Der ewige Berg - Karl Friedrich Kurz - E-Book

Der ewige Berg E-Book

Karl Friedrich Kurz

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Beschreibung

Nur ein Tisch steht zwischen den früheren Freunden Trygve und Olav. Schweigen und Tod lauern in der Stube. Die Hütte hatte Trygves Vater, Herr Eivind, errichten lassen. Ein finsterer Herr, der seinen großen Besitz mit seiner Reitgerte und eiserner Hand kontrollierte. Umso erstaunter waren die Bauern des abgelegenen Weilers, als er eines Tages mit einer sehr jungen und zarten Frau aus der Stadt nach Hause kommt. Für Trygves Mutter Dagmar füllt Eivind das Haus mit Gästen und Geselligkeiten wie ein König. Doch die musikalische Dagmar scheint am Klima, der Einsamkeit und der Rauheit ihres Mannes zu zerbrechen. Schließlich erliegt der Vater der attraktiven Signe, die länger als jeder andere auf Besuch bleibt. Und Dagmar verfällt mehr und mehr dem Zigeuner Halstein, der als Knecht auf dem Hof überwintert. Es ist Oswald, der mit Trygves Vater aufgewachsen ist und als des "Königs" langjähriger Diener dazwischengeht, als es zwischen dem Paar zum Kampf kommt. Jetzt steigt der weise, gealterte Mann zum letzten Mal auf die Hütte und erzählt Trygve von der leidenschaftlichen, unglücklichen Liebe der Eltern und seiner eigenen Liebe zu Frau Dagmar. Noch einmal will er schlichten. Denn Trygve und sein Gewehr warten auf Olav, der wegen Jofrid wegging. Inzwischen ist Jofrid Trygves Frau und Olaf zurück. Schweigen und Tod lauern in der Stube, als Oswald sich auf den Heimweg macht und Olav zu seinem alten Freund in die Hütte kommt. Einer von ihnen muss sterben ...Zwei Männer und eine Frau: Ein hochemotionaler Roman über die Tragödie der leidenschaftlichen Liebe, die Freundschaft in blinden Hass und Hass in Freundschaft verwandeln kann.-

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Karl Friedrich Kurz

Der ewige Berg

Roman

Saga

Der ewige Berg

© 1930 Karl Friedrich Kurz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711518519

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Des Berges Wächter

Dieses ereignete sich in einer weissen Nacht.

Damals zählte Olav nicht mehr als siebzehn Winter. Jofrid zählte nicht mehr als sechzehn Winter.

Sie kamen an einem Johannisabend auf die Rimane, eine steile Wiese unter der Felsenkluft, die Donnerskare heisst. Sie schauten auf alle die roten Feuer in den Bergwänden.

Die Feuer brannten weit hinten im Lande, wo der Schnee noch nicht ganz von den höchsten Gipfeln geschmolzen war, und brannten bis hinaus zu den äussersten Inseln von Tysseland, die wie flache Schilder unter dem hohen Rande des Meeres standen. Wohl hundert rote Feuer brannten und stiessen ungeheure Rauchsäulen in die Luft.

Olav liess sich im blumigen Grase nieder und lehnte den Rücken gegen die graue Bergwand, umschlang mit den Armen seine Knie und freute sich über das alles: Über die stille Nacht und den hohen Rand des Meeres, über alle die vielen roten Feuer und ihre gewaltigen Rauchsäulen. Er freute sich vor allem darüber, dass Jofrid mit ihm in die Ödmark gekommen war.

Aber Jofrid wollte sich nicht zu ihm hinsetzen. Nein, sie blieb am äussersten Abhang stehen. Und da stand sie nun — hoch im Himmel und hoch über dem graublauen Meer. Es fand sich unter ihr nicht mehr dunkles Land als das Stücklein Rasen, das sie mit ihren Füssen berührte.

Unter gesenkten Brauen hervor schaut sie auf den Fjord und sagt mit schwingender Stimme: „Du hast nicht Reisig und nicht Holz gesammelt, Olav. Jetzt werden wir zwei kein Feuer haben.“

Olav entgegnet: „Wie bist du gross! Du bist ungeheuer gross, Jofrid! Du ragst über alle Inseln des Meeres hinaus, du bist höher als der Schneegipfel des Hvithest ...“

„Aber, Olav — nein, was sagst du? — Bin ich gross? ...“

Langsam wendet sich Jofrid zurück.

„Ja, jetzt hast du wieder deine fremden Augen. Das sind wieder deine Märchenaugen. Und du siehst Dinge, die gar nicht da sind. Und du redest Worte, die ich nicht verstehen kann ...“

Sie holt tief Atem und schiebt dabei ihre kleinen Brüste vor, ihre beiden Knospenbrüste: „Mein Vater sagte heute, du seist irgendwie fremd an diesem Strande. ‚Hat man denn jemals in dieser Gegend so unruhiges Blut angetroffen?’ fragte er. ‚Er ist wahrhaftig ein Zigeuner!’ sagte er.“

Nun denkt aber Olav stetsfort seine eigenen Gedanken: „Jofrid! Ich habe dich lange angeschaut. Im hellen Himmel stand deine Gestalt wie ein riesengrosser Schatten ... Jetzt hatte ich die Augen geschlossen. Und jetzt sehe ich dich weiss, wie eine Wolkenfrau mit einer Strahlenkrone. Und nur du bist noch da. Aber Erde und Meer und Berge sind verschwunden ...“

Auf leisen Zehenspitzen macht Jofrid die paar Schritte zu ihm hin, beugt sich nieder und legt ihre Hände auf seine Augen. „Was siehst du nun, Olav?“ fragt sie leise.

Olav hört ihren lauten Atem. Aber jetzt kann er keine verwunderlichen Worte mehr sagen. Denn plötzlich presst Jofrid ihre Lippen auf seinen Mund, und da geht ein kühles, prickelndes Beben durch Olavs Leib.

Dieses war der erste Kuss.

Jofrid hatte in der Stille der weissen Nacht die Stimme des Lebens vernommen. Jofrid war um vieles reifer als Olav.

Olav war damals noch nichts anderes als ein geschmeidiger Knabe, der in Ahnungen und fremden Bildern lebte und dessen Träume noch friedvoll und voller Engel waren.

Als Jofrid Olavs Augen und Mund wieder freigab, beugte sie sich so tief über ihn, dass er von der ganzen Welt nichts sehen konnte als nur ihr Gesicht. Ihr Gesicht mit roten Wangen und funkelnden Augen, mit feuchten, unbegreiflichen Augen.

Wie ging doch ihr Atem heiss!

Olav starrte in dieses taufrische Jungmädchengesicht. Dessen Grösse und Nähe schreckte ihn, und er liess abermals die Lider sinken, als hätte ihn grelles Sonnenlicht getroffen, und so verharrte er in schweigendem Staunen. Und er wurde sehr verwirrt und scheu, wie vor etwas Fremdem und Unbegreiflichem.

Aber Jofrid setzte sich auch jetzt noch immer nicht zu ihm hin. Nein, da stand sie wieder hoch im Himmel und überragte Land und Meer. Sie schaute vor sich nieder mit merkwürdig leerem Blick. Aber um ihre roten vollen Lippen flatterte ein listiges Lächeln.

Und da Jofrid sehr lange und beharrlich schwieg, fragte Olav: „Ja, nun bist du wohl unzufrieden?“ Und er meinte das Johannisfeuer.

„Nein“, antwortete Jofrid. „Unzufrieden? Nein, keine Spur.“ Und dann schwieg sie eine Weile. Und dann lachte sie leise und sagte: „Du dummer Bub!“

Olav sagt: „Aber du stehst doch dort mit rotem, zornigem Gesicht, Jofrid, und wenn du nicht böse auf mich bist — was fehlt dir denn?“

„Was sollte mir nur fehlen?“ fragt Jofrid und lacht wieder ein wenig. „Mir fehlt nichts. Nicht das mindeste. Und du verstehst es ja doch nicht“, sagt sie und wirft den Kopf in den Nacken.

Und sie besinnt sich ein wenig und sagt dann noch einmal: „Dummer Bub!“ Und dann schweigt sie. Sie netzt ihre Lippen mit der kirschroten Zungenspitze. Sie dreht sich zu Olav hin und betrachtet ihn, wie ein Mädchen seine Puppe betrachtet, mit viel Liebe; aber auch mit ein wenig Verachtung. Doch an ihren langen Wimpern hängen plötzlich Tränen. So gross ist ihre Zärtlichkeit ...

Nun hatte aber an diesem Tage Olav mit dem Knechte Ingolf gerauft. Der Knecht Ingolf war über zwanzig Winter alt, Olav hatte ihn geworfen und besiegt. Jofrids Puppenblick kränkt ihn sehr und weckt in ihm das Verlangen, vor ihren Augen eine ungewöhnliche und mutige Tat zu vollbringen. Und sogleich sollte diese Tat vollbracht werden. Olav ist voll Jugendherrlichkeit und Mut und bis zum Rande erfüllt mit Heldentum.

„Du sollst dein Feuer haben, Jofrid!“ ruft er und springt auf.

„Wie soll ich mein Feuer haben, wenn du kein dürres Holz gesammelt hast?“

„Ich werde dir den Priester opfern, den grossen finstern Priester, vor dem du dich vor kurzem noch fürchtetest.“

„Den Priester?“ ruft Jofrid entsetzt und überwältigt. „Ich glaube, du bist verrückt. Nein, nein — du — was würden die Leute sagen?“

Jetzt ist kein Puppenblick mehr in ihren Augen.

Olav schiebt die Schulter vor: „Die Leute? — Das hilft alles nichts“, sagt er mit tiefer Stimme. „Der Priester muss sterben in dieser Nacht.“

Er sammelt Reisig. Er sammelt trockenes Moos. Er schichtet es hoch auf um den Stamm eines grossen, dunklen Wacholderbaumes.

In diesem Wacholderbaum wohnt vielleicht ein Gott.

Er ist uralt. Schon viele hundert Jahre lang steht er an der kahlen Felswand, einsam, dunkel und stark. Man kann ihn aus meilenweiter Ferne sehen. In Mannshöhe über dem Rasenband der Rimmane ragt seine Wurzel aus der Felsenspalte heraus, als hätte sie den gewaltigen Helleberg bis hinauf zum Gipfel gesprengt und die Donnerskare aus ihm herausgebrochen. Welch knorrige, verknorpelte Wurzel! ... Es findet sich nicht soviel wie eine Handvoll Erdreich um sie herum.

Nun steht also dieser verwunderliche Baum hier an der Steilwand des Helleberges, solange Menschen zurückdenken können. Ernst und finster steht er da und nährt sich von Sonnenbrand und Wind und Frost und Nordlicht. Seit jeher nannten ihn die Leute „Priester“ und „Bergwächter“. Und Olav schichtet dürres Moos und dürres Gras an seinem Stamme auf ...

„Nein“, ruft Jofrid, „nein, das darfst du niemals tun, Olav. Ich glaube, dass es eine Sünde wäre ...“

Aber in Jofrids Auge springt ein lüsterner Funke auf. Das Ungewöhnliche lockt auch sie. Und nun sagt sie, nein, es solle nicht getan werden; und ruft abwehrende Worte, indes sie Olavs Vorbereitung mit freudig flackerndem Herzen und einem leisen Angstschauer im Rücken folgt. Und wenn sie „nein“ sagt, klingt ihre Stimme voll und weich und einschmeichelnd wie die Stimme eines reifen Weibes.

In dieser Nacht brannte der uralte Wacholderbaum, des Berges Wächter, nieder. Er brannte bis zum Morgen. Man sah sein Feuer vom innersten Fjord bis zum äussersten Schärenhof. Man sah es, bis die Sonne aufging. Dann war nur noch ein Häuflein Asche und ein kläglich verkohlter Stumpf zurück.

Der Morgenwind wirbelte die Asche auf und streute sie über die Rimmane hin. Der Stumpf aber ragt noch heute schwarz aus dem Felsen hervor. Und die Menschen wundern sich, dass dieser verkohlte Baumstumpf nicht völlig sterben und verwittern will.

Jofrid

Nun ist ein Wintertag.

Wie braune Säcke hängen die Wolken aus dem Himmel nieder. Darunter dehnt sich der Helleberg, lang, schwarz, lauernd.

Der Helleberg gleicht in seinen Umrissen einem liegenden Weib, mit gewaltigen Schenkeln, aufgereckten Brüsten, weit zurückgebogenem Kopf und hängendem Haar. Das Haar bilden die tiefen waldigen Klüfte, die man Svartejel nennt.

Der Helleberg liegt unter dem braunen Wolkenhimmel wie ein ungeheurer Opferstein ...

Trygve Eivindson steigt auf schmalem Pfade empor. Die Täler strömen schon frühe, graue Dämmerung aus. Ein feiner, körniger Schnee fällt. Es ist eigentlich kein Schnee, nur Nebel, der in leichten, kaum sichtbaren Eisnadeln niederrieselt.

Die Krähen sammeln sich zu Scharen und fliegen der Küste zu.

Eben noch verhallte ihr Krächzen an den steilen Wänden. Jetzt ist es verstummt. Der Fjord liegt glatt, schwarz und träge wie Öl. Kein Windhauch kräuselt das Wasser. Kein Boot zieht seine Kielrinne darein. Unaussprechliche Trauer und Verlassenheit liegt im Himmel und auf Erden.

Vier Tage lang brauste der Weststurm vom Meere herein. An diesem Morgen aber brach seine Kraft. Nun ist grosse Stille ringsum.

Die kahlen Bäume sind müde vom Schaukeln, die Zweige sind müde vom Pfeifen und Wimmern, das Meer ist müde vom wilden Wellengeprassel. Eine schlafschwere Ruhe hat sich über alle Dinge gelegt ...

Doch in Trygves Herzen braust ein gewaltiger Sturm.

Trygves Sinn ist mächtig aufgerührt und voll Groll. Und sein Blick ist wie das Wasser unten im Fjord, schwarz und erfüllt mit lauernder Bosheit ...

Noch kein Jahr verging, seit Trygve Eivindson mit Jofrid über den Fjord dort unten nach Akerud fuhr im geschmückten Boot. Und der Spielmann fiedelte, und zweihundert Gäste lärmten und sangen. Drei Tage lang wurde getanzt auf dem Herrenhof von Lisät. Jofrid, des Pfarrers Tochter, war Braut.

Jofrid war an diesen drei Tagen so weiss, als hätte sie ihr Gesicht mit Mehl bestreut. Mit ihren erloschenen Augen und kalten Händen gemahnte sie an einen unheimlichen Leichnam, der sich in den Kreis der frohen Menschen drängte und sich sündig in ihre Gespräche mischte. Und zuweilen redete Jofrid sowohl viel als hastig und lachte schrill. Und zuweilen verfiel sie unversehens in dumpfes Schweigen. Sie musste mit grossem Lärm umgeben werden. Aber sie raffte sich immer wieder auf und tanzte mit allen Ehrengästen.

Tanzte sie vielleicht nicht ihre ganze Brautnacht lang, bis zum hellen Morgen hin? Aber sie wurde doch nicht warm davon. Und wenn der Spielmann über seiner Fiedel einnicken wollte, brachte Jofrid ihm starken Kaffee aus der Küche und legte jedesmal ein hartes Kronenstück in das Schalloch der Geige. Hat man denn je eine Braut gesehen, die gabmilder mit dem Spielmann gewesen wäre? Nein, wahrhaftig!

Aber der Bräutigam hatte auch nicht sonderlich rote Rosen auf den Wangen. Trygve Eivindson zappelte vielleicht mit seinen langen dünnen Beinen mehr als sich geziemte und trank Bier und Branntwein aus grossen Gläsern und mischte beides durcheinander. Aber das verschlug nicht bei ihm. Er stampfte wohl hart auf den Boden mit seinen Füssen, doch an seine Fröhlichkeit wollte kein einziger glauben. Ja, das war eine Hochzeit, an die man sich noch lange erinnern wird in dieser Gegend ...

Sieben Jahre lang ging Jofrid still im Pfarrhof aus und ein und grämte sich im verborgenen. So lange hatte sie gehofft und gewartet.

Dann kam sie spät im Herbst den Weg daher. Sie kam zu Fuss den einsamen Weg von Hylnäs her. Sie setzte sich auf einen Prellstein, und sie hatte tiefe, blauschimmernde Furchen unter den Augen vor Müdigkeit und Entsagung und Ergebung und vielleicht auch von vielen heimlichen Tränen.

Jofrid sass noch immer auf dem Prellstein, als Trygve Eivindson von seinem Herrenhof herniederschritt. Er schritt einher, ohne unnötige Eile zwar, aber doch wie einer, der ein rechtes Ziel vor Augen hat. Möglich ist, dass Trygve des Pfarrers Tochter von seinem Hause her gesehen.

Nun ist er bei ihr angekommen, einen Grashalm zwischen den Zähnen. Und er wird durch den Anblick der jungen Dame überrascht und bleibt stehen und wundert sich.

Jofrid ruft ihm schon von weitem entgegen: „Ja — ich sitze ein wenig hier ... Ich habe Karen Ystad besucht ...“

Aber warum lächelt sie nun gequält zu diesen unschuldigen Worten und zupft so umständlich mit spitzen Fingern ein Flöcklein Moos von ihrem Kleide?

„... du weisst doch, Trygve, die alte Karen Ystad, die bei uns diente? Sie liegt doch mit ihren lahmen Beinen im Bett. Sie liegt doch schon seit fünf Jahren in ihrem Bett und kann nur ein kleines Stücklein Himmel durchs Fenster sehen ...“

„Ja“, sagte Trygve. „Aber nun musst du wohl müde sein, und du kannst nicht den weiten Weg zurückgehen. Du siehst nicht gut aus, Jofrid ... Wenn du aber mit mir nach Lisät kommen und ein wenig warten willst, werde ich dich nach Hause führen ... Der Mond geht früh auf heute ... Und es ist lange her, seit ich dich gesehen habe, Jofrid.“

Da erhebt sich Jofrid plötzlich von ihrem Stein, wirft den Kopf in den Nacken und sagt hart: „Ich habe hier auf dich gewartet ... Ja, es ist lange her, Trygve ... Ich habe aber meinen Wagen zurückgeschickt und auf dich gewartet ... Und wenn es noch immer deine Meinung ist — du weisst, das, wovon du so manches Mal gesprochen, so werde ich heute nicht mehr nein sagen ...“

Trygve meint, es lege ihm da einer ein nasses Tuch übers Gesicht, und seine Wangen straffen sich. Das ist nichts anderes als ein gewaltiges Erschrecken. Er wird sehr bleich: „Ja — aber Jofrid! Willst du es also wirklich versuchen? ... Gott segne dich für dieses Wort, Jofrid.“

„Ich will es versuchen“, sagt Jofrid mit weissen Lippen.

„Ja — ja. Tu es nur, Liebe! — Alles wird gut. Du sollst nur sehen.“

Jofrid legt ihren Kopf noch ein wenig mehr in den Nacken: „Es ist aber nicht das, dass ich meinen Sinn geändert hätte, Trygve. Nein, wahrhaftig! Ich weiss doch ganz gut, dass es nicht das Rechte und nicht die ganze Liebe ist. Es ist ein Unrecht. Und ich will dich nicht belügen. Und du sollst dir auch keine grossen Hoffnungen mit mir machen ... Aber es ist doch wiederum auch so, dass ich dich gern habe. Es ist das, dass ich dich von Kind an kenne. Und ich kenne dich besser als alle andern. Jetzt bin ich dreiundzwanzig Jahre alt, und mein Vater hat letzte Woche das Kirchspiel in Utvär angenommen. In Utvär gibt es nur Meer und Felsen. Ich aber kann nicht leben ohne die Wälder — — Warum soll ich denn heute schon welken und sterben? — Und nun weisst du alles. Trygve, ich will nicht fort von hier. Und ich will auch leben ... Was ist jetzt deine Meinung?“

Jofrid hat schnell und mit trockener Stimme gesprochen. Wie ein Schulmädchen hat sie das hergesagt, als hätte sie es auswendig gelernt und fürchtete sich nun, es nicht gut zu machen. Und sie wollte möglichst schnell zu Ende kommen.

Was nun Trygve meint? Ach, Trygve ist nur Freude und frohe Überraschung.

„Aber das weiss ich ja schon alles, Liebe“, erklärt er eifrig. „Du kannst mir doch gar nichts von dir sagen, was ich nicht schon vorher wüsste. Und sieh, ich kann es doch so gut verstehen, dass du nicht ganz und in allen Teilen befriedigt sein wirst von mir. Ich bin nun leider nicht mehr als das, was hier vor dir steht. Ich bin nicht klug wie Olav Arnevik. Ich habe auch nicht sein Wesen oder seine Gestalt. Nein, Gott sei es geklagt, meine Nase ist doch viel zu lang und zu dünn, und in meinem Kopfe finden sich leider keine schönen Gedanken. Aber was das Herz anbetrifft, Jofrid, so darf ich schon so viel sagen, dass kein Mann auf der ganzen Welt dich mehr und besser lieben kann als ich.“

Sie gehen nebeneinander her den Weg gegen Lisät hin. Trygve Eivindson ist um so vieles grösser und länger als Jofrid, dass er sich weit vornüber und zu ihr hinneigen muss, um ihr unter den breitkrempigen Hut zu blicken.

Ist jetzt vielleicht noch Eis in seinem Rücken oder ein nasses Tuch auf seinem Gesicht? Nein — Herrgott im Himmel! — keine Spur von Kälte mehr. Jetzt sprudelt heisses Blut in diesem langen, etwas schwerfälligen Menschen. Das Glück jubelt in ihm.

Jofrid folgt Trygve nach Lisät und wird gut und mit Freuden bewirtet. Der alte Oswald selber spannt das Pferd vor den Wagen und lächelt dabei, tätschelt dem Pferde den glatten, samtweichen Hals und flüstert ihm kuriose Worte ins Ohr. Ach, Oswald ist doch mit der Zeit so uralt und schon ziemlich einfältig geworden.

Trygve fuhr Joftid nach Hause, als der Mond aufgegangen war. Trygve hatte auf dieser nächtlichen Fahrt viel zu sagen. Und Jofrid schwieg. Auch ihr Schweigen erfreute ihn. Es machte sie sanft und fein ...

Und dann war auf dem alten Herrenhof auf Lisät auf einmal Hochzeit und Lärm und Tanz und Zuversicht und viel Unbegreifliches und viel Gerede und alles miteinander.

Der alte Pfarrer Bjarnöy zog, kaum dass er seiner Tochter die Ehe geweiht hatte, in sein neues Kirchspiel an die Küste hinaus, wo es nur Felsen und Fische und unendliches Meer gibt ...

Jofrids Wangen wurden mit der Zeit wieder rot und ihre Hände warm. Und Trygve ging frohen Mutes auf seinem grossen, prächtigen Gut umher, redete mit dem alten Oswald viele wichtige und viele törichte Worte und war in seinem Sinn so glücklich, dass er in jeder Nacht vor dem Einschlafen gläubigen Herzens aufs neue Gott dankte, wie ein gutes und freudiges Kind.

Heute aber ist nun alles anders.

Heute stapft Trygve Eivindson den schmalen Pfad an der steilen Berghalde empor, das Gewehr und den Rucksack über der Schulter, die hohe Otterfellmütze auf dem Kopfe. Seine Nase ist noch länger und dünner als gewöhnlich und ragt wie ein unglückliches Felsstück aus einem verwüsteten Acker empor.

Unten liegt Lisät mit allen seinen grossen und kleinen Gebäuden, seinen Scheunen und Ställen und den alten Vorratshäusern. Drei Fenster zur ebenen Erde leuchten rot. Das sind die Fenster der grossen Wohnstube. Aber der Pfad hier ist mit Eis gepflastert und glatt, und es dürfte vielleicht nicht ganz ratsam sein, sich im Gehen allzuoft umzudrehen, meint Trygve. Es sei ein verdammter Weg, meint Trygve.

Sein Herz ist ganz und gar verbittert.

Er kommt auf einer kleinen Ebene an. Die heisst Bratelund.

Weiss Gott, Trygve hat die ganze lange und dachsteile Halde in einem Zuge genommen. O, soweit das Bergsteigen in Betracht kommt, macht es ihm keiner nach in dieser Gegend. Man mag nun über seine langen Beine spotten soviel man will, aber er kann damit die wilden Ziegen im Berge einholen.

Aber auf Bratelund muss Trygve doch stehenbleiben und hinunterblicken.

Und da liegt also tief unten und schon in der Dämmerung eingehüllt der grosse Hof mit den drei roten Fenstern. Nun denkt Trygve, ob er nicht einen Schatten in einem der Fenster sehen könnte, den Schatten einer jungen Frau vielleicht, einer jungen, feinen Frau, die ihr Haar wie eine Krone ums Haupt trägt. Aber nein, dort am Fenster ist kein Schatten und keine Frau und nichts.

Trygves Augen sind scharf. Raubvogelaugen. Ei, zum Pokker, kommt denn dort nicht der alte Oswald mit einer Laterne über den Hof? Ja, das dort ist Oswald. Warum bleibt der Alte denn so lange in der Haustür stehen? Und warum macht er mit seinem Lichte diese Zeichen? Lehnt dort am Türpfosten dennoch die junge Frau mit der goldblonden Krone?

Es könnte schon so sein, dass Jofrid dort unten am Türpfosten lehnt. Vielleicht winkt sie jetzt mit einem weissen Tüchlein.

Aber seht nun diesen Trygve, der einmal alles verstanden hat und sich mit wenigem zufrieden geben wollte. Er will heut nicht mehr das Gute suchen. Er will nur noch das Böse finden. Er ist nicht länger ein gottesfürchtiges Kind.

Nein, er hebt nicht die Hand. Keinen Gruss sendet er hinunter. Er wendet sich um und stapft weiter. Vier lange Schritte nur, dann ist Lisät verschwunden.

Dann ist Trygve allein.

Trygve geht eine halbe Stunde lang durch lichten Birkenwald.

Da liegt vor ihm Eivindsruh. Ein langes, schmales Tal unter dem schroffen Gehänge des Helleberges. Eine dicke Staumauer schliesst es ab. Mit dieser gewaltigen grauen Mauer hat Herr Eivind vor langer Zeit das Wasser des Bergbaches gefangen und zu einem schönen stillen See gemacht und ihm den Namen Dagmarsee gegeben. Um den Berg herum hat Herr Eivind eine breite Fahrstrasse anlegen lassen; die nannte er Dagmarstrasse.

Herr Eivind war einer von den Grossen und Mächtigen. Er war ein Häuptling aus uraltem Blut. Er schuf in frevelhaftem Übermuts einen See auf dem Berg und baute eine lange unnütze Strasse von seinem Hof bis da hinauf.

Er wollte mit seinen vielen Gästen und seiner schönen Frau Dagmar mit Ross und Wagen zum See fahren.

Ja, das war eine herrliche und stolze Zeit. Es lebte damals auch ein starkes Geschlecht.

Herr Eivind war in allen Dingen ein gewaltiger Mann. Er hatte mehr als dreissig Pächter, die Fron leisten mussten. Herr Eivind war ein König. Er war Offizier und trug stets eine Reitpeitsche mit sich herum. Und an der Reitpeitsche war ein schwerer Silberknopf. Die Bauern sagten zum Scherz untereinander: „Herr Eivind nimmt die Peitsche mit sich ins Bett. Denn er kann ohne sie nicht schlafen.“

So gewaltig war dieser Mann. Da liegt er jetzt.

Er liegt unter einem grossen Stein. Neben ihm, unter einem anderen grossen Stein, liegt seine schöne Frau Dagmar.

Dahinter breitet sich der See aus und heisst noch heute Dagmarsee. Aber diese ganze Gegend ist nur noch verfallene Herrlichkeit und nichts weiter als stolze Erinnerung und eine Verhöhnung menschlichen Grössenwahns. Man nennt sie Eivindsruhe. —

Über Nacht hat der Frost den See gepackt. Es fiel auch ein wenig Neuschnee in den ersten Morgenstunden. Eine Hasenfährte läuft zum Birkenwalde heraus. Das ist eine kurze, unsichere und kranke Fährte. Ganz richtig, dort draussen stellt sich auch schon mit seiner hübschen Perlenschnur der Fuchs ein.

Naturgesetz, denkt Trygve Eivindson. Nur Naturgesetz. Der Schwächere und Kranke muss vom Starken verfolgt und aufgefressen werden, denkt er bitter.

Das alles ist unabwendbar, denkt Trygve mit grosser Trauer und steht vor den Gräbern seiner Eltern.

Er nimmt eine Handvoll Schnee vom Stein, der die schöne Frau Dagmar bedeckt. Er stopft den Schnee in den Mund, seinen Durst zu stillen, den heissen Durst, der in ihm brennt.

Herr Eivind? denkt er und grübelt.

Ein finsterer und sehr strenger Herr, dem viel Land zu eigen gehörte. Wenn die Bauern mit ihm redeten, nahmen sie die Mütze vom Kopfe. Nur wenige durften ihm in die Augen schauen. Er steht wahrlich nicht im besten Andenken unter den Leuten. Noch heute senken sie die Stimme, wenn sie von ihm reden.

Herr Eivind? Er holte sich ein schönes Weib aus der Stadt. Dagmar. Sie war so fein und zart, dass die Pächter glaubten, sie müsse einer von Gottvaters vornehmsten Engeln aus dem hohen Himmelreich sein.

Frau Dagmar. Sie spielte auf dem Flügel und sang dazu. Und wenn Frau Dagmar spielte und sang, wagten Knechte und Mägde kein lautes Wort zu reden. So wunderbar klang das.

Frau Dagmar aber wurde auf Lisät bald bleich und durchsichtig. Es hiess, sie sei krank vor Sehnsucht nach der Stadt und nach dem grossen Leben der Stadt und allem anderen, was sie verlassen.

Sie klagte nie. Keinen einzigen Seufzer hörten die Mägde. Aber alle wussten es dennoch. Denn alles auf Lisät drehte sich in jenen Tagen um Frau Dagmar.

Auch Herr Eivind wusste es. O, er verstand das alles gut. Aber er sagte nichts dazu ... Doch damals schuf er, ihr zuliebe, den See auf dem Berge und baute diese teure Strasse und lud viele Gäste ein und erfüllte sein Haus mit Wein und Lärm und Geselligkeit. Ein König. Er hielt grossen Hofstaat, ein Jahr lang oder zwei.

Dann geschah irgend etwas. Frau Dagmar hatte einen seltsamen Einfall. Ein Knecht verschwand am Helleberg, und man konnte ihn niemals mehr auffinden.

Zwei Knechte verschwanden.

Und Herr Eivind verunglückte auf der Jagd. Ebenfalls hier auf dem Helleberg fand er sein Ende.

Er lag unter einem Felsen, mit einer grossen Wunde im Hinterhaupt. Man fand ihn erst am zweiten Tage. Und da lag er also in seiner Grösse und gewaltigen Körperstärke, mit all seiner Macht und mit dem schönen blonden Bart.

Und es war aus mit ihm. Der König starb.

Fast zur selben Zeit, da der König starb, wurde der Prinz, Trygve, geboren.

Die schöne Frau Dagmar schenkte dem Prinzen ihre ganze Lebenskraft oder doch den ganzen Rest ihrer Lebenskraft. Aber es wurde dennoch kein König aus ihm. Nein, Trygve war nicht zum Grossen geboren und auserkoren.

Er wuchs heran und wurde ein Mensch wie andere Menschen, ohne Peitsche und Silberknopf und ohne breite goldene Epauletten und Hoheit und Strenge im Blick. Er wurde nur ein Mann, gerade und brav. Ein ehrlicher, fleissiger Gutsherr, ein verständiger Mensch und guter Bürger in jeder Beziehung. Und wenn ihm nicht gerade diese Geschichte zugestossen, so wäre über ihn überhaupt nichts zu sagen ...

Das Reich zerfiel. Der alte König hatte gar zu flott regiert und einen allzu prächtigen Hof geführt, um der Liebe willen.

So wurden die Pächter frei und unabhängig und stolz und von ihrem eigenen Werte durchdrungen, ganz von ihrer eigenen Wichtigkeit besessen.

Sie nehmen ihre Mützen nicht mehr vom Kopfe, wenn sie vor Trygve Eivindson stehen, obschon dieser Trygve wahrhaftig noch immer ein grosser Herr ist, der viele Ländereien unter seiner Hand hat. —

Dass es so gut ging, damals mit dem Hof Lisät, ist des alten Oswalds Werk.

Ja, der alte Oswald hat das havarierte Schiff klug gesteuert. Er übernahm das Kommando, als der König begraben wurde, hier unter diesem grossen Stein auf Eivindsruh. Da hörte das flotte Hofleben mit einem Male auf.

Zwar gelang es dem alten Oswald nicht, das ganze Königreich zu retten. Er musste die Pächter ziehen lassen und freigeben. Frau Dagmar musste die Aussenwerke verkaufen. Aber, weiss Gott, Lisät ist auch heute noch ein Herrenhof. Und seine Wälder konnten ein Menschenalter lang wachsen und in Ruhe gross und schlagbar werden. Diese gesegneten Wälder! Längst hat Lisät das Spiel gewonnen ...

Wie die Fährte dort hinten im Schnee, so endete das irdische Dasein des mächtigen Herrn Eivind. Seine Fährte wurde auf einmal krank und brach ab. Der Stärkere war über ihn gekommen ...

Es war einmal eine Wiese mit hohem, sonnenwarmem Gras und vielen Blumen. Trygve lag in diesem blumigen Grase, und eine Frau beugte sich zu ihm nieder. Eine blasse, stille Frau, vor einem ungeheuer grossen Himmel. — Das ist alles, was Trygve von seiner Mutter weiss.

Vielleicht ist auch das nur ein Märchen und nicht einmal wahr und niemals Wirklichkeit gewesen. Jene Blumen sind auf alle Fälle längst verwelkt. Das Kind Trygve wuchs und wurde ein Mann und liebte ein Mädchen. Das Leben hat ihn jetzt erfasst. Die Liebe hat ihn erfasst mit Glück und Leid. Er geriet unversehens in den Wirbel.

Warum steht Trygve nun hier? Warum macht sich Trygve nun an diesem Winterabend so viele Gedanken über die schöne Frau Dagmar und den finsteren Herrn Eivind? Er weiss ja von beiden nur so viel, dass sie in irgendeinem natürlichen Verhältnis zu seinem Anfang standen. Er weiss, dass sie ihm den Herrenhof hinterlassen und eine etwas verworrene Geschichte. Sonst weiss er nichts.

Es ist kein Bild von seiner Mutter zurückgeblieben, kein Bild von seinem Vater. Nur das heimliche Gerede der Leute blieb zurück und die Strasse, die jeden Sommer und jeden Winter mehr verfällt und schon wieder in die Wildnis zurücksinkt. Und hier oben blieben die kläglichen Ruinen einiger Lusthäuschen, eines Landungssteges und der unnütze See. Alles das blieb hinter ihnen liegen.

Die Spuren von Herrn Eivind und Frau Dagmar verblassen schnell und werden bald völlig ausgewischt sein — bis auf die zwei grossen Steine. — Hier ruhen sie. —

Trygve ist schon so manchmal diesen Weg gegangen, dass er nicht mehr auf die zwei grossen Steine achtete. Der stille See und die verfallene Strasse strömen Trauer und Totenhauch aus und locken nicht zum Verweilen.

Herr Eivind und Frau Dagmar ruhen hier. Sie lebten abseits von den Menschen. Nun ruhen sie abseits von den Menschen, in einer Erde, die nicht von Priesterhand geweiht und von keinem Kreuz geheiligt wurde. Das Wild zieht seine Fährte über ihre Gräber ...

Herr Eivind und Frau Dagmar haben sich vom Leben weit zurückgezogen, über alle Massen stolz und ein wenig unbegreiflich. Sie wollten allein leben. Sie wollten im Tode allein liegen. Sie wollten niemals das, was alle wollten.

Aber es wäre für Trygve gut gewesen, jener Frau, die sich damals vor dem grossen, dunkelblauen Himmel zu ihm niederbeugte, an diesem Abend einiges erzählen zu können, von einer anderen Frau, die Jofrid heisst, die heute in ihrer Jugend blüht und eben vorhin noch dort unten am Türpfosten lehnte.

„Mutter“, sagte Trygve leise und heiss vor sich hin. Und er lauschte ganz erstaunt seiner eigenen Stimme.

Wer soll ihm aber nun das alles erklären?

Einmal hat er Jofrid so gut verstanden, dass sie gar keine Worte reden musste, um ihm zu sagen, was in ihr war. Heute versteht er Jofrid nicht mehr, auch wenn sie ihn mit ihren beiden Augen anblickt und viele Worte sagt. Sie hat sich über Nacht verändert. Sie steht ihm plötzlich fremd und unbegreiflich und feindselig gegenüber.

Der Schnee von Frau Dagmars Grab kühlt Trygves Zunge, stillt seinen Durst.

Und plötzlich entsinnt er sich eines Traumes, der ihm oft wiederkehrte und ihn quält. Aber diese Erinnerung kommt aus so weiter Ferne und bleibt verwischt. Sie erregt Angst und grosse Mühe durch ihre Unklarheit ... Wie die Wellen auf dem Wasser dem Sturm voraneilen und ihn verraten, so zeigt sich Trygve etwas im Traume. Er ahnt die Gefahr, die nicht sichtbar werden will.

Er nimmt noch eine Handvoll Schnee vom Grabe seiner Mutter. Dann geht er weiter.

Vorhin, als Trygve das Haus verlassen wollte, stand Jofrid im Gang und blickte ihn an.

Es war Trygves Absicht, ohne ein Wort an Jofrid vorbeizugehen. Aber sie stand da und rührte sich nicht. Sie stand da mit erhobenem Gesicht und schaute ihm gerade und stark in die Augen. Sie hielt ihn fest mit ihren Blicken.

Sie fragte: „Du willst fort? Warum gehst du?“

Er sagte: „Ich gehe hinauf zum schwarzen Ur. Ich werde zwei oder drei Tage oben bleiben.“

Sie sagte: „Das war heute morgen noch nicht deine Absicht. Gesteh es nur, du hast heute morgen noch nicht daran gedacht.“

Er sagte: „Nein, ich habe nicht daran gedacht. Aber mir scheint nun, dass ich hier in bestimmtem Sinne überflüssig bin und im Wege stehe.“

Jofrids Augen wurden gross und dunkel, und sie musste die Brauen darüber niedersenken: „Was redest du da? Und wem solltest du denn im Wege stehen?“

Und jetzt wird Trygve kalt im Herzen, und seine Lippen werden schmal. „Einmal warst du ehrlich und stolz, Jofrid,“ sagt er leise und ein wenig unsicher, „heute aber wagst du nicht mehr die Wahrheit zu sagen.“

Und dann schweigen sie beide.

Und dann kommt Olav Arnevik mit dem alten Oswald vom Hofe herein. Olav sagt: „Ich suche dich, Trygve.“

„Du suchst mich da, wo ich nicht zu finden bin“, entgegnet Trygve. Und er fragt: „Was willst du noch von mir?“

Olavs Kinn zuckt ein wenig. Es flimmert ein wenig in seinen Augen. Er schaut Jofrid an.

Er schaut nur Jofrid an und sagt: „Es handelt sich um ein kleines Geschäft, Trygve. Hast du Zeit?“

„Nein“, sagt Trygve, „jetzt habe ich keine Zeit, denn ich will in die Hütte im schwarzen Ur.“

Olav blickt noch immer Jofrid an. Er nickt jetzt und lächelt.

„Wohl! Ich kann auch oben im schwarzen Ur mit dir reden. Ja, das geht wohl an.“

Es flimmern auch Trygves Augen ein wenig.

„Das ist gut“, sagt er. „Ich erwarte dich. Wann wirst du kommen?“

„Ich werde noch in dieser Nacht zu dir hinaufkommen. Denn morgen muss ich mit dem Postschiff wieder südwärts fahren. Und nun will ich nach Hause gehen. Leb wohl, Jofrid.“

Und Olav geht.

Und Trygve geht.

Jofrid steht aber immer noch auf derselben Stelle, mit gefalteten Händen. Wie an ihrem Hochzeitstage sind ihre Wangen bleich und ihre Augen erloschen ...

Trygve schreitet über die Hauswiese und denkt: Hat sie denn unser Gespräch vom Mittag ganz vergessen? Scheut sie sich denn jetzt gar nicht mehr, zu lügen und zu heucheln? Ist sie denn mit einem Male völlig anders und schamlos geworden?