Himmelfahrt eines Staatsfeindes - Friedrich Christian Delius - E-Book

Himmelfahrt eines Staatsfeindes E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

In einem fröhlich-überbordenden Festzug durch Wiesbaden werden drei tote RAF-Gefangene zu Grabe getragen - vorn die schwarzrotgolden geschmückten Särge und auf roten Ordenskissen die «höchsten Reliquien des Terrors», die Selbstmordwerkzeuge; dahinter Polizeikapellen, Trachtengruppen, Kegelclubs und schwarz vermummte Sympathisanten. Alle sind angetreten zu diesem Akt der Versöhnung mit ihren Lieblingsfeinden, zur Würdigung der Verdienste der RAF um den Zusammenhalt der Nation. Der Staat und seine Terroristen, sie haben einander so sehr gebraucht. Delius´ dritter und abschließender Roman über den «Deutschen Herbst» - eine spöttische Bilanz der Beziehung zwischen Staat und Terroristen, «gegen die rechte und linke Rechthaberei, gegen die offiziellen Lügen und die Selbst-Belügungen der RAF». «Ein vieles wagendes und als Roman alles gewinnendes Buch.» (Frankfurter Rundschau)

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Seitenzahl: 447

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Friedrich Christian Delius

Himmelfahrt eines Staatsfeindes

Werkausgabe in Einzelbänden

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Motto1 Der Schuss ...2 Im fernen ...3 The whole ...4 Auf dem ...5 Alles geschieht ...6 Damen und ...7 Alles in ...8 Ich starrte ...9 Eh ich ...10 Kassette 1, ...11 Wie viele ...12 Vor zwanzig ...13 Grün-weiße Helme über ...14 – Viel ...15 Dies ist ...16 «Ist es ...17 Kassette 1, ...18 Wer eine ...19 Gott sieht ...20 – Mischt ...21 Geht dir ...22 Noch nie ...23 Eins können ...24 Auf dem ...25 Kassette 2, ...26 Die fünf ...27 – Bleibt ...28 «Zur Sache, ...29 Haben die ...30 Am «Alten ...31 Lasst die ...32 Meine Hand ...33 – Was ...34 Keine Reden, ...35 Kassette 2, ...36 Zwischen den ...37 Nagels Sarg ...38 Wenn Sie ...39 – Seid ...40 Die größte ...41 Auf dem ...42 Draußen schwirren ...43 Ich kanns ...44 Kassette 3, ...45 Was kann ...46 – Ablage! ...47 Immer hereinspaziert, ...48 Schreibt mit, ...49 «Natürlich können ...50 In dünnen ...51 Die Adler, ...52 Kassette 3, ...53 Wer nicht ...54 Begrüße ich ...55 Es dauert ...56 So leicht ...57 Ja, es ...58 Auf dem ...59 Der Schuss: ...60 Ist spät ...61 Eignen Befehlen ...62 Der Schuss ...Editorische NotizenRezensionen
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Ich habe ihn geliebt.

Horst Herold (BKA) über

Andreas Baader (RAF)

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1 Der Schuss tat nicht weh: ich lag auf dem Rücken, auf den warmen Wellen meines Bluts, und schwebte, ohne Arme oder Finger zu rühren, höher und höher: alle Gewichte fielen vom Körper ab, immer neue Schübe der Erleichterung, und ich stieg auf: in ein helles, freches Glück hinein, das die Zeit aufhob, mich allem überlegen machte, Wände und Horizonte wie mit Laserstrahlen aufschnitt: im Tod das Auge offen wie nie im Leben und süchtig nach Bildern –

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2 Im fernen Metallgeflirre zwischen Gleisen, Masten und Stromdrähten erscheint ein Punkt, der sich im sonnigen Dunst bewegt, vergrößert und Farbe gewinnt: Augen und Kameras erfassen nach und nach den roten Leib einer Lok, einen Zug von vier Wagen, der mit abnehmender Geschwindigkeit dahin gelenkt wird, wo die Spannung steigt, in die von Scheinwerfern erhellte Bahnhofshalle: eine Fernsehkamera verfolgt die letzten Umdrehungen der Räder, Handfunkgeräte wachsen an männliche Ohren, Polizisten rücken mit leicht gespreiztem Schritt auffälliger in Positur, und ausgewählte Zuschauer, unter den Bögen zwischen den Bahnsteigen, im weiten Halbrund zwischen Blumenkübeln und rot-weiß gestrichnen Absperrgittern, recken die Hälse –

Im schönsten Kopfbahnhof Europas (roter Sandstein, neubarocke Außenwände, Innenausbau Jugendstil, breites Blätterrankenwerk zwischen Werbehalleluja für Lotto, Zigaretten, Versicherungen) quietschen Bremseisen, und die Lok hält kurz vor dem Prellbock am Bahnsteig 1 –

So wird es sein, es war einmal, wer erinnert sich: auch wenn ich unsichtbar blieb, werde ich alles gesehen haben oder doch mehr als die meisten Zuschauer: und da ich auch mit dem Schuss durchs Hirn nicht völlig gestorben bin und neben der Pistole liege wie ein erledigter Käfer, lebe ich noch heute ein paar Sekundenstunden und darf sagen: es war einmal –

Auch wenn ich nicht weiß, aus welcher Stadt das Polizeiorchester kommt und ob die musikalische Darbietung Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot oder Kaiser-Franz-Trauermarsch heißt: schmissige Takte jedenfalls, die einigen Herren aus der Reihe der Ehrengäste das Signal geben, auf rotem Teppich, begleitet vom Haufen der Presseleute, an den ersten Wagen heranzutreten, dessen Tür von innen geöffnet wird: mit gesenktem Blick, grauem Mantel und schwarzer Armbinde steigt ein älterer Herr aus, dem mehrere dunkel gekleidete, überwiegend weibliche Personen folgen, die sich verwundert umschauen –

Das hättest du nicht gedacht, Mutter, wie ein Staatsgast empfangen zu werden im Scheinwerferlicht, mit Musik, Buchsbaum und einem halben Dutzend Politiker, die es auf deine Hände abgesehen haben: meinetwegen: Kondolenz plus Erleichterung, dass er endlich tot ist, dein Sohn –

 

Vor dem dritten und vierten Wagen des Zuges gibt der Kameramann ein Handzeichen: die Türen öffnen sich, nachlässig gekleidete, schlecht frisierte, mürrisch dreinschauende junge Leute treten zögernd auf den Bahnsteig: einige verdecken, als sie die Kamera eingeschaltet sehen, ihre Gesichter mit Tüchern, drehen sich dem Wagen zu und zeigen die ausgebleichten Rückseiten ihrer Jeansjacken und fassen erst Mut, als immer mehr von ihnen sich auf den Bahnsteig schieben: eine schwarz gekleidete Gruppe hebt sich auffällig vom 1.-Klasse-Waggon ab: sie wirken bedrohlich und unbeholfen, aber nicht irritiert von der Hundertschaft bewaffneter Polizisten: die auf sie zurückt in ruhigem Schritt und ohne aggressive Gebärden und auf dem engen Bahnsteig die wilde Meute in die Mitte nimmt –

So wird es sein, so ist es gewesen: als mich, aufwärtsfallend, zum ersten Mal der Gedanke juckte: Im Tod hört alle Feindschaft auf –

Die Kamera wird zur Mitte des Zuges gerollt, nah an den zweiten Waggon, einen fabrikneuen Gepäckwagen, vor dessen Ladetür eine kleine Treppe aus Leichtmetall gestellt ist: ein Trommelwirbel, Tür auf, und sechs Polizisten marschieren auf das Treppchen zu, steigen in den Gepäckraum und kehren mit einem weiß lackierten Sarg zurück: Hüte werden abgenommen, Fotoapparate höher gehoben, Standbeine gewechselt: unbeirrt von den Blitzlichtern tragen die Beamten den Sarg mit eingeübten Bewegungen über die vier Stufen und an Honoratioren und Hinterbliebenen vorbei, den schmalen Bahnsteig entlang, und verharren auf der Höhe der Verkaufsstände, drei Männer mit der rechten, drei mit der linken Hand die Last des Holzes und einer Leiche am Tragegriff umklammernd –

Sie warten auf eine zweite Gruppe von Uniformierten, die, von Trommlern, Kameras und Augen der Zuschauer begleitet, einen zweiten Sarg aus dem Waggon holt und hinter den Kollegen aufstellt: und noch einmal sechs Polizisten transportieren, exakt wie ihre Vorgänger, einen dritten Sarg auf den Bahnsteig –

Da hören die Trommelwirbel auf, und für einen Augenblick klopft nur das Echo trockener Schläge durch die Halle: andere Polizisten tragen Kränze und Blumengebinde aus dem Gepäckwagen und schließen zur Gruppe der Sargträger auf, zwischen ihnen postieren sich drei Beamte, die Kissen aus rotem Samt in Händen halten: auf zwei Ordenskissen liegt je eine Pistole, auf dem dritten Kissen ein zusammengerolltes Elektrokabel –

Nun setzt sich alles in Bewegung, vornweg das Polizeiorchester, dann die Polizisten mit den Särgen, dahinter ihre Kollegen mit den Ordenskissen und Kränzen, Hinterbliebene und Honoratioren folgen, und am Schluss der Pulk junger Leute, eingerahmt von Beamten in Kampfanzügen und weißen Helmen: alle begleitet und gestört von zappligen Fotografen und herrischen Kamerateams, die eine ordentliche Formierung des Trauerzugs behindern, der nach und nach das große Spruchband passiert, das hoch in der Halle gespannt ist: WIESBADEN BEGRÜSST SEINE TERRORISTEN –

Also auch mich, und da bin ich –

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3 The whole world meets in Wiesbaden: damit die Lüge wahr wird, bin ich dabei, ohne mich ist die Welt nicht vollständig: da bin ich, getarnt als Kurgast, Flaneur in der Fußgängerzone, unsichtbarer Schwimmer im Staatsbad, einmal dem Jungbrunnen des heißen Natriumchloridwassers entstiegen, aufgestanden, auferstanden, wie es die Art oder der unbändige Trieb der Seelen ist –

Einmal die Kugel durchs Hirn, und plötzlich bin ich: ein Vogel: ein Luftgeist: ein Wesen unerreichbarer Leichtigkeit oder ein Spaziergänger im Nizza des Nordens an einem Herbsttag so mild –

Ich trage mich ein im zweitbesten Hotel der Stadt unter dem Namen Jörg Dreifaldt und zahle in bar die Kurtaxe, die man mir in der Hölle erstatten wird, gehe die vorgeschriebenen Wege zwischen Kaiser-Friedrich-Bad und Hotel, zwischen Fußgängerstraße, the pedestrian zone always has a tumultuous life, und Kurpark: die Stadt des Rückzugs, der Entfernung aus dem Kampf ums Dasein, und beobachte die Laubmänner, wie sie mit Harken die letzten Blätter einfangen und auf Gabeln wie eine kostbare Beute oder wie eine tote Ratte in die Behälter tragen, ja the whole world –

Meinetwegen: der Körper im weißen Sarg in den Hauptbahnhof und dann durch die Stadt kutschiert: was ließe sich aus unserm Begräbnis nicht alles machen, eine große Schau der Großzügigkeit, Einsicht, Versöhnung: im Tod hört alle Feindschaft auf: einfach meiner Leiche die Feindschaft verweigern: wenn das kein Anstoß ist für die Seele zum großen Sprung: Salto mortale ganz allein für mich –

Wer gesteht einem wie mir: dem Mörder, vierfach, zehnfach, tausendfach, Zahlen spielen keine Rolle in dieser Bundesliga: noch eine Seele zu, sogar eine, die auffliegt und frei sich bewegt: wem das zu weit geht, der denke bitte an die Bildungslücken: ein Vogel, der aus des Sterbenden Mund geflogen kommt –

Ich weiß jetzt, da mich mein Atem nicht mehr schmerzt, wo es langgeht: up, up and away, jetzt kann ich von oben und unsichtbar allgegenwärtig dazwischenfahren und über alles hinwegfliegen, was da passiert: meinetwegen: schneller, höher, weiter steigen: das letzte Schlusswort meinen lieben Trauergästen –

Ich gegen alle und alle gegen mich, wie es seit zehn Jahren geht, in jeder Minute Kampf: und wie wir einander fixieren bis in die Ritzen der Träume, und immer noch und jetzt erst recht, und in späteren Zeiten wird gefragt: warum nur, warum? oder alle Schlagersänger vereint am Samstagabend im Finale vor dem Wort zum Sonntag: warum nur, warum? was treibt einen bayerischen Buben wie mich zu dem, was man Wahn nennt, kämpfen und schießen und bomben? welche Einflüsse, Versäumnisse, Kränkungen, welche schlimmen Flüsterungen, bis das verdiente böse Ende: wenn am Ende aus dem Machandelbaum das geschlachtete Brüderchen fliegt als Vogel: kiwitt, da bin ich: und von den Hausdächern singt:

mein Mutter, der mich schlacht,

mein Vater, der mich aß,

mein Schwester, der Marlenichen,

sucht alle meine Benichen,

bindt sie in ein seiden Tuch,

legts unter den Machandelbaum,

Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel bin ich!

Schön muss ich singen, schööön, dann winkt die Belohnung: denn Elvis Presley, Sepp Herberger und Ernst Bloch sind schon gestorben in diesem Jahr, Chaplin an den Rollstuhl gefesselt und Beckenbauer an Cosmos New York, Mao liegt im Schneewittchensarg: wie gut, dass es noch einen Helden gibt, meinen Selbstmörderleichnam von weiß behandschuhten Polizisten getragen: ein schönes Begräbnis wünsch ich –

Ein unvergessliches Fest: das Verkehrsamt verspricht nicht zu viel rund um den Hessischen Landtag inmitten der Bannmeile: et là où se trouve le marché, on fait aussi de la politique, en petit et en grand: ein Fest voller Staus und Missverständnisse und Farben, wie nur ein deutscher Herbst sie zaubert: meinetwegen wird noch am Mittag geputzt und gehämmert, volle Bierfässer rollen in die Keller, Stühle werden zurechtgerückt, Eisfabriken sorgen für Nachschub, Sektkellereien stellen Probepackungen kalt, die neuesten Hits werden in die Musikboxen versenkt, Klaviere gestimmt, Lautsprecher installiert, Kabel entrollt, Erbsensuppen vorgekocht, Autolack gewienert, und wenn meine Deutschen ein Volk wären, das Ochsen am Spieß liebt, wären die Feuer längst entzündet und das Vieh gewürzt: here the people know what celebrating means, simply because they are happy people –

Meinetwegen: Wiesbaden wunderbar auf dem Faltprospekt im Hotelzimmer, und wenn ich aus den Kissen höher steige, weiter schaue: Tausende von Menschen auf den Beinen: das Spektakel, mich endlich tot und begraben zu sehen: in der Stadt, ein Platz, wo Kräfte gesammelt werden: in überfüllten Zügen rücken sie nach, im dichten Verkehr auf Autobahnen, auf Nebenstraßen, alle wollen sie möglichst nah ran: ein Tag der offenen Tür –

Alle rücken zusammen, gehen aufeinander zu: meinetwegen in der Stunde der Not, die Herausforderung, die ich ihnen geliefert, bestanden: der Staat seine Reifeprüfung: ein großer Tag für das Kleingewerbe in Zelten und Buden an den Feststraßen der Landeshauptstadt: to see and be seen is the motto for many people –

Bald seid ihr mich los, ein Friedhof findet sich immer, und alle Märchen werden wahr: die Mutter kocht mich als Sauerfleisch und setzt es dem Vater auf den Tisch, dem schmeckt es so gut wie noch nie, der will gar nicht aufhören: als wenn das alles meins wäre: das geschlachtete Brüderchen unterm Machandelbaum, guten Appetit! unterm Wacholderbaum, Prost! und schon auf dem Dach in der Höhe das Vorspiel zum Happy End: kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel bin ich –

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4 Auf dem Platz vor dem Bahnhof warten mehr als tausend Menschen: Spannung löst, Spannung steigert sich, als fünf Motorradpolizisten gestaffelt auf der Fahrbahn Position beziehen und drei Pritschenwagen der Marke Ford Transit aufrücken, der erste schwarz, der zweite rot und der dritte goldgelb lackiert, hinter ihnen drei schwarze Opel-Limousinen: der zackige Schlagtakt der Instrumente und die buffenden Akkorde, die aus dem Bahnhof dringen, versprechen das Ende langen Wartens: Fotografen schwärmen ins Freie, lehnen über Absperrgitter, und hoch in der Luft verharrt ein Hubschrauber im Standflug –

Und ich da oben: das Ich verlässt den Körper, der sich in der Zelle streckt und noch nicht mit den Würmern anfreunden muss: aufwärts und raus aus der Kälte der Leichenkammern und vorsorglich weg vom Sektionsbesteck: auf und davon ohne die frische Wunde, in der die Ärzte stochern, ohne die Narben, die im Takt des grausamen Herzmuskels pochen –

Da höre ich lieber polizeiliche Musik, die alle anderen Geräusche wegschiebt und neue Zuschauer anlockt, die aus Bussen entlassen werden: Uniformen bringen an jeder Ecke Farbe und Ordnung ins Bild, aber die grünen Beamten sind gerade in der Stärke eingesetzt, die dem Ereignis eher einen feierlichen als einen bedrohlichen Rahmen verschafft: die weißen Särge werden auf den Vorplatz hinausgetragen, und nur die Langsamkeit der Schreitenden, vielleicht auch der Respekt vor dem Fernsehen, hält das Publikum davon ab, Beifall zu klatschen –

Es ist mir egal, ob man das wieder als Größenwahn auslegt: wenn ich meine Stichworte dem Reporter zuflüstere, der den Zuschauern an den Bildschirmen die Erklärungen liefert, leise und ehrfürchtig, und die Namen Sigurd Nagel, Elisabeth Jeschke, Rainer Wollzeck nennt und andere Namen, wenn den Särgen die nächsten Verwandten und Honoratioren folgen, Vertreter der Stadt, des Landes, des Bundes –

Nie so nah bei mir selbst wie jetzt: wenn Trommelwirbel und Blitzlichter gleichzeitig: der erste Sarg wird auf den schwarzen Ford gehoben, der zweite Sarg auf den roten, der dritte auf den goldgelb gestrichenen Pritschenwagen: wieder ein Trommelwirbel, schwarz-rot-goldene Fahnentücher werden auf die Särge gedeckt und befestigt, Motoren gezündet, die Hinterbliebenen tauchen in die Limousinen, Musikanten und Kissenträger formieren sich neu –

Die fünf behelmten Fahrer der Polizeimotorräder führen den Zug um die Kurve, hinein in die Bahnhofstraße: vor ihnen der Wagen des Fernsehens, dessen Kamera über flatternden Fahnen die Totale aufnimmt: den sandsteinleuchtenden Bahnhof in voller Breite mit kurzem Zoom aufs Gesims, auf einen über einer Germaniafigur mit Medusenkopf thronenden Adler, ebenfalls aus Sandstein, der die Bahnhofstraße hinaufstarrt, genau in die Richtung des Trauerzugs, in die Kamera: Gelegenheit für den Reporter, endlich den vorbereiteten Satz abzulesen: Seit Kaisers Zeiten, seit Kaiser Wilhelm dem Zweiten und den feierlichen Begrüßungen am Fürsteneingang hat der Hauptbahnhof des Staatsbades ein solch festliches Bild nicht mehr erlebt –

Ja, das gibt mir neuen Auftrieb: wenn ich von unten den Empörungsruf höre: ja, wo leben wir denn?

Wir leben im Jahr des Kindes, oder irre ich mich? und das Glück liegt zwischen frischem Atem und der Einzelradaufhängung, oder irre ich mich? zwischen Sangrita für Feinschmecker und dem Marantz-Kopfhörer mit höchsten Entzerrungsspitzen, und es ist das Lächeln, das eure Welt zusammenhält, und wer da immer noch rätselt über mich und nicht erklären kann, warum nur, warum, dem sag ich: ich wollte euch das falsche Lächeln abgewöhnen, nichts weiter, das anfotografierte Werbelächeln, das Täuschlächeln, das wie der Krebs von innen her frisst, das ewige Hochzeitslächeln, mit dem ihr ganze Kriege tarnt –

Wollte alles verraten, was euch teuer ist, ihr Weltmeister in allen nichtolympischen Disziplinen: Weltmeister der Empfindlichkeit auf 100 Metern und des Vorauseilenden Angsthabens auf 10000 Metern, Europameister im Jammern (Freistil), durchtrainiert auf 8524 Bundeskegelbahnen, wollte euch in die Knie gehen sehen: fünfzig Millionen Fernsehzuschauer, und fünfzig Millionen Fernsehzuschauer können nicht irren, sitzen gepolstert und gehen nicht in die Knie, höchstens vor dem Papst am Ostersonntag urbi et orbi im Wohnzimmer: und spielte darum die andere Rolle, die ihr sehen wolltet, den Bösewicht urbi et orbi, den Staatsfeind von allerhöchsten Gnaden, hier habt ihr mich endlich, nehmt mich fest und nehmt mir das Rätsel: wann fing sie an, die unversöhnliche Stimme in mir, Eskalation, Subversion, Aggression, all diese lieben Begriffe? und die einen behaupten: mit der ersten Demonstration, mit dem ersten rebellischen Buch, mit dem ersten Trip, dem ersten Bruch muss es angefangen haben, und andere sagen: nein, viel früher, welches Elternhaus und so weiter: warum ich euch hassen musste: oder was für eine Art Liebe mein Hass –

Ich bin sowieso eine Erfindung: einen größeren Verbrecher als mich gibt es nicht: und ihr seid meine Erfindung: Charaktermasken, die ich mehr liebe, als ihnen lieb ist: also sind wir kwitt, kiwitt, kiwitt –

Was mich trägt und hebt, ist euer Schrecken, der mich allgegenwärtig macht, unberechenbar lass ich euch rechnen, wann ich niederfahre und zum nächsten Schrecken aushole –

Und tauche zwischen rasenden Flugmaschinen durch, die den Himmel besetzen und in jeder zweiten Minute zweihundert oder fünfhundert Passagiere zum Erdboden befördern und in der nächsten Minute ein ähnliches Gewicht ganz ähnlicher Menschen in die Höhe heben und mit tonnenschwerem Schub hinwegtreiben aus der Gegend Rheinmain, und jeder darin angeschnallt im Getümmel des Luftraums schiebt die Angst fort: es könnte die Bombe ihn treffen, die ich –

Ich hab es darauf nicht abgesehen, auch wenn eure Angst mir schmeichelt: ich liebe den Blick von oben: gönnt mir nach fünf Jahren hinter den Mauern, nach Jahren des Versteckens und Verstecktwerdens noch einmal den ruhigen Blick hinab auf die verstädterte Dorflandschaft: dort hat einmal ein Krieg stattgefunden, und nun sind alle stolz darauf, den Krieg und die Selbstverständlichkeit schneller Tode besiegt zu haben –

Nein, ich heule nicht, aber man wird ja noch milde werden dürfen, wenn alle Uhrwerke einstürzen und der Raum in fünf, sechs, sieben Dimensionen zersplittert und der letzte Blick alles vergoldet oder in Blau taucht –

Weinberge herausgeputzt wie unter Denkmalschutz, Kartoffeläcker Bauerwartungsland, Wälder Naherholungsgebiet, jeder Autobahnkilometer ein Stück Wiedergutmachung: pourquoi aller chercher si loin la beauté à portée de la main, Monsieur Dreifaldt?

Und jetzt komm ICH und verstreu mein Herz zwischen die guten Leute, streue meine Hautfetzen und Gewebeteile über ihnen aus, und das Schlimmste: ich versprech einen neuen Krieg und lach mir einen und staune, mit welcher Ruhe sie ihre Einsamkeit besiegen, wie fest sie die Lenkräder halten, als wüssten sie den einzigen Weg –

Adieu, verdammt, adieu –

Die Kunst des Abschiednehmens, ohne zu klagen: ein Herzschlag, ein Lächeln, und weiter geht das wadenstarke Leben auf den Trimmpfaden, wer impft das Grundwasser, setzt Larven aus und Antilarven: alle Siegfriede drängeln schon wieder um die Quelle, nichts ist überzeugender als der Erfolg, die Krankheiten der Zukunft sind bekannt, Versicherungen zahlen Schmiermittel, und alles, was nicht unters Bruttosozialprodukt fallen will, wird leise enteignet: die Macht stützt sich auf Lieferscheine: wer spricht von Gewehrläufen –

Manövergebiet, Hubschrauberlandeplätze, Kasernen, Polizeischulen: wo bin ich, wenn ich heule: das kleine Ich spielt keine Rolle mehr, wer von Subjektivität spricht, ist der letzte Romantiker auf der Rheinschiene: bitte einmal die Bahnstrecke Bingen–Koblenz hin und zurück oder lieber als gute Seele in der Luft –

Ich schwimme, ich schwamm, ich werde schwimmen, ich werde geschwommen sein: im Blut, mit Verlaub, und schon in der Höhe: und ruhig fließt der Rhein und wäscht eine Landschaft, in der sich, wer kann, groß und stark fühlen darf und mit samtenen blauen Scheinen alles erlauben: was für eine schöne Gegend könnte das sein, Adieu: mit dem Hotelprospekt in der Hand, each stone is a story and a presence full of life, Mister Dreifaldt –

Adieu mein Land, das mir nicht gehört und niemals gehören wird: dickwandige Partykeller, die in die Nässe der Äcker und sauren Wiesen eingebunkert sind, und daneben die verstopften Autobahnen: meinetwegen die Züge im Abstand von Signal zu Signal: meinetwegen sogar auf Nebenstraßen im Raum Wiesbaden Staus: meinetwegen Gewimmel, die Welle am Rheinufer, da bin ich, am Rhein, da lässt sichs leben, da kann man glücklich sein: die letzten Blätter, die aus den Pappeln winken, die Bewegung: bin: ich –

Sie haben schon recht, meine verehrten Trauergäste, wenn Sie mir und meinen letzten: was sage ich: allerallerletzten Phantasien nicht trauen: gestatten, Sigurd Nagel, Falschname Jörg Dreifaldt, Falschname Ahab, Falschname Ernst Kottwitz, der schlimmste Ganove der Nachkriegsgeschichte: objektiv bin ich sowieso nicht –

Aber bei Sympathy For The Devil sind Sie glücklich, schunkeln und kiffen: schauen Sie also auf die Tatsachen: hinein in die Bahnhofstraße, wo auf Wunsch des Protokolls der Stadt, des Landes oder Bundes die Delegationen der Partnerstädte in bunten Trachten zur Sympathie mit den Teufeln angetreten sind: das können Sie wie zehntausend Augenzeugen oder Millionen Fernsehzuschauer live in diesen Minuten erleben –

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5 Alles geschieht im falschen Augenblick, immer überschneiden sich die interessantesten Termine, dachte ich, als ich erfuhr, dass unser Gespräch bei Dr. T. und das Begräbnis auf den gleichen Tag fallen sollten. Es hatte mich viele Briefe und Telefonate gekostet, einen deutschen Mediziner zu finden, der bereit war, mit Niels Tinkenör, Alain Roussel und mir über einige offene Fragen beim Selbstmord der Margret Falcke zu diskutieren. Anfang September konnten wir uns endlich auf einen Termin Ende Oktober einigen. Dann platzten die deutschen Morde und Selbstmorde dazwischen. Wir in der Kommission waren uns einig, das so bescheidene wie aufwendige Vorhaben, den Tod der Margret Falcke aufzuklären, von den neuen Schüssen nicht blockieren zu lassen. Es störte mich allerdings, dass die Verabredung bei Dr. T. mit dem Begräbnis von Sigurd Nagel, Elisabeth Jeschke und Rainer Wollzeck kollidierte. Erst ein Blick auf die Landkarte beruhigte mich: ich konnte am Nachmittag in Wiesbaden und am Abend in Neuwied bei Dr. T. sein (ich neige dazu, mir Deutschland immer etwas gigantischer vorzustellen, als es ist). Ich konnte also, und so war es mit der Kommission abgesprochen, die Gelegenheit nutzen, ein paar Stunden lang die Wiesbadener Trauerfeierlichkeiten zu beobachten.

Frühmorgens fuhr ich von Ferrara nach Mailand, flog von dort nach Frankfurt, landete kurz nach 12 Uhr. Meine Reisetasche, in der ich weit unten die Kopien des Falcke-Materials mehr oder weniger versteckt hatte, dazu den Essay-Entwurf «Verbrecher, die gegen das Verbrechen kämpfen», wurde nicht kontrolliert – schon das schien mir ein Triumph. Am Bahnschalter des Flughafens vergewisserte ich mich, dass die Fahrt über Wiesbaden kein Umweg sei und ich mich bis 17.58 Uhr dort aufhalten könne, um immer noch pünktlich in Neuwied zu sein.

Eine gute halbe Stunde S-Bahn – aber sie fuhr nur bis Wiesbaden-Ost. Wir sollten in Busse umsteigen, «wir bitten um Ihr Verständnis». Trotz meiner Deutschkenntnisse hatte ich kein Verständnis, aber ich gehorchte und wurde trotzdem bestraft. Beim ersten Schritt verstauchte ich mir den Knöchel, humpelte Treppen hinab, durch eine lange Unterführung, viele Leute überholten, schubsten mich zur Seite, als müssten sie schon hier um den nächsten Sitzplatz kämpfen, ich hinterher, Treppen hinauf. Es war wie ein erstes Verhör. Warum laufen Sie nicht so schnell wie die andern, mein Herr? Ich hätte das als Warnung nehmen sollen.

Ich bilde mir ja gern ein, einer der wenigen Italiener zu sein, die mit den deutschen Sitten und Gebräuchen keine großen Schwierigkeiten haben (deutscher Großvater, «Blut ist ein besonderer Saft»). Aber in letzter Zeit muss ich wieder öfter gegen die alberne Neigung kämpfen, aus flüchtigen Eindrücken Stoff über den Nationalcharakter zu sammeln. Plötzlich hält man sich bei simplen Formulierungen auf: «wir bitten um Verständnis». Was für ein Fortschritt: keine Befehle geben, aber um Verständnis bitten – und trotzdem keine Gründe nennen für die Umstände, die das Verständnis erfordern.

Ehrlich gesagt, ich freute mich wie jedes Mal nach den italienischen Lässigkeiten auf den Kontrast, auf das Feste, Solide, Pünktliche, Bequeme. (Daher mein schlechter Ruf unter den Kollegen in Ferrara.) Aber das erzwungene Umsteigen, der Schmerz im Fuß, die stockende Fahrt im Bus (vielleicht auch die Müdigkeit nach kurzer Nacht) verdarben mir alles. Wieder das Gefühl, aufpassen zu müssen, alles richtig zu machen. Dafür rächt man sich dann mit gehässiger Wahrnehmung und unterstellt ihnen vorsichtshalber das Schlimmste.

Zugegeben, ich staune immer noch, wenn über meinem Kopf eine Videokamera sich dreht, wenn schon am Vorstadtbahnhof ein «Haus für Sicherheit» wirbt, wenn Schlösser und Türen immer dicker werden – und die Absagebriefe bei der Aufklärung der Todesursache Falcke dünner, wenn überall gemauert, geschwiegen wird, sobald die Buchstaben R und A und F auftauchen.

Der Verkehr wurde dichter, der Bus bremste öfter. Es war mir nicht klar, ob die Fahrgäste alle zur Begräbnisfeier wollten. Den Gesichtern ließ sich nicht viel ablesen. Nur wenige junge Frauen im Bus, kaum ein Lächeln, kein freundliches Blond, kein verzögerter Blick.

Beim Lesen des «Spiegel» auf einmal der Gedanke, dass sich die Sprache gewandelt hat. Ich begreife ja den Jubel über den Befreiungsschlag von Mogadischu, die Erleichterung, den Knoten zerschlagen zu haben. Aber da im Bus, zwischen lauter stummen und eher finster blickenden «Gästen», fiel mir zum ersten Mal dieser verlogene Ton auf: alle wollen Sieger sein. Die Redakteure, als wollten sie nichts als ihre eigene Treffsicherheit demonstrieren, verpassen den stürmischen Ereignissen mit flinken Gags nachträgliche Höhepunkte: «Kein Zweifel, Wagner was here, geortet von außerhalb und umjubelt wie nie» usw. In jedem Absatz, auf allen glänzenden Seiten der begeisterte Ton, der Stolz beim Setzen der Anführungszeichen, die Erregung, bei etwas Tollem, Einmaligem dabei gewesen zu sein und sich noch nachträglich auf die Schulter zu klopfen mit den knalligen, triumphierenden Zitaten der Auslandspresse.

Ich las fasziniert und mit Abscheu, erlag dem Sog der Bilder und Bildunterschriften. Wollte alles später genauer nachlesen, dachte schon daran, im Seminar untersuchen zu lassen, wie sich hier eine neue Sprache, ein anderes, ein stolzeres Deutsch entwickelt hat. Selbst in dem Artikel über die Fahndung. Um jedes Komma herum das Fieber der Perfektion bei der Suche nach den Tätern, das Stochern und Stechen an jedem Ort, in jedem Absatz. Das ganze Land mit Haut und Haar bei der Sache, aber bei welcher eigentlich?

Stockende Fahrt, Stau, Platzangst. Wachsendes Unbehagen über den Fahndungsjubel, Befreiungsjubel, Selbstmordjubel, Krisenbewältigungsjubel. Jede dreispaltige Seite ein dreifacher Fanfarenstoß.

Ich hielt das nur schwer aus, wollte raus an die Luft, saß eingeklemmt. Der Stau brachte Bewegung in die Leute. Manche standen auf, andere reckten die Hälse. Endlich wurde es laut, viele wollten aussteigen, der Busfahrer weigerte sich, die Türen zu öffnen («keine Haltestelle hier!»).

Vor mir ein hochgewachsener junger Mann, der nervös wirkte, sich ständig umblickte und unter dem Gedränge der Autos und der weit vorn sichtbaren Menschenmenge zu leiden schien. Erst später erkannte ich ihn wieder.

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6 Damen und Herren in mittelalterlichen Trachten winken mit dicken Sträußen aus Azaleen und Begonien den grünweiß uniformierten Männern auf den grün-weißen Motorrädern an der Spitze des Trauerzuges entgegen. Die Vertreter der Partnerstadt Gent, der Stadt der Tuchmacher und Drahtzieher, sagt der Reporter. Am Anfang der Bahnhofstraße sind Abordnungen der europäischen Partnerstädte platziert, mit ihrem lockeren und heiteren Auftreten geben sie einen harmonischen Auftakt für festliche Stimmung:

Nach Burschen und Frauen im Bergbauernkostüm aus Montreux ziehen Basken aus San Sebastian über den Bildschirm, ohne Tracht, aber mit ihren berühmten Mützen. Sie bewegen sich untergehakt im Takt der Marschmusik, zum Tanzen bereit.

Die farbigen Bilder wirken entspannend auf Bernhard Schäfer im Chefbüro. Der Wechsel zwischen den Gesten der Trauer und der Freude, zwischen dem Arrangement des Protokolls und den spontanen Gefühlsregungen der Zuschauer gefällt ihm. Es stört ihn nur die Gruppe aus Klagenfurt, die von der heimischen Holzmesse das neueste Sortiment Schlagstöcke mitgebracht hat und zum Takt des Marsches die Stöcke über die Köpfe wirbeln lässt wie eine Damenriege die Keulen.

Schäfer hat frischen Kaffee vor sich, streckt die Beine aus, sieht Sigurd Nagels Sarg im Fernsehen und gleichzeitig sein Fotogesicht auf der Vorzimmertür. Das erste Fahndungsplakat als Erinnerung an die wilden Zeiten des Aufbruchs. Dazu das Plakat mit den jeweils neu gesuchten Gesichtern, in rechteckiger Ordnung und gleichmäßigem Abstand Belohnung versprechend: Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle. Ein Hinweis an sich selbst und an die Besucher, die Gefahr hört nie auf, hinter dieser Tür beginnt der Terror.

Die Särge interessieren ihn weniger als die Köpfe, die er vom Schreibtisch aus stets im Visier hat: die Meistgesuchten und die früher Meistgesuchten, tot, angeklagt, verurteilt oder versteckt unter den aktuellen Fahndungsfotos, wer warnt wen vor Schusswaffengebrauch. Schäfer braucht den Blickkontakt, damit er sie besser greifen kann. Er braucht die Gesichter, obwohl er sie kennt bis in die Falten und unveränderlichen Kennzeichen hinein, obwohl sie ihn im Traum begleiten und auf jeder Dienstreise und allgegenwärtig sind in der Öffentlichkeit der Ämter und Poststellen, der Flughäfen und Litfaßsäulen, der Tankstellen und Bahnsteige.

Die Toten werden an der Delegation aus Berlin-Kreuzberg vorbeigefahren, die nicht mehr zu bieten hat als die Fahne Berlins, unter der das Häuflein schwarz und grau gekleideter Lokalpolitiker versammelt ist, verschüchtert von der Fröhlichkeit der Spanier und Österreicher. Im schwachen Wind wedelt der Bär mit schwarzen Tatzen und streckt die Zunge, unter ihm tragen Schäfers Kollegen Pistolen und Kabel auf Kissen vorbei.

Bernhard Schäfer ist bemüht, keine Emotion zu zeigen, obwohl er allein im Büro sitzt. Niemals hat er eins der Gesichter mit dickem Stift durchgestrichen, wenn einer aus der Garde der Mutmaßlichen gefangen oder tot war. Er hakt keinen ab, streicht keinen durch, stößt keinen, nicht einmal die Toten, aus dem trauten Kreis derer, die sich Family nennen. Er hat die Plakate persönlich mit Tesafilm an die Tür geklebt. Er lässt die Gesichter weiter sprechen, hört ihnen zu, er braucht sie, braucht Nagel, den er am längsten kennt und mit dem er jeden Tag Zwiesprache sucht, jetzt zischt er ihm zu:

«Ganz schön weit gebracht hast dus!»

Bernhard Schäfer trinkt den ersten Schluck Kaffee immer zu früh, verbrennt sich die Zunge und macht, da er guter Laune ist, seinen Gegner dafür verantwortlich.

Nagel, dessen Gesicht nicht so hässlich und abstoßend ist, wie das Foto dem Publikum weismacht, lebt auf, wenn er angesprochen wird. Schäfer kennt die Parole «Der Kampf geht weiter», also stört er sich nicht daran, dass Nagel hört, was er sagt und sagen will, seine Terminpläne kennt, seine Telefonate, seine Anweisungen, seine Berater und Kollegen Abteilungsleiter. Nagel sieht, wenn er den Schlips zurechtrückt oder den Hodensack, merkt, wann er unter der Klimaanlagenluft leidet, unter der Länge des Dienstwegs, unter einer Fahndungspanne, unter dem Dauerregen vor dem breiten Fenster, liest mit ihm die Akten und fährt mit ihm durch die Dateien. Nagel ist Ikone, Spiegel, versteckte Kamera, die Schäfer fürchtet, und die Wanze, die er noch mehr fürchtet. Zu Nagel blickt er auf, und selbst seine ironischen Flüche richtet er an ihn: «Du bist schuld! An allem!»

Der Bildschirm zeigt nun weniger Farbe und viele männliche Personen. Stellvertretend für die deutsche Beamtenschaft, sagt der Reporter, dürfen hier die Personalräte der Ministerien Abschied nehmen von den Toten … Schäfer rechnet, wie viele Tassen er noch zu trinken hat bis zur Lösung des Problems Terrorismus. Angenommen fünf Jahre, dreihundert Arbeitstage, acht Tassen pro Tag, Schäfer rechnet im Kopf und kommt auf zwölftausend Tassen Kaffee. Die Rechnung müsste genauer sein, eigentlich dreihundertfünfzig Arbeitstage, also noch zweitausend Tassen drauf. Er stellt sich die lange Reihe der Tassen vor und nimmt vorsichtig den zweiten Schluck Kaffee.

Im Fernsehen wird gejohlt, die Gruppe der Sympathisanten zockelt vorbei, dahinter die Klagenfurter. Ja, das ist doch, ruft der Reporter, der berühmte Drachen des Lindwurmbrunnens! Damit zeigen die Klagenfurter allen Fernsehzuschauern, dass sie den Drachen, den die Deutschen soeben zu Grabe tragen, schon lange bezwungen haben.

Schäfer schmunzelt. Er wird erinnert an die befriedigende Wärme kurz nach einer Festnahme und schließt die Augen. Aus schwarzen Punkten fliegen winzige Gesichter auf ihn zu; vergrößern sich zu Passfotos schwarzweiß. In den Sekunden zwischen Ermüdung und Konzentration reißen sich die grauen, schwach konturierten Gesichter junger Frauen und Männer aus der rechtwinkligen Ordnung der Plakate an der Tür. Die Gruppe, die Bande, die Armee schwirrt durch den Raum und startet einen kleinen Frontalangriff, bis Bernhard Schäfer den nächsten Schluck Kaffee nimmt und sie wortlos zurückbefiehlt an den Platz auf der Tür, zurück auf die schwarzgrauen Felder auf dem roten Papier.

Er schaut auf die Uhr, steht auf, verschwindet aus Nagels Blickfeld, an Frau Dornhauser im Vorzimmer vorbei («Videoraum, bin in zwanzig Minuten zurück!») auf den Flur zu zwei jungen Polizisten, die mit dem Ruf «Mahlzeit!» heranspringen.

Schäfer sagt: «Haus III, 2. Stock» und geht los. Einer läuft vor, einer hinter dem Chef. Beide schielen vorschriftsmäßig nach links und rechts und vorn und hinten. Gummisohlen quietschen auf Linoleum. Schäfer zufrieden mit den Bewegungen des Oberkörpers vor ihm, die dem Kenner das diszipliniert geschmeidige Verhalten junger Polizisten verraten. Sportler mit mittelstarkem Ehrgeiz. Der Wunsch, nicht als Kaufmann zu versauern, treibt sie in die Uniformen, in die Disziplin, zum Handeln im Notfall blitzschnell.

Der vordere stößt die Türen auf, der andere schließt sie, wenn nötig. Schäfer in der Mitte mit dem königlichen Gefühl, Türgriffe nicht berühren zu müssen beim Gang durch die vielen Türen, gegrüßt zu werden von den Untergebenen, die zwischen Schreibtischen und Labors hin und her eilen und ohne Aufforderung anhalten, wenn der Chef mit kleiner Begleitung den Weg kreuzt und den Vortritt braucht auf engen Treppen und Korridoren. Er kann sich auf dreitausend Fachleute verlassen, er treibt sie täglich zu größerer Präzision und Effizienz. Er inspiriert Abteilungsleiter, diese stoßen Bereichsleiter voran, und die dirigieren Ermittler und Sachbearbeiter, die pausenlos nach Tätern jagen, Rauschgift, Waffenhandel, Mord und Totschlag, Raub, Erpressung, Sittlichkeit, Falschgeld, Autoschiebereien, Kunstraub, Diebstahl, Wirtschaftskriminalität, der ganze Gemischtwarenladen, und darüber die Krone aller Verbrechen, der Terrorismus, und darunter die Wissenschaftler der Kriminaltechnik, die Tüftler der Erkennungsdienste, Schusswaffen, Handschriften, Fotos und die nimmermüden Informatiker.

Nur selten grüßt Schäfer, Damen lieber als Herren, nickt hier und da den Kollegen zu, es spielt keine Rolle, ob sie ihm dem Namen nach bekannt sind oder nicht. Seine Geste Zuspruch, Motivationshilfe. Er wird respektiert im Haus. Sie alle wissen, dass er mehr arbeitet als alle andern, dass er sein privates Leben aufgegeben hat. Er ist Vorbild, aber ein Vorbild, das keiner erreichen will.

Nur über die hausinterne Bewachung wird manchmal gespottet. Old Bernt, im sichersten aller Ämter, habe wohl Angst, es könnte ein Fremder, der vier Schranken und drei Ausweiskontrollen und zwei Körperkontrollen passieren müsste, bis ins innerste Herz der Terrorabwehr vorstoßen und dann einen Mord begehen! Haben wir ein solches Misstrauen gegen unsere Arbeit? Können wir den eignen Leuten nicht trauen? Oder ist da jemand nicht ausgelastet, Personalverschwendung, Beamtenbequemlichkeit und so weiter?

Die Experten für Personenschutz haben entschieden. Sie können nichts ausschließen, wie immer. Unter den dreitausend Mitarbeitern könnten trotz aller Vorsorge und Abwehr zwei oder drei von den Terroristen eingeschleuste Leute sein, die auf eine Gelegenheit zum Mord hinarbeiten, denkt an den Spion als Kanzlerfreund. Noch weniger wollten sie ausschließen, dass einer der bewährten Beamten plötzlich dem Wahnsinn verfallen und dem Chef ans Leben gehen könnte. Sie verwiesen auf Feuerwehrleute, die Brandstifter, auf Wachleute, die Diebe, auf Ärzte, die Mörder werden, und auch unter Kriminalbeamten gebe es Ausnahmen mit solchen gegensinnigen Neigungen. Also folgt man den Experten, in diesen Zeiten, Herausforderung, kein Risiko. Personalverschwendung sei die Begleitung ohnehin nicht, denn man setze frisch ausgebildete Kollegen ein, die bei der Chefbewachung nur dazulernen, ein gehobenes Praktikum, ehe sie hinausgeschickt werden an die Front.

Noch eine Treppe, dann sagt Schäfer «Danke!» und öffnet die Tür selbst.

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7 Alles in Bewegung, Wiesbaden und Rheinmain vereint in den Zuckungen des Stop-and-go: meinetwegen: oben die Mittagsglocken und Mittagsjets, unten die Fernsehgeräte eingeschaltet, die halbe Nation im Begräbnistaumel: erlauben Sie mir zum Abschluss eine angemessene Portion Größenwahn, und ich erlaube Ihnen dafür, verehrte Trauergäste, dass Sie laut und leise sagen dürfen, Sie sind dabei gewesen –

Angetreten als meine Statisten, und es ist mir egal, ob Sie aus Niederhöchstadt oder Gent, aus Okriftel, Montreux oder Berlin-Kreuzberg antanzen und Zuschauer spielen unter den schwarz-rot-gold und rot-weiß flatternden Textilien in der Bahnhofstraße –

So ist es gewesen, so wird es sein: mein Wunsch Befehl: ich verschreibe mir eine letzte Kur in Wiesbaden und lade Sie herzlich ein, mich zu betrauern: in dieser klassischen Stätte des Genesens und des Genießens, wo man sich des dümmsten aller Versprechen nicht schämt: in dieser heiteren, lebensfreundlichen Stadt wird sich niemand langweilen –

Mein Körpersack liegt auf dem Rücken, der linke Arm gestreckt, der rechte in Kopfrichtung angewinkelt –

Schon ist mir egal, was die sagen werden, die mich bald hier liegen sehen, wie das Gesetz es befahl –

Und keine Ahnung haben von den euphorischen Ausflügen der letzten Minuten –

Oder, was schlimmer ist, der Phantasie nicht trauen und der Realität noch viel weniger, und missgünstig behaupten, alles an anderen Orten ganz anders gesehen zu haben –

Die sollen meiner aufsteigenden Seele nicht länger Blei an die Beine binden, die sollen rheinabwärts fahren, bis sie einen Regierungssprecher finden, der außer auf Monsieur Foucaults Frage Wie kommt es, dass die Wahrheit so wenig wahr ist? auf alles eine Antwort weiß –

Wir schalten um –

«Können Sie mir, ich bin Korrespondent des ‹Daily Mirror›, verdeutlichen, warum das Begräbnis der Terroristen mit so einem großen Umzug gefeiert wird?»

«Unsere Politik ist bestimmt vom Gedanken der Versöhnung und des Abbaus von Gewalt, bestimmt von der Absage an den unchristlichen Geist der Rache. Obwohl die negativen Gefühle gegenüber den bekannten Selbstmördern verständlich sind, nicht zuletzt, weil diese mehrfachen Mörder indirekt auch mitverantwortlich sind für den Mord an Alfred Büttinger, der nach ihrem Tod verübt wurde, wohl der gemeinste und schäbigste Mord der Nachkriegsgeschichte, kann keine Regierung es hinnehmen, wenn Stimmen immer lauter werden, die da rufen: kein gemeinsames Grab, kein Zeremoniell, auf freiem Feld verbrennen, den Vögeln vorwerfen, ins Klärwerk versenken usw.

Hier musste ein Machtwort gesprochen werden: Wer tot ist, ist tot, und damit ist die Vergangenheit erloschen. Und Sie dürfen es gern als Zeichen für die politische Reife der jungen deutschen Demokratie werten, wie schnell ein Satz wie Im Tod hört alle Feindschaft auf sich verbreitete, ja binnen weniger Tage eine allgemeine Bekehrung auslöste. Und wenn Sie heute die Leute auf der Straße befragen, werden Sie hören, mit welcher tiefen Erleichterung die Erinnerung an das Gebot der Nächstenliebe aufgenommen, ja angenommen wurde, mit welcher Begeisterung der Hinweis, die Feinde zu lieben, zumindest die, die tot sind aus welchen Gründen auch immer. Wer je an der Versöhnungsbereitschaft unseres Volkes gezweifelt hat, ist in diesen Tagen eines Besseren belehrt worden. Darum haben auch Politiker von Regierung und Opposition, höchste Polizeibeamte und Juristen nicht gezögert, dem Hass ein Ende zu machen und die harte Linie mit einer großen Geste der Milde zu krönen, mit diesem feierlichen Begräbnis. Und nicht zuletzt nehmen wir mit der öffentlichen Achtung, ja, der Anerkennung der Toten den verbliebenen Terroristen den Wind aus den Segeln.»

«Gregory Grant, ‹Washington Post›. Warum wird das Begräbnis gerade in Wiesbaden gefeiert?»

«Wir haben selber nicht erwartet, dass der Wandel zur Versöhnung eine solche Dynamik auslösen würde. Sie haben es in der Presse ja zum Teil verfolgen können, wie heftig der bundesweite Streit der Städte und Gemeinden geführt wurde um die Ehre, den toten Terroristen eine würdige Grabstätte zur Verfügung stellen zu dürfen. Erst drei, dann acht, dann vierzehn Städte wetteiferten darum, indem sie auf Geburt, Studium oder das Wirken der Verstorbenen in ihren Mauern verwiesen. Das öffentliche Feilschen um den Vorzug, den Toten den letzten Gang ausrichten zu dürfen, drohte unwürdige Formen anzunehmen, überdies war Eile geboten und kurzfristig Großes zu planen. Auch hier musste ein salomonisches Machtwort helfen. Die Entscheidung fiel logischerweise für die Stadt, die diesen Toten beschäftigungspolitisch am meisten zu verdanken hat, also die mit dem größten Kriminalamt. Weitere Pluspunkte waren die ideale Verkehrsanbindung, der hohe Freizeitwert, die ausgezeichnete Hotelkapazität, überdies der gute Ruf einer weltberühmten Kurstadt. Nichts lag also näher als Wiesbaden, die vielfach bewährte Stadt der Feste und des Feierns, die nun das Privileg erhalten hat, für die ewige Ruhe der von der späten, aber nicht zu späten Liebe des Volkes erfassten Toten sorgen zu dürfen.»

Was wäre die Antwort auf die Frage eines ungeduldigen Mannes von der Turiner «Stampa», warum die Firma Ford für den Transport der Särge den Zuschlag erhalten habe?

«Jede Autofirma mit geeigneten Wagen hat ihre Hilfe angeboten und entsprechende Vorschläge zum Sponsoring unterbreitet. Das Problem ist, wie so häufig, das Überangebot gewesen. Deutsche Firmen mussten schließlich zurücktreten. Das bekannte Stuttgarter Unternehmen deshalb, weil seine Produkte im Zusammenhang mit dem Terrorismus schon häufig genug im Licht der Scheinwerfer platziert waren. Das bekannte Wolfsburger Unternehmen, weil man sich gerade bei einem solchen Ereignis nicht dem Vorwurf nationaler Engstirnigkeit aussetzen darf. Nach technischen und optischen Überlegungen, die zur Ablehnung verschiedener französischer, japanischer und italienischer Angebote geführt haben, war zwischen den halbamerikanischen Produkten aus Rüsselsheim und Köln zu entscheiden. Da Rüsselsheim vor Wiesbadens Haustür liegt – und damit der Verdacht von Vetternwirtschaft, Provinzialismus usw. nahe –, konnte keine andere vernünftige Lösung als die für Ford fallen.»

Die letzte Frage vom Korrespondenten der «Neuen Osnabrücker Zeitung»: «Warum transportiert man die Särge nicht auf einer Lafette?»

Antwort:

Ja, es sei erwogen worden, die traditionelle Lafette einzusetzen, leere Geschützwagen der Bundeswehr, schlicht geschmückt und von Pferden gezogen. Diese Idee wurde jedoch mit dem völlig richtigen Argument abgelehnt, bei allem Respekt vor den toten Terroristen komme eine den höchsten Repräsentanten des Staates vorbehaltene Ehrung durch Lafette mit Pferdegespann für die jungen Leute, die überdies nicht einmal bei der Bundeswehr gedient hätten, nicht in Frage. Der Trauerakt, auch darin sei man sich einig, dürfe nicht den Charakter der Staatstrauer annehmen – er müsse im Gegenteil als ein freudiges nationales Ereignis gefeiert werden.

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8 Ich starrte auf den ausrasierten Nacken auf dem Sitz vor mir, auf die Halswirbel, die mich gegen meinen Willen in die Akte Margret Falcke zogen: Halswirbel – wenn es Selbstmord war, hätten die Halswirbel ausgerenkt oder gewaltsam verschoben sein müssen – das waren sie aber nicht – also bleibt nur die Todesart Erstickung, aber dafür fehlen ebenfalls die Merkmale, Blutungen in den Augenbindehäuten, Vorquellen der Augen oder der Zunge, Blaufärbung des Gesichts – also was, wenn Margret Falcke weder ausgerenkte Halswirbel hatte noch erstickt ist?

Wenn wieder ein Mediziner sagt, dass alle nachprüfbaren Einzelheiten nur zu einer Todesart passen, Druck auf die Halsschlagader, Carotis, der als Reflex zum Stillstand des Herzens führe, kann ich als beschränkter Germanist nicht anders als an Kafka, E. T. A. Hoffmann oder Poe denken. Aber die Schlüsse, die ich aus der Literatur ziehe, darf ich nicht laut sagen. An die Öffentlichkeit, an die Presse gehen, dafür ist es zu früh. Es fällt mir immer schwerer, hinter jede Frage eine neue Frage zu setzen, wie wir das als Wissenschaftler gelernt haben: immer wieder Fragen wie Schachfiguren übers Brett schieben. Den Druck, mit diesem Material wie mit Staatsgeheimnissen herumzulaufen, das hab ich an dem Tag gemerkt, halte ich schlechter aus, als ich erwartet hatte.

Die stockende Busfahrt ins Zentrum von Wiesbaden bekam mir nicht. Ich sah eine Halsschlagader vor mir und war sofort bei der Hauptfrage für den Abend in Neuwied. Obwohl ich Dr. T. ungeheuer dankbar war, dass er sich an den Fall heranwagte und nicht wie alle seine Kollegen die offiziellen Gutachten erschrocken und mit Vorwänden zurückschickte, wollte ich ihn aufs undankbarste löchern: Wie passt die Behinderung des Vagus, der Druck auf die Halsschlagader, mit den Aussagen der Gutachter zusammen, keine Spuren für Erwürgen gefunden zu haben? Warum ist am Hals im Bereich der Einschnürung, die der Handtuchstreifen gemacht hat, mit dem die Gefangene sich angeblich erhängt haben soll, keine Quetschung zu finden? Zwei Zusatzfragen, Herr Doktor. Kann man sich selber die Halsschlagader zudrücken? Kann man jemanden mit einem Handtuch spurlos erwürgen?

Manchmal, auch das muss ich mir vorwerfen, wusste ich schon nicht mehr, ob es mir mehr um Margret Falcke oder um mich ging. Immer öfter das Gefühl, alles mehr oder weniger allein machen zu müssen (so stolpert man in seine Fehler). Seit die These vom Selbstmord ein paar dicke Fragezeichen bekommen hat, ist bei mir mit der Spannung auch der Ehrgeiz gewachsen, in diesem Krimi die noch unbesetzte Rolle des Detektivs zu übernehmen. Je mehr die Deutschen, auch die feinen Genossen, die akademischen Kollegen und Espressofans zu verwirren sind mit der These: Margret Falcke könnte vielleicht doch nicht durch Selbstmord gestorben sein, desto mehr wollte ich sie provozieren. Sie haben sie ja alle einmal geliebt und sich von ihren Sätzen anstacheln lassen, aber wenn man ihnen sagt: seht her, es ist eine einfache philologische Arbeit, die verschiedenen offiziellen Gutachten und Aussagen zu vergleichen und mit Gerichtsmedizinern und andern Fachleuten die vielen erstaunlichen Widersprüche aufzudecken, um mehr als Vergleiche geht es nicht, dann blocken sie ab. Sogar die jungen Professoren, Beamte auf Lebenszeit, drücken sich auf ihren gepolsterten Drehstühlen herum (Stühlen mit Armlehnen, davon kann ich nur träumen in der Uni Ferrara!).

Dazu passt, dass ihnen der letzte Funken Humor schwindet, wenn man von diesem Haufen spricht, der mal den deutschen Arbeitern die Revolution vormachen, mal mit zwei Dutzend Leuten die Eroberungen der USA durchkreuzen, mal nichts weiter als die Gesinnungsgenossen befreien wollte (jetzt wollen sie hoffentlich gar nichts mehr). Vielleicht hätten meine Akademikerkollegen längst das Problem gelöst, wenn sie die einfach ausgelacht hätten, weil die wie Kinder alles auf einmal, alles sofort wollen und am liebsten als Helden des Tages sich auf den Fernsehschirmen entdecken. Auslachen, weil die in sieben Jahren vielleicht eine politische Aktion zustande brachten, und auslachen, weil sie nicht merken, dass sie nur denen willkommen sind, die sie am heftigsten bekämpfen. Ich schätze, es wird noch lange dauern, bis sie für die Komik der Geschichte empfänglich sind: Das Land mit der größten Polizeidichte der Welt, die freiwilligen Hilfspolizisten nicht gerechnet, ist mit nichts anderem so beschäftigt wie mit der Jagd auf die kleinste Armee der Welt. Ich wäre froh, wenn ich mal einen Deutschen träfe, der diese Komik bemerkt! (Siehe: Skizzen für einen kleinen Essay zu diesem Aspekt.)

Im engen, stickigen Bus hab ich sie alle beschimpft, so leise wie möglich – aber auch mich und meine Schafsgeduld. Vielleicht haben wir das linke Völkchen, das mehr von den Ereignissen als von der Polizei gelähmt ist, in diesem Sommer mit der Bitte um Unterstützung im Fall Falcke überfordert. Aber es hätte uns ja wenigstens einer bei dem lange vereinbarten Termin begleiten können. Und außer den Verwandten hätte sich ja mal jemand, vielleicht irgendein Politologe, für die feinen Unterschiede verschiedener Todesarten oder die Fremdwörter Cyanose und Vagus interessieren können! Das hab ich ihnen vorgeworfen, zu Recht, aber dieser Vorwurf hat uns selbst auch geschadet, mir jedenfalls. Ich hab sie oft genug gehört, die preußische, die mailändische Stimme: wenn wir paar Franzosen, Briten, Holländer und der brave Maurizio Serratta sich nicht kümmern, dann macht’s keiner. Aber warum mischen wir uns in eine deutsche Angelegenheit? Gehen der Sache mit deutscher Gründlichkeit nach, zu der die Deutschen nicht fähig sind? Weil wir ihnen doch wieder so etwas wie Faschismus unterstellen? Weil wir die Wahrheit suchen? Weil wir staunen, wie gelähmt sie tun, wenn nur der Name Margret Falcke fällt? Rechts und links die gleiche Sorte ängstlicher Rechthaberei, und wer dagegen ein paar Fragen stellt und sie beharrlich stellt, gilt als verbohrt, fanatisch, als Idiot. Ich, der Idiot des Tages, stieg am Hauptbahnhof aus, deponierte meine Tasche in einem Schließfach und lief erleichtert los.

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9 Eh ich zur Hölle fahre der Aufstieg in den Himmel auf die Balkone: wir befinden uns, meine Damen und Herren, in einem der neuklassischen Wohnhäuser, so prächtig verziert mit Säulen, Sandsteinsimsen und ziegelroten Ranken über mächtigen Türrahmen, dass fast niemand hier wohnt, weil die besten Rechtsanwälte und vornehmen Kleinbanken, die zärtlichsten Haarwäscherinnen, die teuersten Lockendreher, Werbeagenturen und Lobbyisten Gewerbemieten zahlen: chic, schicker, am Superlativ der Einkommensspitzen durchs Leben tänzelnd und heute live dabei, weil an Festtagen das Betriebsklima steigt: gehobene Angestellte, aufsteigende Selbständige auf Bilderbuchbalkonen der Bahnhofstraße, da können sie: und zwischen ihnen ich: den ganzen Trauerzug überblicken –

Ihr wisst nicht, wer ich bin?

Ach, nur der, um den sich alles dreht –

Es gibt Minuten, in denen ich mich erinnern muss, dass ich einer der Toten bin, der da unten kutschiert wird, oder der Guerillero, so heldenhaft tot wie in der Zelle: unauffällig der Fisch im Wasser auf dem Balkon: wie gern blicken die Felddamen und Feldherren von der Anhöhe hinab und erst recht, wenn die Augen sich nicht sattsehen können an den Festtagskostümen der ostdeutschen Landsmannschaften: von hier oben nicht zu unterscheiden, wer da aus dem Sudetenland oder Oberschlesien, wer aus Pommern oder dem Egerland in den Raum Wiesbaden geflüchtet ist, aber das macht nichts, so genau will das keiner wissen außer denen, die sich wohl fühlen in Trachten und ergebener Teilnahme an einem nationalen Ereignis inklusive kurzem Fernsehauftritt –

Da erheben wir uns gern drüber, wir Unwiderstehlichen, wir Überlebenden: ich bin ein Werbetexter, ich ein Steuerberater, ich Augenarzt: und bin mitten in der guten Stimmung hier oben: Blick bis zum Bahnhof und Blick bis ins Herz der Stadt: und wären nicht drei Särge auf dem Weg zum Friedhof und Trauergäste dahinter, ließen wir uns vielleicht zu einer Konfettiparade nach New Yorker Vorbild hinreißen oder Sektkorken von Balkon zu Balkon fliegen –

Meinetwegen: ja, ich bin wo ich bin, die Wände zählen nicht mehr und die Entfernungen, unsichtbar den Bilderjägern bin ich der unerschöpfliche Videofilm und nehme euch auf und werde unauffällig die Füße küssen dem Schlesier, der die geplante Fahrt ins Blaue mit anschließendem Eisbeinessen meinetwegen absagen musste und nun ernst in die Kameras schaut und heimlich nachzählt, wie viele Festzüge und Trauerzüge, Aufmärsche und Abmärsche mit Wochenschau oder Fernsehen er schon pflichtfreiwillig mitgemacht hat –

Da bin ich: zwischen den Designern der neuen Fröhlichkeit multivitamingestählt, zwischen den milden Herrscherinnen der Büros, zwischen gut riechenden jungen Frauen mit seidenfestem Selbstbewusstsein und schönen Fingern auf blitzneuen Tasten, sie liebt die Wärme / sie taut in der Sonne erst richtig auf / sie könnte niemals im Schatten einer kühlen Blonden stehen / und raucht Ernte 23, Reemtsmas beste Tabakmischung: Dienerinnen der unerbittlichen Propheten des Lächelns: Zähne zeigen, immer wieder Zähne zeigen oder die frisch eingepanzerten Gebisse meiner Erzfeinde, die ich ihnen zerstoßen könnte, wenn ja wenn: oder lieber doch nur die Provokation der Teppichböden: Matratzen, weich werde ich fallen in der Hölle –

Unten senken katholische Ordensschwestern und evangelische Diakonissen vor den Toten die Hauben, und die Särge ziehen an den Vertretern der Behinderten, in Rollstühlen aufgereiht, vorbei, dann an der dichten Kette der Sportler entlang, angetreten zum Abschied vom Terrorismus stehen Reiter ohne Pferde, Tennisspielerinnen in Burberrymänteln, Schwimmer im Straßenanzug, Golfer und Hockeyspieler, Wurftaubenschützen und Radfahrer, Fußballer und Leichtathletinnen, Angler und Ruderer: sie alle, so weit der Blick reicht von oben, halten das Piktogramm ihrer Sportart hoch und werben mit ihren gesunden Gesichtern und den Eiterpickeln der Fitness –

Kommt her, ihr Sportschützen, ich weiß, die Bundesschießsportschule hat euch freigegeben über Mittag, damit ihr euch zeigen könnt mit den Kleinkalibergewehren: meinetwegen, euren gelehrigsten Schüler: wo bleibt euer Salut für meine Höllenfahrt? ihr könnt mir die Zähne nicht mehr ausschlagen mit den Kolben und die Lunge nicht durchsieben, selbst wenn ihr wolltet und ich freigegeben wäre als Festtagsbraten für alle –

Ihr wisst nicht, wer ich bin?

Das Rätsel bin ich –

Alle deuten an mir herum, versuchen mich zu fassen und zu bannen und nehmen teil an diesem Umzug, damit sie ganz sicher sind, dass sie mich endlich haben, wo sie mich haben wollen: unter der Erde, den Körper gevierteilt, seziert, versenkt –

Aber je tiefer sie mich einbuddeln werden heute Nachmittag, je fester sie die Erde über mir trampeln, je größer die Steine, die sie über mich decken, desto weniger werden sie den Bösen, den unersättlichen Störer loswerden: und ahnen nicht, wie sie fleißig meine kleine Unsterblichkeit vorbereiten, denn es wird Nachfolger geben, wie es schon jetzt Nachfolger gibt, Generationen sagen die Experten, als wären wir Computer oder von noch höherem Adel, und sie werden, wann immer ein wichtiger Mensch entführt oder erschossen oder mit Gewalt belästigt wird, auf mich zurückkommen wie auf den alten Adam oder den alten Ahab –

Ja, sie nannten mich Ahab: unter vielen blöden Namen vielleicht nicht der blödeste, eine Taufe in Ehren als Kapitän der Pequod, hoch auf den Wellen der Südsee zurück in die fiebernden Jungenträume von der Jagd auf Moby Dick: der Kapitän, keine Frage, war ich, und für die ganze mühsam angeheuerte Mannschaft unserer kleinen Armee reichte der Platz auf dem Walfängerschiff –

Sie nannte mich Ahab: Lisa teilte die Namen wie Orden aus: und ich der Kapitän, obwohl nie zur See gefahren, ohne Leidenschaft für Wale und andere Säugetiere, und keine Beinprothese aus Walzähnen: ein Schuss ins Bein immerhin mit anschließender Beförderung zu lebenslänglichem Knast –

Ahab lenkt das Schiff über das wilde Meer: die Gesellschaft, der Staat, der Imperialismus: immer dachten wir an Maos Bild vom Revolutionär, ein Fisch im Wasser des Volkes, überall Freunde und Verstecke im Schwarm, überall im Wasser die zündenden Ideen und Sprengsätze legen –

Also Schiff und Fisch zugleich: ein endloser Wettkampf auf dem Wasser, im Wasser: Seemannsbraut ist die See, und nur ihr kann er treu sein, das war der dritte Bildungsweg der Schlagerparade, und der Erste: Gedichtinterpretation Obertertia: John Maynard war unser Steuermann: wie weit hat die sprachfeste Lisa mit ihrem ruhigen Verstand den Ahab-Vergleich durchdacht? sich selber zum Smutje befördert immerhin: der Koch hält die Töpfe spiegelblank und predigt gegen die Haie: und ein paar anerkennende Anzüglichkeiten für Kapitän Ahab dazugeliefert: und sollte tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Abbruch –

Danke, meine Damen und Herren, danke schön, danke: so weit die personality show, vergessen wir für einen Augenblick Seine Majestät Käptn Ahab –

Wer sind die Wale bitte schön, die wir jagen und fangen und zerlegen, damit wir was zu fressen haben und leeeeeben: die Bullen, die Schweine, die Pigs, denen wir mit Harpunen das Fleisch aufreißen und so weiter? was ist an dem Vergleich falsch oder richtig? ach, das sollen sie in Seminararbeiten untersuchen, vorwärts und rückwärts –