht schon die neuen Kühe sein?“ Und er zwinkert mit den Augen.

Autun beugte sich noch tiefer über seine Papiere. „Wir müssen zuerst den Stall umbauen“, meinte er.

Und dann war es also wirklich Jarl, der kluge, lebhafte Jarl, der allein zurückgeblieben war und seines Herrn Stimme hörte. Aber Herrn Erlings Mundwinkel zuckten; er wollte sich nicht zuerst züchtigen und hinterher beschenken lassen. „Weshalb die unnötigen Gefühle, Autun? Lass Jarl nur fahren. Lass ihn mit allem anderen fahren ...“

„Magnus meint, Jarl würde vor dem Wagen gehen.“

„Jarl?“

„Er will morgen versuchen, ihn einzuspannen. Darum wollen wir Jarl neben den beiden Ackerpferden behalten.“

Kleine, unschuldige Lügen alles. Die Sache verhielt sich anders. Der Knecht Magnus hatte schon an diesem Morgen den feurigen Jarl in die Deichsel gespannt. Aber es brach sogleich ein schreckhaftes Unwetter los, es krachte, und Splitter flogen nach allen Seiten. Nein, es mochte ziemlich schwer fallen, Jarl ins Arbeitsgeschirr zu zwingen, denn der Schöpfer aller Dinge hatte ihn nicht dazu erschaffen.

Der alte Autun log nicht oft, und darum log er schlecht. Da aber Herr Erling sich entschlossen hatte, diesen Kampf als Mann zu bestehn, nahm er sich vor, Jarl nicht mehr zu besteigen. Der Sohn des mächtigen Nikolaj war durchaus kein Kujon und Feigling, sondern hinter seinem glatten Gesicht barg sich ein harter Wille. Es war wohl nicht einmal seine Schuld, dass alles ein wenig schief ging. Bis zu diesem Tage wurde er gar unmässig vom Glück verwöhnt. Ei, nun biss er die Zähne aufeinander. Seinem Benehmen konnte man nichts anmerken; jedoch die Veränderungen auf Kongshaugen lasteten schwer auf ihm.

Der Diener John war schon abgereist ... Das ging Knall und Fall. Autuns Verfügungen trafen alle auf einmal; es waren Blitze aus blauem Himmel; es wurde eine Sonnenfinsternis ...

Der unnahbar würdige Mann John mit seinen angegrauten Bärtchen vor den Ohren ward fortgeblasen. John, der leiser als irgendein sterblicher Mensch durch die Räume auf Kongshaugen schwebte, er, der ohne Worte die leisesten Wünsche seines Herrn erriet; der Diener John, der jeden Herrn durch seine blosse Gegenwart erhöhte. „All right“, sagte John nur, als er auf dem Kontor seinen Abschied erhielt, und nahm mit einer Verbeugung das letzte Monatsgehalt in Empfang. Kein Murren, keine Frage, nicht der leiseste Schimmer von Unwillen. John hatte ebenso gute Rasse wie der Hengst Jarl.

Als John das Postschiff bestieg, trug er in der Hand einen Koffer aus echtem Schweinsleder und auf dem Kopf einen steifen schwarzen Hut. Mit John verschwand viel Vornehmheit von Kongshaugen.

Die jungen hübschen Mädchen hingegen beherrschten sich weniger; sie liessen warme Tränen aus ihren Augen fallen und vermochten ihre innern Gefühle und Regungen keineswegs im Zaum zu halten. Heissblütig, wie sie waren, lehnten sie sich auf gegen den alten Kontoristen und das harte Geschick; denn es gefiel ihnen allzu gut auf Kongshaugen. Ohne Scheu zeigten sie Autun ihren Unwillen, machten böse Gesichter und respektierten ihn nicht. Seht, die jungen Mägde beugten sich nicht unter Autuns Kommando, denn sie kannten doch noch sehr wenig vom Leben, und sie wollten so gerne lachen und lustig sein. „Wir werden Sie bei Herrn Erling verklagen“, riefen sie drohend. „Wir glauben Ihnen kein einziges Wort, alter Autun!“ riefen sie empört und machten Revolution.

Jedoch Autun hatte plötzlich auch den Mädchen gegenüber eine neue und unfreundliche Art angenommen; er beharrte darauf, seinen Willen durchzusetzen. Er überhörte alle Einwände und zählte das Geld auf den Tisch. Als die Mädchen in heisser Erregung bei Herrn Erling selber anklopften, fanden sie nichts als verschlossene Türen.

Nun gingen sie, so schwer es ihnen auch immer fallen mochte, und fügten sich ins Unvermeidliche. Mit ihnen zog die letzte Freude und Fröhlichkeit fort von Kongshaugen.

Auf Kongshaugen wurde es mit einem Schlage grauenhaft still und stumm. Rief die Köchin ausnahmsweise ein lautes Wort, hallte es so düster und drohend durch das weite Haus, dass sie ob ihrer eigenen Stimme erschrak.

Ja, das wurde eine harte Prüfung für Herrn Erling. Er selber nahm die vielen grossen Schlüssel zur Hand; damit schloss er alle Türen des neuen Flügels ab. Aber das, was vom Hause übrigblieb, war immer noch viel zuviel für die paar armen Menschen. Darum gab Herr Erling dem Knechte Magnus Befehl, die Aufgänge zum ersten Stock zu verrammeln und zu vernageln.

Nun sah es fast so aus, als sei Kongshaugen müde geworden vom Aufstieg und überdrüssig der glänzenden Feste, als wolle das Haus die Augen schliessen und sich zum Sterben rüsten.

Ein paar Wochen gingen in frommer Ruhe und strenger Enthaltsamkeit. Mehr und mehr verhärtete Herr Erling seine Seele und legte sein Jünglingsgesicht in scharfe Falten; sein Mund wurde ein schmaler Strich. Des Morgens in aller Frühe schon widmete er sich den Geschäften, unterstützte mit Eifer seinen getreuen Kontoristen beim Aufspüren neuer Mittel und Wege, das havarierte Schiff wieder flott zu bringen. Kongshaugen sollte um jeden Preis gerettet werden. „Wir müssen wieder mit dem Fischhandel beginnen. Was meinst du, Autun?“

Fischhandel? Autun riet vorläufig davon ab. Die Verhältnisse auf dem Weltmarkt erschienen ihm unsicher.

Aber Herr Erling, jung und feurig, wollte fest zugreifen. Das sachte, bedächtige Abwarten und Ausharren fiel ihm besonders schwer. Ihm schien es besser, das Glück zu erjagen. Das Abenteuer mit dem Meer lag auch ihm im Blute, wie allen Menschen, die an dieser einsamen Küste leben ... Ohne Unterlass steigt und fällt das grosse Wasser und ist unmässig im Nehmen und im Geben ...

Mit milder Geduld und Würde hörte Autun seines Herrn drängende Worte, wiegte seinen kleinen Kopf und sagte weder geradezu ja noch nein. Doch handelte er hernach nach eigenem Gutdünken.

Autun liess zwei Heringsnetze instand setzen, nahm es ernst und äusserst wichtig; warb Mannschaft unter der alten Garde, alles verständige, zuverlässige Männer ...

„Zwei Heringsnetze ...“, sagte Herr Erling voll Hohn und Bitterkeit zu sich selber.

Ein paar offene Boote, eine Handvoll alter Fischer — welch kläglicher Versuch ... Glaubte Autun wirklich, damit Kongshaugen wieder in die Höhe zu bringen? — Was wohl der selige Herr Nikolaj zu solchem Anfang sagen würde?

„Dampfer und Aufkäufer auf den Lofoten“, sagte dagegen Herr Erling. „Aufkäufer in Island, Welthandel ... Gott verzeihe dir, guter, allzu weiser Autun ... Was kann Grosses hereinkommen mit ein paar elenden Netzen?“

„Ohne genügend Kapital kann man so etwas nicht wagen“, sagte Autun bündig. „Schritt um Schritt, heisst es jetzt.“

Dies und jenes dachte Herr Erling bei sich selber; seine Kräfte waren noch unverbraucht. Aber sein Herz blieb dennoch voll Dankbarkeit. Sie waren doch gar zu ungleiche Naturen, der alte Autun und sein Herr. So verschieden waren sie wie Wasser und Feuer.

Einst legte Herr Erling aus purem Unverstande den Betrieb nieder; und da legte er ihn auf einmal ganz nieder. Nun aber, da er aus seinem Traum aufgeschreckt worden, raste er förmlich von Auftrieb und kühnen Entschlüssen. Er zählte zwanzig und einige Winter; Autun aber zählte mehr als siebzig Winter. Und dennoch war es Autun und kein anderer, der das Verhängnis über Kongshaugen herbeirief.

Er forderte von Asbjörn, dem Pächter von Mykja, die schuldigen Pachtschillinge. Auf diese Weise kam Bertina nach Kongshaugen.

Diese junge Dame ...

Bertina, die Tochter des Pächters Asbjörn auf Mykja — hoch, dunkel und wunderbar von Wuchs, wie eine Göttin aus unchristlicher Vergangenheit. Leicht war ihr Schritt, und sie wiegte sich sanft in den Hüften. Ihr Mund aber war rot und glich einem gespannten Bogen; in jedem Winkel der Oberlippe schimmerte ein feines Flöcklein schwarzer Flaum. Und Bertinas Stimme — Gott verzeihe ihr — aber Bertinas Stimme war keine gewöhnliche Menschenstimme, so voll und weich und tief, wie sie klang.

Bertina erschien also eines Morgens mit der Pracht ihres dunklen Haares und ihrem gefährlich gespannten Lippenbogen auf Kongshaugen, schritt gelassen über den Hof und auf das Mädchen Marlene zu. „Was willst du hier?“ fragte Marlene unbehaglich.

„Sage deinem Herrn, dass ich ein kleines Wort mit ihm sprechen möchte.“

Marlene wies mit dem Daumen über die Schulter auf die schmale Tür des Verwaltungsgebäudes. „Dein Wort, liebe Bertina, musst du an den alten Autun richten.“

Aber Bertina schritt unbekümmert auf das Herrenhaus zu. Sicherlich hatte sie keine schlimmen Hintergedanken. Sie war ausgesandt worden vom Pächter Asbjörn, der durch Autuns scharfen Brief ausser Rand und Band geriet.

Man muss wissen, dass das Geschlecht Asbjörn auf Mykja lebte, so weit die Menschen in dieser Gegend überhaupt zurückdenken konnten; zuweilen bezahlten sie ihren Pachtschilling, zuweilen bezahlten sie ihn nicht; sie hielten das eine so gut wie das andere. „Was meint er damit?“ rief Asbjörn, als er Autuns Brief gelesen. „Hat er denn keine Scham im Leibe, der alte Kormoran? Augenblicklich musst du mit Erling selber reden.“

Dagegen sträubte Bertina sich lange, doch schliesslich gehorchte sie ... Ins Privatkontor tritt jetzt die Tochter Bertina und erfüllt den Raum sogleich mit einem geheimnisvollen Leuchten. Herr Erling lässt die Feder sinken. Ahnungslos blickte er auf, nickte leicht mit dem Kopf, zum Zeichen, dass er höre. Und da gleitet ihm also die Feder aus den Fingern. Herr Erling zieht seine buschigen Brauen hoch.

Nur einen einzigen Schritt macht Bertina von der Tür her. Nun steht sie auf dem weichen, indischen Teppich. „Mein Vater, Asbjörn auf Mykja, kann seinen Pachtschilling unmöglich zahlen. Er bittet Sie um ein wenig Geduld ...“

„Was für etwas Verrücktes ... Pachtschilling?“ murmelt Herr Erling, aus den Wolken gefallen. „Bist du die Tochter von Mykja? Du milde ...“

„Wie Sie wohl selber wissen, steht es nicht am besten auf Mykja. Asbjörn konnte auch den vorjährigen Pachtschilling nicht zahlen ...“

„Wer? — Nein, schweig endlich vom Pachtschilling“, murmelt Herr Erling betreten. Auf einmal war er wieder ganz Kavalier.

„Autun fordert ihn und droht den Vertrag zu kündigen ...“

„Autun!“ ruft Herr Erling. „Komm nur näher. Wie ruft man dich? — Bertina? Ich habe dich nie gesehen — wie kommt das?“

„Nein“, sagt Bertina. „Der Weg ins Städtchen ist sowohl weit und schlecht, für uns auf Mykja.“

„Sieh, Bertina, das grosse Buch dort auf dem Regal — willst du es mir bringen?“

Als Bertina das Buch vor ihn auf den Tisch legt, betrachtet Herr Erling staunend ihre Hände — schmale Hände, schlanke, biegsame Finger ... sinnliche Hände. „Und so etwas lebt auf Mykja ...“, murmelt Herr Erling, mit einem sonderbaren Schwindel im Kopf.

In dieser Stunde gleicht Herr Erling einem gepflügten Acker — die Saat fällt in die Furchen, und eine strahlende Sonne geht darüber auf ... Nun beginnt es mächtig zu spriessen. Ja, auf einmal geht es heiss und toll zu in Herrn Erlings Brust.

Auf seinem verwirrten Gesicht ruhn still Bertinas Augen. Bertinas Augen — schimmernde Abgründe. Den Blick dieser Augen kann Herr Erling nicht ertragen, er bückt sich tief über das Buch. „Hier haben wir es“, sagt er mit schwingender Stimme. „Schluss damit; kein Wort mehr darüber ... Bertina? Tritt näher; überzeug dich selber — ich mache einen Strich durch alles ...“ Herr Erling macht drei unnötig dicke Striche.

Dann wird es plötzlich still im Privatkontor — eine ereignisgeladene Stille. Bertina steht vor Herrn Erlings Stuhl; irgendwie muss sie wohl um den Tisch herumgeschritten sein. Es ist nichts Besonderes. Sie will ihm doch nur danken für seine Milde. Ihre Hand liegt zwischen seinen fieberheissen Händen. Ihre Hand ist weich und kühl. Die Kühle ihrer weichen Hand erregt ihn noch mehr ... Wie ist dieses Mädchen doch unbewegt und sicher, wundert sich Herr Erling.

In diesem Augenblicke gleicht Bertina einer heidnischen Priesterin. Herr Erling aber gleicht dem Opfer. Ihre weichen, runden Knie berühren sachte seine Knie. Herrn Erlings Knie beben.

Das alles wird verrückt und fast unglaubhaft; doch muss es wohl so und kann nicht anders kommen. Herr Erling, der schon viele Frauen kannte, da er als strahlender Prinz auf diese Welt gesetzt worden, Herr Erling, der bis dahin weder bei den Mädchen der Heimat, noch bei den ausländischen Damen schüchtern war und zögerte — vor dieser Pächterstochter zögert er und wird demütig ...

Marlene, die Magd, erzählte die Begebenheit allerdings etwas anders. Woher nahm Marlene ihre Kenntnisse? Was wusste sie von dieser geheimnisvollen Viertelstunde? Vielleicht stand Marlene vor der Tür, vielleicht träumte sie nur, denn sie war doch selber so masslos aufgeregt. Marlene ging am Abend ins Städtchen hinunter und erzählte es ihren Freundinnen. „Sie ist eine Zauberin“, erzählte Marlene. Und nun hiess es, die Pächterstochter sei überaus kundig im Umgang mit Männern ...

Geschwätz und Lüge, alles zusammen: Bertina stand schlicht und einfach vor Herrn Erlings Stuhl, neigte ihr Haupt und dankte. „Aber Sie sollen durchaus keinen Strich im Buch machen“, sagte sie lächelnd. „Nein, deshalb stehe ich nicht vor Ihnen. Und Sie sollen niemals glauben, dass ich deshalb zu Ihnen kam ...“

„Tu mir den einzigen Gefallen“, bittet Herr Erling. „Erwähn’ es nicht mehr ...“

Aber Bertina erklärt: „Nur um ein paar Monate Geduld bitte ich Sie. Ich will bald nach dem Süden fahren. Ich will eine Stelle annehmen und Ihnen das Geld schicken.“

Er fährt auf: „Du willst fort?“ fragt er hastig. „Nein, das darf nicht geschehn ...“ Und er macht es wohl ohne Überlegung; die Gelegenheit drängte sich ihm doch förmlich auf und zeigte sich günstig. Musste er sie denn nicht zurückhalten von dieser Reise nach dem Süden? Also legte er den Arm um die Mitte ihres Leibes und hielt sie.

Eigentlich zog Bertina sich gar nicht zurück; nein, sie blieb ruhig stehn, wo sie stand und schaute freundlich auf ihn nieder. Sehr behutsam und bescheiden bat sie: „Darf ich jetzt wieder gehn? Ja, ich bitte Sie um ein wenig Barmherzigkeit ...“ Voller Güte sagte sie es, mit einer stillen Wehmut in der Stimme. Aber in ihren Augen stieg jäh ein verwunderliches Flimmern auf.

Nur ein wenig Barmherzigkeit — das war wirklich alles. Darauf liess Herr Erling den Arm sinken; und er senkte sogar noch den Kopf. Dann schritt Bertina langsam und lautlos über den indischen Teppich und schritt zur Tür hinaus.

Hinter seinem grossen Eichentisch blieb Herr Erling zurück, unfähig, das Wunder, das vor seinen Augen geschehn, zu erfassen. Die Verliebheit war mit einem Schlage da und meldete sich als ein gewaltiger Sturm. „Bertina“, murmelte er und begriff nicht, dass so etwas menschenmöglich sein konnte. „Bertina?“

Wie die leibhaftige Versuchung war sie vor ihn hingetreten — war über ihn niedergeprasselt gleich einer Lawine. Sie ist doch nur ein Bauernmädchen, dachte er wohl. Was ist denn das mit mir? Benahm ich mich nicht allzu idiotisch — zum Teufel ...

Nur die Tochter des schwerfälligen Pächters Asbjörn war sie — nur Bertina hiess sie ... Sie kam zur Tür herein und schaute ihn nur still an mit ihren dunklen Augen ... Haha, das war ja so verrückt und unausdenkbar, dass Herr Erling darüber sowohl lachen als fluchen musste. „Das habe ich nun von all der verdammten Stille und Leere“, sagte er zu sich selber.

Für ihn begann eine recht schlimme Zeit.

Fürs erste schrieb er einen Brief und sandte einen Boten nach Mykja; er berief Bertina nach Kongshaugen, einfach und selbstverständlich: der Herr befahl seiner Magd zu kommen. Die Magd kam nicht. „Nein“, sagte sie. Nichts weiter als dieses kleine, unglaubhafte Wort brachte der Bote zurück.

Bertina machte es Herrn Erling durchaus nicht leicht.

„Was zum Satan?“ fragte er und riss vor Überraschung tiefe Falten in seine Stirn. Herr Erling hatte bis dahin noch nie umsonst gerufen. Er wusste wohl selber noch nicht, dass er am Anfang einer schmerzlichen Prüfung stand. Ja, er nahm es noch leicht, nahm es mit unerschüttertem Selbstvertrauen und grossen Worten.

Herr Erling schrieb einen zweiten Brief. Den sandte er durch einen Eilboten nach Mykja. „Du musst ihn ihr sowohl persönlich als eigenhändig ausliefern“, sagte er.

„Das wird geschehn“, versicherte der Eilbote. „Soll ich auf Antwort warten?“

„Wie? Nein, sie hat selber zu erscheinen.“

„Jawohl“, versprach der Eilbote. „Ich werde sie mitbringen.“

Aber nein. Diese Pächterstochter bot dem mächtigen Herrn Erling und der guten alten Überlieferung die Stirn und erklärte dem Eilboten: „Ich wüsste wahrlich nicht, was ich jetzt noch auf Kongshaugen zu tun hätte. Habe ich ihm denn nicht alles gesagt und ausführlich erklärt? Damit muss es genug sein.“

Das war also das zweite Mirakel; und das zweite war noch unbegreiflicher als das erste. „Was schwätzest du da, Mädchen?“ fragte entsetzt der Eilbote. „Nein, das meinst du wohl nicht ...“

„Das verstehst du nicht, guter Magnus“, entgegnete Bertina lächelnd und wandte ihm den Rücken.

Jawohl, der Eilbote war Magnus, der letzte Diener von Kongshaugen, der sein Leben lang nichts anderes vernommen als Gehorsam und Ehrerbietung gegen seine Herrschaft. Verzweifelt schob er seine Mütze auf dem Kopfe hin und her. Gelbliche Haarsträhnen quollen unter dem Mützenrande hervor und fielen ihm bis tief in den Nacken. Magnus fuchtelte mit beiden Händen, als er die Steintreppe von Mykja herunterstieg.

Magnus war so niedergeschlagen, eine solche Botschaft überbringen zu müssen, dass er seinem Herrn gar nicht ins Gesicht schauen durfte. „Sie will nicht kommen“, begann er zögernd und verstummte, starrte zu Boden und schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Will sie nicht?“ fragte Herr Erling. „Was sagte sie denn?“

„Nein, sie war nicht gerade ungnädig; aber sie muss ihren Verstand vollständig verloren haben“, meinte Magnus, gleichsam entschuldigend und mit abgewandtem Gesicht. Er glaubte wohl, gleich werde Herr Erling seine Hand ausstrecken und den Gaard Mykja mit allem, was darauf lebte, völlig vernichten.

Nichts davon, Herr Erling beherrschte sich. Wohl erhob er sich und kam hinter seinem grossen Tisch hervor; aber er trat nur ans Fenster und schaute hinaus. „Es ist gut. Du kannst gehen“, sagte er. Und kein Strafgericht.

Herr Erling schaute hinaus, über den See, über die Wiesen und Äcker und Wälder, über sein weites, weites Land. Und dann schaute er in den tiefen blauen Himmel hinein, der nicht ihm gehörte und dem er nicht befehlen konnte. Weiss Gott, er dachte nicht an eine Paradiesvertreibung; aber er blieb lange am Fenster stehn und zuckte heftig mit den Mundwinkeln. Wahrscheinlich nahm er es auch jetzt noch nicht übermässig schwer. Im Grunde seiner Seele war er nicht einmal aufgebracht oder wütend über Bertinas Widerstand, höchstens verblüfft war er und über alle Massen neugierig. „Diese junge Dame ...“, murmelte er lächelnd und fasste einen mannhaften Entschluss. Mit langen, sicheren Schritten verliess er sein Privatkontor.

Er ging über den Hof, durch den Park, bis an das Seeufer, dort blieb er stehn, besann sich und kehrte um. Bei den Ställen traf er Magnus, und Magnus hatte offenkundig ein schlechtes Gewissen, weil er da stand und seinem Herrn nachschaute. „Sattle mir Jarl!“ befahl Herr Erling.

Wie er nun so den See entlang galoppierte und Jarl schnaubte und weisse Schaumflocken nach beiden Seiten blies und das Lederzeug knirschte und der Wind leise um seine Ohren sang, wähnte Herr Erling sich ungeheuer mächtig. Er wähnte sich unwiderstehlich, und er meinte wohl, es sei ein hervorragender Einfall, dieserart auf den Gaard von Mykja zu reiten.

Wenn er aber glaubte, der Pächter Asbjörn werde mit der Fellmütze in der Hand auf dem Tun stehn und die Tochter Bertina werde errötend und beschämt herbeieilen, so täuschte er sich gewaltig. Verlassen und tot lag der Hof da und glich mit seinen grauen Gebäuden einer düstern Burgruine. Kein Zuruf, kein Gruss, keine Ehrerbietung. „Ei der Teufel“, sagte Herr Erling, fluchte und versündigte sich. Er richtete sich noch steiler im Sattel auf und ritt, ohne mit der Wimper zu zucken am Wohnhaus vorbei. Nicht einen einzigen Blick warf er zum Fenster hinauf, ob sich vielleicht dort ein dunkler Mädchenkopf zeigte. Jetzt, dachte er wohl in seinem Sinn, soll hart auf hart treffen.

Herr Erling ritt quer durch den Föhrenwald nach Sandnes. Der Pächter Eilif war übrigens auch ein Mann, der junge Weiblichkeit im Hause hatte. Dieser Mann besass sogar vier Töchter. Alle vier hatten rührend blondes Haar und dazu blaue Augen; frisch und rotwangig und gut gewachsen waren sie, eine wie die andere. Ausserdem bezahlte Eilif seinen Pachtschilling sogleich, als er Autuns Brief erhalten hatte. Deshalb durfte er nun unerschrocken, aber ehrerbietig auf dem Tun stehen. Eilif nahm die Fellmütze ab, als Herr Erling angeritten kam.

„Ich komme nur so zufällig in deiner Gegend vorbei“, sagte Herr Erling.

Der Pächter Eilif aber wollte die Gelegenheit ausnutzen und ein wenig Neuigkeiten vernehmen. „Wie ich höre, wurde dort unten befohlen, dass sich mehrere Netzmannschaften zur Ausfahrt rüsten sollen. Aber das wird nur loses Gerede sein, da ich bis zur Stunde keine Aufforderung erhielt ...“

„Sollte Autun dich wirklich vergessen haben?“ fragt Herr Erling. „Ja, es geht ihm in diesen Tagen gar manches durch den Kopf. Er will übrigens nur zwei Boote ausschicken.“

Worauf Eilif sich betroffen und zurückgesetzt fühlt, da auch er, so gut wie irgendeiner, zur alten Garde gehört. „Der selige Herr Nikolaj hat mich nie übergangen“, sagt er.

„Ein kleines Versehn, du Eilif. Ich werde ihn daran erinnern.“ Herr Erling zieht ein winziges Büchlein aus der Tasche und einen goldenen Bleistift, schreibt ein paar Worte und nickt.

Es wurde ein Ereignis für Sandnes. Der Hengst Jarl scharrte und schnaubte dazu, und die vier blonden Mädchen zeigten sich überall, auf der Treppe, am Fenster, unter der Haustür. Sie hatten in der Scheune und im Vorratshaus zu tun. Wenn sie an Herrn Erling vorübergingen, knicksten sie und beugten ihre Knie, und wie hübsch sie dabei erröteten.

Vielleicht hatten sie ein paar Sommersprossen im Gesicht; waren aber sonst überaus zart und lieblich. Herr Erling fragte sich selber, ob diese vier wohl lange zögern würden, wenn man sie nach Kongshaugen gerufen hätte. Weiss der Kuckuck, dachte er, wie eine gewisse Dame auf den närrischen Gedanken verfallen konnte, sich unnötig zu zieren und rar zu machen. Wer sollte klug werden aus dieser Pächterstochter Bertina — aber sie hatte nun einmal ihr dunkles Haar. Und sie hatte ausserdem, Gott verzeihe ihr, so vielerlei andere Seltsamkeiten an sich ...

„Hei, du Mädchen mit den blonden Zöpfen!“ rief er keck. „Möchtest du wohl meinem Pferd einen Schluck Wasser geben?“

„Warum denn nicht“, rief Eilifs Tochter und zeigte sich sogleich bereit. Sie wusch zuerst den Eimer am Brunnen und füllte ihn bis zum Rand. Ja, sie wollte es so gut wie nur möglich machen; sie hielt den Eimer zwischen ihren Knien, als Jarl den Kopf senkte. Und während er trank, streichelte sie seinen glatten Hals. „Er ist das schönste Pferd, das ich je gesehen habe“, sagte sie und richtete einen schnellen Blick auf den Reiter. Dann fing sie an bis an den Hals dunkel zu erglühen.

Zerstreut schaute Herr Erling auf ihren runden feinen Nacken und auf das zierliche Haargekräusel darüber. Dann schüttelte er leise, fast traurig den Kopf und wandte sich zum Pächter zurück: „Fast hätte ich es vergessen, du Eilif ... Ich brauche noch ein paar Arbeiter. Die Stallungen sollen umgebaut werden. Verstehst du dich auf Zementguss und so?“

„Meiner Seel, daran fehlt es nicht!“ ruft Eilif erfreut.

„Melde dich morgen bei Magnus.“ Mit der Spitze seiner Reitgerte kitzelte er die Tochter leicht im Nacken, dankte und ritt davon. Die Reitgerte hatte einen goldenen Griff. Wahrlich, das war eine wichtige Begebenheit für Sandnes.

Und die junge Dame Bertina bildete sich doch gar zuviel ein auf ihre dunklen Reize. „Haha“, lachte Herr Erling. Hat man je zuvor etwas Ähnliches von Hochnäsigkeit erlebt in dieser Gegend? Demnach, meinte Herr Erling, fände sich gar kein realer Grund mehr, stumm und stolz und unbemerkt an Mykja vorüberzureiten. So, wie die Dinge nun einmal lagen, konnte er sehr wohl auf den Tun traben, bis unter die Steintreppe, bis an die Hauswand heran. Ein scharfer Schlag mit der Reitpeitsche gegen die grauverwitterten Planken: „Hallo! Asbjörn — schläfst du?“

„Ja, beim Hunde, ich schlief ... Ist das nicht Herr Erling selber?“ rief der Pächter und konnte, wie gewöhnlich, das rechte Wort nicht finden.

Diesmal schielte Herr Erling doch nach den Fenstern empor, über den schwerfälligen Pächter hinweg. Alles vergeblich — kein Gesicht hinter der Gardine. Auf Mykja wollte keine Tochter erscheinen und sich irgendwo etwas zu schaffen machen. Niemand knickste, beugte das Knie und errötete. Hier verlohnte es sich kaum, auf dem feurigen Jarl zu sitzen und mit dem Sattelzeug zu knarren. Trotzdem zog Herr Erling das winzige Büchlein und den Goldstift aus der Westentasche. „Ich reite herum und suche Leute“, sagte er. „Wir haben mit Bauarbeiten begonnen. Komme morgen früh nach Kongshaugen herunter ... Wo hast du deine Tochter?“ fragte er in überflüssiger Strenge. „Ruft man sie nicht Bertina?“

„Doch — und vielen Dank“, antwortete der Pächter Asbjörn verwirrt. „Also morgen früh? Ich werde zur Stelle sein ... und Bertina heisst sie, das ist sicher ...“ Und dann leuchtet sein Gesicht plötzlich auf; ein Gedanke kommt ihm, er steigt schnell die Steintreppe hinauf und ruft in den dunklen Gang: „Bertina — hörst du, Mädchen? Sogleich komm heraus ...“

Stille.

Asbjörn schaut Herrn Erling verständnislos an und murmelt: „Oh, dieses Frauenzimmer ...“ Auf einmal empört er sich, haut mit der Faust auf die Tür: „Bertina ...“

Im dunklen Hausgang taucht Bertina auf, in kurzem Rock, die Ärmel hoch aufgekrempelt, sie trägt einen Milcheimer in der Hand. In Holzschuhen steht sie da, ohne Strümpfe und ist dennoch von einer seltenen Lieblichkeit.

Der Pächter Asbjörn, froh, dem Gesichtskreis des Herrn entzogen zu werden, verschwindet eilig im Haus. Und dort oben steht also bescheiden und still Bertina. Wiederum wird es so unbegreiflich, so über alle Massen verwunderlich. Vor diesem schlichten Bauerndirndlein verliert Herr Erling seine Sicherheit, seine Überlegenheit und ist nicht länger der Prinz. „Wie, Bertina?“ fragt er mit hilflosem Lächeln. „Du willst in den Kuhstall? Kannst du denn melken ...?“

„Ob ich melken kann?“

„Du, mit deinen seidenfeinen Händen“, murmelt Herr Erling überwältigt.

Nun lacht Bertina. Ein leises, ein seltsam heimliches Lachen, tief im Halse. „Aber Herr Erling — was glauben Sie denn ...?“

Er schaut sie immerzu an, wiegt den Kopf und zweifelt. „Ich will dir etwas sagen, Bertina: So, wie du nun dort oben stehst, gleichst du der Prinzessin aus dem Märchen, die sich zu ihrem eigenen Vergnügen als Stallmagd verkleidete. Nein, ich glaube durchaus nicht, dass du melken kannst, ehe ich es mit eigenen Augen sehe. Aber ich glaube, dass du dich vor den Kühen fürchtest. Ja, wahrlich, das glaube ich — zeig mir doch noch einmal deine Hände ...“

Sie tritt bis an den äussersten Rand der Treppe hinaus; ihre Gesichter sind jetzt auf gleicher Höhe, und sie streckt ihm ihre beiden Hände entgegen. Er beugt sich darüber ... „Mit solchen Händen ...“, sagt er leise, „... es wäre ein Verbrechen ...“

Dass diese Worte nicht nur eine lockere Schmeichelei sind, sondern dass sie Herrn Erling aus tiefstem Herzen steigen, dieses versteht Bertina wohl irgendwie; und auch sie wird ein wenig unsicher. Sachte zieht sie ihre Hände zurück, bückt sich nach dem Eimer: „Nein, jetzt muss ich gehn ...“

Grosser Himmel — und dennoch keine Befangenheit, kein Beben, keine aufflackernde Freude — immer nur diese demütige Scheu ... Bertina geht, ohne allzu grosse Hast, die Treppe hinunter, geht über den Hof, der hölzerne Milcheimer in ihrer Hand klappert.

Und da scheint es fast so, als wolle Gottvater selber dem verliebten Herrn Erling ein Zeichen geben: Der Hofhund, der bis dahin nur auf seinen Hinterläufen gesessen und in der Luft schnupperte, fährt mit scharfem Kläffen auf und springt an Jarl empor; Jarl steigt. Doch Herr Erling ist nicht der Reiter, der so leicht aus dem Sattel fällt, und er ist vor allem nicht geneigt, einen Wink von oben oder von unten zu beachten. Er ist auch nicht der Mann, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Deshalb schwingt er sich zur Erde nieder und schreitet neben Bertina her, das Herz voll übermenschlicher Zärtlichkeit. „Ich habe dich gerufen, Bertina“, sagte er mit heiserer, jäh veränderter Stimme. „Aber du bist nicht gekommen.“

Langsam dreht Bertina ihm das Gesicht zu, schaut ihm mitten auf die Stirn: „Ich darf nicht ein zweites Mal zu Ihnen kommen.“

„Du darfst nicht?“ fragt er fassungslos. „Wer sollte es dir wohl verbieten?“

„Nein, nein — niemand verbietet es ...“, entgegnet Bertina und senkt den Kopf.

Und nun zaudert er nicht länger, sondern stürmt wild drauflos. „Du darfst nicht länger als Stallmagd auf Mykja herumgehn, Bertina“, sagt er heftig. „Das will ich nicht, verstehst du ...“

Bei diesem jähen Ausbruch zuckt sie zusammen, schaut ihn fragend an und meint: „Das ist nun mein Los. Und es gefällt mir ganz gut so. Ich liebe die Tiere, und ich liebe die Wälder und die Stille.“

Die ruhige Entschiedenheit, mit der sie das sagt, die einfache Selbstverständlichkeit, mit der sie ihr Leben hinnimmt, überrascht ihn derart, dass er alle Zurückhaltung vergisst und sich hastig zu ihr hinbeugt: „Fürchte dich nicht, Bertina! Du sollst es gut haben auf Kongshaugen; keine schwere Arbeit ... und schöne Kleider sollst du haben, Schmuck und alles ...“

Dieses passt nicht für mich“, wehrt sie lächelnd.

„Ich sage dir doch, du bist viel zu gut für Mykja ...“

„Nein, nein — ich will nicht nach Kongshaugen.“

In grenzenloser Verwunderung dreht Herr Erling sich um. Steht er wirklich vor dem niederen, schiefen Stall auf Mykja? Er blickt fragend zum Himmel auf und meint wohl, gleich müsse etwas Furchtbares geschehen.

Es geschieht weiter nichts, als dass Bertina die Stalltür öffnet und keine Lust verrät, diese Unterhaltung fortzusetzen. Aber Herr Erling bleibt der Sohn seines Vaters, des mächtigen Herrn Nikolaj, dessen Wille in dieser Gegend als ungeschriebenes Gesetz bestand. Durfte er, abgewiesen, vor dieser Tür stehenbleiben?

Hatte Bertina es wirklich darauf angelegt, den jungen Herrn durch ihre sanfte Zurückweisung toll zu machen, so wählte sie die richtigen Mittel und war auf dem besten Wege. Der junge Herr scheut sich nicht, sondern bindet den Vollblüter Jarl kurz entschlossen am Türpfosten an, bückt sich und folgt Bertina in den Kuhstall, tritt nahe an sie heran und sagt: „Ich will dich zu jeder Stunde behandeln wie eine vornehme Dame. Das glaube mir ... Du sollst es niemals bereuen — im Gegenteil ...“

Aber wie heiss er ihr auch in die Augen blickt und wie blass er immer werden mochte vor Sehnsucht und Ergriffenheit, Bertina bleibt standhaft. „Warum quälen Sie mich?“ fragt sie nur sachte und lässt langsam den Kopf sinken. Den Melkkübel hatte sie zu Boden gestellt, sie hat also beide Hände frei, aber sie hebt keine Hand zur Abwehr, sie steht nur stumm und weint.

„Du weinst!“ ruft Herr Erling bestürzt. „Jetzt glaube ich aber ... Weine nicht ... Ich will dir wahrlich nicht weh tun ...“

„Aber mein Herz ist nicht mehr frei“, flüsterte sie, indem sie mit dem Handrücken ihre Augen trocknet.

Darauf war Herr Erling sicherlich am allerwenigsten gefasst. „Oho!“ ruft er aufgebracht. „Das sagst du wohl nicht. Nein, davon kann gar keine Rede sein ... Wer in dieser Gegend wäre deiner je würdig?“ Gleichzeitig versteht er jedoch, dass Bertina die Wahrheit sagt.

Auf einmal ändert er den Ton, wird weise und väterlich: „Du darfst dich nicht wegwerfen an den ersten besten“, sagt er grossartig.

Und da sie darauf nur schweigt und fortfährt, ihre Augen zu trocknen, ruft er hitzig: „Natürlich wird es nur ein gewöhnlicher Bauernbub sein. Aber dazu bist du viel zu gut, Bertina!“

„Nein.“

„Nein?“

„Wie Sie mich plagen, Herr Erling ... Aber schauen Sie sich nur um ... Hier bin ich zu Hause. Der Gaard heisst Mykja. Der Pächter heisst Asbjörn — er ist der Herrschaft den Pachtschilling schuldig. Kann man das vergessen?“

„Ja gewiss, das kann man“, erwidert er bestimmt. Das bringt ihn auf einen neuen Gedanken: „War es nicht deine Absicht, in die Stadt zu reisen, nach Bergen oder Oslo? Was willst du dort unten?“

„Was weiss ich — es wird sich schon etwas finden ...“

„Siehst du! Weshalb solltest du also nicht auf Kongshaugen einen Dienst antreten?“

„Das ist etwas anderes.“

„Du darfst auf keinen Fall reisen!“ ruft er erbittert und zum äussersten gebracht. „Denn die Stadt ist voller Gefahren. Du kennst das Leben dort unten nicht.“

Da lächelte sie nun wieder auf ihre eigene Weise. „Nein. Aber ich fürchte mich nicht vor dem Leben.“

Nun aber wird es zuviel. Wie sie so nahe vor ihm steht, mit demütig gesenktem Scheitel, ein wenig lächelt und ein wenig weint, übersteigt es seine Kraft; er muss die Arme um sie schlingen und sie küssen.

Bertina erwidert Herr Erlings Liebkosungen nicht; nein, sie ist nicht hingerissen und überwunden; doch sie wehrt sich auch nicht dagegen. Sie empfängt seine Küsse mit geschlossenen Augen, und ihre Lippen sind kühl und weich. Ihre Lippen sind leicht geöffnet ... Eine ganz tolle Sache.

„Und jetzt darfst du dich nicht länger dagegen sträuben, Bertina ... Ich erwarte dich morgen. Wegen dem Gaard hier mach dir keine Sorgen; ich werde an deiner Statt zwei gute Mägde nach Mykja schicken. Was sagst du?“

„Es ist unmöglich ... denn Sie sind nicht in meinem Herzen. Darum will ich nicht.“

Herr Erling liess die Arme sinken. Er war nicht eigentlich verdorben, nicht einmal richtig leichtsinnig. Aber nun hatte er die süsse Kühle ihrer Lippen gekostet. „Komm heute abend“, bat er. „Komm so, wie du bist“, drängte er. „Ich sehne mich nach dir ...“ Sein Mund berührte ihr Ohr, und sein Atem ging hastig und heiss. Er wartete eine Weile. Aber da sie stumm und reglos blieb, ging er schnell davon.

Herr Erling ritt nach Hause, liess Jarl über Hecken und Gräben springen. Nicht als Sieger ritt er über sein Land hin, doch in seinem Herzen war klingender Jubel. In froher Unruhe ging er durch die Räume von Kongshaugen, öffnete da eine Tür und dort eine Tür und sagte zu Marlene: „Richte ein Gastzimmer, Marlene. Heute abend wird die Tochter von Mykja eintreten — Bertina; du kennst sie wohl?“

„Bertina?“ fragte Marlene mit einem Riss in der Stimme. „Ich kenne sie nur allzu gut ...“

Für Herrn Erling hatte Kongshaugen und die ganze Welt sich wiederum verändert; alles war aufs neue froh und leicht geworden; Sonnenschein innen und Sonnenschein aussen. Das grosse Haus schwieg nicht länger in düsterer Drohung. Überwunden war die harte Prüfung; Goldstaub erfüllte die Luft.

Der Abend kam; aber nicht Bertina.

Die grosse Standuhr im Saal schlug die neunte Stunde — tickte träge weiter und schlug die zehnte Stunde. Was mochte das bedeuten? Herr Erling klingelte und bestellte Whisky und Sodawasser; er sass in seiner reichverzierten Rauchjacke in einem braunen Lederstuhl gleich einem andern General. Die Zigarette hing ihm an der Unterlippe, er blätterte in einem Buch und war ungeheuer vornehm. Aber nichts von Bertina.

„Das Mädchen von Mykja soll das Zimmer neben der Treppe haben.“

Marlene antwortet und gibt sich kaum Mühe, ihre Schadenfreude zu verbergen: „Bertina hat sich noch nicht gemeldet. Und ich kann es ebenso gut gradeheraus sagen: Bertina wird sich hier nicht zeigen.“

„Das meinst du wohl nicht im Ernst.“

„Ob ich es meine? Hab’ ich vielleicht nicht gleich daran gezweifelt, als Sie heute morgen davon sprachen?“

„Nein, wie du prahlen kannst!“ ruft Herr Erling ärgerlich.

„So? Ich kenne Bertina seit jeher. Ist sie vielleicht nicht sonderbar und unnatürlich? Leif von Sudalen gilt als ihr Liebster ... Schon als kleines Mädchen war sie ein wenig verrückt ...“

„Nein, du Marlene — war sie verrückt?“

„Wurden wir, ich und Bertina, denn nicht am gleichen Tage und im gleichen Wasser getauft? Aber sie war alle ihre Tage steif im Nacken und lang im Stroh. Niemals zeigte sie sich abends auf der Landstrasse, wenn die Jugend tanzte ...“

Voller Unwillen sagt Herr Erling: „Und dann hängte sie sich also an einen ganz gewöhnlichen Burschen — wie nanntest du ihn?“

„Leif — ja, das ist genau so mystisch wie alles übrige. Ein rabiater Kerl ist dieser Leif. Er betreibt den Gaard von Sudalen — ein Rattengaard: vier Kühe, ein Schwein, sechs Schafe, und Schulden mehr als genug ...“

„Nun ja“, nickte Herr Erling. „Es ist gut.“

„Soll ich heisses Wasser auf ihr Zimmer stellen?“ fragte Marlene, die grosse Lust hatte, das Gespräch fortzusetzen.

Doch Herr Erling winkte nur mit der Hand; Marlene warf den Kopf in den Nacken und ging. Bei der Tür zögerte sie, blickte über die Schulter zurück. Nein, Herr Erling machte kein Zeichen; er blätterte wieder in seinem Buch, und die Zigarette baumelte an seiner Unterlippe. Sicherlich sass er in andern Gedanken.

Hatte Marlene sich verplappert und zuviel gesagt? Keine Spur. Marlene hätte weit mehr verraten können, und sie bereute kein Wort ...

Zu dieser Stunde erhob sich der Bauer Asbjörn hinter dem Küchentisch auf Mykja, fuhr mit seinen grossen Händen über sein struppiges Gesicht, gähnte laut. „Was wollte er eigentlich heute morgen von dir, Herr Erling?“

Die Tochter antwortete leichthin: „Er wollte im Grunde gar nichts.“

Darauf ging der Pächter in die Kammer und legte sich ins Bett. Bertina holte ein feines Tuch aus der Truhe, zog die Lampe zu sich heran und begann zu sticken. Einmal stand sie auf und öffnete das Fenster, lauschte hinaus und schloss es wieder.

Es war eine schwüle Sommernacht.

Was siehst du, Leif?

Das Leben auf Mykja ist sowohl einfach als einsam.

Der Gaard liegt in einem engen Tal, zwischen Felsen und Wäldern. Ein Bächlein rennt eilig von der Höhe nieder und plätschert über unzählige glatte, grüne Steine. Selten hört man einen andern Laut über Mykja als das Gemurmel des Baches, das dunkle Rauschen der Wälder und das Gebrüll der Kühe.

In den nächsten Tagen wurde es ein wenig lebhafter auf Mykja. Erstens erschien der junge Hofbauer Leif von Sudalen, winkte Bertina vors Haus und war rasend: „Ist jetzt die Reihe an dich gekommen?“ fragte er.

„Was fehlt dir?“ fragte Bertina auf ihre gelassene Weise.

„Beim Hunde“, sagte Leif düster, „jetzt hilft dir das Lügen wenig. Denn ich habe alles erfahren.“

„Ich weiss nicht, wovon du sprichst. Und wenn du etwas erfahren hast, so hast du es von Marlene erfahren ... Aber ich kümmere mich nicht im geringsten darum.“

Leif war so aufgebracht, dass er nicht ruhig stehen konnte, sondern immerzu auf und nieder hüpfte. „Gott und jedermann weiss es ja schon ... Aber ich, Mädchen, ich werde es niemals dulden — verstehst du?“ Er zog ein Messer unter der Jacke hervor: „Schau dir einmal dieses an ...“

Sicherlich war es weder fein noch klug von Leif, sich gleich am Anfang so ungebärdig zu benehmen. Damit verdarb er sich selber das Spiel. Nun hatte doch Bertina vor kurzem ihr seltsames Erlebnis gehabt. Sie brauchte nur die Augen zu schliessen, dann brannte Herrn Erlings Kuss immer wieder aufs neue auf ihren Lippen, und sie hörte seine einschmeichelnde Stimme ... Ohne dass es ihr bewusst ward, schloss sie die Augen, verglich Leifs Stimme und Herrn Erlings Stimme und seufzte.

„Ich verbiete es dir — basta!“ rief Leif. „Und wenn es darauf ankommt, rede ich persönlich ein Wörtlein mit ihm, verstehst du?“

Bertina öffnete ihre Augen wieder, betrachtete den hüpfenden Leif und fragte: „Wie — du willst mit ihm reden?“

„Ho — oder vielleicht nicht?“ rief Leif, indem er mit seinem Messer in der Luft herumfuchtelte.

„Steck dein Messer weg“, sagte darauf Bertina. „Und deine Grobheiten will ich nicht länger anhören. Geh nur gleich wieder über den Berg ...“

Sie unterhielten sich eine Weile. Ein offener Streit wurde im Grunde nicht daraus. Doch die ganze Bertina war zweifellos nicht mehr so, wie sie vor kurzem gewesen. Sie hatte jetzt eine besondere Art, Leif lange und allzu aufmerksam zu betrachten, und ihr Blick war kühl. Fast schien es so, als rücke Leif in die Ferne.

Leif in seinem Zorn glaubte, ein böser Geist habe von Bertina Besitz ergriffen. „Und warum, zum Satan, hast du auf einmal dieses Schillern in deinen Augen? ... Warte nur!“

Bertina tut nun etwas Merkwürdiges: Sie streckt Leif ihre beiden Hände hin: „Was siehst du, Leif?“