Hast du mal einen Sturm erlebt? - Bernhard Schlörit - E-Book

Hast du mal einen Sturm erlebt? E-Book

Bernhard Schlörit

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bernhard Schlörit, Geburtsjahrgang 1949, berichtet, dass er von Landratten oft mit naiven Fragen konfrontiert wird, etwa: "Hast du mal einen Sturm erlebt??" Um die Seefahrt kennen zu lernen, musterte er zunächst als Aufwäscher an. Er schildert diese ersten Erfahrungen auf MS "BURGENSTEIN" und MS "HESSENSTEIN" mit viel Witz und Selbstironie. Nach dem Besuch der Seefahrtschule führte ihn sein Weg in die Funkstation des Kühlmotorschiffes "PEKARI". An dieser Reise mit all ihren teils spannenden und teils auch heiteren Begebenheiten lässt er den Leser teilhaben. Sowohl die tägliche Arbeit eines Seefunkers als auch die vielen Facetten des Lebens an Bord und in den Häfen werden anschaulich dargestellt. Zehn Jahre fuhr Bernhard Schlörit mit Begeisterung zur See, bis der technische Fortschritt seinen Beruf überflüssig machte. Dieses Buch gibt auch für Nicht-Seeleute eine gute Einführung in die Welt der Seefahrt früherer Jahre. Rezensionen zum Band 62: Ich bin ein halbes Leben lang in gleicher Position zur See gefahren und hatte über lange Zeiträume, oftmals sogar täglich mit Bernhard Schlörit QSO, also KW-Sprechverbindung, auf der berühmten 'Quasselwelle'. Der Weg dahin war bei ihm ähnlich steinig wie bei mir, aber auch die Annehmlichkeiten, als es erstmal geschafft war. Wir fuhren bei der glei-chen Reederei, aber persönlich begegnet sind wir uns nie, so kenne ich doch sämtlich die Häfen in SAWK – wenn auch nicht die gleichen "Marias" dort – aus eigener Anschauung. Seine Schilde-rungen über das Bordleben wie auch an Land treffen den Punkt und alles mit einer guten Prise Humor. Da kann gerne noch mehr kommen. Oder: Auf wunderbare Weise hat mich dieses Buch wieder in meine Jugendzeit versetzt! Als Auszubildender fuhr ich 16-17jährig beim Norddeutschen Lloyd auf dem Frachter ROTHENSTEIN nach Australien und Südamerika.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 424

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernhard Schlörit

Hast du mal einen Sturm erlebt?

Ein Seefunkoffizier erinnert sich – Seefahrt in den 1970er Jahren – Band 62 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Anmerkungen des Autors

Der lange Marsch zum Seefahrtsberuf

Der Einstieg… – Ein Aufwäscher geht an Bord

SAWK

Der Weg zum Seefunkzeugnis

Alles Banane...

Mit MS PEKARI noch einmal Ziel „Panama for Order“

Noch einmal „Panamakanal for Order“ für MS PEKARI

Erster Nachtrag

Zweiter Nachtrag

Dritter Nachtrag

Weitere Informationen

Die maritime gelbe Buchreihe

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.

Ein Schifffahrtsjournalist urteilte über Band 1: „...heute kam Ihr Buch per Post an – und ich habe es gleich in einem Rutsch komplett durchgelesen. Einfach toll! In der Sprache des Seemannes, abenteuerlich und engagiert. Storys von der Backschaftskiste und voll von Lebenslust, Leid und Tragik. Dieses Buch sollte man den Politikern und Reedern um die Ohren klatschen. Menschenschicksale voll von Hochs und Tiefs. Ich hoffe, dass das Buch eine große Verbreitung findet und mit Vorurteilen aufräumt. Da ich in der Schifffahrtsjournalistikbranche ganz gut engagiert bin, ...werde ich gerne dazu beitragen, dass Ihr Buch eine große Verbreitung findet... Ich bestelle hiermit noch fünf weitere Exemplare... Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Buch, das wirklich Seinesgleichen sucht...“ Uwe V.

Diese Rezensionen freuten mich besonders: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Danke, Herr Ruszkowski.

oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!

Diese Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben.

Rezensionen zum Band 62: Ich bin ein halbes Leben lang in gleicher Position zur See gefahren und hatte über lange Zeiträume, oftmals sogar täglich mit Bernhard Schlörit QSO, also KW-Sprechverbindung, auf der berühmten ‚Quasselwelle’. Der Weg dahin war bei ihm ähnlich steinig wie bei mir, aber auch die Annehmlichkeiten, als es erstmal geschafft war. Wir fuhren bei der gleichen Reederei, aber persönlich begegnet sind wir uns nie, so kenne ich doch sämtlich die Häfen in SAWK – wenn auch nicht die gleichen „Marias“ dort – aus eigener Anschauung. Seine Schilderungen über das Bordleben wie auch an Land treffen den Punkt und alles mit einer guten Prise Humor. Da kann gerne noch mehr kommen. Oder: Auf wunderbare Weise hat mich dieses Buch wieder in meine Jugendzeit versetzt! Als Auszubildender fuhr ich 16-17jährig beim Norddeutschen Lloyd auf dem Frachter ROTHENSTEIN nach Australien und Südamerika. Unsere auch vom Autor benutzte damalige Bordsprache hat mein Herz geöffnet und all die vielen schönen Erinnerungen aus den sechziger und siebziger Jahren wieder aufleben lassen. Authentisch bis ins kleinste Detail erfährt der Leser hier alles über die Arbeitsbedingungen und vor allem über die ‚Freizeitgestaltung’ der Bordbesatzungen auf längeren Auslandsreisen. Nie zuvor habe ich so herzerwärmende und grundehrliche Schilderungen über das wahre Seemannsleben, das Denken und Fühlen des Protagonisten und der Besatzung lesen dürfen. Nicht aus der Hand legen konnte ich dieses Buch. Ich habe Tränen gelacht über die Partys und Puffbesuche in tropischen Häfen. Es war eine einmalige wunderschöne Zeit!

In diesem Band 62 können Sie wieder den Bericht eines ehemaligen Seemanns lesen. Bernhard Schlörit erzählt sehr informativ mit Witz und Selbstironie, wie er zunächst als Aufwäscher auf dem Lloyd-Dampfer BURGENSTEIN anheuerte, um zu testen, ob er überhaupt Seemann zu werden wünschte. Er besuchte danach die Seefahrtschule, erwarb das Funkerpatent, um dann auf seinem ersten Schiff als Funkoffizier zu arbeiten, dem Bananenjäger PEKARI. Dieses Buch wird nicht nur ehemalige Seeleute an ihre aktive Fahrzeit erinnern, sondern auch Landratten einen guten Einblick in die Seefahrt der 1970er Jahre vermitteln. Ohne bürgerlich-moralische Verklemmungen oder Tabus schildert er auch die Bewältigung der jugendlichen Libido der Seeleute.

In diesem Zusammenhang wurde ich bei der Lektüre des Manuskripts wieder einaml an den bekannten Theologieprofessor und langjährigen Prediger auf der Kanzel des Hamburger Michels, Helmut Thielicke, erinnert, der 1958 eine Seereise nach Japan auf einem Frachtschiff der Hapag unternahm und seine Erlebnisse an Bord in dem Buch „Vom Schiff aus gesehen“ zusammenfasste. Seine hautnahen Begegnungen auf dieser wochenlangen Reise mit Seeleuten brachten ihn zu dem Bekenntnis, dass ihm eine ganz neue, bisher unbekannte Welt erschlossen worden sei und er nun eigentlich sein kurz zuvor veröffentlichtes Ethikwerk umschreiben müsse: „Ich bemühte mich nach Kräften, offen zum Hören zu bleiben und – so schwer es mir fällt – selbst meine stabilsten Meinungen in diesem thematischen Umkreis als mögliche Vorurteile zu unterstellen, die vielleicht einer Korrektur bedürfen. Ich frage mich ernstlich, was an diesen meinen stabilen Meinungen christlich und was bürgerlich ist… Ich merke, wie schwer es ist, sich im Hinblick auf alles Doktrinäre zu entschlacken und einfach hinzuhören – immer nur hören zu können und alles zu einer Anfrage werden zu lassen... Bei meiner Bibellektüre achte ich darauf, wie nachsichtig Jesus Christus mit den Sünden der Sinne ist und wie hart und unerbittlich er den Geiz, den Hochmut und die Lieblosigkeit richtet. Bei seinen Christen ist das meist umgekehrt.“

Hamburg, April 2013 / 2014 Jürgen Ruszkowski

Anmerkungen des Autors

Wer als Bewohner einer küstenfernen Region in weitgehend trockener Umgebung auf die merkwürdige Idee verfällt, zur See zu fahren, sieht sich in der Folge dieser Entscheidung immer wieder den gleichen Fragen ausgesetzt. Man kehrt ja urlaubsbedingt in größeren Zeitabständen nach Hause zurück, Freunde und Verwandte erwarten tolle Geschichten von der großen weiten Welt, und Hein Seemann muss liefern. So, und eine der im tiefen Binnenland am häufigsten gestellten und wohl auch naivsten Fragen (übrigens bis zum heutigen Tage) lautet:

„Hast Du mal einen Sturm erlebt?“

Jetzt, bereits viele Jahre nicht mehr in der Seefahrt tätig, fand ich es an der Zeit, diese Frage einmal umfassend zu beantworten. So kam es zu diesem etwas merkwürdigen Titel, und so entstand dieses Buch.

Jawohl, ich habe schon mal einen Sturm erlebt. Sogar einige Stürme, um genau zu sein. In zehn Jahren, auf einem Dutzend verschiedener Schiffe auf allen Weltmeeren und zu allen Jahrszeiten keinen Sturm zu erleben ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Seemann rund ums Jahr im tobenden Orkan vor sich hin werkelt. Ich erinnere mich an Reisen, die sich in südlichen Gewässern über Monate ohne wetterbedingte Probleme hinzogen. Und über winterliche Einsätze im Liniendienst auf dem Nordatlantik und Nordpazifik, bei denen der Dampfer ununterbrochen Achterbahn fuhr.

Und wenn wir schon dabei sind, arbeiten wir auch gleich noch die restliche Hitliste der am meisten gestellten Fragen ab:

„Wie war das denn bei der Seefahrt überhaupt so?“

Nun, es war eine schöne Zeit. Manchmal war es auch hart, hin und wieder war es beschissen. Aber missen möchte ich keinen einzigen Tag, auch die beschissenen Tage nicht…

In den 1970er Jahren gab es sie noch, diese traditionelle Seefahrt, die einst in zahllosen Liedern und auch Filmen – meist etwas beschönigend – dargestellt wurde. 1976 wurden in der deutschen Handelsflotte etwa 40.000 Seeleute beschäftigt, davon ein Viertel Ausländer. Auf den Schiffen in der ‚Großen Fahrt’ waren Besatzungen von 30 Mann und mehr üblich, und diese Besatzungen bildeten alle sozialen Schichten ab, vom studierten Nautiker bis zum ungelernten Deckshelfer. Über eine lange Zeit hatte sich eine eigene Kultur herangebildet, die von den Janmaaten an Bord gelebt wurde. Die Sprache derb, das Auftreten und die optische Erscheinung oft reichlich schräg. Ich habe prima Kerle kennen gelernt, mit denen man Pferde stehlen konnte. Und auch merkwürdige Vögel, bei denen man sich wirklich die Frage stellte, aus welcher Anstalt die wohl entsprungen waren.

Monatelange Fahrtzeiten, die ständige Isolierung vom „normalen“ Leben und das enge Zusammensein im Bordalltag führten häufig zu reichlich abstrusen Situationen und merkwürdigem Verhalten. Jedenfalls aus der Sicht einer Landratte, für uns war es gar nicht so merkwürdig. Besonders, wenn es zur allgemeinen Erheiterung beitrug. Und Spaß hatten wir weiß Gott.

Die nachfolgenden Schilderungen lassen teilweise den Schluss zu, dass der Spaß überwiegend aus Saufgelagen und Puffbesuchen bestand. Damit wäre dann auch ein Klischee ganz vortrefflich bedient, das dem seefahrenden Teil der Bevölkerung schon seit Generationen anhaftet. Der Alltag der Seeleute wurde aber durch ihre Arbeit bestimmt, und diese Arbeit war nicht durch Vierzigstundenwoche und freie Wochenenden in ihrer Zeitdauer begrenzt. Mannschaften an Deck malochten unter wechselnden Wetter- und Klimabedingungen. Motorenwärter ackerten in der stickigen Hitze der Maschinenräume. Offiziere gingen Tag für Tag und Nacht für Nacht ihre Wachen, ein nicht unbedingt gesunder Lebensrythmus.

Zwischen den Häfen lagen häufig nicht nur Tage, sondern Wochen voller Monotonie.

Diese Monotonie konnte aber von einer Minute zur anderen in eine durch Zwischenfälle verschiedenster Art entstandene Bedrohung umschlagen. Im Hafen liegend wurden die Besatzungen nicht beurlaubt, sondern unter anderem für die Wartungsdienste eingesetzt, die auf See nicht möglich waren. Endlich an Land, durfte sich Hein Seemann dann erst mal mit den Gestalten herumschlagen, die in erster Linie hinter seiner Heuer her waren, das fing mit dem Taxifahrer an, der da am Hafentor herumlungerte. Schlussendlich liegt es nahe, dass diese meist jüngeren Männer, die da im Hafen ausschwärmten, endlich auch ihren Spaß haben wollten. Und Spaß verbinden Männergemeinschaften nun mal gerne mit Alkohol und Frauen. Womit wir eine Überleitung zu den nächsten beiden Fragen hätten.

„Bestimmt habt ihr in jedem Hafen eine Braut?“

Manchmal. Wir schliefen nämlich mit Nutten, das verkürzte die Brautwerbung ungemein. Dies taten wir allerdings nicht in jedem Hafen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. In den Ländern der so genannten dritten Welt wurde es uns häufig auf dem Silbertablett präsentiert. Und in anderen Regionen eben nicht, Hein Seemann saß dann einsam in einer Bar und stierte bedröppelt in sein Bier, wie es viele Singles an Land auch tun. Und die ganzen Nuttenstorys liefen dort in Brasilien oder Kolumbien ein bisschen anders ab, als es sich der durchschnittliche Landmensch so vorstellt. Diese Mädels waren zum großen Teil in Ordnung, und wir brachten ihnen auch allgemein mehr Achtung entgegen, als man normal mit dem Begriff ‚Nutte’ verbindet. Es waren unsere Mädels, andere gab es für uns da draußen nicht. Die „normalen“ Landestöchter zeigten nämlich weniger Interesse für diese fremden Typen, die da für einige Tage an die Küste geschwemmt wurden.

Dort existierten auch keine „Eros-Center“ oder Bordellreservate a la „Herbertstraße“. In den Häfen ging man in die reichlich vorhandenen Bars und Kneipen, dort gab es Drinks, Musik und halt auch Mädels. Manche der Etablissements hatten Zimmer im Oberdeck, woanders verschwand das frisch etablierte Pärchen in einer Hotelabsteige. Und in einigen Ports besuchten uns die Damen an Bord. Alles ganz zwanglos, es ergab sich halt irgendwie…

Seeleute und Nutten leben nun mal ein eher unkonventionelles Leben, und der Rest der Welt bringt ihnen daher meistens ein gewisses Unverständnis entgegen, es gab also Gemeinsamkeiten. Allerdings hatte die immer wieder vorkommende Nutzung käuflicher Liebe auch Schattenseiten, manche Maaten waren irgendwann kaum noch in der Lage, eine unbefangene Beziehung zu einem „normalen“ Mädel herzustellen, zu sehr war ihre Haltung gegenüber dem anderen Geschlecht von den ‚Dockschwalben’ geprägt.

Dabei reden wir hier nicht von irgendwelchen versifften Straßenstrichmiezen, sondern speziell in den Häfen Südamerikas, Afrikas und Asiens von recht selbstbewussten jungen Frauen, die eben den Daseinskampf in der sie umgebenden Armut auf ihre Art und Weise führten. Sie betreuten häufig ‚ihren’ Seemann während der gesamten Liegezeit des Schiffes, vielleicht stammt daher die Mär von der „Braut in jedem Hafen“. Aber in den genannten Regionen waren diese Kontakte sehr häufig, die Verweildauer der Schiffe bemaß sich in der geschilderten Epoche noch in Tagen, manchmal sogar Wochen.

Fuhr man auf einem Frachter im Südamerika-Liniendienst, konnte die Reise durchaus zu einer Puffkreuzfahrt ausarten. Für einen Tankermatrosen im Fahrtgebiet Persergolf hingegen waren Kontakte mit Frauen ungefähr so wahrscheinlich wie Meteoriteneinschläge. Man sieht, das Kapitel ‚Seeleute und ihre Bräute’ hatte viele Spielarten.

„Bei euch wurde doch bestimmt ganz schön gesoffen?“

Yes, da wurde gesoffen, wenn auch nicht immer „ganz schön“. Antialkoholiker waren auf den Frachtern eher eine Ausnahmeerscheinung, und einige Maaten soffen wirklich wie die Durchlauferhitzer. Die eine oder andere seemännische Laufbahn ist aus diesem Grunde unrühmlich zu Ende gegangen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir rund um die Uhr hackedicht über die Meere getorkelt sind, in der Mehrzahl machten die Seeleute professionell und verantwortungsbewusst ihren Job. Was eben nicht ausschloss, dass bei passender Gelegenheit auch kräftig gezecht wurde. Und bis heute vertrete ich die Überzeugung, dass Landratten nicht minder picheln. Es fällt an Land nicht so schnell auf, Berufs- und Privatsphäre sind in der Regel räumlich getrennt. Wir aber hockten Wochen und Monate auf engstem Raum zusammen, der Landgang fand auch im Kreise der Kollegen statt. Jeder alkoholische Ausrutscher war am nächsten Tag Messegespräch. Dass Seeleute bei Landgang oft als harte Zecher auffällig wurden, hatte auch viel mit dem Abbau der Spannungen zu tun, die sich zwangsläufig aus der monatelangen Isolierung in einer kleinen Schicksalsgemeinschaft ergeben.

Was machte denn ein Funkoffizier auf dem Schiff?

Das höre ich gelegentlich von jungen Leuten, die mit E-Mail, SMS, Facebook und dergleichen aufwachsen und keinerlei Vorstellung über die schwierige Kommunikation zwischen Land und See im vergangenen Jahrhundert haben. Was machten wir Funker?

Wir funkten, und zwar vorwiegend auf Mittel- und Kurzwelle mittels Morsetaste und unter Verwendung des internationalen Morsealphabets. Im Rahmen des technischen Fortschritts kamen Einseitenband-Telephonie und Funkfernschreibbetrieb hinzu, aber Grundlage der Kommunikation und vor allem des Seenot-Funksystems blieb bis in die frühen 1990er Jahre die Morsetelegraphie. Ein Schiff in Seenot war im höchsten Maße auf das Können des Funkers und seine Fernmeldetechnik angewiesen, wenn es der Hilfe bedurfte. Reeder, Charterer und Schiffsleitung standen ausschließlich mittels des vom Funker durchgeführten Telegramm- oder Telexverkehrs im Kontakt, und auch für die Besatzung war die Funkstation ‚Brücke zur Heimat’. Bis zur flächendeckenden Einführung von Kommunikations-Satelliten gab es keine zuverlässigere Nachrichtenverbindung. Über dieses Kerngeschäft eines Funkoffiziers hinaus wurden wir auch mit vielfältigen Verwaltungsaufgaben betraut, neben der Morsetaste war wohl die Schreibmaschine das meistgenutzte Arbeitsgerät in der Funkstation. Die Tätigkeit des Zahlmeisters, die behördliche Abfertigung des Schiffes beim Anlaufen der Häfen, die Proviantabrechnung, dies alles wurde von den meisten deutschen Reedereien an die Funkoffiziere übertragen.

„Warum hast du aufgehört?“

Weil es für deutsche Seeleute allmählich den Bach runter ging. Für uns Funker sogar in zweifacher Hinsicht. Mitte der 1980er Jahre wurde es zunächst mal richtig ungemütlich. Reeder bildeten gewissermaßen die Avantgarde der Globalisierung, ganze Flotten wurden ausgeflaggt. Was noch unter deutscher Flagge segelte, geriet unter einen gnadenlosen Kosten- und Rationalisierungsdruck, Besatzungen wurden auf ein Minimum heruntergefahren. Wo möglich, wurde Manpower durch Elektronik und Technik ersetzt. Deutsche Mannschaftsgrade fanden kaum noch Beschäftigung, die Bemannung wurde häufig im Ausland von Crew-Agenturen organisiert, Crews aus Ländern der dritten Welt fuhren zu günstigeren Konditionen. Nach der Wende im Ostblock bekam diese Praxis noch einmal richtig Aufwind, Tausende von ausgebildeten Seeleuten aus Russland und der Ukraine standen dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung und wurden von den Reedern mit Kusshand übernommen, die Ausbildung des seemännischen Nachwuchses in Deutschland war ja über Jahre vernachlässigt worden.

Viele Tätigkeitsfelder verschwanden von Bord, für meine Berufsgruppe der Funkoffiziere zeichnete sich ebenfalls das Ende ab. Technische Innovationen wie SATCOM machten den Spezialisten an der Morsetaste überflüssig. 1985 besuchte ich einen Kollegen auf seinem Schiff, dessen Seefunkstelle bereits mit einer Satelliten-Funkanlage ausgerüstet war. Die Satelliten-Kommunikation steckte damals noch in ihren Anfängen, aber mir war nach dem Besuch die Bedeutung dieser Technik für die Zukunft des Seefunks sonnenklar. Dass ich noch bis zur Rente als F.O. würde fahren können, erschien mir ausgeschlossen. Ich gab der Funkerei, so wie ich sie kannte, noch etwa 10 Jahre und lag damit verdammt richtig. So entschloss ich mich schon 1986, wenn auch sehr widerstrebend, die Seefahrt an den berühmten Nagel zu hängen und mir einen Landjob zu suchen. Im gleichen Jahr zog ich mit meiner späteren Frau zusammen, das erleichterte diese Entscheidung. Den passenden Job fand ich dann am Frankfurter Flughafen, wo ich bis zum Renteneintritt in der Verkehrsdatenzentrale arbeitete, ein bisschen „Hafen“ sollte es dann doch noch sein. Und so ganz kam ich nie von diesem Thema weg, man kann einen Seemann aus der Fahrt holen, aber die Fahrt nicht mehr aus dem ehemaligen Seemann…

„Und wie ist die Seefahrt heute so?“

Vor vielen Jahren blieb ich an Land, da bin ich nicht unbedingt der kompetente Ansprechpartner. Aber ich habe noch ‚Connections’, wie man so sagt. Ich würde die Seefahrt der Gegenwart so darstellen:

Ein deutscher Reeder lässt in Korea ein Schiff bauen, registriert es in Antigua und Barbuda, bemannt es mit einer russischen Besatzung, und verchartert den Dampfer dann an die Chinesen. Vielleicht steht auf der Brücke noch ein einsamer deutscher Kapitän. Eventuell hat der deutsche Reeder auch seinen Hauptsitz auf Zypern. Wegen dem bösen Finanzamt, you know?

Es werden übrigens immer noch nautische und technische Schiffsoffiziere in Deutschland ausgebildet. Allerdings in einem stark verschulten Ausbildungsgang, der deutlich weniger Raum für praktische Erfahrungen lässt als zu ‚meiner’ Zeit. Deutsche Kapitäne hätten die Reeder schon noch ganz gerne auf ihren Pötten, dazu muss ein junger Nautiker aber erst mal sein Patent als zweiter oder erster Offizier ‚ausfahren’ können, an solchen Möglichkeiten hapert es.

Und sehr attraktiv sehe ich die heutige Seefahrt auch nicht mehr, Containerschiffe, über Satellitenverbindung an der kurzen Leine des Reeders, hetzen über die Meere, hoch technisierte Containerterminals weit außerhalb der Hafenstädte, Liegezeiten, die sich in Stunden bemessen. Wozu soll man da noch zur See fahren?

Gut, vielleicht bewerte ich die aktuelle Seefahrt zu sehr durch die Brille des Veteranen, dessen Zeit abgelaufen ist. Nach wie vor gilt die Regel, dass der Mensch nirgendwo so intensiv die Gewalt und auch die Schönheit der Natur erfahren kann wie auf See. Vom Hochgebirge einmal abgesehen. Vielleicht ist es das, was den Einen oder den Anderen immer noch dazu bewegt, den Seemannsberuf anzustreben. Aber die Zeit erlebnisreicher Hafenaufenthalte ist in dieser heutigen Fahrt definitiv vorbei.

Die in so vielen Liedern und auch Romanen beschworene ‚Romantik der Seefahrt’, hat es sie je gegeben? Ich behaupte Ja, und es gibt sie sogar immer noch. Man sollte aber ein Auge dafür haben, mit entsprechend geschärften Sinnen nimmt der Seemann nach wie vor Dinge war, die man schlicht und einfach als „schön“ im reinsten Wortsinn begreift. Seien es tropische Sonnenuntergänge, sei es die Wildheit, die von einer stürmischen See ausgeht, vieles ließ uns damals kurz innehalten, während wir unserem Tagwerk nachgingen. Bei all der modernen Technik, die sich heute mit dem Begriff „Seefahrt“ verbindet, ist das Meer mit seinen Unwägbarkeiten die alles beherrschende Konstante, die uns immer wieder vor Augen führt, dass wir Winzlinge auf unseren schwimmenden Eisenkisten dort draußen nicht das letzte Wort haben.

Und die Funkerei? Ende der 1990er Jahre war endgültig Schluss mit der Telegraphie, heute werden die SATCOM-Anlagen von Nautikern nebenbei mitbedient, die Morsetaste finden wir, von den Stationen einiger traditionsbewusster Amateurfunker einmal abgesehen, nur noch im Museum. Es macht in der Handhabung keinen Unterschied mehr, ob man den Kapitän an Bord oder Tante Emma in Buxtehude anruft, die Dampfer sind ohne Vermittlung eines Küstenfunkstellen-Operators per Durchwahl zu erreichen. Geblieben ist mir und vielen anderen Kollegen die Erinnerung an eine stolze Zeit, in der es zu unserem Job als einzige Verbindung zur Außenwelt keine Alternative gab.

Davon möchte ich auf den folgenden Seiten erzählen. Von einer Seefahrt, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Von skurrilen Typen und von feinen Kerlen, die dieses Leben damals mit mir teilten. Von Häfen, die alles boten, was der Seemann erträumte. Von Schiffen, die längst im Hochofen verschwunden sind. Von unseren Hafenmädels, die uns temporär halfen, die Einsamkeit zu vergessen. Und Einiges mehr…

Im ersten Teil des Buches schildere ich meinen persönlichen Werdegang und in einem zusammengefassten Rückblick meine ersten Erfahrungen mit der Seefahrt in der Funktion eines „Aufwäschers“. Im zweiten Abschnitt nehme ich den Leser „live“ mit auf meine erste große Fahrt als Funkoffizier.

Noch ein Wort zu der von mir verwendeten Erzählsprache: Wir hatten an Bord eine eigene Ausdrucksweise, dieser Jargon findet auch in diesem Buch seinen Niederschlag. Vorherrschend war als Umgangssprache Deutsch, sehr vermischt mit englischen und plattdeutschen Elementen, und die waren nicht immer stubenrein. Das mag sich für zart besaitete Gemüter manchmal ein wenig heftig darstellen, aber ich ziehe die realistische Wiedergabe der „political correctness“ vor. Der derbe Umgangston sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass etliche Sailors auch hohe intellektuelle Ansprüche durchaus erfüllen konnten, in der rauen Welt dieser Männergemeinschaften waren aber feingeistige Salongespräche wirklich die große Ausnahme. Auch die wenigen Stewardessen und weiblichen Funkoffiziere, die zu jener Zeit als einzige Frauen Zugang zu Seefahrtsberufen hatten, waren gut beraten, wenn sie sich nicht allzu empfindlich zeigten.

Die Erzählungen basieren teilweise auf Notizen und einigen Dokumenten, die ich aufbewahrt habe, sowie meiner Erinnerung. Aus meinem langjährigen Freundeskreis wurden mir Briefe und Karten zur Verfügung gestellt, die ich damals schrieb, auch das war hilfreich. Trotzdem kann es schon mal vorkommen, dass ich bei der Schilderung einer Reise die Folge der Häfen oder sonstige chronologische Abläufe nicht ganz korrekt wiedergebe. Meine ersten beiden Pötte in der Fahrtzeit als Funker waren identische Kühlschiffe mit zum größten Teil identischem Fahrtgebiet, da mag sich in der Erinnerung einiges „vermischen“.

Aber alles, was ich hier an Ereignissen schildere, habe ich genau so erlebt. Basiert die Begebenheit auf den Erzählungen anderer Seeleute, habe ich dieses vermerkt. Die Namen meiner damaligen Bordkollegen gebe ich teilweise korrekt wieder, teilweise aber auch verändert, nicht jeder ehemalige Fahrensmann möchte gerne für den Unfug „geoutet“ werden, den er damals anrichtete. Und einige Namen habe ich schlicht vergessen.

Und wie halte ich es mit dem Begriff ‚Seemannsgarn’? Eine Story ist nicht erstunken und erlogen, weil sie der Zuhörer nicht zu glauben vermag. Vieles, was wir erlebten, ist kaum vermittelbar. Natürlich schleichen sich kleine Übertreibungen ein, wenn man etwas besonders Erzählenswertes berichtet. Na und? Wenn Angler über ihren Fang sprechen, zeigen viele Fische noch lange nach ihrem Ableben ein erstaunliches Wachstum. Dann dürfen wir Seeleute auch die Wellen ein klein wenig höher schnacken.

So, nun habe ich mich genug erklärt, fangen wir mal an zu erzählen. Wie kommt eine junge Landratte aus dem Odenwald, fern den Küsten und Meeren, auf die Schnapsidee, ein Seemann zu werden?

Der lange Marsch zum Seefahrtsberuf

oder

Warum denn einfach, wenn es auch umständlich geht?

Meine persönliche Kiellegung fand 1949 statt, da kam ich in dem schönen Städtchen Miltenberg am Main zur Welt. Na ja, es wahr wohl eher der Stapellauf, die Kiellegung wurde neun Monate früher inszeniert…

Ich war noch im Kindergartenalter, als meine Eltern getrennte Wege gingen. Meine Mutter musste sich nun mit mir alleine durchschlagen, in jener Zeit noch ein recht schwieriges Unterfangen. So überließ sie mich und meine Erziehung ihrem Onkel und dessen Frau, die beiden Leutchen holten mich zu sich in den Odenwald, und später wurde ich dann im Einvernehmen aller Beteiligten von ihnen adoptiert. Mein neuer Vater war Mechanikermeister, grundsolide und bodenständig, den Lebensunterhalt verdiente er mit einer kleinen Fahrradwerkstatt, in den späteren Jahren dann als Meister in einer Fabrik für Bergbaufahrzeuge. Weiter entfernt von der christlichen Seefahrt kann ein soziales Umfeld nicht sein.

Eine Realschule im Nachbarstädtchen wurde mit der undankbaren Mission meiner Schulbildung beauftragt. Eltern und Lehrer gedachten mich wenigstens bis zur Mittleren Reife zu „fördern“, meine Mitarbeit hielt sich allerdings in Grenzen.

Für den Physikunterricht war ein gewisser Herr Müller zuständig. Im Kriege hatte er als Funker gedient, in einer Unterrichtsstunde zu dem Thema ‚angewandte Elektrophysik’ schleppte er einen Tongenerator herbei und beglückte uns sichtlich begeistert mit einer kleinen Einführung in die Kunst des Morsens. Ich saß wie üblich in der letzten Reihe des Physiksaales und dachte: ‚Unglaublich, wie ein normaler Mensch seine Zeit mit dieser Piepserei verbringen kann. So erzeugt man also Tinnitus. Der hat doch nicht alle Latten am Zaun!’ Damit war das Thema für meine Person abgehakt. Von Zukunftsvisionen meinerseits konnte keine Rede sein…

Halbwegs akzeptable Leistungen erbrachte ich in Deutsch, Geschichte und Geographie, grottenschlecht war das, was ich in allen naturwissenschaftlichen Fächern, Mathematik, Physik und dergleichen ablieferte, die Noten waren entsprechend. Nicht gerade die ideale Voraussetzung für die doch ziemlich technische Ausbildung zum Berufsfunker, wie mir später klar wurde.

1965 muss es wohl eine Generalamnestie für lernfaule Schüler gegeben haben, mir wurde tatsächlich das Zeugnis der mittleren Reife zuerkannt, Eltern und auch einige Lehrer waren gleichermaßen überrascht. Ich ebenfalls. Um meine Vorstellungen von einem interessanten und abenteuerlichen Beruf umzusetzen, hatte ich mir ausgerechnet die Bundeswehr als geeignete Plattform auserkoren, nicht unbedingt eine meiner großartigsten Ideen, man war halt 16 Jahre jung und entsprechend ‚schlau’. Angedacht war, das Jahr bis zu meinem 17. Geburtstag als Jobber zu überbrücken und dann zu den Fahnen zu eilen. Mein Vater, mit dieser tollen Absicht konfrontiert, war zunächst mal fassungslos. Er gehörte zu der Generation, die noch lange unter den Folgen des Krieges litt, Uniformträger waren ihm gründlich verhasst. Vielleicht mit Ausnahme des Postboten. Nach mehreren Krisensitzungen des Familienrates kam es zu einer erzwungenen Planänderung. Im April 1965 erhielt der Möchtegernsoldat eine Lehrstelle beim Landratsamt des Odenwaldkreises. Vater erhoffte sich von der Verwaltungslehre einen späteren Wechsel in die Beamtenlaufbahn mit guter Absicherung für seinen Filius. „Junge, denk auch mal an die Pension!“ Kein Mensch denkt mit 16 Jahren an die Pension, aber in diesem Alter hatte man damals wenig Alternativen, wenn die Eltern nicht kooperierten…

Den Ausschlag für die Wahl der Lehrstelle gab für mich die kurze Dauer der Ausbildung, sie sollte in zwei statt wie sonst üblich in drei Jahren erfolgen. Zeit genug, den alten Herrn mittels zäher Verhandlungen zur Unterschrift auf meine Freiwilligenmeldung zu bewegen. Man erinnere sich, dass die Volljährigkeit damals erst mit 21 Jahren erreicht war, um die Einverständniserklärung des Erziehungsberechtigten kam man nicht herum.

Dass ich in dieser Zeit recht flüssig den Umgang mit der Schreibmaschine erlernte und doch eine ganze Menge über Verwaltung und administratives Handeln vermittelt bekam, sollte sich später als Funkoffizier noch mal sehr nützlich erweisen. Das ließ sich aber in jenen Jahren noch nicht einmal erahnen.

Mein Vater gab dann auch irgendwann resigniert auf und unterschrieb, im Herbst 1966 ging es nach Wiesbaden zur Freiwilligenannahmestelle des Heeres, um einen zweitägigen Eignungstest und die obligatorische Musterung zu absolvieren. Eine der Prüfungen war der so genannte INT-Test. Uns wurden die drei Morsezeichen für I (..), für N (-.)und für T (-) erklärt, dann diese drei Zeichen in immer schneller werdender Folge vom Band abgespielt, und die Prüflinge hatten auf einem Vordruck die dort dargestellten Buchstaben richtig anzukreuzen. So gedachte man die Kandidaten mit Morsetalent herauszufiltern. Ich schrieb recht entspannt mit, es lag nicht in meiner Absicht, mich auf diesem Gebiet zu profilieren.

Zum Abschluss der beiden Tage führte ein Laufbahnberater Gespräche mit allen Bewerbern. Mir schwebte eine Verwendung bei den Fallschirmjägern vor, man brachte mir aber schonend bei, dass ein magerer Brillenträger mit latenter Höhenangst nicht unbedingt der Traumkandidat dieser Waffengattung sei. Mir wäre aber einer der besten INT-Tests gelungen, damit sei die Fernmeldetruppe für mich das Richtige. Das klang überzeugend, jeder hört gerne, dass er irgendwo einer der Besten sei. Und schon hatten sie meine Unterschrift unter einer Verpflichtungserklärung für vier Jahre.

Nach sechs Monaten allgemeinmilitärischer Ausbildung in Sonthofen im Allgäu wurden alle dort ermittelten ‚Morsetalente’ nach Rotenburg an der Wümme versetzt, wir waren für den Dienst in einer EloKa-Einheit vorgesehen.

EloKa steht für elektronische Kampfführung, dieser Verein befasste sich unter anderem mit der Aufklärung und Überwachung des Funkdienstes der Sowjettruppen in der damaligen DDR. Wir sollten Horchfunker werden.

Ausbilder war ein Feldwebel Emmelmann, allgemein nur Johnny genannt. Johnny war als Moses, also Schiffsjunge, zur See gefahren, er strebte die klassische Laufbahn vom Schiffsjungen zum Kapitän an. Noch während der Ausbildung hatte er sich, mit einem Hansa-Dampfer in Südasien liegend, eine schwere Malaria eingefangen, verbrachte einige Monate in Colombo im Hospital und konnte dann aufgrund der gesundheitlichen Schädigungen den Berufswunsch vergessen. Er war ein lustiger Vogel, immer für irgendeinen Spaß zu haben, als Berufssoldat aber eine glatte Fehlbesetzung. Seine Erlebnisse aus zwei Jahren Fahrt bereicherten aber viele unserer Ausbildungsstunden, außerdem war er der erste leibhaftige Seemann, der mir über den Weg lief.

Im Übrigen verbrachten wir viel Zeit mit Hörausbildung. Nach dem Erlernen des Morsealphabets wurde zügig trainiert, wöchentlich steigerte sich das Tempo. Tempo 30 (Zeichen in der Minute), Tempo 40, Tempo 50 und so weiter. Johnny schaltete Tonbänder mit den Übungstexten auf unsere Kopfhörer und verschwand hinter der Bild-Zeitung, wir versuchten verzweifelt, dem immer schneller werdenden Tempo zu folgen. Dabei trennte sich auch die Spreu vom Weizen, einige Kameraden konnten irgendwann ihre Hörleistung nicht mehr steigern und wurden anderen Verwendungen überstellt. Mir gelang es, durchzuhalten, und nach einem abschließenden Lehrgang auf der Heeres-Fernmeldschule in Feldafing bestand ich die Horchfunkerprüfung.

Es folgten einige Jahre Einsatz im Horchdienst, wir hörten unsere sowjetischen ‚Kollegen’ drüben ab, peilten ihre Funkstellen an und fühlten uns als ganz tolle Hechte. Zur gleichen Zeit hörten deren Horchfunker unsere Fernmeldeverbindungen ab und fühlten sich bestimmt auch als ganz tolle Hechte. So war jedem gedient.

Das sich nähernde Dienstzeit-Ende warf nun die Frage auf, wie ich mir meine weitere berufliche Zukunft vorstellte. Zurück in den Verwaltungsdienst? Nee, danke schön, das fand schon in der Lehrzeit nicht meinen Beifall, ich glaubte kaum, dass es inzwischen spannender geworden war.

Da kam mein Kamerad Klaus M. ins Spiel, ebenfalls Horchfunker und Z4-Soldat sowie ausgebildeter Reedereikaufmann. Erlernt hatte er diesen Beruf bei der Hamburger Reederei Frigga, die damals ihre Massengutfrachter in der Erzfahrt einsetzte. Außerdem hatte er während seiner Lehrzeit in der ‚Kuhwerder Fähre’ Bier gezapft, Eingeweihten besser bekannt als „Tante Hermine“. Und dort schleppte er mich dann eines Tages hin, Hamburg war ja von Rotenburg aus schnell zu erreichen. In dieser legendären Seemannskneipe in der Hafenstraße, unweit der St.Pauli-Landungsbrücken, stellte mich Klaus einigen Fahrensleuten aus seinem Bekanntenkreis vor, eine ganze Nacht gab es Bier und wilde Storys, von beidem wohl etwas zu viel. Das hörte sich alles unglaublich interessant an, die hatten todsicher auch eine Verwendung für einen abenteuergeilen Odenwälder, der noch nicht genau wusste, wo seine Reise hingeht. De facto bin ich aufgrund eines eindrucksvollen Kneipenbesuches Seemann geworden. Wenigstens das habe ich mit so manchem „geshanghaiten“ Jantje aus der Zeit der Segelschiffe gemeinsam.

Hermine Brutschin-Hansen, die berühmte Wirtin, saß übrigens damals noch selbst an der Kasse dieser Pinte, ein Jahr danach ist sie verstorben.

Alte Postkarte von „Tante Hermines Kuhwerder Fähre“

Dank an Peter Nennstiel http://de.ask.com/web?l=sem&ifr=1&qsrc=999&q=Peter%20Nennstiel%20Hafenkneipen&siteid=3083&o=3083&ar_uid=BAE82F1D-BE08-47E7-A242-F50312082AF2&click_id=AC58DE61-8C65-48C2-AA6B-22615AC12984

Ich sollte einige Jahre später aber in der immer noch existierenden ‚Kuhwerder Fähre’ quasi mein Hauptquartier einrichten. Und nebenbei die Seefahrtschule besuchen…

Klaus meinte kurz und bündig: „Wenn dich das interessiert, machste mal eben das Seefunksonderzeugnis und dann fährste los. Null Problem, die suchen dringend Funker!“

„Wie lange dauert’n das?“ – „Na, ein halbes Jahr, dann biste fertig. Schaffste mit links, kannst doch hören und so…“ Damit war seine Berufsberatung abgeschlossen, ich schrieb den ‚Verband Deutscher Reeder’ um Informationsmaterial an und kontaktierte anschließend die Seefahrtschule Bremerhaven. Für den Oktober 1971 gab man mir die Zusage zu einem Seefunksonderzeugnis-Lehrgang. Seefahrt aufgepasst, Schlörit kommt! Von wegen…

April 1971. Vier Jahre Bundeswehr sind abgehakt. Mit der nach einer solchen Dienstzeit üblichen Abfindung und einer kleinen Erbschaft (Vater war kurz zuvor verstorben) kommt man sich richtig wohlhabend vor, somit bestand keine Notwendigkeit einer Arbeitsaufnahme vor Beginn des Funkerlehrganges. Im Mai spendierte ich mir meine erste große Auslandsreise, zwei Monate in den Norden der USA. Eine in Ohio lebende Tante stellte ihr Haus als Basislager zur Verfügung, von dort aus ließen sich viele touristische Hotspots leicht erreichen. Meinem etwas eingerosteten Schulenglisch tat das auch gut, und Englisch würde demnächst für meine Ausbildung einen hohen Stellenwert bekommen.

Im Sommer zurückgekehrt dann der Tiefschlag: Die Seefahrtschule teilte in einem nüchternen Anschreiben mit, dass der vorgesehene Lehrgang im Herbst nicht stattfinden würde. Dass sogar überhaupt kein Lehrgang für dieses Seefunksonderzeugnis mehr geplant sei, weil das Bundesverkehrsministerium keine Ausnahmegenehmigungen für Sonderfunker mehr erteilen werde. Aus der Traum.

Dazu muss ich ein wenig weiter ausholen. Zu dieser Zeit gab es vier verschiedene Befähigungszeugnisse, die zur Teilnahme am Seefunkdienst berechtigten. Das Seesprechfunkzeugnis war obligatorisch für alle nautischen Offiziere, auch Sportskipper erwarben es, damit durfte Sprechfunkdienst wahrgenommen werden. Für Berufsfunker war es praktisch in ihr Patent integriert. Die Ausbildung wurde zum Teil in Abendkursen angeboten. Das Seefunksonderzeugnis galt als Mindestanforderung für ‚hauptamtliche’ Funker, es war für den Einsatz auf Schiffen gedacht, die eigentlich gar nicht telegrafieausrüstungspflichtig waren, aufgrund ihres besonderen Einsatzes aber eine solche Station fuhren, Bergungsschlepper und Fischereifahrzeuge zum Beispiel. Dieses Zeugnis konnte man in sechsmonatigen Kursen erwerben. Erst das Seefunkzeugnis 2. Klasse berechtigte zum Dienst auf Frachtern aller Größen und in allen Fahrtgebieten, der Erwerb setzte eine abgeschlossene Berufsausbildung im Elektrofach und einen dreisemestrigen Besuch der Seefahrtschule voraus. Anstatt einer Berufsausbildung wurde auch ein zweijähriges Praktikum in der Elektrobranche anerkannt. Dieses Patent konnte in einem zusätzlichen Lehrgang auf 1. Klasse aufgestockt werden, damit durfte man auf Passagierschiffen oder bei Küstenfunkstellen arbeiten. Und mit diesen beiden Zeugnissen agierte der Inhaber auch unter der Berufsbezeichnung „Funkoffizier“, er trug bei zweiter Klasse zwei und bei erster Klasse drei Streifen an der Uniform und zählte damit zur Kaste der Handelsschiffsoffiziere.

Aufgrund des permanenten Funkermangels war es aber zur Regel geworden, Sonderzeugnisfunkern per Ausnahmegenehmigung den Dienst auf Frachtschiffen aller Größen und Fahrtgebiete zu erlauben. Infolge dieser langjährigen Praxis wimmelte es bei der Seefahrt von Sonderzeugnisinhabern, viele ehemalige Bundeswehrfunker, Seeleute aus der Mannschaftsebene, Funkamateure und sogar Ehefrauen von nautischen und technischen Schiffsoffizieren nutzten die Möglichkeit, nach sechs Monaten Lehrgang diesen Job zu ergattern. Wobei die Durchfallquote aber recht hoch war, sechs Monate sind verdammt wenig, um einen brauchbaren Funker zu produzieren.

So, und nun sollte diese Regelung nicht mehr zur Anwendung kommen, man wollte nur noch Funkoffiziere mit dem Seefunkzeugnis 2. Klasse oder dem höherwertigen Zeugnis 1. Klasse akzeptieren. Den Inhabern der Sonderzeugnisse wurde eine Übergangsfrist zum Erwerb der 2. Klasse eingeräumt, und das war es dann.

Für den Erwerb des 2.Klasse-Zeugnisses besaß ich weder die erforderliche Berufsausbildung noch ein gleichwertiges Praktikum. Da stand nun der abgeschmetterte Funkerkandidat und guckte dumm aus der Wäsche.

Die Pläne in Sachen Seefahrt hatten sich in Luft aufgelöst, eine Alternative musste her.

Eine Reifenhandlung in der Heimatregion suchte einen Verkaufsfahrer, zur Überbrückung kam das gerade recht. Diesbezügliche Sachkenntnisse fehlten völlig, mir war lediglich bekannt, dass Reifen rund, aus Gummi und zum Fortkommen eines Autos sehr vorteilhaft sind. Somit war für einige Monate der vermutlich erfolgloseste Verkaufsfahrer Südhessens im Großraum Darmstadt unterwegs. Mehr und mehr drängte sich der Gedanke auf, vielleicht doch die zwei Jahre Praktikum in Kauf zu nehmen, um die Voraussetzungen für den Besuch der Seefahrtschule zu schaffen. Aber zwei Jahre können verdammt lange dauern, besonders, wenn man jung ist. Und dann waren ja auch noch drei Semester Schulbesuch zu absolvieren. Dreieinhalb Jahre also. Und was tun, wenn ich das alles durchzog und hinterher feststellte, dass die Seefahrt doch nicht meine Welt war? Es gab ’ne Menge zu grübeln in jenen Tagen.

Nach längerer Orientierungsphase kam mir dann eine besonders tolle Idee, zumindest hielt ich meine Kopfgeburt für so was. Es müsste doch möglich sein, irgendwie bei einer Reederei so eine Art „Schnupperreise“ zu absolvieren, ein Bordpraktikum oder etwas Ähnliches. Auf dem heimischen Postamt lagen die Telefonbücher der ganzen Republik, nichts wie hin, die Adressen mir bekannter Reedereien müssten ja da drin stehen. Das waren gerade mal drei, Hapag-Lloyd, DDG Hansa und Frigga. Letztere antwortete gar nicht, Hansa lehnte dankend ab und Hapag-Lloyd bot mir in einem kurzen Schreiben eine Anstellung als Aufwäscher an. Keine Ahnung, was ein Aufwäscher zu tun hatte, egal, nun würde es mit der Seefahrt klappen. Ich kontaktierte die in dem Brief aufgeführte Telefonnummer und wurde umgehend nach Bremen einbestellt. Seefahrt, Schlörit kommt, zweiter Anlauf…

Der Einstieg… – Ein Aufwäscher geht an Bord

Hapag-Lloyd, damals Deutschlands größte und bei Landratten auch bekannteste Reederei, war erst 1970 durch Fusion der beiden traditionsreichen Unternehmen Norddeutscher Lloyd (Bremen) und Hapag (Hamburg) entstanden. Eigentlich standen beide Firmen immer in heftiger Konkurrenz zueinander, dieser Geist hatte auch die Besatzungen durchdrungen, und je nach Standort wollte man diesen Hamburgern oder Bremern nichts zu tun haben. Es brauchte noch einige Jahre, bis aus beiden Reedereien wirklich eine Company geworden war. 1972 gab es teilweise getrennte Verwaltungsbereiche, und das alte Lloyd-Heuerbüro im Bremer Überseehafen existierte auch noch. Dort stand ich an einem nasskalten Januarmorgen vor einem gewissen Herrn Pauli, der die Lloyddampfer (und damals nur diese) mit Mannschaftsgraden bemannte. Meine Einstellungsprozedur war denkbar kurz, mit einer Art Laufzettel ging es zum Vertrauensarzt der See-Berufsgenossenschaft, der untersuchte den hoffnungsvollen seemännischen Nachwuchs und stellte dann die obligatorische Gesundheitskarte aus, dazu noch den so genannte ‚Seuchenpass’, wenn die Verwendung im Bedienungssektor vorgesehen war. Wieder bei Pauli gelandet, folgte die Frage, ob man gerade polizeilich gesucht würde. Nach meinem Kenntnisstand war das nicht der Fall. Auf meine Frage, was denn bitteschön ein Aufwäscher eigentlich zu tun hatte, lautete die kurze Antwort: „Na, saubermachen halt. Geschirr spülen, Gänge feudeln und so’n Kram.“ Aha!

Dann überreichte mir Pauli mein Seefahrtsbuch, wichtigstes Dokument überhaupt, um Arbeit auf einem Schiff zu finden. Neben persönlichen Daten und einem Passbild enthielt es auf vielen Seiten Raum für Visa und Vermerke sowie die Eintragung aller Borddienstzeiten, die ich jemals leisten würde. Mir schien es in dem Moment das kostbarste Dokument zu sein, das ich besaß.

„So“, meinte Pauli abschließend, „Nun fahren ’se mal wieder nach Hause, wir schicken ein Telegramm, wenn’s dann soweit ist“ Das war es dann.

Nach Hause zurückgekehrt, meldete ich meinem Freundeskreis Vollzug in Sachen beginnender Seefahrtskarriere und lud umgehend zu einer feuchtfröhlichen Abschiedsfeier, schließlich konnte jeden Moment das angekündigte Telegramm eintreffen. Dass in der christlichen Seefahrt die Uhren etwas anders tickten, hatte mir niemand vermittelt. Wir haben dann acht Wochen lang immer wieder mal sehr intensiv Abschied gefeiert, allmählich schmolz meine Barschaft dahin, dafür stiegen die Leberwerte.

Endlich, als ich schon fast nicht mehr daran glaubte, trudelte ein Telegramm ein, kurzer Text: DIENSTANTRITT MIT ALLEN EFFEKTEN 27.03.72 MS BURGENSTEIN HALO BREMEN +. Was bitteschön waren Effekten? Keine Ahnung, was das nun wieder sollte, aber der zum Dienst einberufene Seelord packte seinen Bundeswehr-Seesack, davon ausgehend, dass ein Seesack das allgemein übliche Verpackungsmöbel für Seeleute sei. An Bord stellte sich heraus, dass der frisch gestrickte Aufwäscher der einzige Verwender dieses Traditionsgepäcks war, Hein Seemann reiste 1972 schon mit Koffer und Reisetasche. Und übrigens, mit Effekten war lediglich meine persönliche Ausrüstung gemeint… Aber der Reihe nach.

Am 27. März stand ich wie angeordnet wieder vor dem Heuerstall im Bremer Hafen. Mit mir noch einige andere Gestalten, die aber im Gegensatz zu mir schon verdammt erfahren wirkten. Wir wurden alle in einen Kleinbus verfrachtet und zum Schiff gekarrt, der genaue Liegeplatz ist mir nicht mehr erinnerlich.

Tja, und da lag sie dann. MS „BURGENSTEIN“, ein klassischer Stückgutfrachter, 1958 als Typschiff einer Serie von zunächst drei Schiffen in Dienst gestellt und mit 8.495 BRT vermessen. 147 Meter lang, 20 Meter breit, von einem 9.000 PS-Diesel angetrieben. Platz für 10.900 Tonnen Fracht und neun Passagiere. Nicht gerade ein Riesenschiff, aber mir kam es im Moment gigantisch vor. Schwarz gestrichener Rumpf, weiße Aufbauten, ein gewaltiger Schornstein in Ockergelb mit der schwarzweißroten Hapag-Schornsteinkappe. Und jede Menge Masten, eine andere Bezeichnung für das umfangreiche Ladegeschirr war mir unbekannt. Der Zossen war gerade von einer Mexiko-Reise via Antwerpen und Rotterdam wieder nach Bremen zurückgekehrt und sollte nun zunächst nach dem Löschen der Restladung in Bremerhaven eindocken. Apropos Zossen, an jenem Tage kannte ich diesen Begriff noch gar nicht und sprach hochachtungsvoll nur von einem Schiff. Für den Seemann aber ist jeder ‚Dampfer’ ein ‚Zossen’, ein ‚Schlorren’, ein ‚Zarochel’, ein ‚Wurstwagen’, alles Mögliche, aber kein Schiff.

Nun also die ersten Schritte in diese neue Welt. Mit leichter Verzögerung, wir mussten an der Gangway kurz warten, weil die Wasserschutzpolizei gerade zwei Typen in Handschellen an Land schleppte. Einer davon war mein Aufwäscher-Vorgänger, wir mir später erklärt wurde. Die beiden hatten vor der Ausreise irgendetwas ausgefressen und waren schon beim Einlaufen sehnlich erwartet worden…

An Deck zerstreuten sich die mit mir eingetroffenen Crew-Mitglieder in Windeseile und „der Neue“ stand dumm in der Gegend herum.

Das Schwesterschiff BUCHENSTEIN

Anscheinend war ich der Einzige, der nicht wusste, wo er sich hinzuwenden hatte. Irgendwann erbarmte sich jemand meiner und fragte „ Als was steigst’n du ein?“ – „Aufwäscher“ – „Ach so, also dann, erste Reise oder was?“ – „Jou“ – „Na, dann geh mal hoch zum Chiefmate und gib dein Buch ab, der verklickert dir alles Weitere.“ – „Und wo find’ ich den?“ – „Na, 3. Deck, Steuerbord Vorkante, Kannste nich’ verfehlen!“ Konnte man doch, völlig frei von Ahnung stolperte der Anfänger in den Aufbauten herum und landete dann nach einigem Suchen schließlich doch noch beim 1. Offizier. Keine Ahnung, warum der damals die Bücher einsammelte, normalerweise ist das der Job des Pursers. In späteren Jahren als Funkoffizier war das meine Aufgabe.

Besagter Chiefmate nahm mich kaum wahr, ein Aufwäscher war in der noch sehr traditionellen Hierarchie beim Lloyd am unteren Ende der Skala angesiedelt. Auf der Crewliste waren 48 Mann aufgeführt, der Aufwäscher agierte unter der Nummer 48 und stand damit in den Augen eines 1. Offiziers wohl auf der gleichen Hierarchieebene wie eine Küchenschabe. So, wie der mich anguckte, betrachtet man normalerweise ein Insekt, das unvermutet auf dem Frühstücksbrötchen auftaucht. Mein Auftritt war äußerst kurz, dann schickte mich seine Eminenz zur weiteren „Behandlung“ in Richtung Mannschaftsmesse, was wieder eine längere Such-Expedition in den Aufbauten zur Folge hatte.

Dort wurde mir zum ersten Mal so etwas wie richtige Aufmerksamkeit zuteil. Der für diese Mannschaftsmesse zuständige Messesteward war Uwe, ein pickliger Jüngling von 18 oder 19 Jahren, und er war gewissermaßen mein unmittelbarer Boss. Für ihn war der Aufwäscher, na ja, vornehm ausgedrückt, eine Art Assistent. „Also Bernd, wir machen hier die Backschaft für die Mannschaftsmesse. Auch den Laden sauber halten und so. Und dann machst du jeden Tach die Kammern vom Scheich, vom Timmi, vom Storie und vom Chef!“ „Hää?“

Dann die Übersetzung: vom Bootsmann, vom Schiffszimmermann, vom Storekeeper und vom Koch. Tragen die hier alle Künstlernamen oder was?

Mit Uwe zusammen bewohnte ich auch gemeinsam eine Kammer, eine ziemlich kleine Bude mit zwei übereinander liegenden Kojen, kleine Bank, Stuhl, zwei schmale Schränke, Waschbecken, das war’s.

Klimaanlage gab es nicht, Toilette und Dusche in Indien (jenseits des Ganges).

Auf dem gleichen Gang waren auch die Unterkünfte anderer Mitglieder der „Kolonne Fress und Feudel“. Neben uns wohnten die Kochsmaaten.

An Bord fuhren einige Stewards, Stewardessen und nachgeordnete Bedienungskräfte, dieses Bedienungspersonal rangierte unter dem abfälligen Begriff „Feudelgeschwader“. Der Begriff „Feudel“ kam mir bei der Seefahrt zum ersten Mal unter, bei uns in Hessen nennt man das „Butzlumbe“. Und beim Bund war es ein Aufnehmer…

An der Spitze des Feudelgeschwaders stand der 1. Steward oder Chiefsteward, er bediente auch die Führungsspitze des Dampfers im Salon. In der Offiziersmesse agierten zwei Stewardessen, in der Mannschaftsmesse Uwe und sein ‚Assistent’.

In der Kombüse wirkten drei Mann, ein Koch und zwei Kochsmaaten, der eine davon Bäcker und der andere gelernter Schlachter. Die Verpflegung war für meine Begriffe überraschend üppig, wer das unbedingt wollte, konnte sich hier dumm und dämlich fressen.

Für die Mannschaftsmesse war ich neben Uwe als Backschafter zuständig, Landratten würden es vielleicht „Kellner“ nennen, für die Crew waren wir die „Messbüddels“. Zu bedienen waren sämtliche Mannschaftsdienstgrade des Dampfers, Offiziere und vergleichbare Halbgötter waren meinen Blicken meistens entzogen, die tafelten in der Offiziersmesse und im Salon.

Die Mannschaften also. Da kannte man zwei Fraktionen, Deck und Maschine. Zur Deckscrew zählten der Scheich oder Bootsmann als Herr und Meister über den Decksbetrieb sowie seine Matrosen und Decksleute, überwiegend Deutsche, ein Spanier und drei Türken. Die Jungs unterschieden sich durch die Ausbildung, Matrosen waren gelernte Facharbeiter, die Decksleute ungelernte Hilfskräfte. Einer der Matrosen war für das Kabelgatt zuständig, agierte unter der Bezeichnung „Kabel-Ede“ und war auch so etwas wie der „erste Matrose“ an Deck. Ebenfalls in einer Art Meisterebene, wenn auch nicht so hervorgehoben wie der Bootsmann, arbeitete der „Timmi“, der Schiffszimmermann. Solche Kähne, wie die BURGENSTEIN, führten ziemlich viele Holzkomponenten in den Aufbauten und im Decksbetrieb, so hatte sich dieser Traditionsberuf noch bis in die Siebziger Jahre gehalten. Später fuhr man dann Decksschlosser, Holz an Bord starb aus. Besagter Timmi hatte bei den damaligen Besatzungsstärken noch einen „Juzi“, einen Jungzimmermann als Mitarbeiter. Lang ist’s her.

Neben dieser Decksgang gab es dann noch die „Maschinesen“. Die hatten auch einen Alpha-Wolf im Meisterstatus, „Storie“ alias Storekeeper. Seine Leute waren entweder Motorenwärter oder Motorenhelfer. Erstere, allgemein als „Schmierer“ bezeichnet, hatten teilweise abgeschlossene Berufsausbildungen im Metallbereich, die Helfer, genannt „Reiniger“ waren Ungelernte.

Weiterhin saß in der Crewmesse der „Eisbär“, ein Kühlraummechaniker. Das Schiff verfügte für temperaturempfindliche Ladung über eine begrenzte Kühlraumkapazität, der Eisbär war für das Funktionieren der Kühlung verantwortlich.

Eine Besonderheit auf diesem Frachter war die Ausbildungsgruppe. Zehn Decksjungen inklusive Ausbildungsbootsmann waren eingeschifft, sie absolvierten ihr erstes Lehrjahr für den Matrosenbrief. Junge Kerle, so um die sechzehn, die benahmen sich auch so und fraßen dank häufiger Arbeit in frischer Luft wie die Haie, was uns Messbüddels zu deutlicher Mehrarbeit verhalf.

Und dann saß in unserer Messe noch ein einsamer Chinese herum. Damals gab es ihn noch, den „Max“ bei Hapag, den „Fritz“ beim Lloyd. Traditionell fuhr man Chinesen für den Betrieb der Bordwäscherei, Wäsche fiel ja auf diesen „Style-Dampfern“ mit Passagieren und kopfstarken Besatzungen genügend an. Da die Seeleute nicht im Traum daran dachten, sich chinesische Namen zu merken, wurden die Chinesen mal Fritz, mal Max genannt. Übrigens waren das keine Reederei-Mitarbeiter, die wurden ausgeliehen, ihr Boss war irgendein ominöser „Oberchinese“, der seine Wäscher an die Reedereien vermietete. Dieses tolle Geschäftsmodell wird heute in weiten Teilen von der deutschen Wirtschaft kopiert…

Die Offiziersmesse habe ich während der gesamten Reise nicht betreten. Wie schon gesagt, Hierarchieebene Küchenschabe. Dort nahmen ein zweiter und ein dritter nautischer Offizier, drei Schiffsingenieure in gleicher Zählweise, diverse nautische und technische Offiziersassistenten, ein Elektriker und ein Funker ihre Mahlzeiten ein. Diese Würdenträger wurden aber nie so genannt, ein nautischer Offizier war ein ‚Steuermann’, ein ‚Mate’, ein ‚Stürmann’. Wobei der Steuermann das Schiff nicht steuerte, diese Tätigkeit oblag dem Rudergänger. Und der war schlicht ein Matrose, der nach strikten Anweisungen des Steuermanns, Kapitäns, Lotsen oder wer sonst gerade das Schiff fuhr, den Zossen lenkte. Schiffsingenieure waren ‚Ings’. Der Elektriker hieß ‚Blitz’, der Funker ‚Sparks’, ‚Sparky’, ‚Funkrat’, ‚Purser’, kein Mensch sprach vom Funkoffizier. Nautische Offiziersassistenten hießen ‚NOA’, ‚OA’, oder ‚Oase’. Die technischen vergleichbaren Dienstgrade waren ‚Assis’, Einzahl ‚Assi’. Es dauerte einige Zeit, bis ich keines Dolmetschers mehr bedurfte.

Auf einem anderen Planeten, zumindest aus meiner Perspektive, befand sich der ‚Salon’, dort speisten die drei „Eisheiligen“, also der Kapitän, der erste Offizier oder Chiefmate und der Leitende Ingenieur oder ‚Chief’. Sollten Passagiere mitreisen, und das war in der Regel auch der Fall, wurden auch sie im Salon verpflegt.

Meinen Job hatte ich nach kurzer Einweisung zu verrichten, mehr Ausbildung war auch nicht notwendig, das lief nach dem Motto: „Feudeln und Geschirrspülen kann jeder Depp!“ Ab sofort war ich der Kommandant der Geschirrspülmaschine. Präziser formuliert, ich war die Geschirrspülmaschine, eine solche gab es nämlich an Bord nicht. Trotz meiner verzweifelten Bemühungen wollte der Geschirrberg nicht schrumpfen, irgendwann kam es mir so vor, als ob die Crew ununterbrochen mit Nahrungsaufnahme beschäftigt sei. Morgens in aller Frühe wird umfangreich gefrühstückt, und das hieß nicht nur Brötchen, Butter, Marmelade, auch ein warmes Gericht war Bestandteil der ersten Tagesmahlzeit. Zumindest Eier in allen Varianten, gebacken, gerührt, gekocht, gekrault und weiß der Geier, was noch. Die nannten das „Eier nach Wahl“, bei den Mengen, die da verdrückt wurden, sah es mir eher wie „Eier vom Wal“ aus. Um 10:00 Uhr war „Smoketime“, die ganze Truppe rückte an und schlürfte Kaffee, den der Aufwäscher zu kochen hatte. Mittags volles Lunch-Programm mit drei Gängen, und das hatte gefälligst flott zu gehen, die Gang hatte nicht ewig Mittagspause. Nachmittags „Coffeetime“, wobei die Janmaaten nicht nur den bereitgestellten Kaffee weg pumpten, sondern sich noch zwischendurch ein paar Brote schmierten und in wenigen Minuten die gerade mal frisch gereinigte Messe wieder einsauten. Abends dann kalte Platten mit Wurst und Käse, und auf dass niemand den Hungertod erleide, gab es auch da eine warme Mahlzeit dazu. Mit entsprechendem Spülaufwand, vor 19:00 Uhr kamen wir nicht aus der Pantry. Wenigstens die erste Zeit nicht, gewisse Kniffe und Tricks musste man sich noch aneignen.

Noch in der Nacht nach meinem Einstieg legte die BURGENSTEIN in Bremen wieder ab und verholte nach Bremerhaven. Ich lag bereits in der Koje, als der ganze Kasten anfing zu vibrieren und zu grummeln. Ich sprang in die Hose und hetzte nach draußen, der in der gleichen Kammer nächtigende Uwe tippte sich an die Stirn. Dann stand ich an der Reling und war fast enttäuscht, wie unspektakulär alles ablief. Ein Greenhorn geht auf Reisen…

Am frühen Vormittag des Folgetages wurde das Schiff in der Hapag-Lloyd-Werft in Bremerhaven eingedockt.

MS BURGENSTEIN eingedockt

Man rechnete mit einer Woche Werftliegezeit, danach sollte der Dampfer in der Kanada-Große Seenfahrt eingesetzt werden. Umfangreiche Überholungsarbeiten standen an, für die Messbüddels machte das aber wenig Unterschied zum normalen Betrieb. Wir spülten, deckten auf, deckten ab, putzten Kammern und Gänge, und der Frischling hatte darüber hinaus alle Mühe, sich in dieser neuen und fremden Welt zurechtzufinden.

Möglichkeiten, Mist zu bauen, gab es in Hülle und Fülle, wie ich bald feststellte. Uwe hatte mich nach dem Mittagessen mit der „Fullbrass“ nach achtern geschickt. Das war ein ziemlich großer Kübel voller Speiseabfälle, die dort in eine Müll-Luke entsorgt werden sollten. Normalerweise wurden Abfälle aller Art damals einfach über die Kante gekippt, Umweltschutz war als Begriff noch weitgehend unbekannt. Nur für die Hafenliegezeiten gab es achtern einen Abfallraum, der dann später auf See wieder ausgespült wurde. „Bring den Schiet mal wech, achtern auf’m Poopdeck is ’so ’ne Klappe. Machste auf und feuerste alles da rein.“ So lautete mein Auftrag. Also Abmarsch mit der reichlich schweren Tonne, Niedergänge runter, übers Deck, Niedergang hoch (egal, ob hoch oder runter, an Bord ist jede Treppe ein Niedergang) und da war eine Klappe. Stand sogar schon offen. Ich holte gerade mit Schwung aus, da waren da unten Stimmen zu vernehmen. Kurzer Blick in die Luke, hoppla, da standen der Scheich und der Kabel-Ede fröhlich ins Gespräch vertieft. Das war nicht die Müll-Luke, sondern irgendein anderes Verlies. Wäre eine Superreise geworden, wenn ich den beiden den ganzen Abfall übers Haupt gekippt hätte.