Kerlchens Lern- und Wanderjahre - Felicitas Rose - E-Book

Kerlchens Lern- und Wanderjahre E-Book

Felicitas Rose

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Beschreibung

Roses Mädchenheldin, die alle nur Kerlchen nennen, wird langsam erwachsen und muss sich ihre Sporen verdienen ... Ihr Leben verbrachte Felicitas Rose an wechselnden Orten vor allem in Nord- und in Mitteldeutschland;

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Kerlchens Lern- und Wanderjahre

Felicitas Rose

Inhalt:

Felicitas Rose – Biografie und Biografie

Kerlchens Lern- und Wanderjahre

Kerlchens Lern- und Wanderjahre, F. Rose

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849634094

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Felicitas Rose – Biografie und Biografie

Deutsche Schriftstellerin, geboren am 31. Juli 1862 in Arnsberg, verstorben am 18. Juni 1938 in Müden (Örtze). Eigentlich Rosa Caroline Mathilde Emma Schliewen. Tochter eines Postbediensteten, der oft den Wohnort wechseln musste (u.a. Potsdam, Erfurt, Leipzig und Berlin). 1884 heiratet sie ebenfalls einen Angestellten der Post. Von 1914 bis 1930 lebte sie hauptsächlich in Berlin. 1930 zieht sie nach Müden, wo sie das „Haus Ginsterbusch“ gekauft hatte und gleichzeitig im Hotel "Kaiserhof" wohnte.

Wichtige Werke:

Die Eiks von Eichen (1910)Drohnen (1912)Pastor Verden (1912)Meerkönigs Haus (1917)Das Lyzeum in Birkholz (1917)Der Mutterhof (1918)Der Tisch der Rasmussens (1920)Der graue Alltag und sein Licht (1922)Erlenkamp Erben (1924)Die Erbschmiede (1926)Der hillige Ginsterbusch (1928)Die Wengelohs (1929)Das Haus mit den grünen Fensterläden (1930)Die vom Sunderhof (1932)Wien Sleef, der Knecht (1933)Die jungen Eulenrieds (1937)

Kerlchens Lern- und Wanderjahre

I.

Der Zug sauste durch die friedliche Thüringer Landschaft. Kerlchen stand am Wagenfenster und drückte ihr Stumpfnäschen an den Scheiben platt. Es war so interessant zu beobachten, wie die Telegraphendrähte sich gegeneinander neigten, höher und höher stiegen und sich so hart streiften, daß man immer meinte, die Schwalben, die sich so vergnügt auf den Drähten wiegten, müßten plötzlich elendiglich zerquetscht zu Boden fallen. Aber die Telegraphenstangen besannen sich eines Bessern, sie kamen wieder zurück, verneigten sich vor den Fenstern des vorbeijagenden Zuges, und das lustige Spiel begann von neuem. Die Schwalben zwitscherten und jubilierten. – »Sie haben's gut,« dachte Kerlchen mit tiefem Seufzer, »sie werden niemals in eine Pension gebracht, »in die Benehmigte«, wie der Thüringer sagt. Sie brauchen auch nicht in einem heißen, staubigen Coupé zu sitzen, und es wird ihnen nie der Schnabel verboten.«

Kerlchen streift mit sehr finsterem Gesicht die Insassen des Wagenabteils ... In der einen Ecke sitzt ihr lieber Papa und schläft; er ist in Zivil, aber jeder, der Augen im Kopfe hat, muß den Offizier in ihm erkennen, außerdem ist die Dame, die in der anderen Ecke schläft, beim Einsteigen über die hohe Helmschachtel gefallen, mit welcher Kerlchen gespielt hatte. Und das war der Anfang der stürmischen Debatte gewesen, die sich gleich darauf entspann. Oberst Schlieden hatte noch eine leichte Zornröte auf seiner Stirn, Kerlchen hätte gern einen Kuß darauf gedrückt, aber sie wagte es nicht, sich zu rühren, aus Furcht, die zeternde Dame wieder zu wecken. Kerlchen wußte nicht, womit sie die Mitreisende so erzürnt hatte. Sie hatte ihr in mitfühlender Weise Ratschläge für das zerstoßene Schienbein gegeben, und der Papa hatte ein paar entschuldigende Worte hinzugefügt, aber sie waren auf steinigen Boden gefallen, und wo ein Wort hinfiel, flog ein Stein zurück. »Vorlaut, naseweis, rüpelhaft« waren Kerlchen verständliche Worte, aber »Proletarier der zweiten Klasse« verstand es nicht, und Papa gewiß auch nicht, denn er antwortete garnicht darauf, sondern sagte nur ganz ruhig: »Kerlchen, rüttle mal die alte Schachtel zurecht,« worauf das Kind die Helmschachtel an den richtigen Platz brachte. Aber die Dame hatte den Schaffner gerufen, von Beleidigung geschrieen und um einen andern Fahrgast ersucht, was ihr jedoch versagt wurde. Dann war Waffenstillstand eingetreten, und nun schliefen die streitenden Parteien.

Kerlchen dachte in der Stille und Schwüle des Wagens darüber nach, wie es wohl käme, daß das Leben immer so kriegerisch verliefe, woran es wohl läge, daß so viele Mütter auf der Welt krank seien und so viele Kinder zu fremden Leuten müßten, und es beschloß, daß die eigenen späteren vierundzwanzig Kinder niemals in Pension kommen sollten. Dann schlief Kerlchen ebenfalls ein.

*

»Die Neue hat wieder geheult!«

»Ist gar nicht wahr, ich heule nie, ich hab schlecht geträumt!«

Kerlchen setzte sich im Bette auf, das mit noch neun andern Betten in einem großen Schlafsaal stand. Dickverschwollene Augen blinzelten aus einem heißen, mit roten Flecken bedeckten Gesicht.

»Soll ich dir 'n Spiegel holen, Fee?«

»Ha, ha, ha, schöne Fee!«

»Machst deinem Namen viel Ehre!«

»Prinzessin Heulmeier!«

»Rrrrraus!«

Kerlchen schrie es mit aufgeregter Stimme, der man das verhaltene Schluchzen deutlich anhörte.

Die übrigen Mädchen brachen in tosendes Gelächter aus und liefen dann eiligst hinaus. Die Klassenuhr schlug acht Schläge, eine schrille Klingel tönte durch das Haus, dann war alles still.

*

»Felicitas, wie siehst du wieder aus? Und warum kommst du jetzt erst? Es ist zehn Uhr!«

»Wann bist du aufgestanden?«

»Um vier Uhr, wie immer!«

»Du lügst!«

»Fee lügt nie! Sie ist um vier Uhr aufgestanden und in den Garten gegangen; da hat sie Fräulein Kleist wieder geholt und trotz ihres Sträubens ins Bett gesteckt.«

Gretchen Döring war es, die für Fee die Verteidigung aufnahm.

»Warum sprichst du nicht, Felicitas?«

»Das thut sie nie, wenn Sie ihr sagen, sie hätte gelogen.«

»Unsinn! Sie soll sich verteidigen, dieses Schweigen ist nichts als Trotz.«

Kerlchen war ganz blaß geworden, ihre Augen funkelten die Lehrerin kampfbereit an.

»Warum kamst du nicht zur rechten Zeit, wenn du doch seit vier Uhr wach warst?«

»Weil ich kein eigenes Zimmer habe!«

»Spukt dieser Unsinn immer noch in deinem Kopfe?«

Die Mädchen lachten laut.

»Natürlich, sie zieht sich nicht an in unserer Gegenwart.«

»Zimperliese!«

»Wenn wir nicht mal vorher in den Garten laufen, wenn's recht schönes Wetter ist, dann kommt sie regelmäßig zu spät; wir necken sie natürlich und bleiben im Schlafsaal – –«

»Es ist zu verrückt von ihr!«

»Ruhe!!! Felicitas, du solltest dich schämen, in dieser Weise die Schulordnung zu stören. Du wirst dich an den gemeinsamen Schlafsaal gewöhnen müssen, solange deine Eltern es für richtig halten, dich in einer Pension zu lassen. Dein Papa hat ausdrücklich geschrieben, daß du ganz so gehalten werden sollst wie die anderen Mädchen. Und nun setzt euch ruhig hin, die Stunde beginnt!« Die Lehrerin seufzte tief auf.

Es war wirklich schwer, dieses Mädchen zu erziehen, das so »anders« war, wie auch die Mitschülerinnen sagten. Dabei wußte Felicitas ganz gut Bescheid, sie hatte die Lücken, (ganz unglaubliche Lücken bei einem elfjährigen Mädchen) in rascher Zeit aufgefüllt und überflügelte die besten Mitschülerinnen, wenn sie wollte. Aber sie wollte nicht immer. Heute z. B. dieser Aufsatz!

Fräulein Kolditz schaute ergrimmt auf das Heft. Schon die Schrift des Mädchens empörte sie jedesmal von neuem. Diese steilen, deutlichen, dicken Buchstaben waren gegen jede Schulordnung. Und der Aufsatz selbst! Fräulein Kolditz wollte ihn nachher gleich der Vorsteherin bringen. »Felicitas, steh auf und sieh mich an! Du hast den schlechtesten Aufsatz von allen zehn Mädchen geliefert! Du hast dich von Anfang an dem Thema widersetzt und behauptet, man könnte nicht darüber schreiben, die anderen Mädchen strafen dich Lügen, denn sie haben sehr hübsch über die »Wüste Sahara« geplaudert. Du dagegen hast deiner Bosheit die Zügel schießen lassen und fängst an:

»Die Wüste Sahara ist furchtbar langstielig.« Den besten Aufsatz hat Helene von Giers geschrieben, er ist zu meiner Überraschung sehr fließend abgefaßt: »Betrachten wir auf der Karte von Afrika den schmalen Küstenstrich – –«

Ein helles, lustiges Gelächter unterbrach die Lehrerin. »Abgeschrieben! Hi hi hi, abgeschrieben!«

Mehr als fünf Lesebücher zugleich wurden ihr hingereicht, und da stand es freilich im »Kinderfreund«:

»Die Wüste Sahara: ›Betrachten wir auf der Karte von Afrika den schmalen Küstenstrich – – –‹«

»Es ist gut, ich werde nachher mit Helene von Giers reden. Durch diese Täuschung wird aber dein Aufsatz nicht besser, Felicitas; du brauchst die Mundwinkel nicht so verächtlich herunterzuziehen. – Dann ist also der beste Aufsatz der von Gretchen Döring – du bist sonst keine Heldin im Schreiben, hat dir jemand geholfen?«

»Geholfen? Nein! Den ganzen Aufsatz hat sie mir gemacht – die Fee!«

»Mir auch, mir auch!« riefen die lustigen Kinderstimmen. »Fräulein, wir wußten alle nichts darüber zu schreiben, da hat die Fee sie für uns gemacht; die kann's, die schreibt gern Aufsätze – –«

»Geht alle hinaus, Kinder, leise – – daß ihr die anderen Klassen nicht stört. Du, Felicitas, bleibst hier!«

»So! Und nun komm einmal her! Weißt du, daß du sehr Unrecht gethan hast?«

»Nein, Fräulein! Die Kinder baten mich alle so und sie sind sonst nicht gut zu mir, da dachte ich, sie würden vielleicht ein bißchen netter, wenn ich ihnen einen großen Gefallen thäte. Bloß Gretchen Döring ist gut mit mir, deshalb hab ich ihr den ersten Aufsatz gemacht, und Helene von Giers ist gräßlich, der hab ich keinen gemacht, und wie ich acht Aussätze geschrieben hatte, da kam meiner dran, oh Fräulein – da hing mir die Wüste Sahara zum Halse 'raus.«

»So, so! Und da schriebst du, sie wäre furchtbar langstielig. Nun verstehen wir uns schon besser.«

Fräulein Kolditz zog Felicitas zu sich heran.

»Du wirst so etwas niemals wieder thun, Fee?«

»Ich weiß es noch nicht, Fräulein!«

»Du bist ein sehr merkwürdiges Kind, Fee; Wie ist nur deine Gouvernante mit dir ausgekommen?«

»Oh ganz gut! Bis sie 'ne Leber bekam!«

»Waaas bekam sie? Schon gut, schon gut, rufe die anderen Kinder wieder herein.«

Es war schon dreiviertel auf elf, aber die Kinder lernten gut in dieser einen Viertelstunde, und die Vorsteherin erfuhr nichts von der »Wüste Sahara«.

*

»Seht mal, dort geht Doktor Calmus!«

»Wo, wo, wo? Oh Gott, laß sehen!«

»Drängel doch nich so!«

»Und die erste Klasse hinter ihm her!«

»Wo? Wo?«

»Warum laufen sie hinter ihm her?«

»Felicitas, frag nicht so geistreich!«

»Weil er ihr Schwarm ist!«

»Was is 'en das?«

»Ach, sei nicht so albern!«

»Meine große Schwester hat gestern den Namen von Dr. Calmus aus der Zeitung geschnitten und auf dem Butterbrot gegessen.«

»Pfui!«

»Garnicht pfui! Alice von Felsen hat einen Knopf von ihm im Medaillon.«

»Warum?«

»Fee, du bist ein Schaf!«

»Selber eins! Warum steckt sie nicht sein Bild ins Medaillon, ein Knopf ist ja zu dumm!«

»O Gott, sein Bild! Wenn sie das bekommen könnte! Sie wäre selig, sagt meine große Schwester.«

»Phhhh! Ich finde Doktor Calmus grrräßlich.«

»Er findet dich auch gräßlich, Fee, er hat's gesagt.«

»Freut mich!«

»Weshalb ist die Fee so kratzbürstig auf ihn?«

»Er hat »süßes Lockenköpfchen« gesagt und sie gestreichelt.«

»Wie interessant!«

»Na, was is'en da interessant bei?«

»Und sie hat ihn auf die Hand gehauen und ihm die Zunge lang herausgestreckt.«

»Fee!«

»Na ja, hab'ch immer gethan. Aber er hats gepetzt; pfui, gepetzt hat er!«

»Und du mußtest ihm abbitten!«

»Hab ich aber nich! Ich hab bloß was gemurmelt so mit zugemachtem Munde: »Alter, ekliger Petzkalmuser«, und da sagte er so sanft und katzenfreundlich: »Schon gut, kleine Fee!« Pfui! Grrräßlich ist er! Aber Herr Schönwolt, das ist ein famoser Kerl!«

»Och! So'n Volksschulmeister!«

»Dem gehorch' ich garnicht!«

»Der paßt garnicht in unsere Schule, sagt Mama.«

»Wenn er in der ersten Klasse mal Aushilfe hat, dann antwortet ihm niemand!«

»Seinen Anzug trägt er nun schon vier Jahre.«

»Und Papierkragen und -Manschetten.«

»Ich hab mal gesehen, wie er mit einem Gummi große Wäsche hielt.«

»Seine Mutter ist 'ne Bauernfrau in Vieselbach.«

»Wie schrecklich!«

»Und von so'n Menschen soll man sich unterrichten lassen!«

»Warum nicht! Er ist so klug, klüger als alle und lustig kann er sein; und alle Dummheiten, die man macht, hat er früher auch gemacht, das ist zu famos! Ich hab ihm auch mal die Zunge rausgestreckt, ganz im Anfang wars; er hatte mich ungerecht beschuldigt, und ich war so wütend, da lachte er und sagte: »So ists recht, Felicitas, immer länger, immer länger, soweit die deutsche Zunge reicht!« Da hab ich mich so geschämt und ihm von allein abgebeten.«

»Du bist komisch, Felicitas!«

»Denkt doch, er kann nich mal 'ne Ferienreise machen, so arm ist er. Alles muß er seiner Mutter geben und 'ne kranke Schwester hat er auch.«

»Deshalb sieht er immer so schäbig aus!«

»Ich schenier' mich ordentlich, wenn er mir auf der Straße begegnet.«

»Wir sind doch Töchter höherer Stände. Warum unterrichtet er nicht Straßenjungen?«

»Ja, dazu sind Volksschullehrer da, sagt Mama!«

»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Gänse seid ihr alle mit'nander! Prinz Li hatte als ersten Lehrer auch einen Volksschullehrer, oh – solch lieben guten, Herr Lorenz hieß er, und Papa hat mir so viel von ihm erzählt, er ist dann gestorben, und Prinz Li hat sich garnicht trösten lassen wollen.«

»Ach – einerlei!«

»Was kümmerts uns!«

»Wir wollen lieber was anderes erzählen!«

»Fee hat ja immer so verrückte Ansichten.«

»Nu eben!«

Brief des Herrn Schlachtermeisters Krone an Kerlchen.

Schwarzhausen, 6. Juni. Liebes Kerlchen!

Soolt mers glauben, daß schon bald zwei Jahre vergangen sind, daß du fort bist und gewiß schon großes Mädchen, ich hab mal'n Bild von dich bei Doretten gesehn, wunderschön, ich meine dein Kleid, aber sonst ganz das alte liebe Kerlchen. Es freut mich sehr, daß du immer noch an uns denkst und grüßen läßt, und meine Frau grüßt auch wieder. Und ich habe das schöne Gedicht von dich zu Dorettens Geburtstag gelesen; wie du so was nur machen kannst, Dorette hat so geheult, es war so rührend und was meine Frau is, auch. Und ich wollt dir bitten, was du nich for mich auch eins machen kannst und ich wills deglamieren aufn Kriegerverein, wir haben ne neue Fahne bekommen, von die Damens in der Stadt und da is Einweihung. Und du könntest dich wünschen, was du wolltest und wenn es zehn Pfund Schokolade wärn, wärn mir nich zu viel, denn der alte Stadtdichter is gestorben, du kennst ihm ja, den Klempner Susemihl, und is kein Mensch weit und breit der dichtet. Also mach hin, allo! Und sei so gutt

Dein väterlicher Freund Krone, Schlachtermeister und ff. Wurstfabrik.

Brief von Kerlchen an Herrn Schlachtermeister Krone.

Lieber Herr Krone!

Mit Freuden ergreife ich die Feder. Diese Schule ist entsetzlich, aber ich habe doch nun endlich schreiben gelernt, richtig schreiben bei Herrn Schönwolt, der ein sehr kluger und famoser Mensch ist. Lieber Herr Krone, ich schicke Ihnen gern ein Gedicht, ich hab es vorhin in der Weltgeschichte gemacht. Weltgeschichte machen ist furchtbar, ich mach da lieber Gedichte. Es heißt so:

Ihr, die ihr hier versammelt seid Zu unsers Kaisers Ehre, Heil dir im Siegerkranz! Im Streit Da setzt euch stets zur Wehre. Wir sind von der Fahne so hoch beglückt Die alle die Damens fein gestickt Wir halten die Fahne in Ehren. Und wir wollen den Namens es schwören Und wenn es wieder giebt Krieg Dann führt uns die Fahne zum Sieg. Und wenn auch viele dabei starben, Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben!!! Hurra!

Wenn Sie so freundlich wären und mir dafür Wurst schickten, Schokolade esse ich zwar auch furchtbar gern, Sie können gern ein Pfund beipacken, aber das meiste muß Wurst und Speck sein; auch Schmalz, alles vom besten und recht viele Bratwürstchen dabei. Wenn das Gedicht nicht langen sollte, hab ich noch eine Ballade gemacht, sie ist vorne ruhig und in der Mitte wütend und hinten traurig. Sie können mir dann schreiben, ob Sie sie noch haben wollen. Ich sehe mit Hochachtung Ihrer Kiste entgegen. Hunderttausend Grüße an mein liebes Schwarzhausen.

Kerlchen.

*

»Nein, nein, Gretchen, nimm sie nur nicht in Schutz, es ist Thatsache, daß sie eine »Wurschtkiste«, einen »Freßkober« gekriecht hat und daß sie alles alleine neingeleiert hat. Das is – na – gemein!«

Gretchen Döring ließ den Kopf hängen.

Was sollte sie thun? Die ganze Klasse war gegen ihre liebste Freundin, die Fee.

»Sie hat uns doch Schokolade abgegeben, sie hat sie ganz genau geteilt,« bemerkte sie kleinlaut.

»Du liebe Zeit, das war ein Pfund unter zehn Mädchen, es war ein »Fimmel« für jeden.«

»Und die meterlangen Würste hat sie allein gefuttert, mich wundert bloß, daß sie nicht geplatzt ist.«

»Dabei aß sie doch bei Tisch nicht weniger als wir, es ist unbegreiflich!«

Gretchen hatte Thränen in den Augen. Sie konnte es nicht ertragen, daß man die Abwesende angriff und mußte doch den Angreifern Recht geben, denn sie selbst hatte auch nicht das kleinste Stückchen von der zarten Wurst bekommen, die so appetitlich mit blauen Bändchen umwunden in der Kiste gelegen hatte; nein, nein, sie hätte diesen Geiz niemals der Fee zugetraut – Gretchen war ganz, ganz böse.

Als Felicitas aus der französischen Stunde kam, sie hatte immer noch »Extra-Konversation« bei einer Französin, da sah sie in lauter finstere Gesichter, ja, manches Gesicht sah sie überhaupt nicht, die Inhaberinnen drehten ihr einfach den Rücken zu.

»Ihr seid wohl rrrrr?« fragte Kerlchen mit bezeichnender Handbewegung nach der Stirn.

»Oh, das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen!«

»Es war hier immer so Sitte – – –«

»Du mußt nicht denken, daß wir neidisch sind – –«

»Du liebe Zeit, ich bin noch immer satt geworden –«

»Aber es ist doch nun mal Sitte in der Pension – –«

»Himmel noch mal! Was is denn los? Hab ich was gethan?« fuhr Kerlchen energisch dazwischen.

»Ohhhh nichts!«

»Wenn du's nicht selbst weißt.«

»Nee, ich weiß nischt! Man los!«

Gretchen schmiegte sich an Kerlchen.

»Sie meinen die Kiste,« sagte sie leise, »die aus Schwarzhausen, mit der vielen Wurst. Wir haben hier immer geteilt – –«

Dunkelrot wurde Kerlchen, wie ein ertappter Verbrecher sah es aus. Die Hände hatte es fest hinter dem Rücken zusammengelegt, wie immer, wenn es heftig erregt war. Es sah die Kinder der Reihe nach an, mit denen es so treu seine Schokolade geteilt hatte.

»Phhh!« sagte Kerlchen nur, rannte hinaus und knallte die Thür hinter sich zu.

*

»Fee, du sollst gleich mal zu Herrn Schönwolt kommen ins Lehrerzimmer.«

»Was hast du denn verbrochen?«

»Er macht sich mausig, der Volksschullehrer!«

»Geh nich hin, Fee; er kann selber kommen!«

Kerlchen war aber schon aus der Thür und stand endlich mit ziemlich starkem Herzklopfen im Lehrerzimmer. Herr Schönwolt hatte einen kleinen Briefbogen in der Hand, den er fortsteckte, als Kerlchen eintrat.

»Komm mal her, Fee,« sagte er mit ganz eigentümlich unsicherer Stimme. »Ich wollte dich gern einmal fragen, wo du am vorigen Mittwochnachmittag warst? – Bei der Französin jedenfalls nicht?«

Kerlchen schüttelte den Kopf, der rot und heiß wurde unter den forschenden Augen des Lehrers, aber über seine Lippen kam kein Wort.

Jetzt zog Herr Schönwolt langsam den Briefbogen aus der Rocktasche, legte ihn vor Kerlchen hin und fragte: »Hast du das geschrieben?«

»Ja!«

»Fee!!! – – – Wann bist du dort gewesen?«

»Am Mittwoch! Sind Sie böse auf mich?«

»Böse? Kleine gute Fee! Aber es darf nicht wieder vorkommen! Du darfst keine Heimlichkeiten treiben! Und woher kennst du meine alte Mutter, und woher hast du die Wurst?«

Kerlchen erzählte ihm alles. Zuerst stockend und unwillig. Es hatte nicht geglaubt, daß »es« herauskommen würde; Kerlchen hatte es niemand erzählt, nicht mal Gretchen Döring, aber freilich, wenn die Mutter von Herrn Schönwolt selber »petzte« – – –

Ein leises Lächeln huschte über das ernste, männliche Gesicht des jungen Lehrers.

»Mutterchen hat nicht gepetzt,« sagte er freundlich, »sie hat mir nur geschrieben, wer in aller Welt das Heinzelmännchen sein könnte, das ihre leere Speisekammer mit einem Mal gefüllt, das einen Korb auf die Stubendiele gesetzt hatte und dann auf und davon geflohen war, wie nicht recht gescheit.«

»Der Zug ging so schnell wieder ab.«

»Und ich hab ihr geschrieben,« fuhr der Lehrer fort, »daß es kein Heinzelmännchen gewesen wäre, denn Heinzelmännchen schreiben nicht so liebe, unorthographische Briefe – sieh mal da:

»Es is alles orrntlich ferdient nehmen sies man freuntlich und mit Gruhß!«

»O, Herr Schönwolt, es ging so fix.«

»Das scheint so! Heinzelmännchen wird's aber nicht wieder thun, nicht wahr? – – ich – ich möchte das nicht gern, Mutterchen dankt aber dem Heinzelmännchen sehr; die Wurst und das viele schöne Schmalz und der Speck sind an ganz arme Frauen im Dorf verteilt worden und haben viel Freude angerichtet.«

»Warum hat sie es nicht selbst behalten, wenn sie doch 'ne leere Speisekammer hat?«

»Das verstehst du nicht, kleine Fee! Sieh, wenn du erst mal ganz auf eigenen Füßen stehst und durch ehrliche Arbeit etwas verdienst, dann kannst du auch andern Menschen eine Freude machen, aber man darf nicht bei andern Leuten um Wurst bitten und sie dann wegschenken.«

»Ist »dichten« nicht ehrliche Arbeit?«

»O, Fee! Dein schönes Gedicht, das hab ich ja ganz vergessen! Nun laß gut sein! Du bist ein tapferes Kerlchen! Was mußt du für prächtige Eltern haben!«

Kerlchen brach plötzlich in lautes, bitterliches Weinen aus. Der Anfall kam so plötzlich, daß Herr Schönwolt heftig erschrak; er streichelte sanft den wilden Lockenkopf, und da schmiegte sich das Kind an ihn und schluchzte fassungslos.

»Ich hab so furchtbare Sehnsucht nach Papa!«

»Armes Kind!«

»Ach bitte, bitte, sagen Sie doch ein einziges Mal »mein altes Kerlchen« zu mir!«

Die Stimme des Herrn Christian Schönwolt klang plötzlich merkwürdig rauh und heiser.

»Mein altes Kerlchen!!!«

»Ach, ich dank Ihnen tausendmal! Und seien Sie mir doch nicht böse! Niemand ist gut mit mir, auch Gretchen Döring hat mich nicht mehr lieb, und Mama ist so krank, und Papa hat so viel zu thun, und Briefe bekomme ich beinahe nur vom Schlachter Krone und vom Erbprinzen.«

»Kleines, liebes Kerlchen! Nein, ich bin dir nicht böse!«

»Herr Schönwolt, dauert es sehr lange, bis man selbst was verdienen kann mit richtiger Arbeit?«

»Warum meinst du?«

»Och, nur so!«

»Nun, es giebt sogar schon Kinder, die in harter Arbeit selbst verdienen müssen, das ist zum Glück dir erspart geblieben und wird es hoffentlich auch immer bleiben. – Und nun ade. Kerlchen!«

»Ade, lieber, lieber Herr Schönwolt! Aber sehen Sie, da hab ich Ihren schönen Rock vollgeheult, Papa legte sich schon immer ein großes Taschentuch auf die Uniform, wenn ich mal anfing, aber warten Sie nur, ich wisch' es fix ab.«

Felicitas nahm ihr Taschentuch heraus und rieb eifrig.

»Du nimmst dir wohl alle Weihnachten, Pfingsten und Ostern ein reines,« fragte Herr Schönwolt schaudernd.

»O nein, alle vier Wochen!«

*

Brief von Kerlchen an Oberst Schlieden.

Erfurt, den 1. Juli. Mein lieber Herzenspapa!

Ich will Dir lieber gleich den ganzen Krempel selbst schreiben, denn die Vorsteherin schreibt es Dir doch und gewiß nicht richtig, denn sie ist nervös, das ist was sehr Schlimmes, im Kopf und in allen Gliedmaßen. Siehst Du, mein lieber, lieber Papa, der Herr Schönwolt, der ist ein ganz famoser Kerl, so ähnlich wie Du, aber natürlich so wie Du kann eben niemand ganz sein. Er hat Dir ja damals geschrieben, ich weiß nicht, ob er Dir von der Wurstgeschichte geschrieben hat, es ist eine sehr langweilige Wurstgeschichte und sie machten ein Aufhebens davon, auch die Mädchen alle, die nix abgekriecht hatten. Sieh mal, da wars der Herr Schönwolt, der hat es jeder Einzelnen erzählt, ich hätte die Kiste den armen Leuten in Vieselbach gebracht, er ist so edel, daß er so gelogen hat, denn er ist doch dran Schuld, denn die armen Leute waren mir doch wurscht, ich hatte aber die Wurscht doch der Mutter geschenkt. Lieber Herzenspapa, Du siehst nun ganz klar Alles, nicht wahr? – – – Aber das ist jetzt garnicht die Hauptsache und schon beinah vergessen, es hat sich aber noch was zugetragen.