Herzkasper - Dirk Zöllner - E-Book

Herzkasper E-Book

Dirk Zöllner

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Beschreibung

Ein Künstler sucht seine Mitte. Zwischen Kopf- und Lendenbereich findet der Musiker sein Herz und begibt sich mit ihm ins Zwiegespräch. Dank der Aufmerksamkeit beginnt es zu wachsen. Er befreit sich von kopfgesteuerten Korsetten und gibt sich der Liebe hin. Die beiden parlieren über das Leben als "freischaffender Überlebenskünstler" mit all seinen Höhen und Tiefen. Herz oder Zahl? Ist materieller Besitz überhaupt von irgendeiner Bedeutung? Ist seelisches Ungleichgewicht Voraussetzung für künstlerischen Erfolg? Ab wann ist eine psychische Abweichung noch Ausdruck von Individualität oder schon eine Krankheit? Bis zu welchem Alter ist ein unbeschwertes Hippie-Dasein eigentlich durchzuhalten? Wie schaffen es Musiker, ohne Konzerte und Auftritte nicht in eine Art postkoitale Depression abzugleiten? Was macht die Corona-Krise mit Künstlern und Publikum? Diese herzerfrischenden und herzgesteuerten philosophischen und zeitdokumentarischen Betrachtungen eines optimistischen Träumers kämen nicht von Dirk Zöllner, wenn es darin nicht zuallererst um Musik und Musiker ginge. Und all seine tönenden Bekannten und Verwandten aus zumeist ostdeutschen Landen, als da wären Die Puhdys, Silly, Angelika Mann, André Herzberg, Dirk Michaelis, Julia Neigel und viele mehr. Ihnen allen wird Platz gemacht: in seinem Herzen, das mindestens so groß ist wie ein Alt-Köpenicker Eisbein.

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Impressum

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Eulenspiegel Verlag – eine Marke der

Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

ISBN E-Book 978-3-359-50093-3

ISBN Print 978-3-359-01197-2

© 2020 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Karoline Grunskeunter Verwendung eines Fotos von Mimoza Veliu

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Er kommt aus dem wilden Osten und ist Musiker. Dirk Zöllner sucht seine Mitte und setzt sich mit seinem Herzen ins Benehmen. Zwischen den beiden gibt es einiges zu diskutieren. Herz oder Zahl? Geld oder Liebe?

»Herzkasper« ist sowohl Geständnis eines vernachlässigten Herzens als auch ironische Selbstbetrachtung eines »freischaffenden Überlebens­künstlers« und optimistischen Träumers in turbulenten Zeiten. Es erzählt kitschfreie Musikerfamiliengeschichten und formuliert Gedanken in Zei­ten der Corona-Pandemie und damit zusammenhängende Zukunfts­visionen. Das Spiel geht weiter, Herz ist Trumpf!

Über den Autor

Dirk Zöllner wird 1962 in Berlin geboren. Seine professionelle Laufbahn startet er 1985 mit seiner Band Chicorée. 1987 gründet er Die Zöllner, mit denen er bis heute unterwegs ist. Nach der Jahrtausendwende macht er Ausflüge ans Theater und übernimmt die Hauptrollen bei »Jesus Christ Superstar« und »Fame«. Zu seinem 50. Geburtstag publiziert der Eulenspiegel Verlag seine Autobiografie »Die fernen Inseln des Glücks«. Kurz darauf folgt »Affenzahn«. Unter seinem Namen erscheinen zwölf Studioalben, das letzte 2019, die »Zack! Zack! Zessions«.

Inhalt

Wie wir die Ohren öffneten

von Tim Hofmann

Gebrauchsanleitung

Herz oder Zahl?

Vom Sockel

Alles Irre

Körperlos

Zack! Zack! Ausgetrunken!

Zirkus Zöllner

In trockenen Tüchern

Almosen

Mixokryptische Tonskalen

Sklavensprache

Die postkonzertante Depression

Der kluge Herr Repke

Mit Herz I

Ernüchterung

Schuldig

Der Weg ist das Ziel

Lasst Blumen sprechen

Plaste & Elaste

Lustige Puppen

Mit Herz II

Tingel-Tangel

Back to the Roots

Armer Karl

Muschimusik

Gefährliches Halbwissen

Dabei sein

Kartenhaus aus Fantasie

Mit Herz III

Herzschlagen

Aus der Spur

Mit Herz IV

Alter Ego

Die neue Bühne

Gib mir Musik

Mit Herz V

Danksagung

Wie wir die Ohren öffneten

von Tim Hofmann

»Popper« haben wir ihn genannt, und das war, bei all dem einsetzenden Augenzwinkern, schon noch als Schimpfwort gemeint. Das Augenzwinkern kam daher, dass gerade die Mauer gefallen war und unsere im DDR-Dorfsaal aufgewachsene Metalclique sich in die neue Freiheit der Studentenklubs verstreute: Man öffnete die Ohren und fand heraus, dass es neben dem heiligen Gral verrauschter Kassettenkopien früherer Metallica- und Kreator-Alben im Musiversum noch viele andere Galaxien zu entdecken gab. Dirk Zöllner aber – das ging uns viel zu weit. Wie hätten wir auch von seiner lichten Süßlichkeit kosten mögen, wo sie doch den fatalen Honig einer klebrigen Leimrute bildete, auf die all jene Frauen, die in die Klubs zu begleiten wir uns gerade anschickten, nur allzu bereitwillig krochen? Frauen, die man als Metaller auf dem Dorfsaal nie zu sehen bekommen hatte, die ein wesentlicher Grund unserer aufkommenden Kompromissfähigkeit waren und die diese nun im Undank völlig überreizten. Zöllner-Gastspiele waren daher jenseits der Verbiegeschmerzen: Was haben wir die Zungen gewetzt auf der Heimfahrt im vollgequetschten Trabi, beim Kampf um die Hoheit über das Kassettenradio: Zöllners »Café Größenwahn« gegen »Altars of Madness« von Morbid Angel? »Ein Kasper!«, befanden wir.

Doch »der Dirk« zielte grinsend auf unsere Achillesfersen: Dass seine Sachen beseelt waren, ließ sich ebenso schwerlich leugnen wie ihre handwerkliche Meisterschaft: Hölle, hatte die Band Groove! Und dann diese geschickt beiläufige Beimengung herzblutiger Melancholie in einer melodischen Meisterschaft, gegen die man sich schon mit einiger intellektueller Gewalt wehren musste, um nicht heimlich mitzusummen. Und sei es im Kopf. Der Mann wusste offenbar ganz genau, wovon er sang, wenn er jenes Sehnen besang, dass uns ja letztlich auch trieb – Metalpanzer her oder hin. Es keimte, gut verborgen, die Ahnung einer Zuneigung.

Nahrung bekam sie einige Jahre später. Als lernender Schreiberling hatte ich erste Rezensionen für Zeitungen und Musikmagazine verfasst und war dabei, den Tanz eines jeden Musikjournalisten zu beginnen – zwischen der anvisierten Illusion einer fachlich objektiven Einschätzung und der subjektiv ungerechten, aber lodernden Leidenschaft, ohne die nun mal jeder Klang nur unbelebte Physik bleibt. Das Herz im Untergrund, der Kopf in der Arbeitswelt der Tageszeitung. Es war die Zeit, als Gothic mich umarmte auf dem Weg ins befreiende Dunkel und die Herzeleidenden von Rammstein, die mit ihrem ersten Album einen verwirrenden Adrenalinpflock ins neue Paralleluniversum des harten alten Dorfsaal-Untergrunds getrieben hatten, mit ihrem Album »Sehnsucht« die Kompassnadel für harte Musik neu in Rotation versetzten.

Da legte eine Promofee neben diesen Meilenstein die CD »Good Bye, Cherie«: ein Abgesang auf die beim wichtigen »Kernleser« gerade mitwachsende Ostalgiewelle? Musste ich hören! Und Dirk Zöllner erwischte mich kalt mit seiner Wärme: Über einiges von dem, was ich privat soeben durchgemacht hatte, schien der verdammte Popper schon wieder fast alles zu wissen. Wie sonst hätte er diese Texte verfassen können, voll dieser wahren Worte? Klebrig? Seelenleim! Und dazwischen diese lässig-leichte Frechheit, der etwas entspanntere Blick auf das Richtige – eine kleine Rebellion! Die Platte wurde zu einer heimlichen Geliebten. Sollte dieser Zöllner am Ende nur mein anderes Ich sein und seine Naivität, so sehr sie auch zum Hohn einlud, letztlich doch auch heilsame Seiten haben? Ein Alien wie ich, nur auf einem anderen Planeten? Ich wollte und konnte nicht mehr spotten.

Und dann sah ich, zugegeben arg verspätet, Ende der Neunziger in einem Klubkino den Dokumentarfilm »Flüstern und Schreien« über die DDR-Musikszene am Ende der Achtziger. Natürlich wegen Feeling B. Und Sandow, meine stachelig-dunklen Wendezeit-Begleiter. Den frühen Gruftis, die meine Wesensfamilie waren und musikalische Heimat. Und auch Silly: Dass diese Liebe aus Kindertagen in dem Streifen als unfreiwilliger Altkleiderständer aufgestellt war, entsprach dem Lauf der Zeit. Doch wer turnt da plötzlich als Sänger der Band Chicorée ins Bild? Dirk Zöllner – was für eine Freude! Natürlich wird er als Kasper dargestellt, und natürlich gibt er genau die Zielscheibe ab, die der Film für ihn vorsieht: Der nixblickige, FDJ-nahe Ossipopper als Kontrastmittel zu den gewitzt coolen Proto-Rammsteinen bei Feeling B. Watson neben Holmes. Aber irgendwie, verflixt noch mal, konnte man einfach nicht glauben, dass er so doof war, davon nichts mitzubekommen. Wie da seine Kaspertruppe direkt vor der Linse zerbricht und er, mit vor Schmerz und Enthusiasmus glänzenden Augen, seine trotzigen Träume in die Kamera erzählt: Das konnte nur echt sein. All das Herzblut. Die Ehrlichkeit. Was für ein entwaffnendes, hemmungslos uncooles und doch so unumwundenes Mittel gegen das große, aufgesetzte Theater des restlichen Rockzirkus, möge er auch noch so raffiniert subkulturell gepanzert sein: Dirk Zöllner zeigt sich in »Flüstern und Schreien« als wohl einziger Beteiligter unverstellt. Scheitern und Sehnen. Seine Ideale und die ganze unbändige Kraft seiner Arglosigkeit, ohne jede Berechnung. Ein erhobener Kopf, um zu lächeln. Der Nebendarsteller als echte Haupt-Person. Käfer auf’m Blatt. In mir wuchs Respekt.

Und dann, wieder einige Jahre später, klingelte mein Telefon, das mittlerweile im Kulturressort der Tageszeitung stand, der ich irgendwie »Good Bye, Cherie« zu verdanken hatte. Eine sanfte Stimme mit einer Färbung voll so aufrechter Freundlichkeit, dass die Intuition noch in dem Moment, da die geschärften Sinne sie für gespielt halten wollen, bedenkenlos das Echtheitszertifikat zeichnet: Dirk Zöllner. Der erste Künstler meines da schon recht langen Journalistenlebens, der unbekannterweise anrief, weil er einen Text mochte: Meine Rezension seiner Autobiografie »Die fernen Inseln des Glücks« hatte ihm sehr gut gefallen, das wollte er mir unbedingt persönlich sagen.

Ja, sie war lang und voller lobender Worte gewesen, und keines davon gelogen. Vieles allerdings auch nicht gleich schmeichelhaft, wenn man auf eine Lobeshymne aus war: Ich hatte die immer wieder durchschimmernde Naivität nicht ausgespart. Den Umgang mit Frauen, gelegentlichen Dünkel, das oft heftig pulsierende Ego. Doch genau das ist Besondere an dem Buch, das nach wie vor die beste Autobiografie eines Musikers ist, die ich je gelesen habe: Dirk Zöllners Mut zur offenen Flanke. Der einzige Protagonist, den er nicht schont, ist er selbst, obwohl er als Autor wesentlich mehr Schreibtalent mitbringt als die allermeisten seiner Kollegen. Ganz ohne Co-Autor erzählt er mit Schwung und Freude, das quillt so licht aus ihm heraus, dass er gar nicht in der Lage zu sein scheint, all die Fettnäpfe auszulassen, in die einen das Leben treten lässt. Kein Vergleich zu der sehr schönen, aber routinierten »Uferlos«-CD, die vor allem dadurch beeindruckt, wie hoch ihr lockeres Grundniveau ist. Wir redeten lang. Ich war beeindruckt.

All diese lebenslang verteilten Dirk-Streusel hatte ich sicher unbewusst im Kopf, als ich, wieder etliche Jahre später, in die »Alte Brauerei« nach Annaberg-Buchholz fuhr. Es war ein dunkelkaltes Januarwochenende ganz nach meinem Geschmack, aber ich hatte Dienst, und mir fehlte ein Text für die Kulturseite – also gedachte ich notzunageln: Die Zöllner, Ostrock lief ja stets, gaben ein Konzert in diesem kleinen, dem ländlichen Klubsterben trotzig entronnenen Laden, irgendwas würde mir dazu schon einfallen. Und dann war da wieder dieser softgeboxte Seelenblitz: Die damals aktuelle Zöllner-Platte »In Ewigkeit« hatte ich noch gar nicht gehört, aber die Show pflanzte sie tief in mich ein.

Die Superband ließ sich von der Tatsache, dass ihr Showglamour auf eine Mini-Punk-Bühne unter vier olle Scheinwerfer gequetscht wurde, so wenig beirren wie der Frontmann. Wie durch und peinlich und mitleidheischend der allermeiste Ostrock auch längst war; hörbar nur in Erinnerung an die gute alte Zeit – dieses Konzert blies, obwohl nicht weniger aus der Zeit gefallen, als frischer Wind in die Nacht, ganz für sich allein. Packend und strahlend und doch auch melancholisch und sehr, sehr einnehmend. So ging das also mit dem würdevollen Altern und kindischer Freude, ganz ohne Albernheit. Kaum einzuordnen.

Ich häkelte irgendwie alles, was das hochwühlte, zu einem großen Aufmacher zusammen, dessen Überschrift mir direkt auf der Heimfahrt eingefallen war: »Der Herzkasper«. Und wieder klingelte das Telefon mit dieser Stimme. Dirk Zöllner wusste diesmal weniger, was er sagen sollte – und sagte doch viel mehr. Von da an sprachen wir häufiger, und es passierte etwas Seltenes: Wir freundeten uns an.

Als Journalist ist man zwar oft mit interessanten Menschen in Kontakt, und im Austausch entstehen viele Verbindungen, auch Sympathien – dabei habe ich aber nur dreimal im Leben Menschen getroffen, bei denen die Wellenlänge so ähnlich war, dass wir uns vorstellen konnten, auch abseits des ganzen Musikgeschäfts miteinander zu tun zu haben. Seitdem haben Dirk und ich uns immer wieder getroffen, in Berlin oder Chemnitz.

Ich weiß nicht mehr, wann und wie die Idee aufkam, dass Dirk in der Freien Presse eine eigene Kolumne übernehmen könnte. Es ist einfach passiert. »Zusammenarbeit« würde ich es nicht nennen, da stört dann doch der zweite Teil des Wortes: Dazu ist es zu beseelt, zu eigenwillig und letztlich auch zu einfach. Manchmal habe ich das Gefühl, als seien wir zwei Seiten eines Wesens: ich das verschlossene Dunkel, er das offene Licht. Und keiner von uns verfügt dabei über die ganze Wahrheit.

Irgendwie ist es mit Dirk Zöllner immer noch so wie in »Flüstern und Schreien«: Der Mann ringt mit sich und dem Leben, und das live vor Publikum. Es mag extrovertiert wirken, aber das täuscht. Dirk ist einfach so und kann nicht anders – voller Liebe und immer noch in die große, offene Weite. Ohne Verbiegeschmerz.

Gebrauchsanleitung

Als ich mich Mitte März 2020 an die Arbeit für dieses Buch mache, wird die Welt um uns herum aus den Angeln gehoben. Corona ist in Deutschland angekommen. Tiefe Verunsicherungen, Ängste, aber auch Hoffnungen bestimmen den Alltag der Menschen. Die alternative Musikszene, der ich mit den Zöllnern angehöre, ist komplett lahmgelegt und nur noch im Internet präsent. Die Darsteller der industriellen Musikverwertung sind natürlich weiterhin keimfrei im Radio und Fernsehen zu bewundern, aber der deutsche Otto-Normal-Musiker lebt ausschließlich von den engen, schwitzenden Konzertbegegnungen. Dort wird auch der Großteil seiner Alben abgesetzt.

Bei musikalischen Lesungen bringe ich außerdem viele meiner Bücher an den Mann und die Frau. Hier wurde ich in der Vergangenheit stets von meinem Freund André Drechsler begleitet. Nicht nur auf der Gitarre, sondern auch seelisch. Er ist einer der sanftesten Menschen, die mir im Leben begegnet sind – und ich wünsche mir sehr, dass wir mit Erscheinen dieses Buches wieder gemeinsam auf eine schöne ausgedehnte Lesetour gehen.

Wir sind in Kontakt und reden schon über unsere zukünftigen Heldentaten, aber – den Regeln geschuldet – nur mit diesem fürchterlichen Abstand: Telefon, E-Mail, Skype. Noch nie ist mir so klar gewesen, in welcher Abhängigkeit ich zu den inniglichen Umarmungen und intensiven Aug-in-Aug-Gesprächen stehe.

Wenn es endlich wieder losgeht, wird der sensible André bei den Lesungen die Rolle meines Köpenicker Herzens übernehmen, mit dem ich mich auf den folgenden Seiten im Zwiegespräch befinde. Es berlinert ein wenig, denn es war im ersten Teil meines Lebens etwas unterfordert. Nun, im fortgeschrittenen Alter, haben die Verkopfungen nachgelassen, und mein Herz und ich sind eine Symbiose eingegangen. Ab sofort bin ich nie mehr allein.

Dirk Zöllner, Berlin-Köpenick, den 15. Juni 2020

Herz oder Zahl?

Bei schlechten Gedanken kann ich mich nicht aufhalten. Ich spüre da sofort körperliche Auswirkungen. Aber was ist überhaupt schlecht? Und was gut? Alles dreht sich, sogar die Wahrheit. Ich kann mich nur sehr schwer entscheiden, denn der liebe Gott hatte leider kein Foto für mich. Kein vorgefertigtes Korsett. Kein passendes Kostüm.

Grundsätzlich würde ich mich ja in meinem Glauben eher links verordnen – zumindest trage ich die Illusion von der großen Gerechtigkeit in mir, bin getrieben von der Sehnsucht nach unbetretenem Land. Links hat für mich allerdings nur noch wenig mit der Partei dieses Namens zu tun – die verbliebenen Visionäre sind so spaßfrei. Da sehe ich kein lebensfrohes Ideal mehr blinken. Bei den Linken ist wenig Vergnügen zu finden.

Meine Kirche ist deshalb eine kunterbunte Mischung aus allen möglichen Religionen und weltlichen Glaubensgemeinschaften. Mit meinen fast sechzig Jahren lebe ich immer noch wie ein Student. Antiautoritär, in Kommune mit Freundin und Kindern. Das Haus steht offen für Gäste. Mir ist klar, dass die meisten Menschen nicht so turbulent leben wollen, und ich habe Verständnis für konservative Sicherheitsbedürfnisse.

Meine Freunde sind auch keinesfalls nur Studenten, Kommunisten oder Musiker! Keine Filterblase, das Herz ist immer entscheidend. Ich stelle sogar die Behauptung auf, dass fast jeder ein Herz hat beziehungsweise keiner dafürkann, wenn er mit einem etwas verkümmerten daherkommt. Ich bin überzeugt: Ein Herz ist das, was man daraus macht.

Herz oder Zahl? Das ist in der Tat eine elementare Frage. Man will doch zuerst mal dabei sein. Dazugehören. Mitspielen. Der Mehrheit angehören. Dafür muss man aber wohl oder übel der Vernunft folgen und als Zahnrädchen in der Maschinerie der Geldgenerierung funktionieren.

Wenn man sich dagegen für das Herz entscheidet, wird man unweigerlich zur Randfigur. Das muss man aushalten können! Es gibt die Möglichkeit, in Enklaven abzutauchen, um nicht allein zu sein. Auf dem Lande, an entlegenen Orten, gibt es immer mehr Inseln, die einem Kibbuz nach israelischem Vorbild ähneln. Verbindungen von Aussteigern, die ein alternatives soziales Miteinander leben. Hier können Sonderlinge durchaus ihr Glück finden.

Als Musiker oder Künstler zu leben ist ebenfalls ein Sonderweg. Also ein Weg für Sonderlinge. Wenn ich hier von Künstlern und Musikern spreche, meine ich ausdrücklich nicht die Lohnsklaven der Musikindustrie. Wer sich der Suche nach dem wahrhaftigen Ausdruck der Liebe verschrieben hat, braucht logischerweise das Herz als Arbeitsgrundlage. Und wer diese Prozedur überlebt, kann am Ende eventuell über ein ausgewachsenes Organ verfügen. »Ich glaub, es gibt das Glück!«, hat der große, melancholische André Herzberg mal gesungen. Ja! Das glaube ich auch!

Geld oder Liebe? Meine Freundin Johanna ist – so wie ich – eine freischaffende Überlebenskünstlerin. Unsere Ansprüche sind bescheiden, aber schöner Raum zum Wohnen und Arbeiten ist leider unerlässlich. Als die Liebste vor knapp drei Jahren unserem Ludwig das Leben schenkt, bin ich plötzlich der alleinige Jäger und Geldsammler. Ich schreibe, organisiere und spiele auf allen Brettern, die halbwegs als Bühne zu bezeichnen sind. Ein Ur-Instinkt lässt mich rotieren, es rattert derartig in meinem Kopf, dass ich überhaupt nicht mehr runterkomme. In den schlaflosen Nächten muss ich mich mit Computerspielen, Facebook und Rotwein ruhigstellen. Und siehe da – plötzlich machen mir auch die Bandscheiben wieder zu schaffen! So wie ganz früher, als ich noch permanent unter gesteigertem Ehrgeiz litt. Aber außer Rücken hab ich nun auch noch Magen und irgendwelche anderen Beschwerden im Oberkörper, die nicht eindeutig zuzuordnen sind. Johanna gegenüber diagnostiziere ich Lungenkrebs. Aber die versteht keinen Spaß und nervt so lange rum, bis ich schließlich einen Arzt konsultiere.

Es ist wie immer: Schon im Warteraum bin ich schlagartig genesen und beim Onkel Doktor selbst fühle ich mich wie ein Simulant. Während meine Ausführungen an ihm abperlen, hört er schon den Brustkorb ab. Aus Gründen der Effizienz wird mir auch gleich noch ein EKG empfohlen. Was für ein Glück! Mein Arzt erkennt sofort eine schwere Herzrhythmusstörung, und ich werde umgehend zur Notaufnahme ins Krankenhaus Köpenick überführt. Vorbei an klaffenden Wunden und geborstenen Gliedmaßen lande ich direkt auf dem Tisch eines Spezialisten, der mich erneut durchcheckt. Seine Diagnose: extreme muskulöse Verspannung bei mir. Und ein kaputtes Messgerät beim Hausarzt.

Geld oder Liebe – was für eine absurde Frage! Ich überlasse mein Herz nie wieder irgendeiner Maschine und schon gar nicht der Maschinerie irgendeiner Gesellschaft – mein Herz ist ab sofort Chefsache!

Wie kuhl – ick bin dir also ’ne Herzensanjelegenheit! Dit trifft sich ja ausgezeichnet, Chefchen, ick hätte da ooch gleich mal ’ne Frage: Wie meinste denn dit mit den linken Spaßbremsen? Du bist doch eigentlich janz lustig!

Ja. Unbedingt. Aber ich bin ja auch nicht so ganz der typische Visionär. Ich denk mir zwar auch so Sachen aus, aber die singe ich dann meistens.

Dit sollten die Linken ooch mal versuchen! Vielleicht hört denen dann ooch mal wieder eener zu!

Lieber nicht. Wer sich irgendwas ausdenkt, ist dann auch nur irgendwas. Aber noch lange kein Künstler. Ich glaube, dass alle Künstler links sind! Zumindest solange man sie als solche bezeichnen kann, also in der kreativen Phase. Wenn einer anfängt, Geld zu sammeln, hat er auch nicht mehr dringend etwas zu sagen. Er ist dann Kunstarbeiter, singt Schlager. Oder malt Fotos ab, schreibt Drehbücher fürs Traumschiff oder spielt eine Rolle auf selbigem. Er macht dann sozusagen aus Kacke Bonbons. Aber ich sage dir eins, mein Herzchen: der Verlust des Ideals kann krank machen!

Na, dit wolln wa ja nich, oder! Also immer schön uff mich hörn, uff deine linke Seite. Ja? Lasset loofen, mach dir nich immer so’n Kopp! Watt is’n dit überhaupt für ’ne Angst? Also die von den andern, von den Nichtlinken?

Das ist die konservative Beschränktheit, also so eine Art klaustrophobischer Zustand. Immer dieselben engen Runden im Hamsterrad! Genau genommen mit Hospitalismus zu vergleichen, mit diesen sich ständig wiederholenden Bewegungen von eingesperrten Tieren.

Ja, dit kommt davon, wenn man immer nur uff seinen Kopp hört! Wie kann man bloß so herzlos sein, sich selber einzusperren? Ick werd ja von den meisten Menschen schon mit Ende der Schulzeit entsorgt. Da hört jeder Spaß uff, so janz ohne mich! Nun kommt der Ernst des Lebens! Wer hat dit dickste Auto, wer hat den dicksten Schwanz, wer is dit dickste Sahnehäubchen, oben uff der Torte? Und am Ende kommt’s dann so dick, dass dit janze schöne »Schlaraffia« von ner fetten Depression heimjesucht wird.

Stimmt, mein Herz! So ganz ohne dich wird man irgendwann zum »Ich-Männlein oder -Weiblein«. Nur ein herzloser Vasall kann auf die Idee kommen, einen Zaun um sein Häuschen zu ziehen, anstatt neue geistige Räume zu schaffen! Aber das Zusammenspiel zwischen dem Kopf und dem Herzen ist schon wichtig. Um mal ganz ehrlich zu sein: Ich hab es nicht ganz einfach mit dir und deiner Überpräsenz! Du bist mitunter ziemlich unbedarft, um es mal vorsichtig auszudrücken. Wenn ich ganz und gar auf dich hören würde, hätten wir beide sehr eingeschränkte Überlebenschancen!

Hallo? Sag mal, willste mich brechen? Hast du irgendein Beweis für deine steile These?

Ja! Dean Reed zum Beispiel. Das war so’n Typ, der hatte zwar auch ’n bisschen was im Kopf, aber der hatte vor allem ein Herz – und das war so groß wie ein ausgewachsenes Schnitzel! Da kam dieser blutjunge, unglaublich schöne Mann aus den USA auf diese Insel namens DDR und brachte den müden Insulanern einen guten Schwung an neuer guter Hoffnung mit und verkündete alles mit hellem kindlichem Blick. Er machte aus Parolen Sehnsuchtsbilder, und vor allem die Frauen und Kinder fielen in Liebe zu ihm. Die Männer beäugten ihn mit Eifersucht. Und die mit den zugeknöpften Gesichtern und verkümmerten Herzen haben ihn am Ende missbraucht. Und er musste irgendwann erkennen, dass sein Panzerkreuzer Potemkin nur ein verkleidetes Traumschiff war, mit einer Besatzung aus verkleideten Gartenzwergen. Und er sprang bei Berlin über die Reling und versank im Zeuthener See.

Alter, ick schwelle! Scheiß uff dit Schnitzel, ick bin gleich so groß wie’n Köpenicker Eisbein! Mach jetz bloß keene Mördergrube aus mir! Ick kann dir helfen und leg mich janz lasziv uff deine Zunge. Los, raus mit dem Scheiß!

Vom Sockel

Es gibt Figuren des öffentlichen Lebens, die so eng mit der eigenen Biografie verbunden sind, dass ich sie als vollwertige Familienmitglieder empfinde. Obwohl die mich gar nicht kennen, oder vielleicht nur am Rande Notiz von mir nehmen. Dazu gehört, wie bereits erwähnt: Dean Reed. Aber auch Gojko Mitić, Udo Lindenberg, Chris Doerk und Frank Schöbel, Gregor Gysi, die Digedags und Ritter Runkel, Boris Becker, Angela Merkel … um nur einige von ihnen zu nennen. Diese Lichtgestalten stehen für mich über den Dingen. Ich freue mich, wenn es ihnen gut geht, und ich leide, wenn es mal nicht so läuft. Die Puhdys gehören auch dazu. Alle, die jemals dabei waren: Gunther Wosylus, Harry Jeske, Peter Meyer, Klaus Scharfschwerdt, Peter Rasym und vor allen die beiden Dieters – »Quaster« Hertrampf und »Maschine Birr«. Im schönsten DEFA-Film der Welt, der »Legende von Paul und Paula«, spielen die Puhdys – neben Angelika Domröse und Winfried Glatzeder – die Hauptrolle und haben sich mit ihrer Darbietung von »Geh zu ihr« und »Wenn ein Mensch lebt« für immer in mein Herz gebrannt.

Nun führen sie einen Rosenkrieg, der von Bild & Co genüsslich ausgeschlachtet wird. Alle, die diese Band im Herzen tragen, winden sich vor Pein.

In einem Interview mit der Berliner Zeitung vom Anfang des Jahres 2020 offenbarte Maschine nun den Ursprung der Familienfehde: eine Verletzung, die ihm 2013 von seinen Kollegen und dem Management zugefügt wurde. Ein Alleingang, ohne den Frontmann. Er kann diese Illoyalität nicht verwinden, es gärt immer weiter, und der Kapitän verlässt den immer noch flotten Kahn.

Die Puhdys befinden sich mittlerweile fast alle im achten Lebensjahrzehnt, aber ein echter Musiker kann natürlich nicht in Rente gehen. Jeden Einzelnen zieht es weiterhin auf die Bühnen, die sind nun allerdings kleiner als gewohnt. Selbst Maschine kann allein nicht mehr die ganz großen Arenen bespielen, und das lässt ihn nicht kalt. Da ich selbst an der Front einer Musikerbande stehe und berufsbedingt mit einem großen Ego ausgestattet bin, ist das für mich nachvollziehbar. Je größer der Erfolg, desto größer wahrscheinlich auch das Ego der Gallionsfigur.