Kerlchen wird vernünftig - Felicitas Rose - E-Book

Kerlchen wird vernünftig E-Book

Felicitas Rose

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Beschreibung

Wie es im Leben von Kerlchen weitergeht ... Die liebe Sonne machte von ihrem alten guten Rechte, über Gerechte und Ungerechte zu scheinen, heute ausgiebigen Gebrauch. So ein recht warmer Apriltag wars, auf welchen diesmal der Palmsonntag fiel, den die Schwarzhausener zur Konfirmation ihrer Söhne und Töchter bestimmt hatten. Man kam vor Hitze beinahe um, trotzdem hatte jede Konfirmandin ihr neues »Schakett« an, nach dem Sprüchwort: »Hoffart muß Zwang leiden.« Eine Ausnahme machten zwei Kinder, die Älteste der Waschfrau Engelke, die überhaupt kein »Schakett« besaß, und Kerlchen, die es ausgezogen hatte, um »natürlich« wieder etwas Besonderes vorzustellen, wie Frau Kanzleirätin Pfotenhauer leise ihrer Tochter Dingelmann in Firma Schnabel und Sohn zuraunte. »Wie gesucht einfach die Oberstentochter heute aussah!« kritisierte die Kanzleirätin innerlich weiter. Und sie sollte doch von dem jungen Fürsten eine kostbare Brosche bekommen haben. Das Kleid war geradezu lächerlich einfach gemacht, und der Stoff war wohl auch nicht viel wert, da er nicht von Schnabel und Sohn, sondern von auswärts stammte. Das schmale, goldene Kettchen, an dem ein altmodisches Herzchen hing, sah nach »garnichts« aus, es war ein altes Erbstück, mit dem wahrhaftig nicht viel Staat gemacht werden konnte, aber Kerlchen streichelte in einer ihm selbst ganz wunderlich scheinenden weichen Regung das Schmuckstück unauffällig: Großtante Hermine hatte es einst getragen, die heute so sehr, so schmerzlich vermißt wurde. ...

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Kerlchen wird vernünftig

Kerlchen wird vernünftigKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Impressum

Kerlchen wird vernünftig

Aus der Romanreihe "Kerlchen" – Band 4

Felicitas Rose

Kapitel 1

Die liebe Sonne machte von ihrem alten guten Rechte, über Gerechte und Ungerechte zu scheinen, heute ausgiebigen Gebrauch. So ein recht warmer Apriltag wars, auf welchen diesmal der Palmsonntag fiel, den die Schwarzhausener zur Konfirmation ihrer Söhne und Töchter bestimmt hatten. Man kam vor Hitze beinahe um, trotzdem hatte jede Konfirmandin ihr neues »Schakett« an, nach dem Sprüchwort: »Hoffart muß Zwang leiden.« Eine Ausnahme machten zwei Kinder, die Älteste der Waschfrau Engelke, die überhaupt kein »Schakett« besaß, und Kerlchen, die es ausgezogen hatte, um »natürlich« wieder etwas Besonderes vorzustellen, wie Frau Kanzleirätin Pfotenhauer leise ihrer Tochter Dingelmann in Firma Schnabel und Sohn zuraunte.

»Wiegesuchteinfach die Oberstentochter heute aussah!« kritisierte die Kanzleirätin innerlich weiter. Und sie sollte doch von dem jungen Fürsten eine kostbare Brosche bekommen haben. Das Kleid war geradezu lächerlich einfach gemacht, und der Stoff war wohl auch nicht viel wert, da er nicht von Schnabel und Sohn, sondern von auswärts stammte. Das schmale, goldene Kettchen, an dem ein altmodisches Herzchen hing, sah nach »garnichts« aus, es war ein altes Erbstück, mit dem wahrhaftig nicht viel Staat gemacht werden konnte, aber Kerlchen streichelte in einer ihm selbst ganz wunderlich scheinenden weichen Regung das Schmuckstück unauffällig: Großtante Hermine hatte es einst getragen, die heute so sehr, so schmerzlich vermißt wurde.

Noch jemand ärgerte sich beinahe »schlagrührend« in der Kirche, das war Fräulein Emerenzia. Zuerst darüber, daß der junge Fürst nicht selbst zur Konfirmation von Felicitas erschienen war; der Oberst, in seiner Sorge um die Gesundheit Fürst Elimars, hatte ihn gebeten, im wärmeren Klima zu bleiben, ohne auch nur zu bedenken, welcher »Lustre« dadurch der ganzen Feier verloren ging. Zweitens war es sehr ärgerlich, daß Kerlchen es sich ausgebeten hatte, mit der Tochter der Waschfrau Engelke zusammen vor dem Altar zu knien, weil sich sonst niemand zur Partnerin des ärmlich gekleideten Mädchens hergab, – und der Oberst hatte natürlich in seinen volksbeglückenden Ideen dem unverständigen Kinde beigestimmt. Suse Engelke sollte heute sogar Gast bei Oberstens sein, weil Krankheit im Hause der Waschfrau herrschte, die jede Feier verbot. Also Tante Emerenzia ärgerte sich, und die Kanzleirätin ärgerte sich, und die liebe Frühlingssonne ärgerte sich auch über die Mißgünstigen. Sie warf ihre Strahlen zuerst so grell in die Augen der beiden Damen, daß sie Kopfschmerzen bekamen und immerfort blinzeln mußten. – Dann wandte sie sich plötzlich ab und wob ein Strahlenkränzchen um Kerlchens Kopf, das eben mit Suse Engelke vor dem Altar niederkniete und seinen Spruch empfing: »Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«

Der Oberst atmete tief auf und griff mit der Hand rasch nach der Stelle, wo das eiserne Kreuz saß, Onkel Liskow sah ihn besorgt an, fing aber einen beruhigenden Blick auf. Und dann war die Feier vorbei, die jungen Mädchen schritten paarweise unter hallendem Orgelklang aus der Kirche, und Frau Oberst Schlieden kam es so vor, als husche ein Sonnenstrahl noch einmal liebkosend zu ihrem Kerlchen hin. Als sie den tränenumflorten Blick von ihrem Kinde abwendete, traf er ein anderes Augenpaar, das Fritz von Rumohr gehörte. Der stattliche einjährig-freiwillige Artillerist nickte ihr ernst zu; es war, als ob er verstände, was in ihr vorginge. Sie hatten ihn alle lieb, den klugen, strebsamen Menschen, der solch' eine harte Schule durchgemacht, und nun mit seinen dreiundzwanzig Jahren schon ein ganzer Mann war. Herzliche Freundschaft verband ihn mit Erich, ihrem blühenden Jungen, der heute zum Ehrentag seines Schwesterchens zum ersten Mal in Leutnantsuniform erschienen war. Fritz und Erich traten jetzt gemeinsam auf sie zu, um sie hinaus zu geleiten, denn schon erhoben sich alle von ihren Sitzen, um das Gotteshaus zu verlassen, aber Schlachter Krone versperrte ihnen den Weg, er stand breit und gewichtig vor Kerlchens Mama, schüttelte ihr die Hände und wollte so gern etwas Liebes über das Kerlchen sagen, brachte aber vor Rührung nur die übermäßig laut gesprochenen Worte hervor: »Ich hoffe, der Hammel wird gut«, womit er den Festbraten meinte, der Oberstens Tafel zieren sollte. Draußen vor der Kirchtür sahen sich alle vergeblich nach Kerlchen um, und Suse Engelke berichtete schüchtern, daß Felicitas schon nach Haufe gelaufen sei, was Fräulein Emerenzia »shocking« fand. Wirklich, Kerlchen stand bereits auf der Terrasse, schlang die Arme innig um sein zartes Mütterchen und rief: »Wein' doch nicht, mein süßes Muusch, ich bin ja nicht tot und begraben, sondern bloß konfirmiert, es tut nicht weh.« Aber Kerlchen renommierte ein bißchen, es tat doch weh. Sie hatte ganz scheu an sich heruntergesehen, als das lange schwarze Kleid ihr angezogen wurde, und hätte es gern für »einfach scheußlich« erklärt, wenn nicht ihr liebes Muusch selbst daran genäht hätte. Auch hatte es bitter weh getan, die dreiundzwanzig Puppen wegzupacken, wozu ihr die Mama liebevoll geraten hatte; die vierundzwanzigste, – Puppe Emmy ohne Kopf – wurde auch mit trotzigem Aufschluchzen dem Massengrabe wieder entrissen und in eine kleine Extrakiste gelegt, die man nicht zunagelte, sondern in ein Eckchen schob, wo kein fremdes Auge sie entdecken, und von wo man sie doch wieder leicht hervorholen konnte. Kerlchen wäre heute sehr gern allein geblieben, hätte sich am liebsten sein altes kurzes Feld-, Wald- und Wiesenkleid angezogen, in seinem Stübchen herumgekramt und »seinen Nachlaß geordnet«. Suse Engelke war recht langweilig und benahm sich so schüchtern in dem unbekannten, feinen Hause, daß mans ihr ansah, es war ihr keine große Wohltat mit der Einladung erwiesen worden. – Aber Kerlchens rasches Temperament hatte nun einmal A gesagt, als gestern sämtliche Konfirmandinnen sich achselzuckend von der ärmlich gekleideten »Waschsuse« abgewendet hatten, so sagte sein mitleidiges Herz heute auch B; es nahm noch vor Tisch Suse mit sich hinauf in den »Jungfernzwinger«, wie der Oberst das duftige Mädchenstübchen nannte. Dort kramte es fleißig herum, ordnete hier und da, und Suse verließ schließlich mit einer kleinen Ausstattung unter dem Arm das gastliche Haus. Der Bursche Franz aber wurde von Kerlchen gebeten, »dieses da« rasch und still auf den obersten Boden zu schaffen, und der biedere Thüringer besah sich höchst verwundert und erschrocken die Puppenkiste, auf welche mit Tinte ein mächtiges Kreuz gemalt war, und in Riesenbuchstaben stand darunter: »Im Falle meines plötzlichen Todes von meinen Erben zu erbrechen!«

Still schlich Kerlchen die Treppe hinunter, es trat nicht in den Salon ein, aus welchem Lachen und lautes Sprechen tönte, sondern ging in Vaters Zimmer, wo die Geschenke aufgebaut waren und besah sich alles noch einmal seufzend und kopfschüttelnd. Da lag die kostbare Brosche vom jungen Fürsten, aber nur wenige Zeilen waren beigefügt, nur ein kurzer, wenn auch sehr herzlicher Glückwunsch. Kerlchen zog die Stirn in tiefe Falten, – oh wenn es an die lieben Briefe von ehemals dachte: »Mein geliebtes Kerlchen! Dein treuer Li!« Und nun: »Liebe Felicitas! Ihr herzlich ergebener Freund Elimar, Fürst von so und so!«

Ja, so hatte es der Papa gewünscht vor fast einem Jahr, und seitdem schrieb der Li nur ganz kurz und äußerst selten. Es war nicht schön, groß zu werden und lange Kleider zu bekommen, man war »beinahe« nicht mehr Kerlchen. Damit aber dieses »Beinahe« wenigstens Berechtigung hatte, bohrte Kerlchen mit seinem Zeigefinger sämtliche Thüringer Kräpfel an, die Dorette zur Feier des Tages gebacken hatte, – sie lagen locker und hoch aufgetürmt auf einer Schüssel inmitten des Festtisches. Der Schluß der eingehenden Prüfung ergab, daß Dorette abwechselnd Pflaumen- und Apfelmus verwendet hatte und abwechselnd leckte auch Kerlchen seinen Musfinger ab.

Der liebe Onkel Geheimrat hatte die heißersehnte Uhr gestiftet, Onkel Liskow die Kette dazu, Erich hatte ein »Tagebuch« gekauft, da aber Kerlchen sein altes, dickes Tagebuch unermüdlich weiter führte und sehr liebte, so beschloß es, unter dem Gelächter der Umstehenden, das neue Buch für »seine zukünftige Tochter« aufzuheben. Fritz von Rumohr hatte ein sehr sinnig zusammengestelltes Herbarium angelegt, ein großes, schön gebundenes Buch, worin jede Seite den Namen einer Stadt oder eines Dorfes trug, darin Kerlchen früher einmal geweilt, und aus jedem Städtchen und Dörfchen waren Blumen und Blätter gepflückt und sauber gepreßt worden.

»Du bistsehrgut, Fritz,« hatte Kerlchen ihm gesagt und kräftig eingeschlagen in seine große, gebräunte Hand.

Tante Emerenzia hatte etwas »Fürchterliches auskalmüsert,« wie Kerlchen sich ausdrückte und ihm dies Fürchterliche mit einer Salbungsrede überreicht:

»Gott möge in dir den Sinn für Ernstes, für Notwendiges und Praktisches immer mehr wecken, dich sittlich immer vollkommener machen.«

Sie hatten alle sehr unbehaglich auf das Riesenpaket geblickt, welches Kerlchen in die abwehrenden Arme gelegt worden war und dann mit Spannung zugesehen, wie Tante Emerenzia den Bindfaden aufknotete und schließlich ein Dutzend Handtücher zum Vorschein brachte.

»Wenn du dich verheiratest, Felicitas!«

Der Oberst hatte sich stark geräuspert und Onkel Liskow mit einem leichten Erstickungsanfall gekämpft, Kerlchen aber hatte ganz vergessen zu danken und sehr erschrocken ausgerufen:

»Ach, Tante Emerenzia, das hat doch noch Zeit und ein Dutzend ist ja viel zu viel. Wenn ich mal heirate, schickt mir Muusch schon alle Mittwoch und Sonntag ein reines Handtuch!«

Na, damit hatte es natürlich wieder angeeckt und sollte gleich nach Tische Tante Emerenzia um Verzeihung bitten, was ihm gar nicht recht paßte, Kerlchen seufzte wieder tief, es wäre am liebsten garnicht zu den andern gegangen, aber sein Hunger war zu groß, und dies Faktum hatte schon am frühen Morgen Anlaß zum Ärger gegeben.

»An solch' heiligen Tagen sollte ein Mädchen niemals viel essen«, hatte Tante Emerenzia erklärt, und während Kerlchen dann Toilette machte, eine lange Geschichte von einemwirklichfeinen, adligen Mädchen erzählt, das am Hochzeitstage auch nicht einen Bissen zu sich genommen hätte, »vor lauter Ergriffenheit, Vornehmheit, Scheu und Bildung.«

»Phhh,« hatte Kerlchen mit beiden Backen kauend erklärt, »ich bekomm grad vom »Ergriffensein« Hunger und auf meine Hochzeit freu ich mich überhaupt nur wegen des Futterns.«

Dieser Ausspruch wurde auch durchaus an der Mittagstafel bestätigt, Kerlchen aß »für drei«. Zum Glück war der Schwarzhausener Seelsorger, welcher der Einladung zu Tisch gefolgt war, nicht nur ein echter Pfarrer, sondern auch ein echter Mensch, der dem Kerlchen von seiner Taufe an ein warmes Interesse entgegenbrachte und mit aufrichtiger Herzensfreude wahrnahm, zu welch' frischem, natürlichem, kerngesundem Persönchen sich das Provinzmädel entwickelte.

So legte er auch heute der Konfirmandin selbst die besten und größten Stücke auf den Teller, mit dem ermunternden Zuruf: »Essen und Trinken hält Leib und Seel' zusammen.«

Das verächtliche Nasenrümpfen von Fräulein Emerenzia bemerkte er nicht, oder wollte es nicht bemerken, er dankte innerlich seinem Schöpfer, daß er behaglich in Schwarzhausen unter schlichten, lieben Menschen saß und nicht »Hofprediger« geworden war, wie es der alte Fürst früher gewünscht.

Nach Tisch blieb der Kreis so recht urgemütlich beisammen. Der April hatte sich auf sich selbst besonnen, Frau Sonne, nachdem sie am Vormittag reichlich ihre Pflicht getan, sich zurückgezogen, und nun jagte der launische Monat einen Hagelschauer nach dem andern gegen die Spiegelscheiben der Villa, und Johann legte Buchenscheite in den Kamin, die bald eine köstliche Wärme verbreiteten und glutroten Schein über das traute Zimmer warfen.

Ganz still saßen die Anwesenden und schauten in das leise knisternde Feuer. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Johann wollte den Kronleuchter anzünden, aber sie winkten ihm alle erschrocken ab und lehnten sich noch tiefer in ihre behaglichen Sessel zurück.

»Wo ist Kerlchen?« fragte der Oberst plötzlich und suchte mit den Augen umher, Fritz von Rumohr erhob sich gleichzeitig, um Felicitas zu holen. Aber da legte auch schon der Pfarrer bedeutsam den Finger an den Mund, still blieb Fritz an dem Rahmen der zum Musikzimmer führenden Flügeltür stehen, und nun klangen Akkorde herüber. Weich und zart quollen die Töne aus dem herrlichen Flügel, reihten sich perlengleich aneinander, rollten hin und her in neckischem Spiel, verdichteten sich wieder zu ernsten, schweren Akkorden, die so fest und energisch an das Ohr der Lauscher schlugen, als könnten sie niemals von einer kleinen Mädchenhand hervorgerufen sein. Und in der ganzen schlichten Phantasie lag neben jauchzenden, stürmisch jubelnden Kinderlauten ein ernstes Sinnen, eine leise, bange Frage, die immer wiederkehrte, und aus wehmütigen halben Noten, Septimenakkorden und kleinen herben Dissonanzen hervorlugte. Aber dann klang alles beruhigend aus, es war, als wollte die junge Spielerin heut' an dem schönen Tage auch nicht den leisesten Mißton hoch kommen lassen, ganz sacht verwebte sie bekannte Laute in ihr Tonbildchen, das Lieblingslied ihres Vaters, das ihr heute wie ein fester Zufluchtsort aus allen ungelösten Fragen dünkte:

»Ich weiß mir etwas liebesAuf Gottes weiter Welt,Das stets in meinem HerzenDen ersten Raum behält.Kein Freund und auch kein LiebchenVerdränget es daraus:Das ist im VaterlandeDas teure Vaterhaus.«

»Kerlchen!« rief der Oberst leise und zärtlich in das Dunkel des Nebenzimmers, aber man hörte als Antwort nur sacht die Tür ins Schloß fallen. »Soll Felicitas dieses herrliche Talent nicht verwerten?« fragte Pfarrer Hollein leise, »sollte aus diesem echten Menschenkinde Kerlchen nicht auch ein echter Künstler werden?«

»Nein, nein!« unterbrach ihn der Oberst hastig. »Nicht, daß ich echtes Künstlertum unterschätzte,« fügte er begütigend hinzu, »hätte mein Junge ein hervorragendes Talent und wahrhafte Neigung dazu – – ich würde ihn ziehen lassen, – aber Kerlchen – unser Kerlchen« – – –

»Das fehlte noch,« eiferte Tante Emerenzia. »Eine Schlieden auf der Bühne! Ich begreife Sie nicht, Herr Pfarrer!«

»Nun, nun,« beschwichtigte der Pfarrer, »sie soll ja nicht Ballett tanzen, – verkleinern Sie mir die hehre Kunst nicht, mein verehrtes Fräulein! Es ist etwas Göttliches um die Musik, und eine hohe und schöne Aufgabe, mit dem Pfunde zu wuchern, das uns verliehen ist, etwas herrliches, Tausenden von Mitmenschen Sonnenschein zu geben – –«

Pfarrer Hollein redete sich in Feuer, brach aber plötzlich ab, denn Fräulein Emerenzia sah ihn strafend an. Augenblicklich danktesiedem Schicksal, daß dieser Mann nicht Hofprediger in Amalienlust geworden war.

Onkel Liskow war schon eine Weile unbehaglich auf seinem Sitz herumgerutscht. »Ich meine, das Frauenzimmerchen soll heiraten,« sagte er jetzt in seiner derben, gemütlichen Art. »Dann kann sie ihrem Manne später vorspielen, so viel sie will, und das schöne Talent ihren vierundzwanzig Kindern vererben, die sie sich ja so sehr wünscht. Fallen Sie nicht in Ohnmacht, gnädiges Fräulein, es ist doch nun mal wahr.«

Fräulein Emerenzia fächelte sich erregt Luft zu, der Pfarrer lächelte still vor sich hin. Oberst Schlieden faßte die Hand seiner Frau und streichelte sie sanft. Fritz von Rumohr und Erich hatten gleich nach Kerlchen das Zimmer verlassen, man hörte ihre elastischen Schritte auf der Veranda hin und her gehen.

»Das alles hat ja noch gute Wege,« unterbrach der Oberst das plötzlich eingetretene, etwas peinliche Schweigen. – »Ich hoffe, unser Herrgott wird mich noch ein Weilchen mittun lassen, damit die teuren Stunden bei Johannsen weiter bezahlt werden können, die unserm Kerlchen so viel Nutzen und Anregung bringen.«

»Ist Meister Johannsen ein hiesiger?« fragte Onkel Liskow.

»O nein, er war in früheren Zeiten Klosterorganist in irgend einem kleinen, holsteinischen Städtchen und ist auf einer gelegentlichen Thüringer Reise hier »hängen geblieben,« erzählte der Oberst. »Er konnte sich nicht von unserer herrlichen Orgel trennen, auf der noch Johann Sebastian Bach gespielt hat, und die unser alter Fürst mit großen Kosten umbauen ließ. Johannsen ist ein Original, ein Gelehrter der alten Schule, mit feinstem Verständnis für alles Gute und Schöne in der neueren Musik. Wunderbar gut spielt der alte Mann, ich hab oft mit Kerlchen unter der Linde gestanden, die sein kleines Haus beschattet, und ihm zugehört. Kerlchen hatte es sich nun mal in den Kopf gesetzt von ihm unterrichtet zu werden, da ging ich denn eines Tages hinein zu ihm.

Das heißt, ich versuchte es. Aber ein Drache stand in der Tür, in Gestalt eines zahnlosen, spitznasigen, triefäugigen Weibes, der richtigen Pfefferkuchenhexe, die mir in keifenden Lauten erklärte, daß Herr Johannsen überhaupt mit niemand spräche, als mit ihr, niemals das Haus verließe und auch niemand Unterricht erteile. Ich verließ schleunigst die ungastliche Schwelle, und nach meinem Bericht war Kerlchen so kreuzunglücklich und niedergeschlagen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Na, es war aber nichts zu machen, und wir wollten schon in den sauren Apfel beißen, Kerlchen wöchentlich ein- bis zweimal nach Weimar reisen zu lassen, was uns allen sehr gegen den Strich war. Unser guter Lehrer Voorde hatte erklärt, daß das Mädel ihm in der Musik bereits »über« sei, außerdem erhielt er ja den ehrenvollen Ruf vom Grafen Achterwehr-Westensee, sein Begleiter auf einer Forschungsreise zu sein, – kurz, Frau Musika schien hohe Opfer von uns fordern zu wollen. Da kommt eines Tages das Kerlchen hereingestürmt, atemlos, zerzaust, heiß, und ruft: »Papa, sechs Mark will der alte Johannsen für eine Stunde haben, – darf ich?«

»Ich war ganz baff,« fuhr der Oberst fort, hellauflachend in Erinnerung an jene Stunde, »und da erzählte denn das Mädel ganz aufgeregt, wie alles gekommen. Sie hatte wieder mal ganz verstohlen dem Spiel des alten Sonderlings zugehört und war zu diesem Zweck auf die Linde geklettert, von wo aus sie das Zimmerchen und den Spieler überschauen konnte. Der alte Johannsen hat gerade nur so in einer Bachschen Fuge herumgewühlt und Kerlchen geschwelgt beim Lauschen, da poltert die Wirtschafterin ins Zimmer, was der Alte auf den Tod nicht leiden kann, und er schließt auch richtig mit einem grellen Mißakkord. In diesem Augenblick ruft Kerlchen selbstvergessen und wütend aus der Linde: »Zum Donnerwetteraces!« und der Alte hat seinen Zorn vergessen und starrt wie verzückt auf unsern Kobold, lotst das Kerlchen herunter, läßt sich die Bachsche Fuge von ihm vorspielen, küßt es rundum ab, wie Kerlchen schaudernd berichtet, und es muß ihm haarklein seinen Lebenslauf erzählen. Nun gibt er ihm wöchentlich zwei Stunden, läßt mich ungerührt zwölf Mark berappen, und leistet dafür auch Ungeheures, Ihr habt ja gehört, was er aus dem Kerlchen gemacht hat.«

»Er ist ein Ehrenmann«, setzte der Pfarrer warm hinzu. »Ich wollte, wir hätten noch mehr solche Originale in Schwarzhausen. Ich gehe hin und wieder zu Meister Johannsen, nur Speise und Trank nehme ich nicht von ihm an, aus Angst, seine liebenswürdige Wirtschafterin könnte etwas hineingetan haben, um uns los zu werden; sie soll ja wütend über das veränderte Leben ihres Herrn sein«.

»Ein wunderbares Geschichtchen«, lachte Onkel Liskow, »es sieht unserm Hauptkerlchen ähnlich. Aber wo steckt es denn eigentlich, wir müssen doch wohl an Licht denken«.

Frau Oberst Schlieden, die ganz still dem Gespräch der Männer gelauscht hatte, erhob sich in ihrer ruhigen, geräuschlosen Art und klingelte dem Diener. Erst als Johann den Kronleuchter hell entflammt hatte, sah man leichte Tränenspuren auf ihrem feinen, aristokratischen Gesicht. »Wieder mal Schmerzen, Altchen?« fragte der Oberst zärtlich.

»Nein, Liebster, – nur Gedanken!« entgegnete sie leise und strich ihm über das volle braune Haar, durch das sich ein schneeweißer Streifen zog.

Der helle Lichtschein, welcher vom Zimmer nach der dunklen Veranda geflutet war, lockte auch die Jugend wieder herein. Fritz, Erich und Kerlchen traten zusammen in den Salon.

»Wollt Ihr noch etwas hören,« fragte Kerlchen rasch und fröhlich, küßte der Mutter die Hand und schmiegte sich eng an den Vater. »Fritz hat ein Konzert von Spohr, das ich vom Blatt spielen soll, darf ich?«

Aber ehe sie auf die fröhliche Bejahung aller hin die Noten zurechtstellte, flüsterte sie rasch dem Oberst ins Ohr: »Väterchen, ich hab Vorsätze gefaßt, richtige, dolle, unumstößliche Vorsätze, es ist doch ein schnurriger Tag heute, du sollst sehen, ichwerdenoch!«

Der Oberst drückte sein Kerlchen fest ans Herz, aber er sagte nichts, er sah ihm nur zärtlichen Blickes nach, wie das Mädel in dem ungewohnten, schwarzen Kleide davonhuschte, mit kühnem Satz über die Schwelle sprang, als gelte es, einen Graben zu nehmen, und gleich darauf so fest und sicher mit ernsthaften Augen den Noten folgte, zur rechten Zeit einsetzte und mit ihrem Partner, der seine Geige vollkommen und meisterhaft beherrschte, ein wundervolles Tongemälde entrollte. Und mitten in dem Gewoge der Töne, die eines echten Meisters Herz und Kopf entsprungen, hing jeder der Mitwirkenden und Hörer seinen eigenen Gedanken nach, die sich doch im Grunde um ein und dasselbe drehten.

»Ich will gut werden«, dachte Kerlchen, während seine Hände eine Fermate aushielten und aus der Amati des Fritz von Rumohr ein wahrer Goldregen reiner Harmonien sich ergoß. »Ich will gut werden und immer tapfer sein! Lieber Gott, hilf mir!«

»Ich will arbeiten«, dachte Fritz von Rumohr, »erst muß noch das Einjährige vorüber sein, dann – stramm ans Staatsexamen, dann noch zwei, drei Jahre – –«.

Ein perlender Läufer Kerlchens entriß ihn seinen Zukunftsträumen, – er mußte wieder einsetzen, sonst warf er das brillante Allegro um, der Spohr hatte manchmal seine Mucken, man mußte riesig aufpassen – – –

»Unverzeihlich, daß sie sich so garnicht für den »Hof« eignet«, dachte Fräulein Emerenzia; »mit diesem Talent dürfte sie eigentlich nirgends anders hin – unbegreiflich!«

»Gott segne dieses liebe Haus!« dachte der Pfarrer, »es ist ein Hauptmädel«, schmunzelte der Onkel Liskow.

»Ich will für die Fee sorgen!« gelobte sich Erich.

»Mein Kerlchen!« sagte der Oberst leise, ganz leise vor sich hin. »Oh, nur so lange noch auf dem Posten sein, bis es geborgen ist, – dann ab zur großen Armee!«

Kerlchens Mutter sah unverwandt ihr Kind an.

»Ich konnte ihm so wenig sein,« dachte sie in rührender Bescheidenheit, »ich will aber unsern Liebling hegen, wie meinen Augapfel, – Fee sieht heut so zart aus, – wie die Äderchen an der weißen Stirn hervortreten! Das viele angestrengte Musizieren wird sie doch nicht zu sehr angreifen und ermüden?«

Ein rauschendes Finale übertönte die leisen Seufzer des besorgten Mutterherzens, dann rief ein helles, gesundes Stimmchen ohne eine Spur von Müdigkeit und Angegriffensein: »Du bist ein Mordskerl, Friedel! Das haben wir wieder malsehrgut gemacht!«

Aus Kerlchens Tagebuch