Im Königreich Mjelvik - Karl Friedrich Kurz - E-Book

Im Königreich Mjelvik E-Book

Karl Friedrich Kurz

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Beschreibung

Wenn auch Mjelvik kein Königreich ist – noch nicht einmal eine Kirche hat der Ort zwischen den zwei Tälern am Fjord, so unbedeutend ist er – ,so ist Sigmund Borsa doch der König. Denn Borsa hat einmal ganz Mjelvik gehört und Sigmund hält noch immer allen wertvollen Boden in seinem Besitz. Sie nennen ihn König, denn wenig kann in Mjelvik ohne ihn geschehen. Er ist derjenige, von dem alle Menschen hier in irgendeiner Weise leben. Fast alle haben ihre Häuser auf seinem Grund und Boden erbaut. Und fast alle arbeiten in seinem Sold. Nur dem Krämer Benjamin Sagensen ist es vor einem kleinen Menschenalter mit List und durch Zufall gelungen, sein Geschäft und den Boden, auf dem das Geschäft steht, zu kaufen. Das war bald nach dem Tod des Post-Nicolaj, der nicht vor Hunger, sondern an einem großen Loch im Kopf starb. Wie der König die elegante und ausnehmend hübsche Oline an seine Seite bringt, was es mit der Frage mit dem Esel auf sich hat, wie hinterhältig des Königs Krieg gegen den Krämer-Benjamin geführt wird, wie sein rotes Automobil ihn vor die Richter bringt und der Prozess beinahe seine Hochzeit verhindert und welche Bewandtnis es mit seinem Tod hat – durchaus nicht eine innere Notwendigkeit ... ein wenig Ziegenfett hier, eine kleine Unebenheit da – davon und von vielem mehr aus Mjelvik erzählt diese Schelmengeschichte. Die vergnügliche, heitere, hintersinnige, possenhafte Geschichte des Dorfes Mjelviks und seines Königs – eine norwegische Burleske!-

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Karl Friedrich Kurz

Im Königreich Mjelvik

Roman

Saga

Im Königreich Mjelvik

© 1930 Karl Friedrich Kurz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711518397

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Ganz zuhinterst im Fjord

Ganz zuhinterst im Fjord wohnen auch Menschen. Dort ist das Wasser schmal und schwarz vor Tiefe. Dort sind die Berge blau und hoch. Sie sind so hoch, daß sie bis gegen den Johannistag noch weiße Wintermützen tragen. Und sie sind breit und klotzig; sie nehmen fast allen Raum für sich allein ein und lassen für Gras und Wald und Tier und Mensch nur wenig Boden übrig. Wenn im Sommer der Schnee endlich geschmolzen ist, zeigt es sich, daß alle diese Berge kahle Schädel und alte, grimmige Gesichter haben. Sie sind nicht freundlich. Sie stoßen das Leben von sich.

Darum sind es hier andere Menschen als draußen an der Küste. Ganz gewiß tüchtige Menschen in ihrer Art, gut und klug auf ihre Weise. Aber sie haben nur einen Scherben von Himmel über sich. Sie müssen stets im Schatten der Felsen wandeln.

Zäh sind sie. Wenn der grüne Boden nur eine Steinwurfsbreite erreicht, muß er ihnen schon dienstbar sein. Gleich bauen sie ihre Hütten und Häuser hin, kommen mit Schafen und Ziegen und Kühen daher, nehmen Besitz vom Land und zeugen Nachkommen ...

Da, wo drei Bergzüge zusammentreffen, hört der Fjord auf, und es bildet sich eine Bucht. In der Bucht liegt der Platz Mjelvik. Es sind vielleicht fünfzig Häuser und einige zerstreute Gehöfte, vielleicht mögen es auch sechzig Häuser sein. Mehr sind es sicher nicht.

Zwischen den drei Bergzügen liegen zwei Täler. Jedes Tal sendet seinen Bach ins Meer. Wenn es regnet, werden diese armseligen Bäche sogleich zu böswilligen Flüssen. Man hat zwei Brücken geschlagen, eine hölzerne und eine aus grauen, dicken Schieferplatten. Das Wasser mag die beiden Brücken nicht leiden; es knurrt und faucht und nagt unablässig an den Pfeilern. Es schiebt Geröll heran, die Durchfahrt zu verstopfen. Das macht den Menschen Verdruß und viel unnütze Arbeit.

Sommer und Winter, Tag und Nacht poltern große und kleine Steine von den Berghängen nieder und rollen in die Täler, so daß die Bäche niemals in ihrem Bette ruhen können und sich stets neue Wege suchen müssen. Die Menschen wissen mit all den vielen Steinen nichts Gescheites anzufangen und verfluchen sie und lehnen sich in gottlosen Worten gegen das Walten der Naturkräfte auf. Die kleineren Steine räumen sie immer wieder von ihrem grünen Lande hinweg, die größeren aber müssen sie liegenlassen und umgehen. Darin gleichen sie dem Wasser. Auch die Menschen finden hier nicht Ruhe und Frieden und müssen sich ohne Unterlaß durchs Leben kämpfen ...

Es gibt in Mjelvik nicht einmal soviel wie eine Kirche, so unbedeutend erscheint dieser Ort selbst dem lieben Gott. Nein, wenn die Leute beten und singen oder sich sonstwie öffentlich erbauen und ihren Glauben stärken wollen, müssen sie mit dem Boot an die fünf Stunden weit übers Wasser hinrudern oder fast ebensolange auf der Bergstraße wandeln nach dem Pfarrort, der Lunda heißt.

Im Winter liegt aber viel Schnee auf den Bergen und versperrt die Straße, und auf dem Fjord heult der Sturm. Und da kommt es nicht so gar selten vor, daß brave Christenmenschen auf dem Kirchgange ihr Leben verlieren. Die Leute von Mjelvik verstehen das nicht recht.

Sie forderten vom Bischof eine eigene Kirche. Aber der Bischof sagte: „Nein! Das lohnt sich nicht,“ sagte er. „Mjelvik ist noch zu klein. Ihr müßt zuerst wachsen und groß werden.“

Natürlich hat der Bischof recht. Er kann nicht jedem Hausvater eine Kirche vors Küchenfenster stellen. Unmöglich.

Aber die Leute von Mjelvik verstehen es dennoch nicht. Sie schelten den Bischof und das hohe Ministerium und verwünschen beide mit ähnlichen Worten wie die Naturmächte mit den vielen überflüssigen Steinen. Die Leute von Mjelvik haben sich im Laufe der Zeit allmählich verhärtet in Bitternis und Trotz. Ach, diese armen Schafe wurden wohl schon ein wenig schwärzlich in der Wolle.

Vielleicht flucht man in Mjelvik um einiges mehr und kräftiger als andernorts. Das ist möglich. Verwunderlich kann es nicht sein, wenn eine Herde ohne Hirt auf schlechter Weide auf Abwege gerät.

Ist Mjelvik somit in geistlicher Beziehung ein bißchen vernachlässigt und zurückgeblieben, so hat es im weltlichen Aufschwunge wenigstens mit der Zeit tapfer Schritt gehalten. Das ist einzig und allein Sigmund Borsas Verdienst.

Sigmund Borsa — seht, das ist der Mann, der alle anderen Leute von Mjelvik um Haupteslänge überragt und auf den es hier ankommt. Er stammt aus einem alten Geschlecht.

Den Borsa hat einmal ganz Mjelvik zu eigen gehört; ein großes Stück der drei Bergzüge und der zwei Täler und alles Land zu Füßen der Felsen. Wie sie dazu kamen, weiß heute kein Mensch mehr. Keiner fragt danach. Es fielen im Laufe der Zeit ein paar Fetzlein ab. Da und dort ein Zipfel. Aber Sigmund hält noch immer allen wertvollen Boden in seinem Besitz. Sie nennen ihn König.

Wenig kann hier in Mjelvik ohne den König Sigmund geschehen, das meiste nur durch ihn; aber nichts gegen ihn. Er sitzt auf Trollhaugen.

Er sitzt auf einem uralten Lederstuhl vor einem schweren Eichentisch und regiert. Und seine Nase ist lang und groß — eine wahrhaft majestätische Nase, die weit aus dem übrigen Gesicht hervorragt. Der Mund klebt eigentlich nur noch unten daran. Und das Kinn hat sich völlig in ein paar tiefe Hautfalten zurückgezogen. Wenn der Hemdkragen nicht da wäre, ließe sich kaum bemerken, wo der Hals beginnt. Seine Augen sind ungewöhnlich. Es sind graue Augen. Eins schaut geradeaus und das andere einige. Striche daneben. So ist Sigmund, der König.

Er hat den großen Hof mit allen Außenwerken in rechtschaffener Weise von seinem Vater geerbt, eine Seifenfabrik gegründet und die alte Fischjacht „Solrenningen“ erworben. Im Winter kauft er Fische draußen an der Küste, salzt sie in Tonnen und führt sie mit seiner Jacht in die Stadt.

Sigmund Borsa — er ist derjenige, von dem alle Menschen hier in irgendeiner Weise leben. Fast alle haben ihre Häuser auf seinem Grund und Boden erbaut. Fast alle arbeiten in seinem Sold. Fast alle sind seine Schuldner.

Nur dem Krämer Benjamin Sagensen ist es vor einem kleinen Menschenalter mit List und durch Zufall gelungen, sein Geschäft und den Boden, auf dem das Geschäft steht, zu kaufen. Das war bald nach dem Tode des Post-Nicolaj, zu einer Zeit, als der Strand in größter Erregung und der König in finanziellen Nöten war. Der ganze Ort Mjelvik bebte damals und drohte zu fallen.

Ja, jenes war eine böse Zeit. Man hat sie noch nicht vergessen. Der große Kramladen des Königs war fast leer. Kein Korn auf der Mühle, kein Mehl in den Säcken, kein Kredit in der Stadt — Gott allein weiß, wovon die Weiber in Mjelvik ihre Grütze kochten. Selbst auf dem Herrentisch von Trollhaugen fehlte mehrere Tage lang der Zucker. So schlimm stand es.

Aber dann starb also der Post-Nicolaj. Nicht vor Hunger starb er, sondern an einem großen Loch im Kopf. Und die lederne Posttasche mit Horn und Löwe und Königskrone war verschwunden.

Die Leute sagten sich ganz richtig, daß hier ein Mord vorliege. Die Obrigkeit mischte sich in die Angelegenheit in Person des Vogts Kolbjörn Fagernes und suchte nach der Posttasche, die an jenem Tage viel Geld enthielt, und nach dem Mörder. Man bedauerte den jungen Nicolaj und war erschüttert von seinem gewaltsamen Ende. Von seiner Jugend an hatte er jede Woche zweimal die Posttasche durch das lange Tal hinauf nach dem reichen Ort Furuvoll getragen. Da hatte ihn also auf dem Weg der Tod ereilt. Und die Obrigkeit erklärte, daß der Mörder die gefüllte Posttasche mit sich genommen habe. Der Vogt und sein Schreiber Daniel und sein Knecht, der Polizei-Sören, dem damals gerade die ersten verschämten Haare unter der Nase hervorsproßten, suchten im Walde, in den Häusern, in den Geröllhalden. Aber der Steine sind in dieser Gegend, Gott bessere es, gar zu viele. Die Obrigkeit konnte nicht unter allen herumscharren. Und es verging Tag um Tag, und sie fand die Tasche nicht und sie fand den Mörder nicht.

Der Vogt wollte schon seinen Schreiber Daniel mit den Akten in die Stadt schicken, als Arnika Oevreseth mit dem Neuen Testament in der einen und einem weißen Taschentuch in der andern Hand auf seinem Kontor erschien und unter viel Seufzern und Tränenerguß eine seltsame Mitteilung machte.

Arnika Oevreseth war nicht als hervorragend begabte, aber als tiefreligiöse Frau bekannt. Und nun sitzt sie also auf der äußersten Stuhlkante und sagt: „Er ist es — der Herr tröste mich!“

Der Vogt Kolbjörn Fagernes, verdrießlich über seine große und vergebliche Mühe mit dem Postraub, schaut vom Briefe auf und fragt: „Wer soll was sein? — Siehst du denn nicht, daß ich hier sitze und schreibe, alte Frau?“

Und weiter beachtet der Vogt diese Arnika nicht. Arnika aber sagt: „In des Herrn Namen — ich habe sie gefunden.“

„Ja“, murmelt der Vogt, ohne den Blick zu heben. Und dann wird er wütend über die Störung und sagt auch noch: „Ja, gute Seele — scher dich nun in des Herrn Namen zum Henker ... Denn ich habe keine Zeit für dich, siehst du.“

Ach, der Vogt war damals ein noch sehr junger Mann und erst vor kurzem in diese Gegend gekommen. Er setzte sich durch seine kräftige Sprache sogleich bei allen mächtig in Respekt.

„Vogt, versündige dich nicht!“ ruft Arnika Oevreseth. Hei, wie ihre Lippen zucken, und wie ihr das Kinn zuckt. „Er und kein andrer ist es!“ ruft sie. „Gott stehe ihm bei! ... Und ich habe die Tasche gesehn ...“

„Die Tasche?“ fragt der Vogt und legt die Feder weg. „Doch wohl nicht die Posttasche?“

Arnika nickt und beginnt nun heftig zu schluchzen. Aber das, was heraus muß, kommt schließlich doch heraus. Alles kommt heraus: „Ja — aber war es die Posttasche!“ ruft sie.

Arnika Oevreseth hat ihren eigenen leibhaftigen Sohn Haldor mit der Posttasche überrascht. Ja, und unter einem großen Stein hinter der Scheune liegt sie. Und das wäre nun allerdings eine Neuigkeit.

Der Vogt setzt sogleich seine Amtsmütze mit den Goldschnüren und der Kokarde auf, ruft seinen Knecht herbei, und fort geht es, das Tal hinauf. Alles stimmt. Da ist der Stein. Da ist die Tasche. Aber die Tasche ist leer.

Der Sohn Haldor liegt auf seinem Bett und schläft friedlich und ohne Gewissensbisse. Man weckt ihn, und die Obrigkeit erforscht unerbittlich seine Seele.

Aber nein, dieser Sohn gesteht nicht. Er habe die Tasche im Walde gefunden, gibt er an. Und mehr wisse er nicht, gibt er an. „Und glaubt mir nur, Vogt, sie war schon leer!“ ruft Haldor. „Und ich habe die Tasche doch nur so mitgenommen.“

Und als die Tasche dann überall gesucht wurde, schwieg Haldor, weil er sich plötzlich fürchtete. Haldor war vielleicht ein wenig beschränkt im Geiste und, wie es hieß, mit einem schwachen Kopf geboren. Es hieß plötzlich auch, Haldor sei allezeit träge zur Arbeit gewesen und dazu grob im Mund. Keiner wunderte sich, daß es ein Ende mit Schrecken nehmen mußte!

„Gott sei mein Zeuge!“ ruft Haldor.

Aber das war doch zum Lachen idiotisch. Nun wunderten sich alle Leute nur noch darüber, daß dieser Bursche so standhaft leugnen konnte, trotz Kreuzverhör und schmaler Kost und hartem Lager im Keller unter dem Vogtkontor.

Der Vogt war doch noch so jung und schneidig, damals. Er hatte den Mörder und die Tasche erwischt. Nun wollte er absolut auch das viele Geld finden. Oh, er war scharf, der Vogt.

Wenn Haldor Oevreseth sehr hungrig wurde, sagte er: „Ja. Da und da habe ich es vergraben, das Geld.“

Dann gab man ihm zu essen. Aber das war doch alles nur Schwindel und führte zu nichts. Wenn man hinging, war doch nichts vergraben. Das Geld war verschwunden. Das Geld blieb verschwunden.

Der einzige Trost war, daß man wenigstens den Mörder hatte. Der Vogt führte ihn in die Stadt.

Haldor Oevreseth wurde seines schwachen Kopfes wegen nicht zum Tode, sondern nur zu achtundzwanzig Jahren Kerker verurteilt. Und damit war diese Sache erledigt.

Sie wurde viel besprochen in Mjelvik. Denn soweit die Menschen zurückdenken konnten, hatte sich an diesem Strande nichts Ähnliches ereignet. Dies und die schwierige Lage des Königs und der allgemeine Hunger rüttelte die Gemüter nicht übel auf. Die Leute krümmten ihre Rücken unter der Geißel des Himmels, und viele unter ihnen begannen ihre Zunge zu zügeln, bezähmten ihr hitziges Gemüt und taten mit Seufzern und frommen Sprüchen Einkehr. Ja, sie scheuten sogar zu dieser Zeit nicht mehr den langen und beschwerlichen Weg nach dem Pfarrorte Lunda.

Und es schien wirklich so, als nähme der Himmel ihre reumütige Buße gnädig auf und halte inne mit der Fuchtel und den unbegreiflichen Heimsuchungen.

Ein König und ein Krämer

Benjamin Sagensen trat ins Kontor des Königs Sigmund, blieb bescheiden bei der Tür stehn und erklärte; er sei nicht ganz abgeneigt, den Kramladen zu kaufen. Den alten Kramladen von Mjelvik!

„Nein“, sagte der König.

„Ja, verzeihen Sie nur, Sigmund Borsa!“ sagte Benjamin Sagensen. „Ich dachte nur so. Aber ich bin doch ein unwissender Mann. Und vielleicht war meine Frage kühn und zudringlich. Aber das wollte ich nicht.“

Hierauf schwieg er. Und als auch der König schwieg, sagte Benjamin Sagensen beiläufig noch dieses: „Ich habe mir drüben in Amerika ein paar Schillinge erspart. Und nun wollte ich sie in ein gutes Geschäft hineinstecken und versuchen, in der Heimat vorwärtszukommen. Aber ich sehe nun wohl, daß es Ihnen nicht paßt. Und so werde ich also in des Herrn Namen weiterreisen müssen.“

Und da steht also der König am Fenster und schaut auf den Fjord hinaus, auf dem nichts anderes zu erblicken ist als die alte Fischjacht „Solrenningen“, die in ergebener Hoffnungslosigkeit am Strande klebt und einem halbtoten Vogel gleicht. Benjamin Sagensen dreht die Mütze in beiden Händen, zögert eine Weile und geht dann. Er kommt bis zur Tür.

„Warte ein wenig!“ ruft ihm der König nach. „Wir könnten ja noch über einiges reden ... Also den Kramladen, meinst du? ... Wieviel Geld hast du denn?“

„Nun“, sagt Benjamin Sagensen leise, ohne sich unnötig aufzublasen. „Es ist wohl nicht gerade viel. Aber für den Anfang ... So einige kleine Tausender ...“

„Setz dich!“ sagt der König. „Sind es Kronen? Oder ist es von dem großen amerikanischen Geld?“

„Dollars“, sagt Benjamin Sagensen und setzt sich.

Und der König hat inzwischen wohl feststellen können, daß der Fjord völlig leer und die ganze Gegend ohne Ereignis ist. Er wendet langsam seinen Vogelkopf zurück. Jawohl, dieser Mann da, Benjamin Sagensen, der vor einigen Jahren nach Amerika auszog und in der Heimat keine Lücke hinterließ, dieser geringe Mann mit seinem einfältigen und demütigen Wesen, der ohne Aufhebens eine große Summe nennt, preßt selbst einem Herrn, wie Sigmund Borsa, einen Teil Achtung ab.

„Jasso! Wie lange bist du eigentlich fort gewesen, Benjamin? — Fünf Jahre? — Hem — dann hast du aber tapfer verdient.“

Darüber sei nicht zu klagen, meint Benjamin Sagensen mit leisem Lächeln. Aber nun liegen die Verhältnisse so, daß er ganz allein steht. Er ist nur herübergekommen, seine Schwester zu besuchen, Synöve, die Frau des Müllers ... So eine Art Heimweh ...

Nein, Benjamin Sagensen hat Mjelvik drüben, trotz Glück und Segen, niemals völlig vergessen können ... Oh, das kennen doch die meisten. Man möchte gerne die Orte, wo man als Knabe spielte, wiedersehn ...

„Ja, ja“, nickt der König. Aber plötzlich wird er mißtrauisch und streng. „Und dann kommst du ausspekuliert auf meinen Kramladen ...“

„Nun — ich dachte mir, ein Mann wie Sigmund Borsa ... Ich sagte zu mir selber: Dieser Mann wird mit diesem einfachen Geschäft doch bald aufhören und sich größeren Dingen zuwenden. Ja, entschuldigen Sie!“ sagt Benjamin Sagensen.

Da muß sich also der König aufs neue besinnen.

„Darin hast du allerdings recht. Du siehst ja, ich habe schon manchen Artikel ausgehen lassen ... Ja.“

Dieses eben hat Benjamin Sagensen gesehn. Und darum kam er also und wagte zu fragen. Aber er versteht jetzt natürlich selber, daß es förmlich unverschämt gewesen. Er will gleich wieder gehen. „Sie müssen entschuldigen!“ bittet er.

„Nein, gräm dich nicht deswegen“, sagt der König versöhnlich gestimmt. „Ich bin doch auch einigermaßen Kaufmann. Und die Wahrheit zu gestehn, ich habe allerlei Projekte. Es ist in der Tat vieles, was mir heute so durch den Kopf geht. Und seit der alte Sjuren tot ist, ist doch keiner mehr da, der auf den Kramladen achtet und die rechte Ordnung hält. Aber nun verhält es sich dennoch auch so, daß schon mein Urgroßvater mit diesem Geschäft begonnen hat ...“

Benjamin senkt seinen Kopf verständnisvoll. O, er begreift doch so wohl, daß Sigmund Borsa sich von dem alten Geschäft nicht trennen kann. Und er bittet nochmals um Verzeihung.

Aber nein, der König nimmt es nicht länger übel auf. Er läßt sogar erkennen, daß er gar nicht so ganz abgeneigt wäre.

Und so umschmeicheln sich die beiden mit weichen Pfoten, schleichen behutsam um den Topf herum und reden darüber hin, genau so, wie es beim Handeln in Mjelvik seit jeher üblich gewesen. Aber sie werden mit der Zeit einig.

Der König schreibt ein Papier, das Benjamin Sagensen dreimal genau durchliest. Beide setzen ihre Namen darunter. Und dann ist es abgemacht.

Benjamin Sagensen verläßt das Kontor. Und nun ist er also Krämer, mit eigenem Geschäft auf eigenem Boden. Du große Welt! Aber dieser Mann geht ebenso klein und leise und mit gebeugtem Nacken den Weg zurück, genau so wie er gekommen. Behutsam und still geht er. Er lächelt vielleicht ein wenig — ganz zuhinterst in seinen Augen ...

Dieses geschah am Tage, als Haldor Oevreseth in die Stadt abgeliefert wurde. Und man hatte also zwei große Sachen zur allgemeinen Unterhaltung. Wahrlich zwei unerhörte Sachen. Und nun meinten die Leute, es sei überhaupt alles aus und Amen mit dem König. Und einige nahmen es sehr schwer und jammerten und machten sich sorgenvolle Gedanken.

Zu aller Überraschung geschah aber wenige Tage später schon dieses, daß der König alle freien Arbeiter und Lediggänger zu sich gebot und ihnen befahl, den Grund auszuheben zu einem großen Gebäude. Er befahl ihnen, an der Berghalde Steine zu brechen und im Wald Bäume zu fällen und Balken und Bretter zu sägen.

So baute er eine Fabrik. Und es wurde eine Seifenfabrik.

Der König führte nun nicht mehr, wie früher, all den billigen Hering in die Stadt und bereicherte andere Leute. Sondern er gewann von da ab selber das Öl daraus und erzeugte Schmierseife, die wohl nicht besser, aber auch nicht schlechter war als andere Schmierseife im Lande herum. Der Himmel selber spendete seinen Segen dazu, und das Geschäft blühte auf. Dem verwunderten Kopfschütteln zum Trotz blühte es sogleich mächtig auf. Der Kontorist Ellingsen bekam bald eine schiefe Schulter von all dem Soll und Haben und Buchführung und Bestellungen und Fakturaschreiben.

Aber es strömte Geld in die Kasse des Königs. Und es kam wieder Korn aus der Stadt, und es kam wieder Mehl in die Säcke. Und es kam wieder Zuversicht nach Mjelvik.

Die alten Weiber schalten die Kinder hinfort nicht mehr wenn sie bei ihren Spielen auch noch so laut lachten und lärmten. Alle fühlten deutlich, daß die Zeit der Züchtigung vorbei war, und sie richteten sich wieder auf und hielten allgemach inne mit Demut und Bußfertigkeit.

Benjamin Sagensen stand in seinem Kramladen vor gefüllten Regalen und vollen Schubladen und bediente in sachter Weise und gefälligen Wesens seine Kunden.

Ein Donnerskerl, dieser Benjamin! Sogleich ließ er sich unter den Ohren kleine Bärtchen wachsen und schabte jeden Samstag nur noch Kinn und Oberlippe glatt. Außerdem machte er sich mit einigen Brettern und einem schmalen Fenster neben der Tür seines Kramladens einen Verschlag und schrieb darauf „Kontor“, und stellte einen Tisch hinein und eine Kopierpresse auf den Tisch, führte ein Buch wie ein regelrechter Kaufmann und ging mit der Feder um, daß es knatterte.

Aber er hielt sich trotz aller Höflichkeit im Verkehr von den Leuten zurück, und sein Geldsack schien gar keinen Boden zu haben. Nur wenige wagten Benjamin Sagensen jetzt noch zu duzen wie in alten Tagen.

Kaufmann war er, und dazu noch ein Mann von nicht geringem Gewicht. Aber achtete man ihn nun vielleicht in allen Teilen so hoch? Keine Rede davon.

Wenn einem etwas fehlte, ging er da vielleicht zum Krämer-Benjamin? Nein, das konnte keinem einfallen. Sie gingen nach wie vor zum König.

Sie standen, mit der Mütze in der Hand, und baten um einen Sack Mehl oder um ein lächerlich kleines Darlehen, um Vorschuß, um ein kleines Stück Land zum Roden, um einen Sägebaum — es gab hundert Dinge, um die man den König bitten konnte. Und der König nickte und sagte, es werde sich wohl ein Rat finden. Und dann war es auch schon soviel wie gemacht.

So hatte schon Sigmunds Vater regiert und sein Großvater, So sollte es in Mjelvik immer sein. Es gab von jeher Tradition im Geschlecht der Borsa. Geborene Herrscher, bis auf den heutigen Tag. Das Volk beugte sich willig unter das Zepter ...

Da kommt der König nun zum Beispiel von seiner Seifenfabrik den Weg herunter. Und Isaksen, der kleine Pächter von Ytredalen, steht am Wege und nimmt die Fellmütze vom Kopf und den Tabakspriem aus dem Munde.

„Guten Abend“, sagt Isaksen.

Der König bleibt stehn und betrachtet die Tannenstämme am Wege. Vielleicht hat er des Kätners Gruß gar nicht gehört.

„Es ist nur darum“, sagt Isaksen, „... heute wäre nämlich der Pachtzins wieder fällig.“

„Ja, das ist er wohl“, nickt der König.

„Ja. Aber nun muß ich — bitterer Tod — bekennen, daß ich ihn nicht habe. Nein, kein rotes Ör ...“

„Du hast den Zins nicht?“

„Nein. Vergebt mir dieses Mal, Sigmund Borsa! Aber es ist platt unmöglich.“

„Hast du ihn vielleicht letztes Jahr bezahlt, oder das Jahr vorher?“

„Leider ... Aber Sie sind doch immer ein guter Herr gewesen ... Und letzte Woche habe ich im Berg eine Kuh verloren. Und der Krämer-Benjamin will mir nicht länger borgen. Er ist ein Kujon! Wenn ich aber kein Mehl habe, wovon soll dann meine Alte Grütze kochen? Und ohne Grütze ist Hunger im Haus ...“

„So? Will er dir nicht borgen? ... Ich werde ein Wort mit ihm reden“, sagt der König. „Geh morgen noch einmal zu ihm hin. Und nun kannst du gleich auf die Mühle fahren und einen Sack Mehl holen.“

Isaksen hat plötzlich viel Wasser in den Augen. „Gott segne Sie!“ ruft er. Ho, wie sein Kinn Falten bekommt und bebt.

Das gefällt dem König Sigmund. „Wie heißt doch deine zweite Tochter?“

„Karin.“

„Sie soll morgen nach Trollhaugen kommen. Karin? Sie kann im Haus ein wenig helfen.“

Dann nickt der König und geht. So regiert er — mit Milde und Klugheit.

Isaksen bleibt noch ein wenig mitten auf dem Wege stehn und wischt sich mit dem Handrücken unter der Nase ... Ein Sack Mehl und Kredit beim Krämer und Karin ... Ja, das ist nun für Isaksen von Ytredalen eine sehr große Sache. Karin auf Trollhaugen — wahrlich ein tröstlicher Blick in die Zukunft.

Vielleicht, begann dieser Tag mit einem nebelgrauen Morgen. Aber alle Dinge wenden sich einem elenden Kätner nun zum Guten. Er setzt die Fellmütze wieder auf, gräbt den kaum halbverbrauchten Priem aus der Hosentasche hervor und wandert quer durch den Wald ... Karin auf Trollhaugen — Glanz fällt auf Isaksens geringe Hütte ...

Ein kleines Menschenalter

Karin diente zwei oder drei Jahre lang auf Trollhaugen. Und als ihre Zeit um war, war viel von ihres Vaters Pachtschuld im großen Buch auf Trollhaugen getilgt. Karin heiratete dann des Vogts Knecht, den Polizei-Sören. Sie wurde eine brave Hausfrau.

Und Tea trat an Karins Platz im Herrenhof. Tea war zu jener Zeit auch ein junges und frisches Mädchen.

Sie war das erste Mädchen an diesem Strande, das Sonntags eine rote Seidenbluse mit tiefem Busenausschnitt trug und dünne Strümpfe über die Waden streifte. Tea — sie benahm sich in allem schon auffallend gebildet. Sogar das Taschentuch benutzte sie an allen Wochentagen und trug es die ganze Zeit mit sich herum und prahlte vor andern Mädchen damit. Sie trieb überhaupt ungeheure Verschwendung in Manufaktur und Wäsche. Sie zierte und verschönerte sich, so gut sie konnte, und schmückte mit ihrer Jugendblüte das große düstere Haus auf Trollhaugen.

König Sigmund hätte nun mit dem Leben wohl zufrieden sein können, denn er besaß eine glückliche Hand in jeder Beziehung. Seine Frau, Kristin, hatte ihm außer den großen Wäldern bei Furuvoll noch manchen guten Taler in die Ehe gebracht. Und hierauf kränkelte Kristin, stellte an alle Fenster Blumentöpfe und sang vom Morgen bis zum Abend Psalter. Sie war eine stille, in sich selber versunkene, allem irdischen Frevel abgeneigte Seele.

Kristin — nichts als Frieden wünschte sie, Und der König schenkte ihr Frieden.

Aber er selber blieb stetsfort erfüllt von Unrast und Begehrlichkeit und einem unwiderstehlichen Drang nach vorwärts. Nicht genug damit, daß er seine Seifenfabrik schon dreimal vergrößerte und daß er für sein Haus schon zwei junge Mägde zu gleicher Zeit halten konnte, er gründete auch noch eine Tonnenfabrik.

Er ließ die Tannen in Kristins Wäldern schlagen und schnitt sie auf seiner Säge. Die Arbeit ging Sommer und Winter nicht mehr aus in Mjelvik. Und der Kontorist wurde immer schiefer in den Schultern und begann zu kränkeln, vom Rechnen und Schreiben. Die Kasse aber wurde unter seinen Händen immer voller.

Kein Wunder, daß das alles dem König ins Blut schoß und ihn üppig machte. Er strotzte von so viel Kraftanhäufung. Da baute er auch noch eine Landungsbrücke aus mächtigen Steinen, mit schweren Eisenringen und Prellbalken. Und als die Brücke fertig war, reiste der König in die Stadt. Und als er zurückkehrte, fuhr er auf einem Dampfer.

Ja, der König brachte es zustande, daß die Postschiffe jede Woche zweimal in Mjelvik anlegten und die Luft zwischen den hohen Felsenwänden mit dem Geheul ihrer Sirenen, dem Gerassel ihrer Dampfwinden und den Strand mit Verkehr und Trafik und Weltwirtschaft erfüllten.

Dem König gelang alles.

Und dann kam zu allem Überflusse auch noch der Krieg, und die goldene Woge rollte übers Meer herein. Sigmund Borsa war nicht der Mann, der sie mit Staunen in den Augen und den Händen in den Hosentaschen vorbeirollen ließ. Ach nein, er schöpfte seinen guten Teil aus ihr. Er schickte seine Jacht „Solrenningen“ aus und kaufte all den alten Hering der ganzen Küste entlang auf und schickte ihn den hungernden Deutschen, die ihm dafür ihr gutes Geld hergeben mußten.

König Sigmund kaufte Aktien und spekulierte herrlich mit Schiffstonnage. Und eine Zeitlang war er Millionär. Vielleicht Doppelmillionär. Herrgott, er trug ja die Tausendkronenscheine lose in beiden Westentaschen herum. Wenn er nach seinem silbernen Bleistift suchte, fiel gewöhnlich eine von den gewaltigen roten Banknoten heraus und erfüllte die Leute mit andächtigem Schreck.

Aber dann senkte sich, für Mjelvik unerwartet und manchem unerwünscht, der holde Friedensengel auf die blutrote Erde nieder. Der Friedensengel traf den König völlig unvorbereitet und verwirrte seine Finanzen fürchterlich, Fort rollten die Millionen. Wie dünnes Wasser rannen sie dem König durch die Finger, und er erwachte aus einem kurzen, aber herrlichen Traum mit Angst und heftiger Empörung wieder zu simpler und jammervoller Ärmlichkeit.

Es kam fast alles wieder zurück in jenen Zustand, der vor der Ermordung des Post-Nikolaj an diesem Strande geherrscht. Ein Zustand, der schon damals betrüblich gewesen und der jetzt, nach den Zeiten unerhörten Überflusses und Verschwendung, niederschmetternd wirkte. —

Seit jener Zeit war Jahr um Jahr vergangen. Es waren wohl bald dreißig Jahre vergangen.

Trotz Postraub und Krämer-Benjamin und Landungsbrücke und Millionentraum hatte sich nicht so sehr viel in Mjelvik verändert. Alle paar Jahre zogen junge Mädchen auf Trollhaugen ein, und andere junge Mädchen zogen, wohlvorbereitet fürs Leben, aus und wurden gute Hausfrauen. Da und dort fiel ein alter Baum um, hin und wieder fuhr das große Kirchenboot mit traurigen Gesängen und die Flagge auf Halbmast zur schwarzen Bucht hinaus ...

Aber in jedem Frühling sproßte neues Grün aus der unsterblichen Erde. Und wenn irgendwo ein Alter auf dem langen Marsche zurückblieb und hinsank, trat sogleich ein Junger in seine Lücke, so daß die Reihe immer geschlossen blieb.

Prächtige Kinder wuchsen in Mjelvik auf. Und es ist wohl nichts als ein komischer Zufall, daß so viele von ihnen ungewöhnlich lange Nasen bekamen.

Der Vogt Kolbjörn Fagernes war trotz seiner guten Dienste beim Auffinden des Posträubers noch immer nicht befördert worden. Er hatte in vergeblichem Hoffen und Glauben schneeweiße Haare bekommen und dazu einen trägen Magen und eine pessimistische Weltanschauung, so daß er begann, in allem Geschehen nur das Böse zu suchen, und es auch fand.

Dem Polizei-Sören war inzwischen ein männlicher Bart gewachsen, und aus dem leichtfüßigen Jüngling von ehedem wurde ein braver Familienvater in einem ordentlichen Heim. Sein Weib Karin hatte wahrlich nicht umsonst auf Trollhaugen gedient.

Dem König aber fielen aus irgendeiner Ursache im Laufe der Zeit alle Haare auf dem Kopfe aus. Nur im Nacken und hinter den Ohren stand noch ein dünner Kranz. Die Glatze kleidete ihn gar nicht übel. Sonst ging er noch jugendlich einher.

Als der erste Schreck nach dem Zusammenbruch überwunden war und man aus den Trümmern des stolzen Glückschiffes ein Floß zusammengeflickt hatte, auf dem man zwar nicht herrlich segeln, doch wenigstens auf dem Strome treiben und das nackte Leben bergen konnte, gewöhnte man sich auch in Mjelvik merkwürdig rasch wieder an die Entsagungen eines dürftigen Menschendaseins.

Die Leute waren kaum besser, aber auch nicht schlimmer geworden, als sie früher schon gewesen.

Alles ist im Grunde weise eingerichtet und nichts zu schelten — die Kleinen werden groß, die Großen alt. Die Alten welken dahin. Nur ein Narr kann sich darüber wundern.

Es sah fast so aus, als sei nach den Umwälzungen mit der Armut ein völlig normaler Zustand an diesen Ort zurückgekehrt. Aber da kam ein Tag, und da kam ein Schiff. Und drei Persönlichkeiten stiegen ans Land. Und das war ein Abgesandter des Himmels, eine Königin der Liebeskünste und ein alter Mann, den man später Hornlöffelmeister nannte.

Kleopatra

Die Liebeskönigin sollte, wie sich bald zeigte, von großer Bedeutung für Mjelvik werden.

Sie wurde zwar nicht von einem griechischen Sklaven, in orientalische Teppiche eingehüllt, ans Land getragen, sondern sie ging auf ihren eigenen schlanken Beinen über den Dampfschiffsteg. Und sie kam auch nicht aus einem Lande, das Ägypten heißt, sondern aus einer alten Hansastadt. Oline Jensen heißt sie.

Einmal regierte sie für kürzere Zeit als unumschränkte Herrin auf Trägebö über ein ansehnliches weißes Haus und einen Mann, der ein eigenes Geschäft, ein Motorboot und einen Smoking besaß. Damals war sie eine Dame von vornehmer Herkunft und eine reiche Kaufmannsfrau mit zwei Mägden, einem Klavier und weißen Gardinen an den vielen Fenstern. Damals gab sie noch Gesellschaften und weckte im Frühlingstal Aufsehen und in ihrer Familie helle Begeisterung.

Noch früher weckte sie auch schon Begeisterung, schon zu der Zeit, als sie die Freundin eines Studenten war, der sie „Guppen“ nannte und ihr nebenbei die Anfangsgründe der höheren Bildung beibrachte ...

Das ist nun alles vorbei und überwunden. Es sind Oline Jensen inzwischen vielleicht ein paar Federchen ausgerupft worden. Aber irgendwelchen inneren Schaden hat sie nicht genommen. Gott bewahre — sie blüht prächtiger denn je zuvor!

Jetzt kommt Oline Jensen also aus der Stadt Bergen dahergereist, aus jener Stadt, in der es, wie allgemein behauptet wird, mehr als dreihundert Tage im Jahre regnet und deren Straßen mit runden großen, groben Steinen gepflastert sind. Oline schreitet ans Land von Mjelvik. Ihr Gang ist wahrhaft immer noch königlich. Sie hat sehr hohe Stöckelschuhe an den Füßen. Und wie sie bei jedem Schritt ihre Beine hebt und die Fußspitzen streckt, das ist mehr als reizend — es ist aufreizend. Es ist beinahe übermenschlich.

Ihre Schuhe sind selbstverständlich feine, teure Lackschuhe, Importware. Die Strümpfe darüber sind echte Seidenstrümpfe, wahrscheinlich stammen sie aus der Schweiz oder aus Frankreich, Gott weiß es. Und der backsteinrote Mantel ist mit Marderpelz rundherum und überall aufs prächtigste verziert. Das ist ein Mantel, der mindestens seine fünfhundert Kronen gekostet hat. Man sieht es ihm an.

Am Strande von Mjelvik steht man, was Mode und Frauenherrlichkeit anbetrifft, noch in der Zeit, da Tea jung und reizend war und alle Vorderzähne im Munde trug. Tea wurde bis auf den heutigen Tag an Eleganz noch nicht übertroffen, obwohl sie bereits eine ehrbare Matrone mit Silber im Haar und am Leib ein wenig schadhaft geworden ist.

Wenn also Oline mit solcher Prachtentfaltung ans Land schreitet, muß sie nicht wenig Aufsehen erregen unter den vielen Menschen, die auf der Brücke stehen, um sich den Dampfer zu betrachten. Sogar die Dampfwinden schweigen und halten für einen Augenblick den Atem an. Von allen Seiten wird Oline Jensen mit bewundernden Blicken umflutet. Sie fühlt dieses ehrfürchtige Staunen angenehm und lüstern wie lau rieselndes Wasser auf ihrem ganzen Körper. O, sie möchte jauchzen vor lauter Seligkeit und Freude an sich selber.

Das ist in der Tat ein Höhepunkt. Und um sich selber wenn möglich zu überbieten, hebt Oline jetzt auch den Sonnenschirm und spannt ihn auf über ihrem großen Federnhut, obgleich keine Spur von Sonnenschein ihre zarte Haut gefährden könnte. Aber dieser Schirm schillert schong-schong, rot und grün auf einmal. Und dergleichen ist an dieser Stelle der Erde noch nie erblickt worden.

Man hat zwar in Mjelvik auch zuweilen fremde Touristen gesehen, Engländer und so, kuriose Leute, die wegen einem Lachs tagelang bis an die Knie im kalten Bachwasser herumstehen, Pfeife rauchen, in unverständlicher Zunge reden, das Geld sinnlos wegwerfen und auch sonst noch voller Schrullen sind.

Einige von ihnen fuhren ohne Zweck und nur zu ihrer eigenen Neugierde durchs Tal hinauf, legten den Kopf bald auf die eine Seite, bald auf die andere, sagten „Ah!“ und „Oh!“ und bewunderten — Gott helfe ihnen! — alle die Berge, die doch nichts weiter als nackte Natur sind. Man nennt das Touristtrafik.

Das Volk von Mjelvik lacht nicht wenig über alle diese komischen Menschen und ihren blöden Trafik. Aber ihr Geld wenigstens ist gut und echt — norwegische Silberkronen mit einem Kranz, einem Kreuz und einem Loch in der Mitte.

Nein, Oline zählt nicht zu jener Sorte. Sie wirkt auch nicht so fremdländisch und unheimlich. Nur überwältigend wirkt sie. Und jetzt dreht sie den schillernden Sonnenschirm anmutig auf der Schulter und schaut sich lächelnd um.

So viel scheint hier offenkundig, daß diese prächtige Dame weder im Bachwasser stehen und fischen will, noch als Tourist durchs schwarze Tal hinauffahren möchte, um die hohen Berge anzustaunen. Sie muß also in anderer Absicht nach Mjelvik gereist sein.

Und da steht Sigmund Borsa, der König, und ist nicht weniger überrascht als alle seine Untertanen. Immerhin, er überragt sie trotzdem auch jetzt noch um Haupteslänge. Und er steht da wie ein Leuchtturm, wie eine Säule.

Oline kann sich nicht helfen und steuert auf ihn los. Es mögen zehn oder zwölf Schritte sein. Oline macht sie, indes ihre grauen Augen kräftig und fest auf den Mjelvikkönig gerichtet sind. Ha — ihre Augen ... zwei blaue Stichflammen! Sie stürzen sich auf den König Sigmund wie ein Feuerwirbel.

„Wohnt hier ein Herr Nils Ytra?“ fragt Oline Jensen.

„Was Teufels — Herr?“ fragt der König ganz unmanierlich vor Verblüffung zurück. „Ein Herr? — Nein!“ sagt er.

O, der König! Es gibt doch in dieser ganzen Landschaft nur einen einzigen Herrn. Hier steht er.

Oline muß die Sache etwas näher erklären. „Er ist Schmied — Mechaniker sogar ... er hat ein Motorrad ...“

O ja. In diesem Falle kann es nur Nils Ytra sein, der jüngste Bruder jener Dienstmagd Karin, die vor langer Zeit ein junges Mädchen war und im Herrenhof ihr Glück machte ... Diesen Windhund und Prahlhans von einem Nils darf man also heute Herr nennen!

„Hahaha!“ lacht der König.

Er lacht mit so unverkennbarer Verachtung, daß Oline sich ein bißchen duckt.

Nun, das ist ja auch nur ein Augenblick. Und man könnte wohl meinen, es sei nichts Besonderes daran. Aber dieser Augenblick wird von großen Folgen für den König Sigmund und den Ort Mjelvik.

Ja, nun scheint das ein Tag zu sein wie viele andere Tage. Der König steht auf seiner steinernen Landungsbrücke, ein Auge auf alle die Fässer und Kisten und sonstigen Waren gerichtet und auch auf die Reisenden, die hier das Schiff verlassen. Denn das ist des Königs Landungsbrücke. Und der König erhebt Brückengeld. Jeder muß ihm Zoll zahlen.

„Anders!“ ruft er. „Da! Nimm die Papiere ... ich geh’ jetzt ...“ Er dreht sich um und schreitet davon.

Oline aber macht einen Bogen hinter ihm herum und gelangt an seine rechte Seite.

„Nannte er sich wirklich Herr Nils?“ fragt der König.

Die goldene Kette mit dem goldenen Hufeisen auf seinem Bauch fängt an zu hüpfen. Es führt ein Sträßlein dem Strande entlang. Nachdem sie ein Stück weiter darauf marschiert sind, bleibt der König stehen und weist gleichsam mit der Nase auf ein schwarzes Loch zwischen den steilen Felswänden. „Dort oben wohnt er ... Eine verlotterte Hütte ... und die alte Marte — bewahre meine Seele! Sie ist eine Hexe ... Ytra! Es sind doch die geringsten von allen meinen Häuslern ...“

Oline gesteht, daß sie das nicht wußte. Oline sagt, daß sie nur mit dem Schmied zu reden habe. „Aus gewissen Gründen“, sagt sie.

Aber der Mjelvikkönig schüttelt sein Haupt. Diese junge Dame hat ihn bezaubert und aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie wird ihm alsbald zum Verhängnis. Dieses mag seine tiefere Ursache haben. Es hängt wohl damit zusammen, daß der Frühling mit Gewalt in die Erde gefahren ist und in allen stummen Pflanzen und lebenden Kreaturen rumort. Der König wurde aber in der letzten Zeit etwas abgedrängt von seinen Weideplätzen. Ja, er wurde zur Seite geschoben ...

Ist das vielleicht darum, weil er im Laufe der Jahre kahl geworden auf dem Scheitel und seine starken Brauen sich grau färbten? Oder ist es nur das verdammte Geld?

Ganz gewiß hat die Ebbe den König Sigmund aufs Trockene gesetzt. Er hat, wie viele andere, seine Beulen bekommen und seine tiefen Risse beim großen Krach. Aber zugrunde geht ein Sigmund Borsa deswegen noch lange nicht. Im Gegenteil.

Hat er denn nicht seine Seifenfabrik gerettet und die Tonnenfabrik, Säge und Mühle — und die Landungsbrücke dort unten? Und das viele Land und den Hof? Nein, er ist noch nicht am Ende. Die Papiere lauten auf seine Frau. Kristin ... das ist doch alles zum Lachen ... Aber nun wagen diese Menschen ihre Hälse zu strecken. Und sie schielen den König von der Seite an und werden hoch im Hut — zur Hölle mit ihnen!

Der König ist vielleicht gestrauchelt und gestürzt. Aber der hier am Boden liegt, bleibt dennoch ein Riese. Er kann noch immer seine Arme rühren.

Und was die grauen Brauen anbetrifft — ho, in dieser Beziehung soll man bald erfahren, daß es noch bei weitem nicht aus und vorbei ist mit dem König. Ho — nein! Sein Blut kocht noch und schäumt noch. Sein Blut ist jung und wild ...

Aber irgendein böser Geist muß sich gegen den König erhoben haben, ein heimtückischer, feiger Geist, der sich im Hinterhalt und in dunklen Winkeln verbirgt und nicht im offenen Felde stellen läßt. Man kann ihn nicht bekämpfen. Man kann ihn deshalb auch nicht besiegen.

So viel hingegen ist leider gewiß, daß die jungen Mädchen sich zu weigern beginnen, in des Königs Dienste zu treten und im Privatkontor aufzuräumen, daß sie sich nicht länger darum mühen und reißen, Dienstmagd und glücklich zu werden auf Trollhaugen.

Einstmalen geschah das. Und es war eine durch Überlieferung geheiligte Sitte. Sie wurde vom gesamten Volke in Ehrfurcht respektiert.

Und jetzt kichern die jungen Mädchen. „Uff da!“ rufen sie, wenn der König sich ihnen in Wohlwollen nähern möchte. Und sie zwinkern frech mit den Augen und laufen davon... Zur Hölle mit ihnen!

Jawohl. Das wird aber allgemach doch ein ganz verdammter Zustand mit den obstinaten Mädchen — ausgerechnet jetzt in der brausenden Frühlingszeit, wenn sogar die Eisbäche an den Felsen die tollsten Sprünge machen.

Alter? Sollte der König wirklich alt geworden sein? Wer ist es, der das zu behaupten wagt? ... Ist jener Mann dort, der leichten Fußes den Weg heraufkommt, nicht der Müller Indrevig? Und hat der Müller nicht seine zweiundsiebzig Winter auf dem Rücken und vor ein paar Jährchen ein zwanzigjähriges Mädchen zu seiner Frau gemacht? Und ist der Müller seither denn nicht schon zweimal zum glücklichen Vater geworden?

Ja. Jawohl. Der Müller war aber schon ein erwachsener Mensch, als Sigmund Borsa noch auf der Schulbank saß. Überhaupt — es bedarf keiner weiteren Vergleiche...

Wen hat zum Beispiel diese elegante und ausnehmend hübsche Dame von all den vielen Menschen auf der Landungsbrücke angeredet? ... Nun geht sie an des Königs Seite. Und sie plaudert in zehn Minuten von zwanzig Dingen. Und sie lacht. Und das ist wie Vogelgezwitscher und Frühlingsrauschen. Das ist eine andere und feinere Melodie.

Dieser Weg hingegen ist schlecht und voller Steine und Unebenheiten. Die Dame kann nicht so leicht darauf gehen mit ihren zierlichen Füßen und kommt alle paar Schritte aus dem Gleichgewicht und stößt den König ein wenig an mit ihrer weichen Hüfte. Und dann sagt sie jedesmal leise: „Um Verzeihung!“ Und entschuldigt sich.

Aber es passiert ihr doch immer wieder, und sie kann nichts dafür. Sondern die ganze Schuld liegt am unebenen Wege. Nein, dieser Weg eignet sich schlecht für ausländische Lackschuhe.

Des Königs Lippen sind bereits trocken geworden. Er muß sie immerfort mit seiner Zungenspitze anfeuchten. Man mag sagen, was man will: das meiste geschieht doch nur durch das Zusammentreffen bloßer Zufälligkeiten.

Wenn zum Beispiel des Küsters rothaarige Petrine zu Ostern nach Trollhaugen gekommen wäre, könnte es schon möglich sein, daß des Königs Blut heute nicht so gar stürmisch rauschte, und daß sein Leben eine andere Richtung nehmen würde. Aber nein, Petrine kam nicht. Sie hatte natürlich einen Liebsten — so sind diese jungen Wesen heutigestags. Zur Hölle mit ihnen!

Hier geht ein Mann, der sich mit einmal der Mädchen von Mjelvik schämt ... Diese Bauerndirnen mit den breiten Gesichtern und den dicken Beinen, die auch Sonntags noch ein wenig nach Kuhstall und Küchenrauch und schlechtem Fett duften ...

Hahaha! Nein! — Die prachtvolle Dame an des Königs Seite duftet auch. Aber sie strömt alle Wohlgerüche des Morgenlandes von sich aus.

Eins allerdings stört den König. Daß ein so vornehmes Wesen mit dem Schmied Nils reden will — mit einem simplen Nils Ytra vom Tale. Der soll vor allen anderen zur Hölle fahren!

Nils Ytra? Er war ja ein paar Jahre lang fort in der Fremde. Man weiß nicht, was er dort getrieben. Vor kurzem kehrte er mit einem Motorrad zurück. Gut. Er bleibt trotzdem ein Dreckfink, der sich niemals in die Nähe einer feinen Dame wagen sollte.

Der König wird noch heute den alten Isaksen aufs Kontor kommen lassen und ihm einen deutlichen Wink geben.

Das finstere Schweigen des Königs gefällt Oline nicht. Sie erkundigt sich, wann der nächste Postdampfer in die Stadt zurückfährt.

Das werde nicht vor übermorgen um die Mittagszeit sein, sagt der König.

„Du große Welt!“ ruft Oline aus, bleibt stehen und blickt den König mit vollständig leeren Augen an. So sehr ist sie aus der Fassung gebracht.

„Ja“, sagt der König. Und die Dame werde nun zweimal in Mjelvik übernachten müssen, sagt er. Und das ließe sich absolut nicht ändern. Ja, wenn seine Jacht „Solrenningen“ nun gerade hier im Hafen und nicht unterwegs wäre ... Aber so ... Hingegen bei der Marte im Tale dürfe eine richtige Dame sich überhaupt nicht zeigen. Platt unmöglich ...

Und da bleibt also nur noch die einzige Möglichkeit: Trollhaugen.

„Trollhaugen?“

Jawohl, Trollhaugen, die Königsburg. Dort oben steht sie, breit und weiß, hinter alten stolzen Bäumen steht sie. Um Oline wird es hell.

Ach, Oline hat ja schon längst verstanden. Diese gesegnete Oline! Es fehlt ihr doch nicht an Lebenserfahrung und Menschenkenntnissen. Aber sie macht sich nun fabelhaft unwissend und furchtsam und alles in allem ungeheuer reizend. Sie ruft: „Das ist doch völlig ausgeschlossen und unmöglich! Gibt es denn hier gar kein Gasthaus?“

„Unmöglich — wieso? ... Und nicht die geringste Spur von Hotel!“

Alle besseren Reisenden fragen beim Krämer um Unterkunft. Der Krämer-Benjamin ... nein, er ist nicht fein genug ... Er ist nur für gewöhnliche Verhältnisse eingerichtet.

Darauf schweigt Oline und zeigt sich sehr verlegen. Und sie macht vier oder fünf hastige Schritte, als ob sie dem allem entfliehen könnte, und sagt: „Ach, alle Männer sind untreu und schlimm ... Man darf keinem einzigen trauen.“

Was soll nun das heißen? wundert sich der Mjelvikkönig. Aber er ist doch stark von eigenen Empfindungen eingenommen. Er richtet nun auch noch das andere Auge, das eigentlich nur für ferne Dinge bestimmt ist, auf Oline. Und was er sagt, bleibt ebenfalls einigermaßen verwunderlich. „Kristin liegt schon drei Jahre lang im Bett. Sie ist im Winter angezapft worden ... Aber das Wasser sammelt sich schon wieder in den Beinen.“

„Kristin?“

„Ja, meine Frau.“

„Oh!“

Oline ist nicht gefühllos. Nach kaum drei Schritten bezeugt sie dem König mit verschleierter Stimme sogleich noch etwas mehr Teilnahme. „Auch Sie müssen also ein hartes Los tragen!“ Und gleich darauf sagt sie: „Verzeihung!“

Der Weg wird ja immer schlechter.

Der Mjelvikkönig hält inne. „Wenn wir diesen Pfad emporsteigen, kommen wir zu einer kleinen Wiese.“

„Ei!“ wundert Oline sich und läßt zugleich ein paar blaue Blitze aus den Augenwinkeln fahren.

„Ja. Es steht eine kleine Scheune dort.“

„Ach!“ ruft Oline.

„Ja. Vor der Scheune steht eine Steinbank.“

„Das ist aber reizend!“ sagt Oline.

„Es ist auch gar nicht weit ... Eine kleine Viertelstunde ...“

Nun macht sich Oline wirklich gar zu kindisch. Sie schweigt plötzlich und nagt mit ihren Goldzähnen an der Unterlippe. Und dieses raubt dem König seine Besinnung und lähmt alle Widerstände. Das alles gleicht ja einem seligen Märchen. Hier, auf Armeslänge nur, steht des Märchens Prinzessin.

„Wenn es Sie nicht so sehr anstrengt ...“ bittet er.

„Nein“, sagt Oline, „das nicht ... Aber was sollen wir denn dort oben tun?“

Und so bringt sie den König immer mehr aus der Fassung mit ihrer rührenden Unschuld.

„Tun ...?“ stottert er. „Nein ... ich weiß nicht ... Wir könnten uns doch ein Weilchen unterhalten ...“

Hier steht nun der König und ringt mit seinen Gefühlen.

„So selten verirrt sich ein wirklicher Mensch in diese Gegend ...“

Das erscheint Oline nicht ganz unglaubhaft. Sie gibt selber zu, daß sie von diesem Orte Mjelvik nur durch Zufall und den Schmied Nils Ytra Kenntnis erhalten. Wenn jedoch ein schwergeprüfter Mann und König eine kleine Stärkung dringend bedarf, so ist Oline Jensen doch nicht die stolze, hartherzige Dame, die ihn mit kalter Hand und kalten Herzens von sich stoßen möchte. Durchaus nicht. Dahingegen handelt es sich hier nun wirklich um teure Lackschuhe und nicht um Bergstiefel. Und diese Schuhe sitzen außerdem sehr knapp. Wenn sie aus Glas anstatt aus Leder wären, könnte man leicht bemerken, daß die Zehen darin nicht nebeneinander, sondern übereinander liegen. Mit solchen Schuhen in diesen Bergen herumzusteigen, ist für Oline kein Vergnügen, sondern ein Opfer. Wohlan, Oline bringt das Opfer.

„Aber es wird für mich doch sehr beschwerlich sein“, erklärt sie mit einem tiefen Seufzer.

Und da wird der graue König wieder ganz jung und zuversichtlich und feurig. Er ruft; „Ich werde Sie stützen! Kommen Sie nur ... Sie sollen schon sehen, wie ich Sie stützen werde!“

Damit verschwinden die beiden im Tannenwalde.

Und die Bäche rauschen. Und die Vögel in den Bäumen sind völlig verrückt vor Freude und Verlangen.

Nicht vergeblich streicht der schlimme Südwind durch die Berge von Mjelvik. Er bringt alles außer Rand und Band.

Ein ernster Mann

Wenige Minuten nachdem der gütige und verschwiegene Wald den König und seine Dame aufgenommen, schreitet ein Mann das Sträßlein am Strande entlang. Das ist ein Mann mit schwerem Unterkiefer und schwarzen Stoppeln daran. Im übrigen ein Mann von düsterem Ernst und feierlichen Bewegungen. Es ist der Emissär Ole Mathiessen.

Der hat irgendwo dort unten in der großen Welt einen inneren Ruf vernommen. Den Hilferuf, daß zwischen den hohen Felsenwänden von Mjelvik mehrere Dutzend Seelen in Finsternis und Sünde wandeln und eine Beute des Bösen werden müssen. Nun denn — der Emissär bürstet seinen schwarzen Rock, wichst seine Stiefel und macht sich eiligst auf den Weg, die Seelen zu erretten.

Überstrahlt und im Schatten von Oline Jensens herrlicher Weltlichkeit konnte dieser fromme Mann unbemerkt das Land betreten. Nun macht er sich daran, die Gegend zu besichtigen, in der er seine Schlachten schlagen will.

Die Landungsbrücke, die paar Wege, die fünfzig oder sechzig Häuser und dahinter der Ring von Natur mit finsteren Bergen — das alles imponiert dem Emissär nicht weiter. Er hat auf seinen Feldzügen schon mächtigere Gegenden gesehen.

Höchstens wäre da die Königsburg von Trollhaugen, von der er sich einigen Nutzen oder Widerstand versprechen dürfte. Nun umschreitet er sie dreimal von Sonnenaufgang her und strengt alle seine inneren Kräfte an und fleht um Erleuchtung.

Sein Flehen wird alsbald erhört. Es wird ihm der alte Müller Indrevik auf dem Weg entgegengeführt. Und das ist just der rechte Mann. Einen besseren hätte der Emissär in ganz Mjelvik nicht finden können. Der Müller nicht schon von weitem und ruft laut: „Guten Tag! Sind wohl fremde Leute draußen auf der Wanderschaft?“

O Gott, er ist ja so neugierig wie ein Kalb auf der Frühlingswiese und tut, als freue er sich in seinem innersten Herzen, den feierlichen Laienprediger Ole Mathiessen hier zu treffen.

„Ja“, sagt der Emissär, „das verhält sich ungefähr so.“

Hierauf erkundigt er sich, wer im weißen Haus dort oben wohne. Gern macht ihm der Müller die nötige Mitteilung, und er läßt dabei den König keineswegs kleiner erscheinen, als er ist. Das verdrießt aber den Emissär, und er zieht strenge Falten in seine Stirn. Man dürfe sein Streben nicht auf irdische Güter richten, sagt er.

„Denn die Seele“, sagt der Emissär, „das bleibt die Hauptsache! Aber wie steht es denn, lieber Freund, andiesem Strande mit dem Glauben?“

Der Müller Indrevik schiebt den Südwester zur Seite und kratzt sich darunter, spuckt zweimal wichtig und mit großem Geräusch auf die Straße und bekennt: „Tvii! — Glauben? Hol mich der Teufel — damit ist es nicht weit her ...“

Es wird dem Emissär immer klarer, daß er den Hilferuf nicht umsonst vernommen und daß diese Seelen in unglaublichem Dunkel wandeln und eines hellen Lichtes und einer kräftigen Hand dringend bedürfen. Er zögert keinen Augenblick und beginnt den Kampf.

„Lieber Freund“, sagt er düster, „danke Gott, daß er nicht deine lose Zunge verdorren läßt! Du stehst am Rande des Grabes und fluchst wie ein brandschwarzer Türke. Wahrlich, für dich ist es höchste Zeit!“

Der Emissär hält seinen ersten Zorn zurück und bemüht sich vorerst noch großer Milde. Der Müller will aber gar nichts vom Grabesrand wissen. Keine Spur von Grabesrand. Seine Sinne sind der Entsagung ganz und gar abgewendet und mehr auf sein junges Weib und das Leibliche gerichtet. Sogleich beginnt er sich vor dem fremden schwarzen und ernsten Manne mächtig zu fürchten. Er drückt den Südwester aufs Haupt und rennt ohne Gruß davon.

Der Emissär läßt dieses Schaf vorläufig entweichen und beginnt den Angriff auf die Königsburg. Er gelangt aufs Kontor, und der Schreiber Mikkelsen bietet ihm mit fragendem Blick einen Stuhl an. Borsa sei noch nicht zurückgekommen von der Landungsbrücke. Aber jeden Augenblick müsse er hier sein.

Danke! Nein, der Emissär setzt sich nicht. Er wittert schon wieder Sünde und erklärt streng: „Sigmund Borsa ging den Weg hinauf — mit einem Frauenzimmer ... Und jetzt sind sie im Walde verschwunden.“

Dieses hält der Kontorist nicht für unwahrscheinlich. „Mit einem Frauenzimmer?“ fragt er und seufzt.

Ja. Kein Zweifel, mit einem Frauenzimmer!

„Hatte sie vielleicht rotes Haar — und volle Formen da herum?“

In kaltem Entsetzen starrt der Emissär den Schreiber an und setzt sich doch. Formen? Rotes Haar? „Nein, davon habe ich nichts bemerkt.“

„Dann war es nicht Petrine“, sagt der Kontorist erleichtert und fragt weiter: „Vielleicht war sie aber dunkel und hoch von Wuchs, rasch in ihren Bewegungen. Und sie krümmte sich zur Seite, wenn sie lachte?“

Der Emissär meint, dieses Mjelvik sei doch eine greulich sorgenvolle Gegend. Er schüttelt darüber sein Haupt. Nein, nein, auch davon hat er nichts bemerkt. Nein, sie war auch nicht so übermäßig hoch von Wuchs.

„Dann war es auch nicht Oleana“, sagt Mikkelsen. „Wie sah sie denn aus?“

„Sie kam mit dem Schiff. Sie kam mit einem grün und roten Sonnenschirm. Wahrlich, sie kam daher wie die leibhaftige Verführung und Fleischeslust. Aber in welcher Beziehung steht sie zu diesem Hause?“

„Ich weiß nicht das mindeste von Beziehung“, sagt Mikkelsen, „nein, Gott bewahre mich! Aber Sigmund Borsa muß ja wohl bald zurück sein.“

Es kann aber nicht erwartet werden, daß der Emissär seine Zeit mit unnützem Stillsitzen erfüllt. Er erhebt sich finsteren Sinnes und dringt bis ans Bett der kranken Kristin vor. Schon hebt er segnend seine Hand über ihr Haupt und läßt sich an ihrer Seite nieder.

Kristin ist stetsfort freundlich gesinnt gegen alle Welt. Natürlich lächelt sie auch dem schwarzen Ole Mathiessen entgegen und erwidert, so gut sie es vermag, seinen gesalbten Gruß. Aber ein Frauenzimmer mit grün und rotem Sonnenschirm kennt auch sie nicht. Es müsse wohl eine Fremde sein.

Nun ja.

Aber guter Himmel! Der Emissär muß seine beiden gewaltigen Hände über dem Kopf zusammenschlagen. „Welche Verderbnis!“ muß er rufen.

Kristin kann diese Empörung in ihres Herzens Unschuld nicht erfassen. Sie schließt schuldbewußt beide Augen und schweigt.

„Sie schweigen?“ fragt der Emissär noch mehr empört.

„Werde ich denn für meine Sünden nicht schon genug gezüchtigt?“ fragt Kristin weinerlich.

Oh, diese armen kleinen Kindersünden!

„Hier geht es aber um den lasterhaften Lebenswandel Ihres Mannes. Es geht um sein Seelenheil!“ ruft der Emissär ganz dunkel und mit geheimnisvollem Schwingen in der Stimme.

Diese Kristin ist aber nun so beschaffen, daß sie ihren Sigmund liebt; wohl nicht mit ihren Sinnen, aber mit ihrem unberührten Kinderherzen. Sie liebt ihn in ähnlicher Weise, wie sie die Blumen liebt, nur etwas mehr. Und es gefällt ihr nicht, daß ein fremder Mann da an ihrem Lager sitzt und in übler Weise von Sigmund spricht.

„Er war allezeit freundlich gegen mich“, sagt sie mit eigentümlicher Würde und Entschiedenheit. „Ich habe noch kein hartes Wort von ihm gehört. Er sorgt dafür, daß es mir an nichts fehlt.“

Nun kehrt sie sich der Wand zu und deutet an, daß diese Unterhaltung ihrerseits zu Ende sei.

Und Ole Mathiessen? Wie sollte er sich vielleicht dieses auslegen können? Ja, hier liegt nun wiederum ein Schaf, das sich nicht im ersten Griffe fangen lassen will. Des Bösen Tücke steht hinter allen Dingen. Geduld, was man nicht auf kürzestem Wege erreichen kann, erreicht man vielleicht auf Umwegen. Ein Gottesknecht vom Schlage des Emissärs kennt die Schliche des Teufels.

„Der Herr ist barmherzig“, erklärt er. „Darum bin ich hierhergesandt worden. Bald wird es in Mjelvik besser werden. Euch aber ist die Gnade beschieden, mich unter eurem Dache zu beherbergen.“

Auch das geht schon wieder nicht so, wie es gehen sollte. Kristin dreht noch einmal den Kopf herum. „Darüber müssen Sie mit Sigmund reden.“

Nun möchte sie nichts mehr hören. Gesegnete Kristin! Vorher litt sie in Ergebung und Zufriedenheit. Jetzt weint sie. Sie ist erschreckt und aufgerüttelt.

Ole Mathiessen geht vor dem Hause hin und her, sammelt sich abermals inwendig und ordnet seine Kräfte zu neuem Kampfe. Dazu bleibt ihm viel Zeit. Entweder wurde dem König und seiner schönen Dame der Bergpfad doch beschwerlicher und länger als gut war, oder sie hatten sich auf der Steinbank vor der alten Scheune ungeheuer viel zu sagen, und die Zeit lief von ihnen weg.

Jedoch Pfad und Steinbank haben ein Ende, und selbst der dunkelste Tannenwald bekommt einmal genug von Geheimnissen. Des Emissärs Eifer jedoch hat kein Ende. Und seht, da schreitet der König aus dem Dickicht hervor. Und er trägt wahrhaftig einen grün und roten Sonnenschirm unter dem Arm. Und seine Augen funkeln, und sein Schritt ist federleicht. Weder Kalk in den Adern noch Zucker in der Blase. Hurra!

Nichts als Saftigkeit und Lebenslust und Tatendrang. Ein stürmischer Jüngling mit grauen Brauen und blankem Schädel. Aber dennoch ein Jüngling.

„O Gott!“ seufzt die Dame Oline. „Wie ist das nur alles so schnell gekommen! Vor zwei Stunden kannten wir uns noch gar nicht. Und jetzt sind wir schon so intim.“

Der Weg wurde in diesen zwei Stunden natürlich nicht besser. Und Oline kann nichts dafür, wenn sie ein wenig aus dem Kurs kommt und ihre Hüfte den König streift. Sie ist und bleibt unschuldig. Sie bittet jetzt auch nicht länger um Verzeihung. Denn das hat sie nicht mehr nötig. Sie schnurrt nur noch behaglich, obschon die Lackschuhe nicht wenig drücken.

Der König wurde in dieser kurzen Zeit wieder überwältigend selbstbewußt. „Zwei Stunden“, wiederholt er. „So etwas kommt doch auf den ersten Schlag!“

„Das stimmt“, erklärt Oline. „Und jetzt wird es mir auch leichter, auf Trollhaugen zu wohnen.“

Der König sagt dann noch, das sei ein seltener und glücklicher Tag.

Und dann tritt ihnen überraschenderweise der Emissär Ole Mathiessen mit finsteren Entschlüssen entgegen. Beide Hände hebt er auf einmal und verkündet: „Der Herr segne deinen Einzug, Sigmund!“

Da fällt der König aus großer Höhe auf die Erde nieder und erstaunt über den Anblick des ernsten Mannes.

„Was für etwas?“ Hei, das war eine scharfe Stimme.

Nein, der König ist zur Zeit nicht in der Lage, sich von Ole Mathiessen bezaubern zu lassen. Aber was sein muß, das muß sein.

„Ich bitte um Unterkunft in deinem Hause, Sigmund, in des Herrn Namen.“

Diese Sprache versteht der König nicht. Er schnellt heftig mit den Augen und betrachtet den Emissär und Oline zu gleicher Zeit. „Redet norwegisch, Mann! Was wollt Ihr?“

„Wie ich dir schon zu wissen tat, Sigmund, ein Obdach.“

„Nein“, sagt der König.

„Du willst mir dein Haus verschließen?“

„Ja“, sagt der König.

Nun hebt aber Ole Mathiessen seine Hand zum Fluch. „Ich sage dir, o Sigmund, du wirst deine gerechte Strafe empfangen! Und dort an deiner Seite steht das leibhaftige Laster. Wappne dich gegen die Versuchung ...“

Und damit wäre der Emissär nun so prächtig im Zuge. Aber der König schneidet den Faden kurzerhand ab. „Fort!“ sagt er. „Zur Hölle mit dir!“