Heideschulmeister Uwe Karsten - Felicitas Rose - E-Book

Heideschulmeister Uwe Karsten E-Book

Felicitas Rose

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Beschreibung

Der erfolgreichste und mehrfach verfilmte Roman der Schriftstellerin erzählt in Tagebuchform die Liebesgeschichte zwischen der Hamburgerin Ursula und dem Heideschullehrer Uwe. Als Ursula das erste Kind erwartet endet die Romanze aber tragisch ...

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Heideschulmeister Uwe Karsten

Felicitas Rose

Inhalt:

Felicitas Rose – Biografie und Biografie

Heideschulmeister Uwe Karsten

Vorwort

1.

2.

3.

Nachschrift des Heideschulmeisters Uwe Karsten Alslev

Heideschulmeister Uwe Karsten, F. Rose

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849634124

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Felicitas Rose – Biografie und Biografie

Deutsche Schriftstellerin, geboren am 31. Juli 1862 in Arnsberg, verstorben am 18. Juni 1938 in Müden (Örtze). Eigentlich Rosa Caroline Mathilde Emma Schliewen. Tochter eines Postbediensteten, der oft den Wohnort wechseln musste (u.a. Potsdam, Erfurt, Leipzig und Berlin). 1884 heiratet sie ebenfalls einen Angestellten der Post. Von 1914 bis 1930 lebte sie hauptsächlich in Berlin. 1930 zieht sie nach Müden, wo sie das „Haus Ginsterbusch“ gekauft hatte und gleichzeitig im Hotel "Kaiserhof" wohnte.

Wichtige Werke:

· Die Eiks von Eichen (1910)

· Drohnen (1912)

· Pastor Verden (1912)

· Meerkönigs Haus (1917)

· Das Lyzeum in Birkholz (1917)

· Der Mutterhof (1918)

· Der Tisch der Rasmussens (1920)

· Der graue Alltag und sein Licht (1922)

· Erlenkamp Erben (1924)

· Die Erbschmiede (1926)

· Der hillige Ginsterbusch (1928)

· Die Wengelohs (1929)

·

Vorwort

Das braune Heidekraut hat einhundertfünfzigtausend Blüten getrieben. Ist nun ein köstlicher, rosenroter Strauß geworden.

Er steht vor mir auf dem Schreibtisch, und all die lieben Worte, die mir die Stillen im Lande über mein schlichtes Buch schreiben und sagen, liegen wie ein leuchtender Teppich daneben. Habt Dank!

Ich fasse eure ausgestreckten Hände und wandre mit euch zum Jubiläumstag noch einmal durch die Heide.

Auf weichem, weißem, warmem Sand, oder mitten hinein in die rotsamtene Schönheit lagern wir uns. Da spüren es die Bresthaften, daß sie gesunden, die Wunden, daß sie heil werden, die Traurigen lernen das heilige Lachen, die Verbitterten fühlen die tröstende Liebe der allgütigen Mutter Natur.

Alle die Augen, vom Weinen wund, Trinken rasch sich hell und gesund, Bis sie wieder die Wunder sehn, Die in der Heide gebreitet stehn, Tausend Wunder, – vom Herrgottstisch Ausgeschüttet verschwenderisch.

Gegen all diese Wunder ist ja meine Sprache arm und matt, ich kann nur mit Menschen-, nicht mit Engelszungen reden. Aber die Liebe, die ja die »Größeste unter ihnen« ist, die Liebe zu meiner Heide trage ich zutiefst in mir, und deshalb ist euch wohl mein Schildern und Erzählen ins Herz gedrungen. Diese Gewißheit ist ein Geschenk für mich von unverlierbarem Wert.

Wollt ihr nun weiter mit mir wandern?

Aus Heidekraut, Heidesand, goldgelbem Ginster und grünen Birken führt der Weg zum Heidehaus.

Schaut es euch heute geruhlich an.

Sein Kleid ist neu und schier prunkhaft. Giebel, Wände, Fensterladen und Gartenzaun ganz frisch gestrichen.

Aber das Innere, das Herz des Hauses ist schlicht geblieben. Ich bitte euch, wollet weiter auf seinen stillen Schlag lauschen, und bleibet allzeit dem Uwe Karsten treue Weggenossen.

Berlin, 1920.

Die Verfasserin.

Immenhof, den 14. Oktober 19.. Heidehaus.

... und so bin ich fernab vom Weltgetriebe meine Straße gezogen und habe die Brücken hinter mir abgebrochen.

»Die Heide ist braun, Einst blühte sie rot. Die Birke ist kahl, Grün war einst ihr Kleid, Weh über den Herbst und die gramvolle Zeit.«

Der erste Tag in meiner neuen Welt. – Wunderlich ist mir zu Sinn. Dort verglüht das Abendrot über der braunen Heide, es duftet nach Birkenlaub und Erde.

Sechs Uhr abends. – Tiefe, wohlige Stille um mich. Und da die neue, selbstgewählte Heimat mich noch nicht ganz fest an ihrer Brust hält, vermögen es meine Gedanken, nach der alten Heimat zu schweifen. Doch ohne rascheren Herzschlag – losgelöst –, über dem Ganzen stehend, folgt mein »Ich« ihrem Fluge.

Ich denke ruhig: »Jetzt zündet in Hamburg, im alten Kaufmannshause Diewen und Heinsius, der Diener Kaspar die Lampen an. – Tante Renate, im knisternden schwarzen Taftkleid, wird, wie jeden Abend, aus ihrem eigenen Zimmer ins gemeinsame Wohnzimmer treten und die Karten zum Ekarté in der Hand halten. Und Onkel Eberhardt wird drei Minuten nach sechs Uhr aus der gegenüberliegenden Tür treten und gemessen fragen: ›Ei, ei, so pünktlich, liebe Renate?‹

So sagt er regelmäßig – seit siebenundzwanzig Jahren. So festgefügt ist das alles, so patriarchalisch, so – langweilig. Das heißt, das sagte ich – damals, als ich noch jung und daheim war. Mich dünkt es wie nebelgraue Vergangenheit, und 's ist doch erst ein Tag. Aber ein Tag in dieser wunderstillen Einsamkeit hat mir mehr gegeben, als Jahre in dem unsteten Treiben der Großstadt. Nun steht der Kreis, den ich verlassen, plötzlich ganz lebendig vor meinem geistigen Auge, daß ich ihn zeichnen muß, als waren es Bilder zu diesen Blättern.

Zu allererst meinen Lu-Bruder. Ludwig Diewen, der junge Chef des Handelshauses! Groß und schön, gescheit und gut, sechs Jahre älter und viel mehr im Geleise gehend als ich. Wir sind zwei Unzertrennliche, sind es noch, trotzdem die weite Heide sich zwischen uns legte.

Dann sehe ich Frau Sabine, die zweite Gattin meines verstorbenen Vaters, und ihre Söhne Friedrich und Otto, meine Stiefbrüder. Diese sind Schuljungen. Und alle, die sich augenblicklich in Frau Sabinens Zimmer versammelt haben, um zu arbeiten, zu lesen, zu plaudern oder Ekarté zu spielen, sie denken das insgeheim, was der würdige Onkel Eberhard jetzt ausspricht, mit tiefem Seufzer vor sich hinmurmelt, nämlich: ›Unsere arme Ursula ist verrückt geworden.‹

Aber die verrückte Ursula lacht in der Ferne befreit auf und denkt: ›Nur niemals zurück in jenen normalen Geisteszustand unseres Hamburger Patrizierhauses!‹ – –

Doch fliegt, ihr Gedanken, fliegt nur hin und wieder in die alte Enge und plaudert denen von mir, sagt ihnen, daß die Ursula das Lachen wieder gelernt hat, das lang vergessene, – gelernt von der braunen, lieben, herbstlichen Heide. Ein herbstliches Lachen freilich, aber um so stillender und heilender.

Ich war hinausgelaufen aus dem Hause mit seinem niederen, strohgedeckten Dach, war hingeflogen mit ausgestreckten Armen über die weite Heide. Hin zum weichen, weißen Sandweg, der, birkenumstanden, weit hineinführt in die dunkeln Fichten- und Kiefernwälder.

Und hier, unter einer goldglänzenden Birke, hatte ich mich niedergeworfen längelang in Heide und Sand und hatte laut geweint vor Heimweh – vor Heimweh nach der Heide, in der ich lag.

Ja, und weil ich doch einmal verrückt war, nach Ausspruch der zärtlichen Verwandten, lachte ich gleich darauf und entdeckte, daß unser Herrgott den ganzen Heideweg hatte für mich Spalier bilden lassen durch lauter patriotische Birkenpilzlein. Rotköpfig, weißstielig, schwarz gesprenkelt. Nahm sie mir alle mit, die kleinen Kerlchen, zum Abendbrot. Das bereitete mir die liebe Mutter Alslev, die Verwalterin meines Heidehauses. Sie wohnt im Altenteil, dicht angebaut an mein Heim, und ist meine Ehrendame. Eine liebenswerte Greisin und alte Vertraute meiner heimgegangenen Eltern. Unter ihrem und meiner Dienerin Minna Schutz will ich in der Einsamkeit ein neues Leben beginnen.

Heidehaus, den 17. Oktober.

Nun bin ich ganz fertig eingerichtet. Hab' Dank, Bruder Lu! Der von Dir so sorgfältig verpackte Möbelwagen schwankte besorgniserregend auf dem sandigen Pfade daher, aber endlich hielt er doch wohlbehalten hier an. Das Auspacken ging rasch und sicher, Deine geschulten Leute taten ihre Schuldigkeit.

Als sie ihr »Adjüs ok« gesagt hatten und das Heidehaus verließen, atmete ich hoch auf.

Es war das Letzte aus der »alten« Welt.

Adjüs ok! Adjüs.

Lu, jetzt bin ich allein.

Und doch nicht allein, ich habe eine stille, kleine Welt, habe den weiten Himmel, die weite Heide, habe den lieben Gott viel näher als in der Großstadt, und Dich, Bruder Lu, den ich liebhabe, viel fester in mir, und – ich habe mich selbst wiedergefunden. – Wie hell die hohe, schöne Lampe neben mir brennt! Lu hat das Prachtstück ausgesucht, und in dem Kämmerlein neben der großen Diele steht eine ganze Batterie Spiritusflaschen und Glühstrümpfe, Lu hat an alles gedacht.

Dafür hat auch sein liebes Gesicht den Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch.

»Wohl 'n Schatz?« fragte mich Mutter Alslev bedeutsam.

»Nein, nein! Es ist mein geliebter, einziger Bruder.«

Darauf nahm sie das Bild in die Hand, und ihre guten, alten Augen tauchten liebevoll in seine Züge.

»Wat 'n smucken Keerl«, meinte sie bewundernd.

Vor dem Bechsteinflügel stand sie nicht bewundernd, sondern kopfschüttelnd.

Wollte mir aber nicht sagen, weshalb. Erst als ich ihr eine perlende Etüde von Rubinstein vorspielte, kopfschüttelte sie nicht mehr, sondern nickte.

»Schon recht,« meinte sie, als ich geendet, »de witten Dinger sün wat rostig worn up de lange Reis', äwer nu sün se bannig glatt, – nu spelen Se mir ok wat Schöns. ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹, oder: ›Sleswig-Hols-tein s-tammverwandt‹.«

Gute Mutter Alslev! Meine rauschende Etüde war ihr nur als vorbereitendes Geräusch erschienen, um die Tasten »gangbor to maken«.

Ich kann im stillen Heidehaus noch viel lernen.

Heute habe ich gelernt, einen wichtigen Schritt in ein neues Leben mit einem Choral einzuweihen.

Den 18. Oktober.

Lange stand ich heute vor dem großen Ölbilde meines verstorbenen Vaters. Guter, herrlicher Vater! Du segnest mich und meinen Schritt, ich weiß es. Dein liebes Auge blickt mich heller an, seit ich wieder Ursula Diewen bin – und mich dünkt, dein ernster Mund lächelt sogar, seit du mich geborgen weißt unter diesem strohgedeckten Heidehaus.

Hier hast du die Flitterwochen mit meinem Mütterchen verlebt vor dreiunddreißig Jahren. Manchmal, – wenn die Mittagssonne auf der Heide ruht, und goldige Strahlen durch die Fensterscheiben auf den Fußboden fallen oder auf der getünchten Wand ein zitterndes Spiel treiben, dann ist's mir, als sähe ich lauter Geisterchen, liebe, kleine Gespenster, verlorene, vergessene, zurückgebliebene Heimchen am Herde eures einstigen wonnigen Glücks.

Wieviel sie mir zu erzählen wissen!

Ach, Herzensvater, was sehe und höre ich überhaupt alles in dieser wunderbaren Heide!

Riesen und Zwerge, Nebelfrauen und Alben, die gespenstische Birkenfrau und den Kiefernkönig. Sie alle holen mich ab und geleiten mich durch die weite, weite Heide bis zu dem Hünengrab, darinnen der Recke ruht. Und hier an dieser Riesenruhestatt erzählen sie mir wunderbare Sachen, Märchen, die ich einst von dir hörte, Märchen, wie sie sonst gute, seelisch reiche Mütter und Großmütter erzählen, und welche die Ursache sind, daß es so viele tiefe, leuchtende, lachende Kinderaugen in der Welt gibt – auch bei alten Menschen. Diese Augen alle tranken einst Märchenlicht, und das ist unauslöschlich.

Dank dir, mein geliebter Vater, daß du auch in meinem Aug' und Herzen dies ewige Lämpchen angezündet, so vermag ich nun alle die sagenumwobenen Gestalten zu erkennen und bin gut Freund mit ihnen geworden. Ja selbst die ganz winzig kleinen Heidegeisterchen sehe und spüre ich, die im Sommer in der rotleuchtenden Blütenglocke wohnen, und die jetzt im Herbst als fahle Gespensterchen auf den braunen, spinnwebüberzogenen Büschen hocken. O was die alles wispern und flüstern und seufzen und raunen, – heiß weinen kann man beim Zuhören und sich wieder halb totlachen, – zum Närrischwerden ist's.

Wollt' ich's weitersagen, – sie hielten mich alle für verrückt, nicht nur der gute, würdige Onkel Eberhardt.

Nein, nein, ich behalte es still für mich.

Könnte ich aber mein Erlebtes und Geschautes in Noten niederlegen, so würden die größten Musiker erstaunen und sprachlos stehn vor der gewaltigen Symphonie.

So wunderbar erhaben tönt's in der Heide.

O daß ich hier sein darf! Daß ich die Erbin bin dieses Hauses, dieses Herdes, dieser wonnevollen Einsamkeit!

Nie will ich aufhören, dir dafür zu danken, Herzensvater. Heute kamen die ersten Briefe aus der Heimat.

Nein, – nicht aus der Heimat, sondern in meine Heimat. Denn ich fühl's, die Stadt und mein Vaterhaus wollen mir fremd werden.

Ich sah erstaunt auf die Adressen und auf das verschieden geartete Papier. Alles so recht kennzeichnend für jeden einzelnen Absender.

Ludwig schrieb auf den einfachen, matt liniierten Bogen, welche er immer der armen Witwe im Artushof abkauft, – wie eigen berührte mich seine flotte, großzügige Handschrift, die da fest und schön »Fräulein Ursula Diewen« zeigte. Von Otto und Friedrich lagen Karten da mit der gleichen Aufschrift, inhaltlich nichtssagend und oberflächlich – wie die Briefschreiber selber.

Von der »Zweiten« – (ich kann nun einmal nicht Mutter sagen, auch nicht hier auf diesen verschwiegenen Blättern) war ein Brief da auf dickstem Büttenpapier, das Bürgerwappen unseres Hauses groß darauf gepreßt und – – – ich weiß genau, daß sie den Brief heimlich in den Kasten gesteckt hat, um mir ein tiefes Weh noch einmal anzutun.

Denn Ludwig würde es nimmermehr gelitten haben, daß sie an »Frau Ursula Heinsius-Diewen« adressierte. Da sie den Absender auf der Rückseite vermerkt hatte, so verweigerte ich die Annahme, und Heins, der alte Heidebriefträger, ging kopfschüttelnd mit dem Schreiben zur nächsten Postagentur zurück.

Frau Sabine soll mir so schreiben, wie es mir zukommt, sonst werde ich nie eine Zeile von ihr lesen.

Wie wild und hart du wieder schlägst, mein Herz!

Ich öffne das Fenster.

Wie die Birken rauschen! Wie die Föhren sich knisternd biegen im Herbstwind.

Der Mond lugt durch zerrissene Wolken.

Es ist unruhig in der Natur, ich höre das Herz der Heide schlagen.

Herrgott, gib mir Frieden!

Meine Hände falten sich.

Den 19. Oktober.

Gestern abend habe ich noch lange auf meinem Flügel – gerast, glaube ich. Mutter Alslev steckte bei einer besonders wilden Fantasie den weißen Kopf zur Tür herein und rief: »Is he all wedder verrost't?«

Der Herbstwind draußen war zum Sturm geworden, und mit ihm um die Wette ging mein Spiel.

Beethoven und Bach kamen in mein stilles Heidehaus und legten mir ihre Melodien hin und verschwanden wieder in der Sturmnacht.

Als ich den Flügel schloß, hörte ich sacht die Haustür des Altenteils gehen, das an mein Heidehaus angebaut ist; eine Hand schien das kleine Glockenspiel festzuhalten, es schrillte nur leise und heiser.

Ich trat rasch ans Fenster. Meine Diele war dunkel, man konnte mich nicht von draußen sehen.

Eine Gestalt ging über die mondbeschienene Heide, gespenstisch groß, als sei sie dem Hünengrab entstiegen, das sich in unmittelbarer Nähe meines Hauses erhebt.

Ein Mann.

Nach wenigen Schritten blieb er stehen, reckte sich noch höher auf und hob die Arme gegen den Himmel, daß seine gewaltige Brust sich wölbte. Dann ließ er die Arme sinken und winkte mit der Hand.

Wohin und wem?

Heidehaus und Altenteil, darin Mutter Alslev und der alte Knecht Hinrich hausen, liegen einsam, – ich hörte Mutter Alslev im Stall hantieren.

Und oben im zweiten Schlafstübchen schlief meine alte Kammerjungfer Minna den Schlaf der Gerechten.

Wem galt das Winken des fremden, seltsamen Gastes?

Das ist ein Segen der weiten Heide, daß sie so still, so gesammelt, so nachdenklich macht. Und daß sie soviel feine Fäden spinnt und alles und jedes damit verknüpft. Sie kennt keine Gleichgültigkeit, sie kennt nur Stärke und Kraft, und wenn sie träumt, dann träumt sie Liebe. Ich öffnete alle Fenster meines Zimmers weit und ging dann wieder zum Flügel. Beethoven ließ ich singen und sagen und ließ ihn Geleit sein dem fremden Manne über die weite Heide bis ins stille Dorf hinab.

Den 20. Oktober.

Heute früh lief ich zu Mutter Alslev.

Sie ist immer schon vor Tau und Tag auf.

Von vier Uhr ab höre ich sie herumwirtschaften.

Das werde ich auch wieder können, wenn mein Herz erst gesund ist und mein Körper so stählern wie einst.

Einen Maler hätte das Bild entzückt, das sich mir bot. Mutter Alslev in ihrer schlichten Sonntagstracht, die alte, silberbeschlagene Bibel mit den Riesenbuchstaben auf dem Schoße, die Hände gefaltet und das liebe, feinrunzlige Gesicht mit der klugen Stirn tief geneigt über das Gotteswort.

Durch das kleine Fenster, das von Kapuzinerkresse rot und grün umrankt war, schien die Herbstsonne, die Heidesonne, die Sonntagsonne. Goldenen Flimmer wob sie um die Greisin im dunkeln Tuchkleid.

»Guten Sonntagsmorgen, Mutter Alslev!«

»Auch soviel, Fräulein Ursula.«

Mutter Alslev spricht ein gutes Hochdeutsch, mit dem herzerquickenden Dialekt des Schleswig-Holsteiners anmutig verbrämt.

Sie hat in ihrer Jugend viel in feinen Häusern gedient, es war zu damaliger Zeit noch Sitte, daß die Kantoren und Organisten ihre Töchter dienen ließen. Das Bild ihres Vaters, ein echtes Pestalozzigesicht, hing über dem braunen Ripssofa und daneben sein Nachfolger, der Kantor und Organist Alslev, der verstorbene Gatte der Greisin. Zwischen beiden befand sich ein Kinderbild, ein Bub im Kinderkittel mit Pferdchen und Peitsche.

»Wer ist das Kind, Mutter Alslev?«

»Mien Jung!«

»Ist er klein gestorben?«

»Warum schall he dod sin?«

Ich schaute ringsum und entdeckte nirgends das Bild eines jungen Mannes.

Sie verstand meinen Blick und deutete auf das Kinderbild.

»So war he, mien Jung. Nur grad so in dem Kittel. Da hett he mi tohört.«

»Und jetzt, Mutter Alslev?«

»Jetz nich mihr. Jetz hört he to de annern.«

Ich schwieg ein Weilchen, es klang so unverständlich. Dann fiel mir der Abendgast ein und lebhaft fragte ich:

»Haben Sie gestern abend Besuch gehabt?«

»Besuch? Ne!«

»Ich sah jemand aus der Haustür gehen und über die Heide schreiten.«

»Das war kein Besuch, das war – mien Jung.«

»Wo wohnt Ihr Junge?«

»In Immenhof.«

»Und was ist er dort?« Mutter Alslev war sparsam mit ihrer Auskunft.

»Schulmeister.«

Wieder eine kleine Pause.

Danach hob die alte Frau langsam ihr Gesicht, klappte die Bibel zu, legte sie in den kleinen Eckschrank und stellte sich mit gefalteten Händen neben mich hin.

»Er hat die Musik so viel gern«, hob sie mit ihrer melodischen Stimme an, »und ist ja nun auch Organist, wie alle Alslevs und Karstens seit Menschengedenken. Aber so ein Instrument wie Ihres da drüben, Fräulein, hat er ja wohl noch nie gehört. Von da ab, wie Sie gestern anfingen, bis dahin, wo Sie aufhörten, hat er nur gesessen und vor sich hingestaunt, und getrunken hat er die Musik, geradeweg getrunken,«

»So, das freut mich!«

O über die nichtssagende Redensart! Ein häßliches Überbleibsel aus der Großstadt. So leid tat es mir, als ich sie ausgesprochen, und obschon Mutter Alslev dieses Gefühl in mir wohl nicht ahnte und kaum verstand, so nahm ich doch plötzlich ihre beiden Hände und drückte sie stark:

»Mutter Alslev, ich bin froh, ganz stark innerlich froh, daß ich einem Menschen etwas Gutes geben konnte.«

»Se sünd en godes Kind, Frölen, – mien Jung – – –«

Sie brach ab.

»Wird er mal wiederkommen, Mutter Alslev?«

»Wet ik ni. He is was minschenschu. Und dann sin Arbeit und sin Kind, un de Trunkenbold un de Drak – – ne, he kümmt woll ni.«

Sie ging an mir vorbei ihrer Arbeit nach, und ich schritt nachdenklich in mein Haus zurück.«

»Sin Kind un de Trunkenbold un de Drak« – – – welch tiefen Schatten warf dies Bild plötzlich auf meine sonnige Heide.

Meine Hand griff in die Bände meiner reichhaltigen Bücherei, – da hielt ich ihn schon, meinen Liebling: »Meine Heimat«, Heidelieder von Uwe Karsten. An meinem Konfirmationstag hatte mein Vater mir das Buch geschenkt, und zehn Jahre lang war es mein Wandergesell, mein Kamerad, mein Freund und Bruder gewesen:

»Du meine rote Heide – – – –! Grenzenlos Ist deine Schönheit, Die leuchtende. Grenzenlos deine Stille, Die träumende. Grenzenlos deine Macht, Die siegende. Grenzenlos, wie meine Liebe, Die sehnende, Zu dir, du meine rote Heide!«

Ich sang die Worte laut als Sonntagsmorgenchoral auf meiner großen, hallenden Diele und schrak zusammen, als ein großes Torfstück zu Boden polterte mitten in meine eigene urwüchsige Vertonung des Liedes hinein.

Mutter Alslev kniete vor dem großen Kachelofen und polsterte ihn inwendig sorgsam mit den braunen Kissen, die dann ein so warmes, heimliches, trautes Glühen ausströmten. Sie nahm jetzt verlegen das gefallene Torfstück und legte es zu den andern.

»Mutter Alslev, warum weinen Sie?«

»Mien Jung sin Book, mien Jung sin Leed« –

Und sie weinte bitterlich.

An diesem Sonntag vormittag erfuhr ich, daß mein Kamerad, mein Wandergesell, mein Freund und Bruder seit zehn Jahren Uwe Karsten Alslev war.

Den 21. Oktober.

Das Wetter ist plötzlich umgeschlagen.

Wo ist die Sonne hin? Tief und schwer breiteten sich am Vormittag die Nebel über der Heide, dann setzte der Regen ein und ein Sturm, der jetzt noch am Abend mein Heidehaus umtobt, als wollte er das ganze traute Strohdach abheben. Im großen Kamin, den mir Bruder Lu an Stelle des alten verräucherten Herdes hat setzen lassen, faucht und heult und stöhnt es. – Als ob alle Spukgeister der Heide dort gefangensäßen und sich um jeden Preis frei machen wollten.

Frei, wozu? – Um sich auf mich zu stürzen und mir eine angstvolle, schmerzliche Vergangenheit wieder lebendig vor Augen zu rufen?

Oh, ich brauche euch nicht!

Das, was mich in die einsame Heide trieb, ist noch lebendig genug in mir.

Und der heutige Tag rüttelt es wieder auf mit Allgewalt.

Denn heute jährt er sich wieder – mein Hochzeitstag. Und wieder wie damals schüttelt mich das Grauen, und wieder wie damals falten sich meine Hände in tiefstem, tiefstem Danke: »Herrgott, du tatest ein Wunder!«

Ein wildes Mädel war ich.

Kein Baum zu hoch, kein Graben zu breit, kein Junge zu wild, um mein Kamerad zu sein und gelegentlich Prügel von mir zu bekommen, – »Teufelskerl« nannten mich die Nachbarsbuben, und wie stolz war ich auf diesen Ehrentitel.

Aber wenn es schon für jedes Mädchen einigermaßen ungewöhnlich ist, unter der Flagge: »Teufelskerl« zu segeln, so war es für eine Hamburger Patrizierstochter aus dem Hause Diewen und Heinsius geradezu etwas Unerhörtes.

Jahrelang trat im Kaufmannshause das Interesse für Hausse und Baisse an der Börse zurück vor der bangen Frage, was wohl aus dem »Teufelskerl« einmal werden würde, diesem Unkraut im zierlichen, wohlgepflegten, tadellos regelmäßig gehaltenen Hausgärtlein Diewen und Heinsius.

Nach Gerichtssitzungen über mich saß ich sehr ungerührt auf dem schwarzen Ledersofa in Väterchens Kontor, schmiegte mich an ihn und fragte: »Warum wüten sie so herum, die Philister?«

Diesen Sammelnamen für unsere Verwandtschaft hatte Geerd Christiansen aufgebracht, ein Nachbarjunge und einziger Sohn und Erbe des Senators Christiansen.

Und wenn Väterchen sich verzweiflungsvoll durch die vollen Haare fuhr, dann fragte ich weiter:

»War's denn so schrecklich, daß ich die Straßenkinder ins Haus brachte und sie mal ordentlich wusch und badete und kämmte? 's waren doch nur sieben. Geerd Christiansen und Oluf Jensen und ich konnten doch nicht mit ihnen spielen; es war ja fürchterlich, Väterchen, wie schmutzig und – lebendig sie waren. Und wir brauchten sie doch notwendig, es war doch Krieg, und wir mußten Mannen zur Verteidigung haben.«

Nach solch einer, in heller Begeisterung vorgebrachten Beweisführung sah mich auch jedesmal mein Väterchen ganz glücklich an und rief: »Jawoll! Die brauchtet ihr ja denn woll auch! Sünd sie denn auch orrrnlich rain geworden, mien Deern? Und habt ihr fein gespielt?«

Hierauf folgte dann eine jubelnd frohe Schilderung unseres Spiels, und Vater wurde ordentlich jung beim Zuhören.

Wir waren immer so mit unsern Angelegenheiten beschäftigt, daß wir nie merkten, wenn Tante Renate hereintrat. Aber ich erinnere mich wohl, daß mein Väterchen sofort etwas verlegen wurde, sobald die lange, hagere, ungemütliche Figur auftauchte, und ich höre deutlich ihre scharfe Stimme:

»Diewen, Diewen, vergiß nicht, was du vorhattest. Du wolltest Ursula s-treng bes-trafen, jawohl, das hast du dir vorgenommen!«

Und dann erfolgte gewöhnlich eine Freiheitsstrafe, – die empfindlichste, die es für mich geben konnte.

Freilich saß ich sie in Vaters Kontor ab, in unmittelbarer Nähe des Gütigen, aber nicht ein einziges Mal sprach er dann mit mir, nicht ein einziges Mal sah er auf mich hin.

Jetzt weiß ich längst, warum.

Ich blickte ihn ja mit den großen Blauaugen meines toten Mütterchens an – da war er machtlos. Wie oft in jener Zeit habe ich ihn unbewußt auf harte Proben gestellt.

Dann kam ein Tag, da war ein großes Fest in der Kaufmannschaft. Die ganze Stadt war in freudiger Aufregung, alle namhaften Familien beteiligten sich daran. Ich wurde unter Obhut unserer alten Christiane gestellt, denn Vater und Tante Renate waren schon nachmittags fortgefahren im höchsten Staat, sie konnten vor Mitternacht nicht zurück sein. An diesem Abend geschah es, daß es in unserm uralten Hause, das in drei Jahrhunderten viel zu nüchtern für Gespenster gewesen war, plötzlich umging.

Aus jeder Kammer, aus jedem hohen Gemache und aus jeder dunkeln Ecke der riesigen Treppe, welche in die oberen Stockwerke führte, klang ein hohles Stöhnen und Seufzen, Türen öffneten und schlossen sich geheimnisvoll, und als die alte Brigitte den Diener Kaspar, das Faktotum unsres Hauses, im Namen der vor Angst vergehenden Köchin und der vor Gespensterfurcht schlotternden Hausmädchen, beauftragte, dem Spuk zu Leibe zu gehen, zitterte dieser brave Mann am meisten von allen.

»O Gottogott,« hatte Brigitte ausgerufen, »wenn der Kaspar dem Gespenst nich kriegt, hol' ich rain die klain Ursula aus dem Bett, die is ims-tande und geht ihm zu Laib.«

Leider kam dem Kaspar der glorreiche Gedanke, die Windfangtür, sowie die Extratür, welche an der Treppe angebracht war, abzuschließen und den Schlüssel einzustecken, anstatt die Gespenster zu reizen, und so geschah es, daß, als der Vater um Mitternacht mit Tante Renate heimkehrte, er auf der Hausdiele eine verschlafene, ganz verstörte Dienerschaft versammelt fand, welche die unerhörtesten Dinge von dem ehrbaren Kaufmannshause berichtete.

Nach Verlauf einer Viertelstunde aber zog man aus jeder dunkeln Ecke ein frostklapperndes, ziemlich zahmes Gespenst hervor; nur zwei Ausnahmen waren darunter: Geerd Christiansen wurde frech, als Tante Renate ihm eine schallende Ohrfeige verabreichte, und ich schlief fest auf dem gefährlichsten Eckchen am Treppengeländer.

»Warum tut ihr so etwas nie bei Senators oder beim Ratsherrn Jensen oder sonstwo, warum immer bei uns?« fragte mich Väterchen andern Tages in heller Empörung, und Tante Renate setzte hinzu: »Unser hochangesehenes Haus kommt in Verruf durch dieses entsetzliche Mädchen.«

»Aber, Väterchen,« entgegnete ich harmlos, »das können wir doch einfach nirgend anders tun. Da sind doch überall Mütter!«

Noch heute, nach all den langen Jahren, sehe ich den Blick, mit dem damals Tante Renate meinen Vater ansah, noch heute höre ich ihren schrillen Ton, mit dem sie ihm zurief: »Diewen, hörst du's?«

Und noch heute wieder beschleicht mich jenes lähmende Angstgefühl, das damals über mein Kinderherz kam, als Vater und Tante Renate, ohne noch ein Wort mit mir zu sprechen, ohne eine Strafe zu verhängen, rasch das Zimmer verließen.

Zwei Tage darauf sah ich Vaters »Braut« zum erstenmal, und nach drei Wochen war sie meine Stiefmutter.

In diesen drei Wochen, die zwischen der Verlobung und Hochzeit lagen, bin ich wohl wahrhaft ein Teufelsbub gewesen.

Einen Tag ungebärdig und wild zum Verzweifeln, dann wieder trostlos vor mich hinweinend. Ich kannte mich selbst nicht mehr.

Ich aß und trank nicht, magerte erschreckend ab und setzte jedem Zureden meines Vaters die flehenden, ungestümen Worte entgegen: »Tu es nicht, schick' sie fort, ich will gut werden.«

Daß Vater diesen Zustand ertrug, ist mir heute nur dadurch erklärlich, daß eben die Liebe über ihn gekommen war, die Liebe zu der schönen, kalten, viel jüngeren Frau.

Sie schickte er nicht fort, wie ich in kindischem Ungestüm erbat, aber mich.

Es war ein gewagtes Unternehmen und scheiterte auch demgemäß.

Ich wurde schwer krank – vor Zorn, vor Eifersucht und vor Heimweh.

Da kam Vater endlich, um mich heimzuholen, und als er mich erblickte, erschrak er so sehr über mein Aussehen, daß er kein Wort hervorbringen konnte, sondern mich nur stumm an sein Herz riß.

Von dieser gesegneten Stunde an war alles beim alten. Ich hatte ihn wieder und wußte, er würde sich nicht mehr von mir trennen, wenn ich es nicht selbst wünschte. Ich war so grenzenlos glückselig, als ich unser altes Haus in Hamburg wiedersah und alle die vertrauten Gesichter, daß ich selbst der »Zweiten« die Hand hinstreckte, die aber nicht genommen wurde.

»Du hast dich betragen – – –« lautete die liebliche Ansprache, »daß ich erst durch ein Jahr hindurch Besserung spüren muß, ehe ich dir die Hand gebe.«

So hatte sie bei mir verspielt.

Unmöglich wäre es mir gewesen, ihr je wieder die Hand zu reichen, so jung ich auch war.

Dann wurden die beiden Zwillingsbrüder geboren.

»Ursula ist nicht kinderlieb, sie darf nie zu den kleinen Engeln hinein«, bestimmte die Frau meines Vaters.

Und die Amme stieß mich fort, wenn sie mich um das Kinderzimmer herumlungern sah.

Mit verlangenden, hungrigen Augen stand ich sooft davor.

Kleine Kinder, hilflose Säuglinge waren ja das Herrlichste für mich, was es auf der Welt gab.

Endlich siegte doch meine Beharrlichkeit, stückweise eroberte ich mir das Feld, und schließlich war ich es, die, selbst noch ein kindisches Wesen, die Kleinen betreute und sie nur der Amme überließ, wenn sie hungrig waren.

»Kindsmagd,« sagte Lu verächtlich zu mir, »laß doch die fremden Bengels schreien, bis sie schwarz werden.«

Aber ich herzte und küßte die beiden Kleinchen so selbstvergessen und war so ganz von meinen neuen Pflichten eingenommen, daß Lu mich achselzuckend gewähren ließ, ja sogar manchmal bei mir saß und mich und die Kleinen unverwandt beobachtete. Denn die Heimlichkeit erhöhte den Reiz und die Amme verriet mich nicht.

Wurden die Kleinen nach Tisch offiziell herumgereicht, so sah ich sie mit keinem Blick, rührte sie mit keiner Fingerspitze an, und mit ebenem Gesicht hörte ich die beißenden Reden der »Zweiten«, die mich für abschreckend unweiblich, jeglichen weichen Gefühles bar hinstellte.

Dann strich wohl mein Väterchen über mein kurzes Lockenhaar, sah mir liebevoll in die Augen und fragte:

»Hat mein' Deern die süßen Jungs kein einmal lieb?«

»Nein, Papa.«

Nicht um die Welt hätte ich's eingestanden, daß es meine höchste Wonne war, still bei den Bübchen zu sitzen, ihre weichen Händchen zu fühlen und die krähenden Stimmchen zu hören.

Und die Amme verriet mich nicht, sie hatte zuviel freie Zeit durch meine Hilfe bekommen, außerdem war sie abergläubisch, und ich hatte ihr einen furchtbaren Eid abverlangt, von Geerd Christiansen und mir selbst entworfen, dessen Schlußformel lautete: »Breche ich je dieses Schweigen, so regne es Ratten, Mäuse, Himmel und Hölle, blutigen Mondschein auf mich herab.«

Nein, sie verriet mich nicht.

Und mein Vater ahnte wohl mit der Zeit den richtigen Zusammenhang, er bemerkte, wie oft sich die Ärmchen der Zwillinge verlangend nach mir ausstreckten, und wie die kleinen Fingerchen »ei ei« streichelten –«

Den 30. Oktober.

Es wird Zeit, daß ich einmal einen Vermerk in diese Blätter bringe, wann ich sie schrieb.

Es ist so totenstill rings um mich her, daß ich Zeit und Weile vergesse. Wie tut die Ruhe wohl! Wie andächtig stimmt dies tiefe Schweigen. Meiner guten, alten Minna ist die Stille auch recht, und ebenso unser beinahe ganz vegetarisches Essen, das sie schmackhaft zu bereiten weiß. Ich habe Lu gebeten, nicht täglich den Postboten mit Kisten und Körben ins Heidehaus zu jagen, – wir können beim besten Willen den Inhalt nicht vertilgen. Neulich habe ich aber die schönsten Äpfel, Birnen, Trauben und Bananen hinunter ins Schulhaus geschickt, die Kinder sollen gejubelt haben.

Vom Lehrer hörte ich nichts mehr.

Ich will auch diese Blätter erst ganz mit der Vergangenheit füllen, mir alles Leid völlig von der Seele herunterschreiben, dann einen dicken Strich unter alles setzen, neue Blätter – und ein neues Leben anfangen.

Das neue Leben soll »Ruhe« heißen, Ursula Diewens Heideruhe.

Unser altes Hamburger Haus umgibt ein großer parkartiger Garten. Darin steht ein geräumiges Gartenhaus, auch eine Art Altenteil.

Jahrelang hatte es leer gestanden, dann zog eine Frau Detleffsen mit ihrem Töchterchen herein, die Witwe eines Angestellten unserer Firma, der im Auslande bei einer Geschäftsreise an Malaria gestorben war. Wein Vater und Onkel Eberhardt überwiesen der Witwe das Gartenhaus frei zur Wohnung und sorgten für Mutter und Kind, Martha Detleffsen wurde meine Freundin.

Wurde es auf Befehl der »Zweiten«, die mir streng den Umgang mit Knaben untersagte; ich sollte von der sanften Martha Sanftmut lernen.

Im Anfang mißglückte dieser Versuch vollständig.

Ich tyrannisierte Martha und konnte ganz rabiat werden, wenn sie so träumerisch, aber widerspruchslos blieb.

Bis eines Tages das kleine, zarte, fast schwächliche Ding plötzlich den kläglichen Versuch machte, mich gegen drei starke, auf mich einstürmende, mich prügelnde Jungen zu schützen.

Arg zerschunden holte ich sie unter den Fäusten der Buben hervor, und nach Beendigung des Kampfes, den ich nun selbst zu bestehen hatte, und den ich mit Verlust sämtlicher Knöpfe an meiner Jacke siegreich ausfocht, schalt ich Martha gründlich aus.

»Du Jammerlappen«, schrie ich sie an. »Mische dich nicht in kriegerische Angelegenheiten. Du mich schützen!!«

Ihre Tränen wurden zum Geheul, das sich in den überraschenden Worten Luft machte: »Hochachten sollst du mich, Ursula! Oh, oh, oh, hochachten sollst du mich! Und das nächste Mal beschütz' ich dich wieder!«

Ich besah sie darauf von oben bis unten, reichte ihr meine Hand, die sie feurig ergriff, und bemerkte nachdrücklich:

»Ich werde dich zwar nicht hochachten, aber du darfst mich liebhaben.«

Von da ab waren wir Freunde.

Alles, was mir in meiner Familie fehlte, und das war vor allen Dingen die Mutterliebe, das fand ich im Gartenhaus.

Das hatte die »Zweite« aber nicht gewollt.

Sie hielt nur Erziehung für notwendig, aber keine Liebe.

Doch Frau Detleffsen gab mir beides in schlichter Weise, – sie gab mir Sonnenschein, und ich konnte immer noch ein paar Strahlen in das düstere Haus hineintragen und meinem Lu davon mitteilen.

Nun begann wieder ein Kampf, erbittert geführt von beiden Seiten, – hie Vorderhaus, hie Gartenhaus, und dazwischen sanfte Ermahnungen von Frau Detleffsen, scharfe, höhnische Zurechtweisungen der »Zweiten« und Spionage der Stiefbrüder.

Vater war in dieser Zeit ernst, beinahe gedrückt. Sein Herzleiden fing an, sich bemerkbar zu machen. Damit kam die Sorge über mein junges Herz.

Ich ging viel mit ihm spazieren, wir schlossen uns immer enger aneinander, und so durfte ich ihn auch auf acht Wochen nach Bad Nauheim begleiten, von wo er sehr erfrischt und verjüngt zurückkehrte.

Als mich aber daheim die alten, unerträglichen Zustände erwarteten, bat ich Vater, mich in Pension zu geben.

Er sah mich schmerzlich an, begegnete meinem ernsten Blick und stimmte mir zu.

Den 3. November.

Eben habe ich die letzten Seiten noch einmal durchgelesen.

Es klingt beinahe nüchtern geschäftsmäßig, was ich da gebucht habe. Hört jemand mein wildschlagendes Herz? Sieht jemand die Tränenspuren? Liest jemand das tiefe Weh zwischen den Zeilen?

Armseliges Papier, armselige Feder!

Meine Pensionszeit, sonst für junge Mädchen die seligste Erinnerung, war für mich ein Gemisch von strenger, gewissenhaftester Arbeit und tiefem, grausamem Heimweh.

Aber ich hielt aus. Vater besuchte mich, sooft er nur abkommen konnte, und die Briefe von Lu waren etwas Herzerhebendes.

Er arbeitete stramm, machte ganz unglaublich rasch sein Abiturium, diente sein Militärjahr ab und ging dann in unser indisches Zweiggeschäft nach Rangoon. Auf einen Tag kam er vorher nach Wiesbaden. Ich hatte die Genugtuung, daß sich alle meine Pensionsgenossinnen in ihn verliebten, er dagegen sagte mir in ehrlicher Bewunderung, daß ich ganz verteufelt hübsch geworden wäre, was ich halb glücklich, halb ungläubig anhörte, dann schieden wir nach einer sehr ernsten Unterredung. Wir wollten nach seiner Rückkehr aus Rangoon zusammenziehen und einen völlig getrennten Haushalt von der »Zweiten« führen.

In diesem Ausmalen der Pläne waren wir glücklich.

Den 4. November.

Ich wollte gestern fortschreiben und vermochte es nicht.

Die Vergangenheit, die ich jetzt schildern will, ist so furchtbar, selbst in der Erinnerung, daß ich oft mein Gesicht in brennender Scham in den Händen berge.

Rasch, rasch über alles hinweg. – Ich will zu schildern versuchen, als sei ich gar nicht dabei beteiligt, – werde ich's können?

Vier Jahre war ich in Wiesbaden, ein zärtlicher, geliebter Vater schloß mich bei der Heimkehr an sein treues Herz; traute, strahlende Wohnräume, ganz mir zu eigen, erwarteten mich und – die kalten, stahlharten Augen der »Zweiten«, um nichts gemildert während der langen Trennung.

So ging ich schon am ersten Abend meiner Heimkehr ins Gartenhaus, – fand dort eine sehr kranke, alte Frau, fand die wunderschöne Martha Detleffsen, meine treue Freundin, und sah ihn zum ersten Male: »Heinrich Heinsius.«

Er war immer im Ausland als Teilhaber der Firma gewesen, war mir bekannt durch seine Briefe an meinen Vater, die eine weibliche zarte Handschrift zeigten, über welche wir oft gelacht hatten. Er war ein kluger Kaufmann, ein liebenswürdiger Gesellschafter und ein hübscher Mann.

Ein hübscher Mann.

Wahrhaftig, ich kann schon objektiv über ihn urteilen. Hat sich das Wunder vollzogen? Bin ich gesund geworden? Heinrich Heinsius war nicht mehr jung.

Vierzig Jahre. – Ich sah zum ersten Male verehrungsvoll zu einem Manne auf, – meinen Vater hatte ich stürmisch, zärtlich lieb, er war mir der beste Kamerad.

Für Heinrich Heinsius »schwärmte« ich.

Er war anders als die Herren, die in mein Vaterhaus kamen, ein kluger Kaufmann, aber kein Zahlenmensch.

Er liebte die Poesie, versorgte mich mit gutem Lesestoff und warf oberflächlichen Kram aus meiner Bücherei heraus.

Jener »gute« Lesestoff behagte mir nicht immer.

Heinrich Heinsius war fromm, – aber er hatte nicht die lachende, frohe Frömmigkeit meines Vaters, der auch in Wald und Flur seine Andacht hielt, und eiferte oft mit meinem lieben Pastor Holle, der mich konfirmierte und seitdem ein Freund unseres Hauses ist.

Pastor Holles Lieblingstext ist: »Und abermals sage ich euch: Freuet euch.«

Auch meine Heidelieder wollte mir Heinrich Heinsius fortnehmen, aber das duldete ich nicht.

Die Heidelieder von Uwe Karsten standen als Schatten zwischen uns – und – die Hände von Heinrich Heinsius. Ich konnte seine Hände nicht leiden.

Alle schalten mich töricht. Nur er selbst nicht.